Kapitel 2

Zutiefst aufgewühlt und aufgebracht übernahm Caspar Harvey das Kommando, als sei Quigley gar nicht da, und so war er es, der den Tierarzt rief, einen alten Bekannten, dem er das doppelte Honorar anbot, wenn er seinen freien Sonntagnachmittag vergaß und sofort in Quigleys Stall erschien.

Direkt konnte er für seine Stute nichts tun, da er nicht wußte, was ihr fehlte, aber er kannte die Macht des Geldes und geizte nicht damit, wenn es seinen Zwecken diente.

«Eine Kolik?«dachte er laut.»Oliver, wäre es nicht besser, Sie führten sie herum? Laufen ist doch gut bei Koliken.«

Oliver Quigley hockte sich neben den Kopf des Pferdes und streichelte ihm die Nase. Laufen könne hier eher noch schaden, sagte er, selbst wenn er die Stute wieder auf die Beine bekomme; er werde auf den Tierarzt warten. Und mir fiel auf, daß in dieser kritischen, für eins seiner Pferde vielleicht lebensbedrohlichen Situation sein ständiges Angstzittern nachließ und beinah völlig verschwand.

Caspar Harvey drängte seine Gefühle zurück und dachte an die Zukunft.»Sie…«, sagte er zu mir.»Sie meine ich, Stuart… Haben Sie die Kamera bei sich?«

Ich zog sie aus meiner Hosentasche.

Er nickte.»Fotografieren Sie die Stute, für die Versicherung. Bilder überzeugen mehr als Worte.«

Ich kam seiner Bitte nach, und es blitzte hell in der dunklen Box.

«Schicken Sie sie mir«, sagte er, und ich versprach es ihm.

Belladonna, die mit Kris im Landrover auf den Hof gefahren kam, reagierte auf das Leid der Stute mit verzweifelter, liebender Sorge und vergaß alles andere, bis Kris zu ihrer Empörung sagte, unsere Abflugzeit sei für ihn und mich wichtiger als die Stute, da wir bei Dunkelheit nicht sicher in White Waltham landen könnten. Stute hin, Stute her, meinte er, um halb fünf müßten wir in der Luft sein. Halb sechs sei früh genug, widersprach Bell scharf. Wenn sie uns nicht um die gewünschte Zeit zum Flugzeug bringe, werde er ein Taxi rufen, sagte Kris. Als Ohrenzeuge dieses essigsauren Wortwechsels schien mir, daß sich Caspar Harvey in Sachen Schwiegersohn vorerst nicht zu sorgen brauchte.

Der Tierarzt kam mit quietschenden Reifen, um sein doppeltes Honorar zu verdienen, und sah sich, als er die Stute mit dem Stethoskop abhorchte, vor ein Rätsel gestellt.

«Ich glaube, das ist keine Kolik«, sagte er.»Was hat sie gefressen?«

Der Futtermeister und sämtliche Pfleger nahmen ihm das als Ehrbefleckung krumm.

Die Stute habe nichts als Hafer, Kleie und Heu bekommen, schworen sie.

Kris zankte sich hartnäckig mit Bell, die ihrem Vater schließlich erbost mitteilte, sie werde den unmöglichen Kris erst einmal zu seinem Flugzeug bringen. Ihr Vater, ganz auf das leidende Pferd konzentriert, nickte zerstreut und sah mich geistesabwesend an, als ich ihm zum Abschied für das Mittagessen dankte und noch einmal versicherte, er werde die Fotos bekommen.

Bell hielt nach einer übellaunigen Fahrt durch die Stadt mit einem Ruck neben der Cherokee an und hörte Kris finster zu, der sich einmal mehr zu erklären bemühte, daß wir beide am Abend Dienst hätten und deshalb pünktlich zurück sein müßten. Dienst hatten wir tatsächlich, aber es war nicht unbedingt nötig, deshalb schon um halb fünf abzufliegen. Eingewurzelte Loyalität verpflichtete mich jedoch zum Schweigen.

Sie sah zu, wie Kris seinen unverzichtbaren Kontroll-gang um die Cherokee absolvierte.

«Er bringt mich zur Weißglut«, sagte sie.

Ich nickte.»Ich kümmere mich um ihn. Fahren Sie ruhig wieder zu Ihrem Vater.«

Sie sah mich aufmerksam mit ihren blauen Augen an.

«Ich will nicht zickig sein«, sagte sie.

Da sie es mit zwei willensstarken Männern zu tun hatte und trotz des lieben Augenaufschlags selbst nicht gerade die Nachgiebigste war, konnte ich mir schwer vorstellen, wie sie ein dreiseitiges Gleichgewicht erzielen wollte, ohne vorher eine vielleicht vulkanartige Demonstration der Stärke zu liefern.

Kris war mit seinen Kontrollen durch, und Bell und ich stiegen aus dem Landrover. Bell und Kris sahen sich unter einem geradezu elektrischen Knistern schweigend an.

«Ich bin jetzt Trainerassistentin bei George Loricroft«, sagte Bell schließlich.»Ich wohne wieder in Newmarket.«

Kris überlegte finsteren Blicks.

«Ich habe einen Monat Urlaub«, sagte er.»Einen Teil davon verbringe ich in Florida.«

«Glückwunsch.«

«Du könntest mitkommen.«

«Nein.«

Kris drehte sich abrupt um und stieg in seine fliegende Kiste, aber, dachte ich ironisch, keineswegs als der tollkühne Held aus dem Film.

Ich verabschiedete mich verlegen von Bell und sagte ihr, die Stute werde hoffentlich wieder gesund.

«Geben Sie mir Ihre Telefonnummer, dann sag ich Ihnen Bescheid.«

Ich hatte einen Stift, aber kein Papier. Sie nahm den Stift und schrieb die Nummer auf ihren linken Handteller.

«Steig ein, Perry, steig ein«, rief Kris,»sonst flieg ich ohne dich.«

«Ist das ein Scheißkerl«, sagte Bell.

«Er liebt Sie«, sagte ich.

«Wie ein Tornado, der einen in Stücke reißt.«

Kris ließ den Motor an, und da ich nicht riskieren wollte, wirklich stehengelassen zu werden, stieg ich ein, schloß die Tür, verriegelte sie und schnallte mich an. Bell hob andeutungsweise die Hand, als ich ihr lebhaft durchs Fenster zuwinkte, aber Kris starrte unversöhnlich vor sich hin, bis es für jede Höflichkeit zu spät war.

Als wir dann aber in der Luft waren und Bell uns noch am Landrover stehend nachsah, flog Kris eine artige Schleife für sie und wackelte im Davonziehen mit den Flügeln.

Von Newmarket nach White Waltham ist es nicht besonders weit, und wir hatten reichlich Zeit und reichlich Licht für die Landung, und auch die morgendliche gute Laune holte den Piloten wieder ein.

Der kalte Wind blieb bis Freitag, der Sonnenschein vom Sonntag verblaßte zu deprimierendem Eisengrau. Caspar Harveys Stute klammerte sich ans Leben; mit welchen

Symptomen und welchem Erfolg, erfuhr ich buchstäblich aus erster Hand, von Bell, die mir sagte, ihr sei im letzten Moment, als sie schon Flüssigseife auf ihre Hände gespritzt hatte, noch eingefallen, meine Telefonnummer auf etwas Zweckmäßigeres als Haut zu übertragen.

«Anscheinend hat das arme Tier den Kopf gegen die Wand gedrückt, die ganze Zeit schon… Also das habe ich bei einem Pferd noch nie gesehen, und ihr Pfleger auch nicht, aber der Arzt sagt, Kopfdrücken ist symptomatisch für eine Vergiftung, und jetzt herrscht hier helle Panik.«

«Was für ein Gift?«zog ich sie ein wenig auf.»Doch nicht Belladonna?«

«Nein. Vielen Dank. Sehr lustig. Seit ich lebe, darf ich mir anhören, daß mein Name von der Tollkirsche kommt. Der Tierarzt hat mir aber freundlicherweise gesagt, daß sie an Tollkirsche wahrscheinlich eingegangen wäre.«

Zwei Tage danach teilte Bell mir telefonisch den neuesten Stand mit. Inzwischen war es Mittwoch.

«Dad und Oliver Quigley versuchen das aus den Zeitungen herauszuhalten, Gott weiß, warum, es nützt ja doch nichts. In Newmarket verbreiten sich Neuigkeiten wie der Schwarze Tod. Die Stute ist jetzt in der Pferdeklinik, da wird ihr Blut abgenommen, die Temperatur gemessen, in ihrem Mist gestochert, die lassen nichts aus. Heute mittag habe ich den Wetterbericht mit Kris gesehen. Dabei wirkt er so vernünftig, man glaubt es kaum. Sagen Sie ihm nicht, daß ich ihn gucke.«

Bell hatte ganz recht damit, daß in Newmarket nichts heilig ist oder geheim bleibt: Im Sportteil der Skandal-und Lokalblätter verdrängte die Stute den Fußball zwei Tage lang auf den zweiten Platz.

Ich hatte meinen Film vom Sonntag am Tag darauf entwickeln lassen und Caspar Harvey die Abzüge gleich zugeschickt. Bell zufolge war ihr Vater über die Fotos zwar entsetzt gewesen, alles in allem aber dankbar, und Oliver Quigley beteuerte immer wieder seine Unschuld am Zustand der Stute.»Aber Dad ist so sauer, da sollte es mich nicht wundern, wenn es zum Prozeß kommt«, sagte Bell.

«Stundenlang liegen sie sich in den Haaren.«

Unter der Woche verbrachte ich meine Zeit wie üblich in der Wetterabteilung des BBC Wood Lane Television Centre. Jeden Nachmittag um zwei wurde ich mit den anderen Londoner Wetterleuten meiner Schicht in einer Telefonkonferenz zusammengeschaltet, damit wir uns über die aktuelle Wetterlage informieren konnten, wobei auch besprochen wurde, wie die mitunter weit auseinandergehenden Daten auszulegen waren.

Ein keimendes Präsentationstalent war die Fähigkeit, die, als ich etwa zweiundzwanzig war, unverhofft mein Leben verändert hatte. Eines Abends um halb zehn war ich >kalt< vor die Kameras gestellt worden, um in allerletzter Minute für einen Kollegen, der buchstäblich die Lauferei hatte, einzuspringen und den längsten Soloauftritt des Tages hinzulegen. Weil das überraschend kam, hatte ich für Lampenfieber keine Zeit gehabt, und dann war es mir auch noch gelungen, die Wettersignale richtig zu deuten: Am nächsten Tag fiel der Regen da, wo ich ihn angekündigt hatte.

Daraufhin gingen immerhin so viele Briefe zufriedener Zuschauer ein, daß ich eine zweite Chance bekam. Ich nutzte sie gern. Weitere Briefe folgten. Ein halbes Jahr darauf war ich regelmäßig auf dem Bildschirm, und nach sieben Jahren rangierte ich jetzt auf Platz zwei in der Hierarchie. Der Chef, der Älteste von uns, hatte Gurustatus und wurde von allen mit der Ehrerbietung behandelt, die seine Sammlung edwardianischer Pornopostkarten verdiente.

Wir hätten uns beide von der aktiven Wettervorhersage abseilen und in der Programmleitung Karriere machen können. Wir wollten es nicht. Der Schauspieler in uns beiden genoß die Live-Auftritte.

Meiner Großmutter war das nur recht.

Meine Großmutter war gewissermaßen meine Cherokee, oder anders gesagt das Faß ohne Boden, in das ich die Taler schüttete, die ich in Wertpapieren hätte anlegen sollen.

Meine Großmutter und ich hatten sonst keine Verwandten mehr, und wir wußten beide, daß ich wahrscheinlich bald allein sein würde. Die energische Frau, eine fähige Reisejournalistin, hatte mich als Baby aus den Trümmern gezogen, in denen gerade ihre Tochter umgekommen war, sich vom Gericht das Sorgerecht für mich übertragen lassen und mich einfühlsam durch Kindheit, Pubertät und Studium begleitet. Nun war sie achtzig, saß im Rollstuhl und brauchte Betreuung rund um die Uhr, um über den Tag zu kommen.

Ich besuchte sie am Donnerstag nachmittag, gab ihr ein Küßchen auf die Stirn und erkundigte mich nach ihrem Befinden.

«Wie geht’s dir, Oma?«

«Ganz ausgezeichnet.«

Eine Lüge, wie wir beide wußten.

Sie lebte noch in der Wohnung, in der ich meine Jugend verbracht hatte, im ersten Stock eines Hauses mit Blick auf die Themse, dort, wo der Wasserstand am stärksten schwankte. Bei Ebbe sah man kilometerweit Schlick, über den schreiend die Möwen strichen, und bei Flut dampften

— mit oder ohne dröhnende Musik — Schiffsladungen von Touristen vorbei, die kurz einmal durch die Schleuse bei Richmond in tieferes Gewässer wollten.

Die unentwegt steigende Miete strapazierte unsere zusammengelegten Finanzen arg, aber der lebende Bilderbogen draußen war das wert.

Als ich nach dem College-Abschluß das Nest verlassen hatte, wie man das so tut, war sie noch die rührige Angestellte eines Touristikunternehmens gewesen, für das sie arbeitete, seit ich auf der Welt war. Die ungewöhnlich aufgeschlossenen Reiseveranstalter ließen sie im Rahmen ihres Broschüreprogramms Tips für Leute ihrer jeweiligen Altersgruppe herausgeben. Mit fünfzig hatte sie geschrieben:

«Die Prachtburschen, die Ihnen Tennis beibringen, sind aufs Geld aus, nicht auf eine dauerhafte Bindung«, und mit sechzig, für Australienfahrer:»Besteigen Sie Ayer’s Rock, wenn Sie flinke fünf Jahre alt sind oder eine verhinderte Bergziege«, und mit siebzig vertrat sie die Ansicht:»Wenn Sie Pilgerfahrten unternehmen oder die Chinesische Mauer sehen wollen, wird es Zeit. Fahren Sie los, oder schreiben Sie’s ab.«

Das Schicksal hatte es für sie abgeschrieben. Mit vierundsiebzig war sie, obwohl ein wiederkehrendes taubes Gefühl in den Beinen sie hätte warnen sollen, an den südlichen Colorado River gereist, um abzuschätzen, wem man die Wildwasserfahrten dort zumuten konnte. Die gefährlichsten Strecken hatte sie nicht selbst getestet. Sie hatte die Führer gefragt. Sie war nicht verrückt, meine Großmutter. Sie sollte mögliche Abenteuer für Menschen ihres Alters erkunden und nötigenfalls davon abraten. Dem wilden Naß konnte sie mit vierundsiebzig wenig abgewinnen; sie wollte, so schnell es ging, nach Hause und hatte sich über die ersten Anfälle von Fieber und Schüttelfrost lediglich geärgert. Dann verzögerte sich die Heimreise; einen halben Tag mußte sie am Flughafen aushalten, bis eine Ersatzmaschine für den Rückflug nach England gefunden war. Sie hatte mir vom Flughafen eine Karte geschrieben, die ich freilich erst drei Wochen später bekam:

Lieber Perry,

mir wird ganz unheimlich, wenn ich an den Flug hier

denke, aber der nächste geht erst in fünf Tagen. Mach ’s

gut. Ich habe mich erkältet. Auf immer,

Deine Oma.

Auf dem langen, unheimlichen Nachtflug von Phoenix, Arizona, nach London verloren ihre Beine zusehends an Muskelkraft, und als die Maschine am nächsten Morgen wohlbehalten in Heathrow landete, fühlte sich ihr ganzer Unterkörper taub an. Ganz langsam war sie zur Paßkontrolle gegangen, und danach hatte sie kaum je wieder einen Schritt getan.

Nach stundenlangen intensiven Untersuchungen erfuhren wir, daß die Ursache des Problems ein Meningeom war, ein von der Hirnhaut ausgehender, an sich gutartiger, aber harter Tumor, der sich in der Wirbelsäule festgesetzt hatte, langsam gewachsen war und jetzt auf die Spinalnerven drückte. Wohlmeinende und offenkundig besorgte Ärzte versuchten es mit Steroiden noch und noch, aber ohne Erfolg. Ein chirurgischer Eingriff, haarklein erörtert und sorgfältig ausgeführt, beeinträchtigte die Blutversorgung der Wirbelsäule und machte alles nur schlimmer.

Die bösen Vorahnungen meiner Großmutter durfte man niemals leichtnehmen.

Böses hatte ihr auch an dem Tag geschwant, als sie achtzehn Stunden durchgefahren war, um meine zaudernden Eltern persönlich zum Auszug aus ihrem geliebten Haus zu bewegen, um dann bei ihrer Ankunft zu sehen, wie das Haus samt Eltern in die Luft flog. Weniger schlimm waren ihre Vorahnungen an dem Tag gewesen, als mich ein Golfwagen anfuhr und ich mir das Fußgelenk brach, aber ein ganz böses Vorgefühl hatte uns davon abgehalten, in einem Tal Ski zu fahren, in dem dann eine Lawine niederging, die uns unter sich hätte begraben können.

Als Ärzte und Patientin sich mit der ungnädigen Hirnhaut abgefunden hatten, versuchte meine früher so aktive Großmutter, ihre eingeschränkte Erwerbsfähigkeit mit Humor zu nehmen, befürchtete aber, sie würde von ihren Arbeitgebern aufs Altenteil geschickt. Statt dessen ließen sie sie Artikel über Tagesausflüge und Ferienreisen für Behinderte schreiben, und ich fand einen privaten Pflegedienst, der sicherstellte, daß im wöchentlichen Wechsel immer eine Pflegerin bei meiner Großmutter wohnte und für sie da war. Sie pflegten sie, kauften ein und kochten für sie, kleideten sie an und fuhren mit ihr zu reisetipwürdigen Orten. Sie schliefen in dem kleinen rückwärtigen Zimmer, in dem noch meine Physikbücher standen. Wenn sie wollten, konnten sie Schwesternuniform tragen. Aber sie mußten sich — darauf bestand meine Großmutter — die Wetterberichte ansehen.

Erst eine der Pflegerinnen hatte sich als Reinfall erwiesen: eine unansehnlich dicke, Trübsinn blasende Frau, die ihren Hund mitbrachte. Meine Großmutter zog ungebundene, hübsche Engel im Enkelinnenalter vor, und der Pflegedienst mußte zu seiner Überraschung feststellen, daß die Mädchen richtiggehend darum baten, öfter eine Woche bei der alten Frau zu verbringen.

Am Donnerstag nach Caspar Harveys Lunch erzählte ich meiner Großmutter von der kranken Stute und stellte fest, daß sie mehr darüber wußte als ich; eigentlich keine Überraschung, denn sie verschlang Zeitungen mit rasender Geschwindigkeit, und als erfahrene Journalistin verstand sie zwischen den Zeilen zu lesen.

«Caspar Harvey wird sich von Oliver Quigley trennen, meinst du nicht, Perry?«bemerkte sie.»Wenn seine Tochter zu Loricroft geht, kriegt der auch seine Pferde.«

Da ihre Arme und Hände mit der Zeitung halbwegs zurechtkamen, hielt sie sie wie gewohnt auf den Knien. Ich sah zu, wie sie sich damit abmühte, denn sie machte das lieber allein. Erst wenn sie mit einem verärgerten kleinen Seufzer die Blätter auf den Schoß sinken ließ, war sie bereit, sich helfen zu lassen.

Wie immer — auch wenn sie und die diensttuende Pflegerin eine Stunde oder länger dafür brauchten — sah sie frisch, adrett und hinreißend aus, diesmal in einem dunkelblauen, spitzengesäumten Hauskleid mit einer StraßGeranie in Silber und Weiß am linken Revers und silbernen Lackschuhen an den unbrauchbaren Füßen.

Ich fragte verwundert:»Wie kommst du darauf, daß Harvey seine Pferde wegnimmt?«

«Er ist auf Ruhm aus. Und hast du mir nicht schon immer gesagt, Oliver Quigley sei ein unverbesserlicher Schwarzseher?«

«Mag sein.«

Der Rollstuhl stand auf ihrem Lieblingsplatz am Fenster, und ich saß in einem schweren Sessel neben ihr, so daß wir beide zusehen konnten, wie die schreienden Möwen sich über dem Schlick jagten, ein Schauspiel, bei dem der Aggressionstrieb so unverhüllt und beispielhaft zutage trat, daß meine Großmutter meinte, auch Kriege zwischen Menschen seien naturgemäß und unvermeidlich.

An diesem Donnerstag nachmittag schien mir ihre Lebenskraft ebenso tief zu stehen wie die Ebbe, sosehr sie es auch zu überspielen bemüht war, und das beunruhigte mich stark, denn an ein Leben ohne sie mochte ich nicht denken.

Sie war von jeher nicht nur eine Ersatzmutter für mich gewesen, die Pflaster fürs verschrammte Knie bereithielt, sondern auch geistige Lehrerin, Kumpanin und immer gut für einen Denkanstoß. Die gelegentlichen Revolten meiner Teenagerzeit waren ferne Erinnerungen. Seit Jahren besuchte ich sie jetzt schon regelmäßig, hörte mir ihre vernünftigen Ansichten an, und viele davon hatte ich mir zu eigen gemacht. Sie durfte noch nicht gehen. Ich war noch nicht bereit, sie zu verlieren. Wahrscheinlich war es dafür immer zu früh.

«Wenn Quigley Harveys Pferde verliert…«, sagte ich unbestimmt.

Meine Großmutter hatte ihre eigenen Fragen.»Wer hat die Stute vergiftet? Untersucht das jemand? Tut dein verrückter Freund was in der Richtung?«

Ich lächelte.»Der macht Urlaub in Florida. Ihn verbindet eine Haßliebe mit Caspar Harveys Tochter. Man könnte sagen, er läuft weg.«

Unvermittelt wurde ihr die Harvey-Geschichte zuviel, sie schloß die Augen und ließ die Zeitung zu Boden fallen.

In dieser Woche tat eine neue Pflegerin Dienst, die ich noch nicht kannte, und wie gerufen kam sie lautlos ins Wohnzimmer und hob die Zeitung auf. Meine Großmutter hatte sie mir mit den Worten vorgestellt:»Die nette junge Frau hier ist Jett van Els. Sie wird es dir aufschreiben. Ihr Vater war Belgier.«

Jett van Els mit dem belgischen Vater entsprach Groß-mutters Vorstellung von Jugend und gutem Aussehen vollkommen, und an der adretten blau-weißen Uniform, die ihren hohen schlanken Wuchs betonte, war eine Uhr so festgesteckt, daß ich in den Verdacht sexueller Belästigung geraten wäre, hätte ich nach der Zeit sehen wollen.

Meine Großmutter dämmerte stets nur für ein paar Minuten so weg, doch an diesem Tag dauerte es länger, bis sie wieder aufwachte. Schließlich schlug sie dann aber die runden blauen Augen auf und war wie immer sofort voll da.

«Bleib weg von Newmarket, Perry, da wimmelt es von Schurken. «Sie sagte das ohne Vorbedacht, und es schien fast, als ob ihre Worte sie selbst überraschten.

«Newmarket ist aber ziemlich groß«, meinte ich freundlich.»Von wem genau soll ich mich denn fernhalten?«

«Bleib von der Stute weg.«

«Okay«, sagte ich obenhin, ohne das wirklich ernst zu meinen.

Soweit ich mich erinnern konnte, war sie selbst nur ein einziges Mal in Newmarket gewesen, und zwar vor Jahren, als sie für eine Illustrierte eine Artikelserie schrieb über vergnügliche Möglichkeiten, an freien Tagen Zeit und Geld zu verschwenden. Danach hatte sie Newmarket im Geiste mit» da war ich, das kenn ich «abgehakt, und wie sie oft sagte, war das Leben zu kurz, um den gleichen Weg zweimal zu nehmen.

«Was ist denn dabei, wenn ich mir die Stute ansehe?«fragte ich.

«Genau darum geht’s. Egal, was mit der Stute ist, laß die Finger davon.«

Sie zog allerdings die Stirn in Falten, und ich nahm an, sie wußte selbst nicht genau, was sie sagen wollte. Viel schlimmer als nicht mehr laufen zu können wäre es für sie gewesen, ihren Durchblick zu verlieren, und ich wagte nicht zu entscheiden, ob ihre Bemerkung über die Stute nun scharfsinnig oder bloß sinnlos dahergeredet war.

Jett van Els konnte mit dem Dialog wenig anfangen, da Pferde sie nicht interessierten. Sie klopfte die Kissen im Rücken ihrer Patientin zurecht und bewies mit jeder fließenden Bewegung das Geschick einer guten Krankenschwester. Trotz ihres ausländischen Namens wirkte sie sehr englisch und redete auch so; ganz der Typ Frau, für den ich einmal eine Industriellentochter hatte sausen lassen, nur um selbst den Laufpaß zu bekommen, als sich bei ihr das tolle Gefühl, in prominenter Begleitung auszugehen, abgenutzt hatte. Das Leben fing an, wenn der Bildschirm erlosch.

Jett van Els sagte gelassen, für Mrs. Mevagissey werde es Fischpastete mit Petersiliensauce zu Abend geben; ob ich bleiben wolle.

Mrs. Mevagissey war meine Großmutter.

«Nein, er bleibt nicht«, antwortete sie friedlich.»Aber nach meiner bisherigen Erfahrung kann es sein, daß er Sie in ein, zwei Wochen zu einem Sandwich in ein Pub einlädt.«

«Oma!«protestierte ich.

«Ich freu mich doch«, meinte sie wahrheitsgemäß.»Also ab mit dir, und morgen seh ich dich im Fernsehen.«

Wenn sie mich darum bat, ging ich immer, um sie nicht zu erschöpfen, und diesmal verfolgte mich im Weggehen der freundliche und belustigte Blick der braunen Van-Els-Augen, die mir bedeuteten, daß ich mein Sandwich vielleicht bekam, wenn ich fragte.

Mrs. Mevagissey kannte mich eine Spur zu gut, dachte ich.

Freitag saß ich im Wetterstudio und sah zu, wie die Berichte aus aller Welt eingingen. Der anhaltende Landwind von Osten löste sich zwar auf, aber der Rasen in Newmarket wäre dennoch am Nachmittag trocken und für Harveys Stute vorteilhaft gewesen, wenn sie hätte antreten können.

Bell wußte wenig Erfreuliches zu melden. Die rührigen Nachrichtenjäger des Rennbetriebs hatten die Stute fürs Wochenende zurückgestellt, um über die Rennen selbst zu berichten, und am Montag würde das kranke Pferd, so es überhaupt Erwähnung fand, nur noch Nebensache sein. Über den Transfer der anderen Pferde von Quigley zu Lo-ricroft in der gleichen Straße gab es eine kurze Notiz; zu Bells Antritt als Trainerassistentin bei Loricroft gab es ein Foto — nicht von Loricroft, nicht von Harvey, nicht von den Pferden, sondern von Bell. Sie war hübsch anzusehen.

Der arme Oliver Quigley behelligte mich nicht mehr zweimal täglich am Telefon; einen einzigen kläglichen Anruf bekam ich noch von ihm, da konnte er kaum sprechen, er unterdrückte seine Erregung nur sehr mühsam und war nervöser denn je.

Aber trotz der anstehenden beiden Spitzenrennen für zweijährige Hengste — das Dewhurst und das Middle Park Stakes — und des Cheveley Park Stakes für die Stuten gab es für mich Wichtigeres als den Rennsport.

Die Winde rund um den Globus waren wie gewohnt um diese Jahreszeit zunehmend in Aufruhr, im Pazifik bedrohte ein ausgewachsener Hurrikan die kalifornische Südwestküste, und auf den Philippinen hatte ein über die Inseln ziehender verheerender Taifun Menschenleben gefordert. Japan wurde von ungeheuren Tsunamis — durch Seebeben ausgelöste Flutwellen — heimgesucht.

Im Atlantik waren für dieses Jahr bisher dreizehn Hurrikane und kleinere tropische Sturmtiefs gezählt worden, wobei die wirbelsturmträchtigsten Herbstwochen wahrscheinlich noch bevorstanden; und obwohl massive Stö-rungen von Orkanstärke nur selten die Britischen Inseln erreichten, es sei denn als verfallende Starkregensysteme, waren sie für uns wie für alle Meteorologen auf der Welt von größtem Interesse.

Zwei Wochen nach Caspar Harveys Lunch bildete sich der vierzehnte zyklonische Wolkenwirbel des Jahres vor der westafrikanischen Küste und überquerte etwas nördlich des Äquators den Atlantik. Die drei wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung eines echten Hurrikans waren gegeben, nämlich erstens eine Meeresoberflächentemperatur von mehr als sechsundzwanzig Grad, zweitens der Zusammenfluß heißer tropischer Luft mit vom Meer kommender feuchter Äquatorluft und drittens Winde, die hervorgerufen wurden durch die aufsteigende feuchte Warmluft und von unten nachdrängende Kaltluft. Die Co-riolis-Kraft hielt die nachströmenden Winde in kreiselnder Bewegung, und die Meereswärme verdichtete die wirbelnden Luftmassen.

Der Jahre im voraus für den vierzehnten Sturm dieser Saison festgelegte Name war Nicky.

Kris beobachtete mürrisch, wie Nicky sich entwickelte.

«Sie zieht westwärts, direkt auf Florida zu«, maulte er,»und das auch noch mit über dreißig Kilometern die Stunde.«

«Ich dachte, das interessiert dich«, sagte ich.

«Klar interessiert mich das, aber sie kommt doch vor mir an. Ich fliege ja erst übermorgen.«

«Sie bekommt langsam Profil«, meinte ich und nickte.

«Die Bodenwinde kreisen schon mit über hundertzwanzig Stundenkilometern.«

Kris sagte:»Ich wollte schon immer mal durch einen Hurrikan fliegen. «Er schwieg.»Als Pilot, meine ich.«

Ich hörte die leidenschaftliche Begeisterung in seiner Stimme; er plauderte nicht nur so daher.

«Es gibt Leute, die das machen«, sagte er ernst.

«Verrückt«, meinte ich. Dabei reizte es mich selber, sogar sehr.

«Stell dir das mal vor!«Seine hellen Augen glänzten vor wachsender Erregung.»Und erzähl mir nicht, daß dich das kalt läßt. Wer von uns wollte denn unbedingt zu dem Wettbewerb im Brandungsreiten nach Nordcornwall? Wer steht aufrecht auf dem Surfbrett? Wer betreibt da Tuberiding?«

«Das kannst du nicht vergleichen. Das ist völlig ungefährlich.«

«Ach ja?«

«So gut wie.«

«Ich flieg dich auch sicher durch den Hurrikan Nicky.«

Zu seiner großen Enttäuschung kam er jedoch nicht dazu. Nicky entwickelte sich zwar zu einem Hurrikan der Kategorie 3 auf der Saffir-Simpson-Skala, mit Windgeschwindigkeiten zwischen 180 und 210 Stundenkilometern, wartete aber erstens nicht, bis Kris in die Staaten kam, und drehte zweitens nach Norden ab, bevor er die amerikanische Küste erreichte, und verwehte harmlos über dem kalten Wasser des Nordatlantiks.

Kris flog dennoch nach Florida, nun vor allem, um sich die Raketen in Cape Canaveral anzusehen, besuchte aber auch das National Hurricane Tracking Center in Miami, doch zu seinem Leidwesen brauten sich in ihrer Hauptbrutstätte westlich von Afrika keinerlei Stürme zusammen.

In der ersten, sonst ereignislosen Woche dort faxte er mir, daß er jetzt wie vereinbart ein paar Tage bei den Leu-ten verbringe, die wir auf Caspar Harveys Lunchparty kennengelernt hätten.

Ich wußte zuerst gar nicht, wen er meinte. Das Essen selbst war mir kaum noch gegenwärtig, ganz verblaßt neben der vergifteten Stute, aber als ich mein Gedächtnis durchforstete, fielen mir dann doch die Darcys ein, Robin der Kopf und Evelyn die Perlen.

Die Bestätigung folgte bald. Kris faxte:»Hier läßt sich’s leben. Robin und Evelyn möchten unbedingt, daß du Montag rüberkommst und ein paar Tage hierbleibst. Nur zur Erinnerung, die kleine Störung, die wir jetzt in der Karibik haben, wird Odin heißen, wenn sie sich entwickelt. Ich beabsichtige da durchzufliegen. Kommst du mit?«

Die kleine Störung in der Karibik, so schätzte ich nach einem raschen Blick auf das chaotische Geschehen dort, würde wahrscheinlich in sich zusammenfallen, so daß der Name Odin ein andermal Verwendung fand.

Am nächsten Morgen legten die Winde südlich von Jamaika zu, und das Barometer fiel weit unter 1000 Millibar, ein bedenklich tiefer Stand gegenüber dem Durchschnittswert von etwa 1013. Eine Windscherung in der Höhe, die eine organisierte Kreisbewegung bisher verhinderte, hatte sich aufgelöst und aufgehört, die obere Atmosphäre auseinanderzureißen, und als sei sie sich über neue Möglichkeiten klargeworden, hatte die kleine Störung langsam mit einer Einladung zum Tanz begonnen.

Kris faxte:»Odin wird jetzt als tropischer Sturm geführt. Ein Hurrikan ist es leider noch nicht, aber komm trotzdem am Montag. «Er erklärte mir den Weg zu den Darcys und grüßte mich herzlich von ihnen.

Am Montag fing offiziell mein Urlaub an.

Ich dachte über meine kargen Ersparnisse nach, mit denen ich eigentlich auf Sizilien wandern gehen wollte, dann rief ich Belladonna Harvey an. Ich erfuhr, wie es um die Stute stand (geschwächt, aber wieder auf den Beinen, noch kein Laborbefund), wie es um Oliver Quigley stand (todtraurig), wie sich die Beziehung zu ihrem neuen Chef Loricroft anließ (er stellte ihr nach) und wie es um ihren Vater stand (er kochte vor Wut). Schließlich erkundigte sie sich, wie es Kris gehe, der schon acht Tage nicht auf dem Bildschirm gewesen sei.

«Er ist nach Florida geflogen.«

«So, so.«

«Er wollte Sie ja mitnehmen.«

«Mhm.«

«Er wohnt bei Robin und Evelyn Darcy. Sie haben mich eingeladen, auch hinzukommen. Ist das ungewöhnlich?«

Sie schwieg einen Moment, bevor sie sagte:»Was wollen Sie wissen?«

Mit einem Lächeln, das ich selber in meiner Stimme hörte, fragte ich:»Zunächst mal, was macht der Mann?«

«Evelyn erzählt überall, daß er Pilze verkauft. Er streitet das nicht ab.«

«Er kann doch unmöglich Pilze verkaufen!«widersprach ich.

«Wieso nicht? Evelyn sagt, er handelt mit sämtlichen Pilzsorten, nach denen die Feinschmecker verrückt sind. Portobello, Steinpilz, Pfifferling, Shitake und dergleichen. Er läßt sie gefriertrocknen und luftdicht verpacken und verdient ein Vermögen damit. «Sie schwieg.»Außerdem verkauft er Gras.«

«Was?«

«Er verkauft Gras. Ich meine jetzt nicht das andere Gras. Sie werden lachen, aber in Florida wird Rasen nicht gesät. Das Klima ist dafür ungeeignet oder so. Man setzt vielmehr Grasplacken ein. Rasen wird verlegt wie Teppichboden. Robin Darcy hat eine Rasenfarm. Das ist kein Witz. So heißt das, und es ist ein Millionen-Dollar-Geschäft.«

«Sie meinten auch, er sei als kluger Kopf geboren«, sagte ich langsam.

«Ja, genau. Und wie gesagt, lassen Sie sich nicht von ihm täuschen. Er läuft da mit seiner dicken schwarzen Brille rum wie ein ziemlich unbedarfter, knuddeliger kleiner Kerl, aber was er anrührt, wird zu Gold.«

«Und mögen Sie ihn?«

«Eigentlich nicht. «Die Antwort kam ohne Zögern.»Er ist Dads Kumpel, nicht meiner. Mir ist er zu berechnend. Mit allem, was er tut, verfolgt er einen Zweck, aber das merkt man erst hinterher.«

«Und Evelyn?«fragte ich.

«Wie ich schon sagte, sie ist sein V-Mann. Na ja, seine V-Frau. Ich kenne die zwei mehr oder weniger seit Jahren. Robin und Dad unterhalten sich immer über Landwirtschaft, obwohl man sich fragt, was Gras und Pilze groß mit Vogelfutter gemein haben, dem Haupterwerbszweig meines Vaters.«

«Ich dachte, Ihr Vater baut Gerste an«, sagte ich leicht verwirrt.

«Tut er auch. Das gibt hervorragenden Whisky. Das Vogelfutter pflanzt er nicht. Er kauft alles mögliche Saatgut containerweise, läßt es im eigenen Werk mischen und ver-kauft’s fein abgepackt an Leute, die Wellensittiche haben oder so. Man könnte sagen, Robin Darcy und mein Vater machen hundertgrammweise Millionen.«

«Tja, und… ehm, Evelyn?«hakte ich nach.

«Sie und meine Mutter verstehen sich bestens. Beide lie-ben Schmuck. Wenn man sich mit Evelyn über Klunker unterhält, hat man eine Freundin fürs Leben.«

Bell hatte nicht das Zünglein an der Waage gespielt, aber der Gedanke, Florida kennenzulernen, reizte mich doch sehr, und an dem Punkt war ich so unvorsichtig, meiner Großmutter zu erzählen, daß Kris mit mir durch einen Hurrikan fliegen wollte.

«Fahr nicht, Perry. Mir wird ganz unheimlich…«

Aber ich hatte sie geküßt und ihre Bedenken in den Wind geschlagen. Die schleichende Lähmung auf dem Flug von Phoenix nach London lag Jahre zurück, und seit diesem Horrorflug hatte sie keine bösen oder unheimlichen Vorahnungen mehr gehabt.

«Mir passiert schon nichts«, versicherte ich ihr und nahm den billigsten Flug nach Florida, den ich finden konnte.

Robins und Evelyns Zuhause in Südflorida war für die Gegend anscheinend nichts Besonderes, doch für jemanden, der aus einer 1-Zimmer-Mansarde mit winzigem Bad und Kochnische kam, ein märchenhafter Anblick.

Mit den leuchtenden Farben fing es schon an. Ich war das graublaue Licht gewohnt, das in London W 12, zwischen 51 und 52 Grad nördlicher Breite, bereits die Nachmittage eintrübte.

Am Sand Dollar Beach, auf dem 25. Breitengrad, wenig nördlich vom Wendekreis des Krebses, flimmerte die Luft in Rosatönen, das Meer leuchtete türkis bis zum Horizont, und grüne Palmen schwankten über den spitzenbesetzten, sich kräuselnden Wellen.

Nur selten bedauerte ich die Einschränkungen, die ich meiner Großmutter zuliebe in Kauf nahm, doch an diesem schönen, heiteren Spätnachmittag schienen mir die kreischenden englischen Möwen, die sich über dem Niedrigwasser zankten, teuer bezahlt.

Ich hatte die Einladung der Darcys dankend angenommen und war herzlich von ihnen empfangen worden, aber so angenehm die berühmte Großzügigkeit auch sein mag, die die Amerikaner gewohnheitsmäßig an den Tag legen, ich wußte noch immer nicht genau, warum ich dort am Sand Dollar Beach war, den goldenen Sonnenuntergang betrachtete, ein berauschendes exotisches Getränk süffelte und Appetithappen so groß wie Frisbeescheiben aß.

Evelyn redete, wie Bell es vorausgesehen hatte, über Schmuck. Das silberne Haar tadellos frisiert, trug sie eisblau schimmernde Seidenhosen, dazu eine weite Bluse aus dem gleichen Material, über und über mit Perlen und silbernen Röhrchen bestickt, die ich dank meiner welterfahrenen Großmutter als Schmelzperlen erkannte.

Robin lag mit einem eisgekühlten Drink in der Hand faul auf einem Gartensofa, die nackten Füße auf den dicken Polstern. Als er mich am Flughafen in Miami abholte, hatte er mich mit» Dr. Stuart «begrüßt, aber als er mir dann die Pina Colada in die Hand drückte, sagte er» mein Lieber «und fügte hinzu:»Ananassaft, Kokosmilch und Rum. Recht so?«

Er war sich über mich nicht im klaren, und ich mir nicht über ihn. Wohlwollen erkennt man oft auf Anhieb. Bei Robin kam mir alles wie ein Schachspiel vor.

Wir saßen auf einer großen, nach Süden gehenden Terrasse, von der aus man nach einer Seite auf den friedlichen Atlantik blickte und auf der anderen einen Zug effektvoll golddurchwirkter Wolken sah.

Kris, der, auch wenn er nicht flog, selten Alkohol trank, wanderte rastlos von der Terrasse zum tiefer gelegenen

Pool und wieder zurück und suchte das goldene Firmament ab, als sei er furchtbar enttäuscht.

Robin Darcy meinte nachsichtig:»Gehen Sie ins Haus, Kris, und schalten Sie den Wetterkanal ein. Wenn der große Gott Odin in der Karibik umgeht, sieht man ihn hier noch tagelang nicht.«

Ich fragte Robin, ob er und Evelyn schon mal einen Hurrikan ausgesessen hätten, und wurde ob meiner Naivität mitleidig belächelt.

«Den kann man nicht aussitzen«, versicherte mir Evelyn.

«Da haut’s einen vom Stuhl. Sie sind doch Wetterkund-ler. Ich dachte, Sie wüßten so was.«

«Er weiß es in der Theorie«, erklärte ihnen Kris zu meiner Entschuldigung.»Er weiß, wie Hurrikane entstehen, aber niemand weiß, warum. Er weiß, woher sie ihren Namen haben, aber nicht, wohin sie gehen. Er ist nicht nur Doktor der Physik, sondern auch der Philosophie, das findet man selten unter Wetterkundlern, und eigentlich sollte er dem Warum, das niemand kennt, nachgehen, statt in der Sonne Drinks zu schlürfen, aber lassen Sie sich gesagt sein, er ist nur hier, weil ich vorhabe, mit ihm durch das Auge eines Hurrikans zu fliegen, und nicht, um Kokosmilch mit Ananassaft und Rum kennenzulernen.«

Robin drehte die Augen und auch die Hand, die das Glas hielt, zu mir hin.»Ist das wahr?«sagte er.

«Diesen Abend hätte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen«, erwiderte ich. Ich hielt meinen Drink in die Sonne, aber er war undurchsichtig wie manche Fragen und ließ kein Licht durch.

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