Kapitel 5

Lange nachdem ich aufgehört hatte, in irgendeiner Weise zusammenhängend zu denken oder mich darüber zu wundern, daß immer mal wieder meine Großmutter silbern umglänzt ein Stück von mir entfernt auf den Wellen schwamm, lange nachdem das Trugbild von Robin und Kris, die mich händchenhaltend durchs Wasser zu sich winkten, um mir eine Kugel zu verpassen, verschwunden war, packte mich in dem brüllenden, unmenschlichen Furor Odins, dem das bißchen Leben, das noch in meinen Herzkammern und meinem Hirn pulsierte, nicht entfliehen konnte, eine ungeheure Welle, hob mich in die Luft und warf die Stoffpuppe, zu der ich geworden war, gegen eine noch ungleich höhere Wand.

Die Wand war nicht aus Wasser… sie war Fels. Kein Grund zur Freude erst mal, sie schlug mich bewußtlos.

Geraume Zeit später merkte ich dann, daß ich mein Leben der Felswand neben dem Landungssteg verdankte, an dem früher die Schiffe festgemacht hatten, die Trox mit lebensnotwendigen Gütern versorgten.

Zottige Sträucher und steckenartige junge Bäume sprossen dort unverdrossen aus Spalten und Vorsprüngen, und zwischen ihnen, die mich jetzt an die unebene, rauhe Felswand gedrückt hielten, war ich liegengeblieben.

Langsam kam ich wieder zur Besinnung, und zuerst schien es mir ganz natürlich, im zweiten wirren Anlauf dann aber um so unnatürlicher, daß ich wußte, wo ich war.

Die Erkenntnis ging nicht mit dem Wunsch oder mit der Kraft einher, etwas zu unternehmen. Ich drehte mich ein wenig, um die Landungsbrücke entlangzuschauen, und sah, daß es mehr als die Hälfte der aus schwerem Bauholz gezimmerten, in Beton verankerten Anlage weggerissen hatte, als wäre sie aus Pappe.

Das Bewußtsein verlor sich wieder in einem unruhigen, von bösen Träumen erfüllten Zustand äußerster Erschöpfung, der Schlaf und Benommenheit zugleich war.

Jahrhunderte später quasi merkte ich, daß es regnete und daß es schon regnete, seit ich meine vom Salzwasser verquollenen Augen geöffnet hatte. Der Regen wusch das Salz von meinen Gliedern, aber meine ganze Haut war vom zu langen Aufenthalt im Meer verschrumpelt, und wie nur je ein alter Seemann sah ich zwar Wasser, Wasser überall, hatte aber einen schmerzhaft brennenden, vom Salz verursachten Durst.

Regen… gierig nach jedem Tropfen sperrte ich den Mund auf. Das kühlte die Kehle, beruhigte den Geist. Ich begriff, daß meine Großmutter nicht wirklich da im Silberglanze schwamm. Robin Darcys Kanone befand sich am Sand Dollar Beach, zur Abschreckung von Einbrechern.

Schwach blieb ich dennoch und wäre gern liegengeblieben. Andererseits lag ich auf halber Höhe einer niedrigen Felswand, zwischen Wurzelwerk, das sich im Dauerregen zu lockern begann — und wie aufs Stichwort rissen einige der Sträucher aus ihrer Verankerung und schickten mich auf eine holprige Rutschpartie bergab, bis ich mit ungezählten Schrammen auf dem harten Belag des Piers landete.

Zum Glück war der ramponierte Pier ursprünglich als Anlegeplatz für Handelsschiffe gebaut worden, so daß er über dem Hochwasser lag. Braune, ruppige Brecher fegten jetzt bedrohlich an der Mauer entlang, aber nur wenige schwappten breit darüber hinweg, als suchten sie etwas, das sie noch an sich reißen könnten. Die Höhe und die Gewalt der Wellen, die mich hierherbefördert hatten, waren um fast die Hälfte zurückgegangen. Bei dieser Brandung hätte etwas so Massives wie der Pier nicht verwüstet werden können.

Also blieb ich noch ein wenig im Regen liegen und dachte an Kris und das Auge Odins, und der ganze Tag kam mir unwirklich vor.

Der ganze Tag… das Licht war grau… aber es war nicht Nacht, und es war Nacht gewesen, als ich mit dem Ertrinken gekämpft hatte.

Gestern, dachte ich ungläubig. Kris und ich waren gestern hierhergekommen… und ich hatte die ganze Nacht in dem schwarzen Wasser verbracht, und die Umrisse der Felswand, gegen die ich geschleudert worden war, hatte ich gesehen, weil die müde alte Erde sich da langsam der Dämmerung des neuen Tages entgegendrehte.

Nach und nach wurde mir auf dem zertrümmerten Pier bewußt, daß es am Tag davor nicht so beschädigt gewesen war. Daraus konnte ich nur schließen, daß die verheerenden Winde Odins über die Insel gefegt waren, nachdem wir sie verlassen hatten, aber ein Handlungsbedarf ergab sich für mich daraus nicht. Bald, sagte ich mir, bald würde ich den Berg hinauf in das kleine Dorf gehen. Bald würde ich das Leben wieder anpacken. Ich hatte mich wahrhaftig noch nie so schwach gefühlt.

Wie um meine Lebensgeister anzufachen, hörte der Dauerregen plötzlich auf.

Als allererstes machte ich mich daran, die Gurte der Schwimmweste zu lösen, mit dem Erfolg, daß ich sie nur in noch schlimmeren Knoten verhedderte. Sie aufzukriegen dauerte eine Ewigkeit. Meine Arme schmerzten gräßlich.

Ich hatte immer noch kein Gefühl für die Zeit. Hell war Tag, dunkel Nacht. Als das Tageslicht wieder nachließ, riß ich mich dann doch zusammen, kam mit viel, viel Mühe auf die Beine und stapfte ganz langsam barfuß vom Meer hinauf zu dem Dorf, das in ungefähr siebzig Metern Höhe auf dem Felsen lag. Sturmfluten fegen vielleicht keine so hoch gelegenen Ansiedlungen weg, aber Sturmwinde kennen da keine Hemmungen. Das kleine Dorf vom Vortag, die Häuser, die Kirche und die Pilzschuppen waren über den Haufen geweht worden.

Ich blieb regungslos stehen, die Schwimmweste baumelte an meiner Hand.

Die Betonfundamente, auf denen die Häuser gestanden hatten, waren noch an ihrem Platz; die Dächer waren verschwunden, die Bretterwände umgemäht, die Holzbalken zerbrochen, das Glas aus den Fensterrahmen herausgefetzt. Die Ziehbrunnen waren mit Schlamm und Schutt verstopft, die Eimer nirgends zu sehen.

Die Kirche hatte kein Dach mehr. Der Kirchturm und zwei Wände waren eingestürzt. Die Pilzschuppen waren verschwunden, man sah nur ihre Grundrisse am Boden.

Die einzigen Gebäude, die noch standen, waren die beiden Betonbunker mit ihren extradicken Wänden, und sogar sie zeigten Spuren eines Beschusses durch umherfliegende Trümmer.

Ohne Schuhe und ohne meine ebenfalls davongeschwommenen Socken durch das Dorf zu laufen war mühsamer als der Anstieg vom Pier, aber ich tappte vorsichtig zum ersten der beiden Betonklötze hinüber, in dem die Etagenbetten gestanden hatten, und betrat ihn.

Die Türöffnung — ohne Tür — führte durch die einen Meter zwanzig dicke Wand in zunehmendes Dunkel, an das sich meine Augen erst einmal gewöhnen mußten. Der Eingang, so erklärte ich mir schließlich das Chaos im Innern, hatte wohl frontal zum Wind gelegen. Es war noch eine ganze Menge Holz da, nur nicht mehr in Gestalt gediegener Etagenbetten. Offenbar waren die schweren Bretter durch den Raum geschleudert worden und wie Sturmböcke gegen die Wände gekracht. Der Gedanke an die Kraft, die nötig war, um solche Löcher in den Putz zu schlagen, ließ mich dankbar schaudern: Hätte uns der Sturm am Boden erwischt, hätten wir hier drin vielleicht Zuflucht gesucht.

Zuflucht. Mir wurde klar, daß hier nicht das Dach abgedeckt worden war wie sonst überall, den anderen Bunker vielleicht ausgenommen. Die auf dem Betonboden verstreuten Bretter waren weitgehend trocken. Draußen dunkelte es unter einem bedeckten Himmel, aber die Regenpause hielt an.

Heute abend würde niemand mehr kommen. In dem strömenden Regen von zuvor war das Inselchen wahrscheinlich gar nicht zu sehen gewesen. Find dich damit ab, dachte ich müde; in frühestens zwölf Stunden wird jemand kommen.

Glaub dran.

Jemand wird kommen.

Im verbliebenen Licht legte ich mehrere Bretter auf dem klammen, ungastlichen Betonboden nebeneinander, streckte mich mit dem Stützkragen der Schwimmweste als Kopfkissen darauf aus… und konnte nicht einschlafen.

Mein Durst war gestillt, aber der Hunger grub sich wie eine Schraube in meinen Magen. Seit dem Grillabend bei den Fords hatte ich nichts mehr gegessen, denn am Morgen des Flugs zu Odin war mir nicht nach Frühstücken zumute gewesen. Jetzt verfolgte mich das unverzehrte Blätterteiggebäck vom Owen-Roberts-Flughafen, bis ich es förmlich riechen konnte. Morgen früh suchst du dir was zu essen und zu trinken, sagte ich mir, aber ohne Schuhe stöberst du da draußen nicht im Dunkeln rum.

Die Inselluft war zumindest angenehm warm, und sollte es wieder regnen, saß ich im Trockenen. Hurrikane, zumal solche wie Odin, die sich nicht im Atlantik, sondern in der Karibik bilden und entfalten, sind zwar für ihre unberechenbaren Wege bekannt, aber kaum einer dreht sich um hundertachtzig Grad und kommt zurück. Wenn das überhaupt schon geschehen war, dann so selten, daß es nicht lohnte, sich darüber Sorgen zu machen.

Ich schloß die Augen, aber nach dem Durchhänger vom Tag kam mein Gehirn auf Touren und nahm vorwärts, rückwärts, nacheinander alles unter die Lupe, was mich in meine gegenwärtige mißliche Lage gebracht hatte. Es gab immer noch massenhaft offene Fragen, die ich mir beim besten Willen nicht beantworten konnte, zum Beispiel: Warum züchtet jemand Pilze auf einer winzigen Karibikinsel? Warum schickt er zwei Meteorologen durch einen Hurrikan, damit sie nach den Pilzen sehen? Aber dafür allein konnte Robin Darcy das Flugzeug doch wohl nicht gekauft haben… und er hatte es für Nicky gekauft, nicht für Odin.

Irgendwo gab es sicher jemanden, der sich einen Reim darauf machen konnte. Robin zum Beispiel, oder nicht?

Lange Zeit sah ich Kris in dem orangen Dinghy vor mir, das Entsetzen, mit dem er mich noch anschaute, als die tobenden Elemente seine Zukunft in die Hand nahmen. Wenn er sich an Bord des Dinghys halten konnte, würde er schneller als ein Rennboot über die Wellen geflogen sein. Nach der Bedienungsanleitung für das Boot, die ich nicht sorgfältig genug beachtet hatte (als erstes steigt man nämlich ein), waren ein Steuerruder und zwei Paddel an Bord, aber so ruhig, daß man sie einsetzen konnte, würde das Meer noch in Stunden nicht sein.

Ich klammerte die Möglichkeit aus, daß der Wind das Boot in die Luft gehoben hatte. Wollte nicht daran denken, daß der luftgefüllte Schlauch über den Wellen Purzelbäume geschlagen haben könnte, bis Kris ins Wasser fiel, weit weg von den Klippen von Trox.

Ich wälzte mich unruhig auf dem harten Bretterbett und setzte mich lange vor Tagesanbruch schon draußen vor die Bunkerwand und staunte, wie viele Sterne ich sah.

Der Hurrikan war vorbei. Die Nacht war wolkenlos und still. Nur die Wellen, die mit fernem, fauchendem Schlag schwer an der zerstörten Landungsbrücke entlangrollten, erzählten von der furchtbaren Gewalt, die gestern das kleine Dorf verwüstet hatte.

Der Hunger brachte mich auf die Beine, sobald ich sehen konnte, wo ich hintrat, aber ich wußte ja schon, daß alle Schränke hier leer waren, auch wenn sie noch standen. Die Bewohner von Trox hatten die Insel mit Sack und Pack verlassen. Vergebens schaute ich nach einem Trinkgefäß und schlürfte schließlich Regenwasser, wie ich es gerade fand.

An Eßbarem gab es lediglich vermatschtes Gras.

Vorsichtig stakste ich zu dem zweiten dickwandigen Bunker hinüber, der bei unserem ersten Besuch leer gewesen war, und wunderte mich, als ich eintrat, über die Veränderung, die der Sturm bewirkt hatte.

Zunächst einmal war auf zwei Seiten die Wandverkleidung abgerissen worden, und Schlackeziegel waren zutage getreten. Die Bunker sahen von außen zwar gleich aus, waren im Innern aber verschieden gestaltet. Der Bunker, in dem ich übernachtet hatte, bestand aus massivem Beton mit Innenputz. Die Wände des zweiten Bunkers waren mit vorgefertigten Gipsplatten ausgekleidet, und einige dieser Platten waren aus ihrer Verankerung gerissen und zu Bruch gegangen.

Weil ich darauf eingestellt war, nichts als Zerstörung zu sehen, dauerte es eine Weile, bis mir auffiel, daß kaputte Wand nicht gleich kaputte Wand war und daß sich halb versteckt hinter einer Gipsplatte, die es aus ihrer Halterung gerissen hatte, eine Art Tür befand.

Ich ging mir das genau ansehen und stellte fest, daß die Tür hinter der losen Wandplatte mit einem Zahlenschloß gesichert und nichts anderes als eine Tresortür war. Wenn man davon ausging, wie wenig die Insulaner sonst zurückgelassen hatten, würde die Schatzkammer so leer sein wie der Schrank von Mother Hubbard. Ich probierte, ob sich die Tür öffnen ließ, da der Wind schließlich alles in seiner Reichweite beschädigt hatte, aber sie widerstand meinen Bemühungen eisern, und so widmete ich mich wieder der Suche nach etwas Eßbarem.

Die großen blauen Vögel sahen verlockend aus, aber barfuß konnte ich keinen fangen, und ohne Feuer hätte ich sie roh verzehren müssen, und so nötig hatte ich es doch noch nicht. Vielleicht konnte ich eine von den größeren Echsen fangen, die weniger flink waren als die kleinen, doch auch davon hielt mich die fehlende Kochmöglichkeit ab.

Aber wo waren die Kühe?

Kühe gaben Milch, und Milch war nahrhaft. Vor zwei Tagen war eine große Rinderherde frei auf der Insel umhergelaufen, und einige der Tiere hatten sicher Kälber, und Kälber brauchten Milch.

Wenn es nicht die ganze Herde ins Meer geweht hatte, wenn ich eine Kuh dazu bringen konnte, daß sie stillhielt, und wenn ich ein brauchbares Trinkgefäß wie etwa eine leere Dose fand, war ich aus dem Gröbsten heraus.

Problem: Ich konnte die Herde nicht sehen.

Trox war zirka anderthalb Kilometer lang, mit dem Dorf an einem Ende und dem grasbewachsenen Landestreifen, der bis zum anderen Ende reichte. Ich ging vorsichtig zu dem Punkt des Landestreifens, wo wir uns fluchtartig ins Flugzeug geschwungen hatten, aber sosehr ich nach Kühen Ausschau hielt, nirgends zeigte sich auch nur eine Schwanzspitze.

Zu meiner großen Freude fand ich dafür die liegengelassene Kamera wieder. Meine Begeisterung flaute dann etwas ab, weil der Apparat zwar wasserdicht sein sollte und auch noch in seiner Ledertasche war, aber tief im Schlamm steckte, als hätte ich ihn nicht nur fallen gelassen, sondern obendrein festgetreten. Traurig zog ich ihn heraus und hängte ihn an den Gurt meiner Schwimmweste.

Immer noch vor allem vom Hunger getrieben, marschierte ich an einer Seite der Startbahn entlang und sah einen felsigen Streifen Land zwischen dem flachgedrückten Gras und der schwer gehenden See. Dort hätten die Kühe Platz gehabt, aber es waren keine zu erblicken. Deprimiert wechselte ich zur anderen Seite der Piste hinüber und dachte unterwegs, daß die Rollbahn, wenn sie auch aus Erde und Gras bestand, doch ein technisches Meisterstück war, durchaus lang und breit genug für große Transport- und Passagierflugzeuge, nicht nur für zweimotorige Maschinchen.

Auf der anderen Seite der Rollbahn lag ein viel breiteres Stück Felsland, das die schneidenden Winde weitgehend kahlgeschoren hatten. Umgestürzte Palmen reckten hilflos ihre Wurzeln in die Luft, ihre Kronen klebten wie durchweichte Mops am Boden. Palmen… Kokosnüsse… ich schaltete von Kuh- auf Kokosmilch und zerkratzte mir Beine und Füße noch ein wenig mehr beim Abstieg von der Rollbahn zum Meer hinunter.

Bevor ich eine Kokosnuß fand, entdeckte ich die Kühe.

Sie lagen in einer langen, dunklen Gruppe beieinander, die Bäuche am Boden. Eine kleine Felswand weiter hinten hatte sie halbwegs vor den Winden geschützt, und ihr Gewicht hatte wahrscheinlich ein übriges getan.

Viele drehten die Köpfe, als ich näher kam, und einige wuchteten sich hoch, wobei mir auffiel, daß unter den Kühen auch Bullen waren, und ich fragte mich, ob das mit dem Melken vielleicht doch keine so gute Idee war.

Drei der Bullen waren breitschultrige Brahman. Zwei waren kremfarbene Charolais. Vier waren rotbraun und weiß gescheckte Hereford. Vier andere hätte man in Rennsportkreisen als Füchse bezeichnet, aber wie sie wirklich hießen, entzog sich meinen bescheidenen Viehzuchtkenntnissen. Ein paar waren Schwarzbunte.

Von meiner Harmlosigkeit überzeugt, verloren die Herren der Herde das Interesse, schwenkten ohne Arg die großen Häupter und legten sich friedlich wieder hin.

Da ich mich dunkel erinnerte, daß Schwarzbunte reichlich Milch gaben, schlich ich auf Zehenspitzen vorsichtig um die riesige Haustierversammlung herum, bis ich zu einer dicken, sanftmütig wirkenden Schwarzbuntkuh kam, neben der ein zufriedenes Kalb lag. Ich hatte noch nie im Leben eine Kuh gemolken, und sobald ich sie anfaßte, rappelte sich das schwere Tier auf und schickte mich mit einem Blick aus seinen kummervollen Augen zum Teufel. Hätte mir der Hunger nicht so zugesetzt, wäre das Kapitel damit für mich erledigt gewesen, zumal die Kuh auch noch den Hals reckte und einen langgezogenen hohlen

Ton ausstieß, der jede Menge ihrer Gefährten auf die Beine brachte.

Das einzige Gefäß, das ich hatte, war meine Kameratasche, ein durchweichter, vermatschter schwarzer Knautschlederbeutel.

Ich kniete mich neben die Schwarzbunte, die aus ihrer Überraschung darüber, daß jemand ihre Milch als Geschirrspülmittel benutzte, keinen Hehl machte, und nachdem ich die Tasche dreimal gefüllt, geleert und ausgewrungen hatte, sah die Milch im vierten Durchgang schon einigermaßen sauber und trinkbar aus.

Von der sechsten Füllung nahm ich einen Schluck. Die Milch war warm, fett und schaumig und schmeckte entfernt nach Erde. Ich kostete die nächsten Portionen mit wachsender Zuversicht und trank die recht saubere zehnte Füllung ganz, bevor die Kuh endgültig die Geduld verlor, mir den Schwanz ins Gesicht schlug und sich wiegenden Ganges würdevoll entfernte.

Mit vorerst beruhigtem Magen kehrte ich in das zerstörte Dorf zurück und wusch an einem der verschlammten Regenwasserspeicher so gut es ging die Ledertasche aus. Die Kamera selbst, die inzwischen trocken war, rieb ich mit einem feuchten Hemdschoß sauber, bis sie, als ich zum dritten Mal den Verschluß auslöste, tatsächlich wieder ging und nicht nur klickte, sondern automatisch den Film weiterspulte.

Ich machte zwei Aufnahmen von dem verwüsteten Dorf. Danach hätte ich wahrscheinlich die Rinder geknipst, die mir langsam, aber mehrheitlich die Insel hinauf gefolgt waren und jetzt neugierig um mich herumstanden, doch hatte ich von den sechsunddreißig Aufnahmen auf dem Film nur noch wenige übrig. Eine Kuh ist eine Kuh ist eine Kuh. Kühe waren so interessant wie nicht vorhandene Pilze.

Der Sonnenschein kehrte in die Karibik zurück.

Als es nach dem Stand der Sonne am Himmel Mittag war, hatte sich noch niemand blicken lassen.

Zwei Tage waren vergangen, seit Kris und ich Grand Cayman verlassen hatten. Wir wurden sicherlich vermißt.

Es würde jemand kommen.

Nur zum Zeitvertreib kehrte ich in Bunker Nummer zwei zurück, und da ich einmal drin war, riß ich die lose herunterhängenden, rohweißen Gipsplatten ganz von den Wänden. Der freigelegte Tresor erwies sich als ein grauer Stahlwürfel von gut sechzig mal sechzig Zentimetern, der in Hüfthöhe in die Wand eingelassen war. Ich runzelte die Stirn. Ohne den Sturm wäre der Safe den Blicken der Allgemeinheit verborgen geblieben, aber andererseits war es so ungewöhnlich nicht, wenn man ein Versteck versteckt anlegte.

Ich versuchte die Safetür zu öffnen, doch wie es schien, hatten zarte Meteorologenhände einem hurrikansicheren Stahlwürfel wenig entgegenzusetzen.

Offensichtlich war ein kurzer flacher Griff zum Öffnen der Tür gedacht, aber der Griff ließ sich nur über eine elektronische Tastatur aus Buchstaben und Ziffern wie bei einem Telefon betätigen. Das schien mir ein aufwendiges Schloß für das Gelände einer Pilzfarm zu sein; ein Rätsel mehr in einer ganzen Reihe unbeantworteter Fragen.

Seufzend schlenderte ich wieder nach draußen, wo die Rinder jetzt die noch erhaltenen Grundmauern des Dorfs belagerten und mißmutig um die zum Teil freiliegenden, verdreckten Zisternen herumstrichen. Wenn sie den Kopf weit genug vorstreckten, hätten sie an das schmutzige Wasser gerade eben herankommen können, aber noch trieb sie der Durst nicht dazu.

Interessant fand ich, daß sich die Herde nicht nach Rassenzugehörigkeit aufgeteilt hatte, sondern überwiegend in gemischten Gruppen beieinander stand, Charolais neben Schwarzbunt, ein Brahmanbulle aus dem Land der heiligen Kühe in einer Schar fleischgebender Hereford, und außen herum ein paar dunkle Büffelnacken, die mir bisher entgangen waren — schwarze Aberdeen-Angus.

Der Verstand liebt kleine Streiche, und außerdem hatte ich von meiner Großmutter gelernt, im Kopf immer Platz zu lassen für die unerwartete Verbindung scheinbar unzusammenhängender Gedanken.

Mit zehn hatte ich einen gleichaltrigen Freund gehabt, der Angus hieß und sehr große, abstehende Ohren hatte. Er wurde deswegen gehänselt und bekam den Spitznamen Aberdeen, weil seine Segelohren an die einer Kuh erinnerten, und er weinte und nahm das so schwer, daß seine Eltern ihn zu einem plastischen Chirurgen schickten, und danach hatten ihn die anderen Jungs wegen der» gerefften Segel «aufgezogen, bis er auch darüber weinte. Meine Großmutter hatte» Aberdeen «Angus in das traurige Gesicht gesagt, er solle froh sein, überhaupt Ohren zu haben, taub zu sein sei schlimmer.

Es war absurd, sich auf Trox an Segelohren-Angus zu erinnern. Meine Großmutter hätte mir wohl gesagt, ich müsse mich vielleicht von Milch ernähren und ohne Schuhe und andere Annehmlichkeiten auskommen, sei aber immerhin am Leben.

Ich ging zurück in den Bunker und drückte spontan die Zahlen für ANGUS — 26487 — auf dem Tastenfeld des Tresorschlosses.

Nichts geschah. Kein Klicken, kein verheißungsvolles Piepen. Segelohren-Angus taugte nicht als Schlüssel zum Öffnen der Tür, und natürlich gab es auch keinen Grund, warum er das hätte tun sollen.

Da ich sonst wenig mit der Zeit anzufangen wußte, überquerte ich den ehemaligen Dorfplatz und sah mir noch einmal das verwüstete Innere des Bunkers an, in dem ich einen Teil der Nacht verbracht hatte.

Wozu brauchte eine Pilzfarm einen Bau mit meterdicken Wänden und hurrikansicherem Dach? Brauchte sie nicht, war die einfache Antwort; bei einer Wetter- oder Erdbebenstation machte das eher Sinn. Bei der Räumung der Insel waren die Instrumente und Unterlagen natürlich mitgenommen worden, aber ein Gebäude, in dem etwa ein Seismograph zur Messung weit entfernter Erdstöße aufgestellt war, mußte in sich äußerst stabil gebaut sein. Der Betonboden, nahm ich an, war dann mindestens so dick wie die Wände.

Wieder draußen, sah ich in den klaren blauen Himmel und lauschte dem zurückgehenden Rauschen der Wellen, aber was ich eigentlich brauchte, war ein Suchflugzeug, und danach schaute ich vergebens.

Evelyn lag jetzt vielleicht am Sand Dollar Beach in der Sonne und fragte sich, wo Kris und Perry abgeblieben waren. Aber irgendwo tobte Odin noch, und so konnte es auch sein, daß Evelyn in die Berge des bergarmen Florida geflohen war.

Die Gedanken tröpfelten dahin. Bei Robin wurden Logiergäste, die morgens um drei badeten, von bewaffneten Polizeikommandos umstellt, und der Wachdienst rief an, ob alles in Ordnung sei.»Ja«, hatte Robin leichthin gesagt,»jawohl, Hereford.«

Ich stand auf Trox und betrachtete ein braun-weiß geschecktes Rind, ein Hereford. Und wenn nun Robins Hereford für den Wachdienst in Sand Dollar Beach so etwas wie ein Kennwort war? Hereford… Hereford… alles in Ordnung.

Warum nicht?

Menschen benutzen ein und dasselbe Kennwort in den verschiedensten Zusammenhängen, weil ein einziges Kennwort leichter zu behalten ist als viele.

Ich hatte immer noch alle Zeit der Welt und spielte einfach herum. Ich stellte mich wieder vor die Tresortür, drückte 4373 (here) und 3673 (ford) auf dem Tastenfeld, und prompt kam ein lautes Klicken.

Verblüfft ergriff ich die flache Klinke, und als ich versuchte, sie anzuheben, drehte sie sich ohne weiteres, und leise schwang die Tür auf.

Schätze waren nicht dahinter, zumindest nicht auf den ersten Blick. Zwei Dinge lagen in dem stoffbezogenen Fach des grauen Stahlsafes. Das eine war ein gelber Kasten, offenbar ein elektronisches Meßgerät mit Skala und Zeiger sowie einem kurzen Metallstab an einem wie eine Telefonschnur geringelten Kabel. Der Kasten sah mir ganz nach einem Geigerzähler aus, und als ich ihn herausnahm und den Ein-Aus-Schalter drückte, gab ein bedächtiges, unregelmäßiges Ticken mir recht. Ein Geigerzähler, der nicht viel zu zählen hatte. Technisch gesprochen zählen Geigerzähler Elementarteilchen, die beim Zerfall radioaktiver Stoffe freiwerden. Der Stab enthält ein sogenanntes Zählrohr, das vor langer Zeit von den Physikern Geiger und Müller erfunden wurde. Gelangt ein Teilchen in das Rohr, ionisiert das Gas im Innern, so daß es leitfähig wird und Stromstöße erzeugt, die wiederum das Ticken hervorrufen.

Außer dem Geigerzähler lag nur noch ein gelbbrauner Hefter in dem Versteck, wie er überall auf der Welt zur Aktenablage verwendet wird.

Der Hefter enthielt, wie sich zeigte, zwanzig Blatt Papier in fast zwanzig verschiedenen Formaten: Briefe mit und ohne Briefkopf, und alle in fremden Sprachen, von denen ich kaum eine kannte. Auf fast jeder Seite standen aber unabhängig von der Sprache Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die ich zweifelsfrei erkannte und die mir angst machten. Einige Bogen waren paarweise zusammengeheftet, und zwei schienen Adressenlisten zu sein, auch wenn ich sie nicht lesen konnte, da sie in einer Schrift abgefaßt waren, die wie arabisch aussah.

Ich legte den Hefter wieder in den Tresor, ließ die Tür aber offen und ging nachdenklich wieder hinaus in die Sonne. Die Rinder drehten die Köpfe nach mir. Einige muhten, und noch ein paar mehr ließen platschende, dampfende Fladen fallen. Als Nachmittagsunterhaltung war das nicht gerade umwerfend.

Wie sich zeigte, hatte ich noch vier Aufnahmen auf meinem Film. So entschloß ich mich, doch ein Foto von den Rindern zu machen, und suchte mir dafür eine Gruppe mit möglichst vielen verschiedenen Rassen aus. Dann kehrte ich zu dem Tresor zurück, um zu entscheiden, welche drei Blätter aus dem Hefter am ehesten verewigt zu werden verdienten.

Die Wahl fiel auch bei ihrer sorgfältigen Durchsicht im Hellen nicht leicht, aber schließlich suchte ich vier heraus, fotografierte zwei davon einzeln und die beiden anderen zusammen. Nach der letzten Aufnahme war der Film alle, und zu meinem Verdruß blockierte der Rücklauf an der Stelle, wo ich den Schlamm abgewischt hatte. Unmöglich zu sagen, ob überhaupt noch brauchbare Bilder darauf waren, aber wenn nicht, schien mir das auch kein so herber Verlust. Damit jedoch die Kamera nicht noch mehr Regen abbekam, hängte ich sie ganz oben an einen Balken in der Nähe des Tresors, unerreichbar für die Kühe.

Als ich die Schriftstücke wieder in den Hefter und den Hefter wieder in den Tresor tat, überlegte ich, ob ich alles so hinterlassen sollte, wie ich es vorgefunden hatte, und entschied mich dafür — hauptsächlich, um die Papiere vor den Kühen zu schützen, denn einige waren mir so neugierig gefolgt, daß sie sich in der Tür drängten und versuchten, sich mit ihren dicken Köpfen hereinzuzwängen. Ich scheuchte sie zwar zurück, war aber auch irgendwie froh über ihre Gesellschaft, denn ohne sie wäre es doch einsamer gewesen.

Der Tag nahm kein Ende, und niemand kam.

Zwölf Stunden Dunkelheit. Dann erst wieder Morgen.

Ich schlief unruhig, mit vielen Unterbrechungen, und mein einziger Trost, als ich schließlich im Morgengrauen aufwachte, war, daß ich im Schein der untergehenden Sonne eine Suppendose zwischen den Trümmern eines der Häuser hatte blinken sehen; verbeult und mit Dreck gefüllt zwar, aber doch besser zum Milchtopf geeignet als die Kameratasche.

Die Kühe hatten mir Abendbrot und ein zeitiges Frühstück gegeben, um danach geschlossen zur Landebahn zu ziehen, deren Gras sie sowohl düngten als auch kurz hielten.

Als die Sonne aufging, war es drei Tage her, daß Kris und ich von Grand Cayman losgeflogen waren.

Hatte das Auge des Hurrikans Odin sich drei Tage lang mit zehn Stundenkilometern nach Nordwesten bewegt, dann überzog er jetzt vielleicht gerade die Küsten von Cayman mit Sturmböen und Flutwellen. Unter diesen Umständen durfte man kaum erwarten, daß jemand nach tollkühnen Fliegern suchen kam, die mit ziemlicher Sicherheit ins Meer gestürzt waren.

Ich baute mir aus Balken einen primitiven Sitz zusammen, der im Schatten liegen würde, wenn die Sonne am höchsten stand, und ließ mich dort nieder, um meine immer noch nackten Füße auszuruhen. Meine Knöchel juckten entsetzlich von Kratzern, Schrammen und Insektenstichen, die nicht heilen wollten. Den lieben langen Morgen haderte ich mit meinem Schicksal, wollte nicht glauben, daß ich noch lange hier aushalten mußte, und konnte mich deshalb nicht aufraffen, irgend etwas zu tun, um meine Inselzeit erträglicher zu gestalten.

Ich dachte an meine Großmutter, die sich, hätte sie Bescheid gewußt, vielleicht um ihren vermißten Enkel gesorgt hätte, bestimmt aber mit bündigen guten Ratschlägen bei der Hand gewesen wäre wie:»Perry, bau dir ein Haus, filter dir Trinkwasser, bastel dir Sandalen, such dir Kokosnüsse, führ Tagebuch, blas keine Trübsal.«

Sie hatte sich nie beklagt, weder als ihre Gehbehinderung anfing noch später. Mir hatte sie immer nahegelegt, alles, was sich nicht ändern ließ, möglichst mit Anstand zu ertragen, und zu dem Unabänderlichen zählte sie auch den Verlust meines Vaters und meiner Mutter.

Von meinem Durchhänger auf Trox hätte sie wenig gehalten. Über Mittag saß sie im Geist bei mir im Schatten, gerecht, aber streng. Insofern war es meine Großmutter, die mich, Schuhe hin, Schuhe her, am Nachmittag dazu trieb, ans andere Ende der Rollbahn zu laufen, und dort entdeckte ich einen Weg zu einem weißen Sandstrand und ging schwimmen, wobei ich in meinem geschwächten Zustand zwar mit der immer noch schweren, rauhen Brandung zu kämpfen hatte, aber hinterher fühlte ich mich sauber und erfrischt.

An diesem Ende der Insel gab es einen wahren Wald von abgeknickten Hartholzbäumen, und Kokospalmen lagen entwurzelt neben den traurigen Überresten von Pflanzen, die ich der breiten Blätter wegen für Bananenbäume hielt. Ich stöberte zwei eßbare Kokosnüsse und eine noch am Stiel hängende Vollreife Mango auf: ein Festmahl.

Aber der blaue Himmel blieb leer, und niemand kam.

Am nächsten Morgen war auch die graue, schwere See wieder zu karibischem Blau zurückgekehrt.

Um mir die Langeweile zu vertreiben, nahm ich den Hefter aus dem Safe, sah mir die Papiere der Reihe nach in der Sonne an und versuchte, aus den für mich unlesbaren Texten wenigstens ein bißchen klug zu werden. Eine Seite schien auf griechisch abgefaßt zu sein, da erkannte ich immerhin die Buchstaben fi und n, Omega und Pi.

In den Texten kamen viele Zahlen vor, und die Zahlen waren durchweg in lateinischer Schrift, also unserer normalen Druckschrift, geschrieben.

Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf und fragte mich, ob es sich hier zum Teil um eine Bestandsaufnahme, einen Mengen- und Artenkatalog von Pilzen aus aller Welt handeln konnte, die in den jetzt zerstörten Schuppen gezüchtet worden waren.

Schön, dachte ich, aber wozu dann der Geigerzähler?

Ich legte den Hefter zurück und lauschte bei einem gemütlichen Spaziergang durch das Geisterdorf eine Stunde lang dem unregelmäßigen, aber doch immer wiederkehrenden Ticken, das von aktiver Strahlung kündete.

Daß der Geigerzähler tickte, hatte ich erwartet, da wir von Hintergrundstrahlung immer umgeben sind, die auf natürlichen radioaktiven Stoffen in der Erdkruste beruht und auf» kosmischer Strahlung«, das sind aus dem Weltall eintreffende Elementarteilchen, die die Sonne etwa zehn Minuten vorher aus hundertfünfzig Millionen Kilometern Entfernung abgefeuert hat.

Aber um die Grundmauern der weggewehten Häuser herum schien die Strahlung ziemlich stark zu sein. Hohe Meßwerte waren nicht ungewöhnlich. Die Bewohner Aberdeens, der schottischen Granitstadt, sind einer erhöhten Hintergrundstrahlung ausgesetzt, da Granit sehr viele radioaktive Teilchen enthält. Ich sah mich um und rief mir ins Gedächtnis, was mein Kollege in Miami gesagt hatte:»Bestehend aus Vogelmist, Guano, Korallen und Kalkstein.«

War Vogelmist radioaktiv? Wohl kaum.

Wenn ich den Stab an die Risse in den Betonböden hielt, hörte es gar nicht mehr auf zu ticken; und es tickte so schnell, daß ein anhaltender Ton daraus wurde.

Ich dachte an Radon. Ein Gas, das überall auf der Welt zum Problem werden kann, da es durch den Zerfall natürlich vorkommenden Urans entsteht, unsichtbar und geruchlos in Wohnräume eindringt und Krebs verursacht. Aber Radon, dachte ich, brauchte einen geschlossenen Raum, um sich zu konzentrieren, und der Hurrikan hatte keinen geschlossenen Raum übriggelassen. Außerdem enthielt Kalkstein wenig radioaktives Uran, das sich zersetzen konnte.

Was tickte da also? Waren die Inselbewohner vielleicht deshalb verduftet: nicht wegen Nicky, schon gar nicht wegen Odin, sondern aus Angst vor der radioaktiven Strahlung unter ihren Füßen?

Wenn der Geigerzähler um die Häuser herum heißlief, so hob er an den Grundmauerresten der Pilzschuppen regelrecht ab. Stirnrunzelnd lief ich über die ganze Rollbahn zurück, um festzustellen, ob etwa auch von der Viehherde eine erhöhte Strahlung ausging, aber zu meiner Erleichterung war das nicht der Fall. Offenbar hatte ich keine radioaktive Milch zu mir genommen.

Schließlich verlor der Geigerzähler seinen Reiz als Zeitvertreib, und ich legte ihn in den Tresor zurück. Wo auch der Hefter mit den so eingehend betrachteten Papieren wieder lag, die meine Sprachkenntnisse überstiegen.

Ich sperrte den Tresor ab, und wieder legte ich an der idyllisch reinen Luft ein Stück Holz zu einer anwachsenden Reihe. Jedes Stück Holz stand für einen Tag, und bis jetzt waren es vier. Vier lange Tage und noch längere Nächte.

Verzweiflung war ein zu starkes Wort.

Verzagtheit traf es vielleicht besser.

Als sie mich holen kamen, kamen sie bewaffnet.

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