Kapitel 1

Kris Ironside und ich, beide ledig, beide einunddreißig und gelernte Meteorologen mit dem Auftrag, dem Fernseh- und Hörfunkpublikum daheim darzulegen, wie sich die unsichtbaren Schwingungen und Unregelmäßigkeiten in der Atmosphäre praktisch auswirken, hatten zufällig festgestellt, daß sich unsere Urlaubswochen zeitlich überschnitten.

Wir arbeiteten beide für das BBC-Wetterstudio und sagten im Wechsel mit mehreren anderen Kollegen der Nation das gute und das schlechte Wetter voraus. Von morgens früh bis Mitternacht hörte man unsere vertrauten Stimmen, und da unsere Gesichter mal lächelnd, mal ernst in Millionen Haushalte hineinschauten, konnten wir nirgends hingehen, ohne erkannt zu werden.

Kris gefiel das so, und mir hatte es auch einmal gefallen, aber jetzt konnte ich dem schon lange nichts mehr abgewinnen und fand im Gegenteil das unweigerliche Erkanntwerden manchmal richtig ärgerlich.

«Sind Sie nicht…?«

«Der bin ich, ja.«

Ich machte in Ländern Urlaub, wo man mich nicht kannte. Eine Woche Griechenland. Elefanten in der Serengeti. Mit dem Einbaum den Orinoco hinauf. Kleine Abenteuer. Nichts Halsbrecherisches oder was einem den Atem verschlug. Ich führte ein geregeltes Leben.

Kris tippte mit dem Daumen an den Urlaubsplan am Schwarzen Brett. Seine Hand zitterte vor Unwillen.

«Oktober-November!«schimpfte er.»Dabei wollte ich den August haben.«

Das war im Januar gewesen. Den August bekamen vorzugsweise die Mitarbeiter mit schulpflichtigen Kindern. Kris hatte nie eine reelle Chance für den August gehabt, aber bei Kris ging das Hoffen häufig über die Vernunft. Mit seiner chaotischen, unberechenbaren Ader — der manischen Seite seines Wesens — war er immer gut für einen Abend in der Kneipe, aber nach acht gemeinsamen Tagen mit ihm am Fuß des Himalaja war ich froh gewesen, wieder nach Hause zu kommen.

Mein eigener Name, Perry Stuart, stand auf der alphabetischen Urlaubsliste fast ganz unten, vor Williams und Yates. Ende Oktober also durfte ich mir die zehn Tage, die mir noch zustanden, frei nehmen und mußte am Tag vor dem großen Feuerwerk am 5. November wieder auf dem Bildschirm erscheinen. Ich zuckte die Achseln und seufzte. Alle Jahre wieder wurde ich eigens dazu ausersehen — und wohl auch damit geehrt —, die Millionen-Dollar-Frage zu beantworten, ob es am Abend des Guy-Fawkes-Tages, wenn der Himmel zum Gedenken an dessen antiparlamentarische Pulververschwörung von farbenfrohen Leuchtfeuern und Ster-nenschauern entzündet werden sollte, regnen würde oder nicht. Alle Jahre wieder bekam ich nach zutreffend vorausgesagten Regengüssen sackweise vorwurfsvolle Briefe von Kindern, die mir die Schuld an ihrer Enttäuschung gaben.

Kris folgte meinem Blick die Liste hinunter und tippte mit dem Finger auf meinen Namen.

«Oktober-November«, verkündete er ohne Überraschung.»Sag mir nichts. Den halben Urlaub vergeudest du wieder bei deiner Großmutter.«

«Wahrscheinlich.«

«Aber du siehst sie doch jede Woche.«

«Mhm.«

Was für Kris Eltern, Brüder und ein Heer von Verwandten waren, war mir meine Großmutter. Sie hatte mich als Kind buchstäblich aus den Trümmern eines durch eine Gasexplosion zerstörten Hauses gezerrt und die Trauer um meine toten Eltern ruhen lassen, um mich großzuziehen.

Was für viele meiner wetterkundigen Kollegen die Frau, die Lebenspartnerin oder die Geliebte war, waren für mich

— manchmal — die Pflegerinnen meiner Großmutter. Ich war nicht aus Prinzip unverheiratet; eher, weil es mir damit nicht eilte oder weil noch kein Aschenbrödel aufgetaucht war.

Als der Herbst nahte, ging es mit der Ironsideschen manischdepressiven Stimmungslage abwärts. Kris lief die Freundin weg, und der norwegische Pessimismus, den er zusammen mit der hellen Haut, dem langen Kinn und der hageren Gestalt von seiner Mutter geerbt hatte, verleitete ihn öfter als sonst dazu, in dem geringsten Luftdruckabfall ein heraufziehendes Sturmtief zu sehen. Kleine Gruppen der großen, breiten Öffentlichkeit entwickelten je nach ihren besonderen Bedürfnissen eine Vorliebe für bestimmte Wetterfrösche. Kollegin Beryl Yates beispielsweise war auf Hochzeiten spezialisiert, Sonny Rae beriet in seiner Freizeit Bauunternehmer oder Malerbetriebe, und der aufgeblasene alte George verriet Gemeinderäten, wann sie ihre Wasserrohre im Trocknen verlegen konnten. Landwirte, groß und klein, hielten sich an Kris und mähten ihr Heu auf die Stunde genau nach seinen Vorgaben.

Da Kris leidenschaftlicher Hobbyflieger war, stieg er an freien Tagen oft in seine Maschine und flog weite Stre-cken, um mit ihm wohlgesinnten Farmern zu Mittag zu essen. Sie holten ihre Schafe von den Wiesen, damit er landen konnte, und einer hatte sogar einmal eine ganze Zeile Trauerweiden gekappt, um ihm einen sicheren Start zu ermöglichen.

Dreimal hatte ich ihn auf solchen Ausflügen in die Landwirtschaft begleitet, doch meine eigene Fangemeinde bestand, wenn man von Kindern absah, die im Freien Geburtstag feiern wollten, hauptsächlich aus Pferdefreunden. Wie es schien, wandten sich besonders gern Trainer an mich, die ideale Bodenbedingungen für ihre schnellen Hoffnungsträger suchten, obwohl wir für bestimmte Rennen sowieso schon Vorhersagen lieferten.

Es kam vor, daß mich ein Trainer auf dem Anrufbeantworter fragte:»Montag nachmittag habe ich einen vielgetippten Starter in Windsor; kann ich mit festem Boden rechnen?«oder mir sagte:»Ich gebe meinen Steepler morgen nur für die 7200 Meter an, wenn Sie mir garantieren, daß es bis dahin regnet. «Es konnten Leute von Ponyclubs und Turnierveranstalter sein oder auch Polovereine, die Schönwetter versprochen haben wollten. Manchmal waren es Züchter, die Stuten nach Irland verschifften und auf eine ruhige Überfahrt hofften, vor allem aber waren es Rennvereine, die wissen wollten, ob sie ihre Bahn wässern sollten oder nicht, damit sie in den nächsten Tagen guten Boden hatten. War guter Boden zu erwarten, schickten die Trainer ihre Pferde. Traten viele Pferde an, kamen die Zuschauer in Scharen. Guter Boden war Gold für die Rennsportindustrie; und wehe dem Wetterfrosch, der die Wolken falsch auslegte.

Aber kein Wetterkundler, so beschlagen, so instinktsicher er auch war, konnte den Himmel immer richtig einschätzen, und bei den Britischen Inseln mit ihren unsteten Winden, die jederzeit die Richtung ändern konnten, grenzte eine Trefferquote von fünfundachtzig Prozent schon an ein Wunder.

Kris’ frühherbstliche Depressionen verstärkten sich von Tag zu Tag, und so nahm ich seine Einladung, mit ihm zu einem Sonntagsessen nach Newmarket zu fliegen, eigentlich nur an, damit er wieder ein fröhlicheres Gesicht machte. Unser Gastgeber, versicherte mir Kris, sei auf mindestens zwanzig Gäste eingestellt, einer mehr werde also die Planung nicht über den Haufen werfen.»Und außerdem«, setzte er mit dem üblichen leichten Sarkasmus hinzu,»ist dein Gesicht dein Kapital, ob du willst oder nicht. Caspar wird von den Socken sein.«

«Caspar?«

«Caspar Harvey, er gibt das Essen.«

«Oh.«

Caspar Harvey war nicht nur einer der reichsten Farmer, die Kris kannte, sondern ihm gehörten auch drei oder vier Rennpferde, deren übernervöser Trainer mir von montags bis sonntags in den Ohren lag. Trainer Oliver Quigley, vom Temperament her ungeeignet für ein stressiges Leben, erst recht aber für den nervenzerrenden Alltag des Rennzirkus, erstarrte in Ehrfurcht vor Caspar Harvey, eine alles andere als günstige Grundlage für die Beziehung zwischen Besitzer und Trainer.

Ich kannte sie beide noch nicht persönlich und hatte auch wenig Lust, sie kennenzulernen, aber bis der Sonntag kam, stieß ich immer wieder auf Verweise wie» Caspar Harvey, die Säule des Rennsports «oder» Caspar Harveys Schlußspurt auf der Liste der siegreichen Besitzer «oder» Caspar Harvey zahlt bei den Jährlingsverkäufen mehrere Millionen Pfund für Derby-Hoffnungen«, und in dem Maße, wie meine Neugier und mein Wissen zunahmen, wuchs mein Verständnis für Quigleys schwache Nerven.

In der Woche vor dem Lunch bei Caspar Harvey machte ich die beiden wichtigsten Wetteransagen, jeden Abend um halb sieben und halb zehn, das hieß, ich berechnete täglich den wahrscheinlichen Weg der Luftmassen und gab meine Einschätzung zur Hauptsendezeit vor den Kameras bekannt. Viele Leute nahmen an, daß Wetterfrösche wie Kris und ich lediglich von Dritten geschriebene Berichte vortrugen, und waren überrascht, wenn wir erklärten, daß die Vorhersagen von uns selbst stammten. Erst wenn wir die Meldungen ferner Wetterstationen ausgewertet und mit Kollegen erörtert hatten, gingen wir >live<, ohne Skript und normalerweise allein in das winzige Studio, um die computergefertigten Wetterkartensymbole an der Karte von Großbritannien zu kommentieren.

Insgesamt gab es über zweihundert Wetterstationen auf den Britischen Inseln, deren Angaben über den örtlichen Luftdruck, die Windrichtung und die Windstärke einem großen Zentralrechner zugeführt wurden, der im Wetteramt in Bracknell bei Ascot westlich von London stand. Dieser Rechner empfing Daten aus der ganzen Welt, und man konnte ihm alles entnehmen, was in den nächsten achtundvierzig Stunden voraussichtlich an der Weltwetterfront passierte. Ganz sicher war jedoch nichts davon, und bei plötzlich nachlassendem Hochdruck konnten Polarwinde durchkommen, die unsere freudigen Erwartungen zu wenig überzeugenden Erklärungen gefrieren ließen.

Der Sonntag der Lunchparty bei Caspar Harvey Ende September begann jedoch hell und klar mit einem kalten Wind von Ost, Bedingungen, die den ganzen Tag vorhalten würden, so daß die Farmer in East Anglia ihre spätreife Gerste einfahren konnten.»Ideales Flugwetter«, meinte Kris.

Kris’ Flieger, eine einmotorige Piper Cherokee mit tiefliegenden Tragflächen, war ungefähr dreißig Jahre alt. Er machte keinen Hehl daraus, daß er bereits der vierte Besitzer war; der dritte war ein Flugverein gewesen, der die Maschine mitunter sechs Stunden am Tag beansprucht hatte, was auch Kris nicht so gut fand, die Altersflecken der rissigen Sitze störten ihn hingegen wenig.

Meine erste Reaktion auf das Uraltgeschoß vor ein paar Jahren war:»Nein danke, ich bleib lieber mal unten«, aber im echowerfenden Hangar seines Flugplatzes hatte mich Kris mit einem Mechaniker bekannt gemacht, der über den Zusammenhang zwischen losen Schrauben und plötzlichem Tod Bescheid wußte. Auf die Versicherung des Mechanikers hin, daß die Piper trotz ihres Alters bis zur letzten Niete flugtauglich sei, hatte ich mein Leben in Kris’ Hände gelegt.

Kris entpuppte sich dann als erstaunlich sicherer Pilot. Ich hatte befürchtet, er sei in der Luft so leichtfertig wie in seinem Verhalten allgemein, aber am Steuer war er konzentriert und zuverlässig, und hinterher schwebte er nicht höher als eine Radiosonde.

Viele Kollegen fanden den Umgang mit Kris schwierig und fragten mich verwundert, wie ich damit zurechtkam, daß er offensichtlich meine Gesellschaft suchte. Meistens antwortete ich wahrheitsgemäß, daß mir seine etwas schrägen Ansichten gefielen, und ließ unerwähnt, daß er während seiner Stimmungstiefs so selbstverständlich über Selbstmord redete, als ginge es um die Auswahl der Krawatte für das 8-Uhr-Wetter.

Nur Rücksicht auf seine Eltern, besonders auf seinen Vater, hielt ihn davon ab, sich wirklich vor einen Zug zu werfen (sein bevorzugter Abgang), und ich nahm an, sein Selbsthaß war schwächer und sein Wille zum Durchhalten stärker als bei Leuten, die dem Todeswunsch nachgaben.

Zur Zeit von Caspar Harveys Lunchparty hatte Kris Iron-side die makabren Neigungen einer Reihe junger Frauen überlebt, die von der Idee des Selbstmordes vorübergehend fasziniert waren, und hielt es nicht mehr für ausgeschlossen, vielleicht doch ein mittleres Alter zu erreichen.

Kris war schlank, hochgewachsen und sah auffallend gut aus, mit klugen, hellblauen Augen, dichten blonden Stachelhaaren, denen kein Friseur beikam, einem kräftigen blonden Schnurrbart und — besonders auf dem Bildschirm — einem nur angedeuteten Lächeln, das niemandem erlaubte, an seinen Worten zu zweifeln.

Er hatte sein aeronautisches Prachtstück auf dem Flugplatz von White Waltham stehen, gab einen Großteil seines Einkommens dafür hin und erklärte jedem, der ihm zuhörte, daß es als fit haltendes Herztonikum jeglichem Aerobic haushoch überlegen sei; und er begrüßte mich in White Waltham mit der aufgekratzten Freude, die ich aus Erfahrung kannte. Seine an den Zapfsäulen stehende Cherokee nahm Treibstoff auf, der so explosiv war wie er selbst, und beide Tragflächentanks wurden bis zum Rand gefüllt, um jedes bißchen Kondenswasser zu verdrängen, das sich beim Abkühlen der Maschine nach dem vorigen Flug gebildet haben konnte.

Statt der Schutzbrille und des weißen Schals der Piloten alter Schule trug Kris einen Norwegerpullover über einem dicken karierten Wollhemd. Er musterte meine dunkle Hose, das weiße Hemd, die blaue Jacke und nickte beifällig; meine biedere Erscheinung erlaubte es ihm gewissermaßen, zum Ausgleich den Exzentriker herauszukehren.

Er tankte fertig, überzeugte sich, daß die Verschlußkappen fest aufgeschraubt waren, und nachdem wir den weißen Flieger dann ein Stück von den Zapfsäulen weggeschoben hatten (kleines Zugeständnis an andere, die tanken mußten), ging er systematisch um die ganze Maschine herum, sagte sich seine Checkliste vor und berührte dabei die einzelnen wichtigen Teile. Wie üblich klappte er abschließend die beiden Hälften der Motorhaube auf, um sicherzugehen, daß der Mechaniker keinen Lappen im Getriebe zurückgelassen hatte (wie käme er dazu!), und wischte den Meßstab ab, bevor er ihn wieder in die Wanne tauchte und sich vergewisserte, daß der Ölstand ausreichte, um den Motor gleitfähig zu halten. Wenn es ans Fliegen ging, kannte Kris keinen Leichtsinn.

War er dann an Bord und hatte links vorn (auf dem Pilotensitz) Platz genommen, führte er dort ebenso gewissenhaft die letzten Checks durch —»Schalter okay?«und so weiter —, warf schließlich den Motor an und konzentrierte sich auf die Instrumente.

An seine Akribie gewöhnt, wartete ich geduldig darauf, daß sein Kreuz und seine Hände sich entspannten, und endlich grunzte er zufrieden, schaltete das Sprechfunkgerät an und teilte dem Sonntagsflugleiter oben im Glasturm mit, daß Ironside mit seiner Cherokee die Starterlaubnis für einen einfachen Flug nach Newmarket brauche, voraussichtliche Rückkehr gegen siebzehn Uhr Ortszeit. Kris und der Flugleiter kannten sich gut; der Informationsaustausch war eher eine Geste als eine Pflicht. Frei zum Rollen, bestätigte der Tower.»Danke, Junge«, sagte der Pilot.

Kris hatte recht, es war ein herrlicher Tag zum Fliegen. Die leicht beladene Cherokee hob locker ab und schwenkte im Aufsteigen nach Norden. Der Motorenlärm, halb Knurren, halb Klappern, machte eine normale Unterhaltung schwierig, aber Reden war dort oben, wo man auf Adler hätte hinabsehen können, ohnehin überflüssig. Ein Glücksgefühl stieg in mir auf wie ein bunter Luftballon, und ich verfolgte unseren Weg anhand der Karte auf meinen Knien mit höchster Zufriedenheit. Eines Tages, wieso nicht, würde ich vielleicht selbst fliegen lernen…

Kris hatte auf der Landkarte zwei gerade Linien eingezeichnet, die Route zum Lunch und zurück. Nun steuerte er nach dem Kursweiser, wobei er Seitenwind und magnetische Mißweisung mit einrechnete, und ich beobachtete innerlich jubelnd den Lauf der Straßen und Flüsse zweitausend Meter unter uns und sah ihn grinsen und mit dem Kopf nicken, wenn ich sie ihm zeigte.

Wir flogen von White Waltham nach Norden und schwenkten dort, wo die vielspurige, nach Norden gehende M1 die Außenbezirke der weitgedehnten Stadt Luton mit ihrem vielbesuchten Flughafen erreichte, nach Nordost.

Kris hätte sich gern ein paar der neuesten flugelektronischen Errungenschaften zugelegt, die das Navigieren in der Luft erleichterten. Es kostete ihn aber schon den letzten Heller, überhaupt zu fliegen, und so navigierte er mit dem Finger auf der Karte und mit Hilfe scharf aufpassender Mitflieger; einmal erst, sagte er, hatte er sich auf diese Weise gefährlich verflogen.

Wir franzten uns wohlbehalten in die Gegend von Newmarket durch, wo er dann ein großes Haus ein wenig südlich der Stadt anpeilte, auf knapp dreihundert Meter hinunterging und es zweimal umkreiste, worauf winkende Gestalten unten im Garten erschienen.

«Caspar Harveys Haus«, rief Kris unnötigerweise.

Ich nickte bestätigend, und während er es im Uhrzeigersinn umflog und die Tragfläche auf meiner Seite senkte, um mir freie Sicht zu geben, holte ich die nützliche kleine Kamera hervor, die ich immer dabeihatte, und schoß genügend Aufnahmen, um unserem Gastgeber ein Dankeschön mitzubringen und ihm eine Freude zu machen.

Kris hörte auf zu kreisen, ging noch einige fünfzig Meter tiefer und führte mir von der Cherokee aus die zweckmäßig gebaute Stadt vor, die als die Schaltzentrale der Renn-welt galt. Wieviel hundert Mal hatte ich schon per Telefon mit Trainern gesprochen, die dort arbeiteten. Wir hatten uns tonnenweise E-Mails geschickt. Ich kannte Stimmen, und ich kannte Typen, denn es war nicht nur Oliver Quigley mit seinen nervösen Ängsten, der Garantien von mir verlangte, die ich nicht geben konnte.

Weder ich noch Kris, den ich vor dem Flug gefragt hatte, wußten, ob die vielen Ställe in Newmarket aus der Luft zu erkennen waren, und als wir nun mit hundertzwanzig Knoten über die Stadt donnerten, stellte ich fest, daß ich nur die zwei oder drei größten wiedererkannte.

Oliver Quigley hatte mir öfter erzählt, daß seine Pferde vom Stall direkt nach Warren Hill hinaustraben konnten, doch bei dem Tempo, dem Sonnenschein und meiner mangelnden Vertrautheit mit der Luftansicht der Stadt hätte ich überhaupt nicht sagen können, in welchem der viereckigen Stallhöfe Caspar Harveys vierbeinige Geldanlagen standen, ganz zu schweigen von der Stute, die am Freitag starten sollte. Um dem Trainer auch wirklich eine Freude zu machen, knipste ich daher möglichst viele Höfe.

Nirgends war ein Pferd zu sehen, weder auf den gut erkennbaren Trainingsanlagen noch auf den Horsewalks, den speziell für Pferde angelegten Wegen, die die Stadt durchzogen. Irgendwo da unten gab es mehr als zwölfhundert edle Vollblüter, aber sonntags um die Mittagszeit träumten sie wahrscheinlich nur.

Kris sah auf seine Armbanduhr, schwenkte von der Stadt nach Süden und setzte gekonnt auf dem dafür vorgesehenen Grasstreifen auf, der neben dem im Hochsommer genutzten Teil der Rennbahn — dem July Course — verlief. Der Jockey Club erlaubte das nicht nur, sondern erhob zu Kris’ Leidwesen eine Gebühr dafür.

Wir rollten schnell zu einem wartenden Landrover hinüber, an dem eine junge Frau in einem ultrakurzen Rock lehnte.

«Mist«, sagte Kris heftig.

«Wieso Mist?«

«Er hat seine Tochter geschickt. Dabei hat er mir versichert, sie wäre nicht da.«

«Sie sieht doch ganz okay aus.«

Kris hatte für meine Naivität nur ein mitleidiges» Ha!«übrig, zog die Cherokee herum, brachte sie in eine gute Parkposition und stellte den Motor ab.

«Sie heißt Belladonna«, sagte er.»Ein Gift.«

Ich löste meinen Sicherheitsgurt, öffnete die Tür, stieg aus und sprang von der Tragfläche herunter. Kris kam nach dem Schaltercheck hinterher. Ich wußte nicht genau, ob das mit ihrem Namen ernst gemeint war, aber er machte uns zwanglos miteinander bekannt.»Bell, das ist Perry. Perry… Belladonna. Sag Bell zu ihr.«

Ich gab ihr die Hand. Sie sagte mit hochgezogenen Augenbrauen:»Sind Sie nicht…?«:

«Doch, doch«, sagte ich.

Sie sah nicht tödlich, sondern allerliebst aus. Blonde Haare, eher zausig als ordentlich. Blaue Augen mit unschuldig blinzelnden Lidern. Rosarot nachgezeichnete Lippen, die nie ganz zu lächeln aufhörten. Auch ohne die Bemerkung von Kris wäre ich auf Hexerei gefaßt gewesen.

«Rein mit euch«, sagte sie und winkte zu dem Landrover.

«Dad hat euch kreisen hören und mich hergeschickt. Er macht gerade Glühwein. Davon kriegt ihn keiner weg.«

Als wäre die Aufforderung nicht an sein Ohr gedrungen, lief Kris um den Flieger herum, tätschelte ihn beifällig und lauschte dem leisen Knistern des abkühlenden Metalls. Der weiß lackierte Rumpf glänzte in der Sonne, ebenso wie Kris’ persönliches Kennzeichen, der dunkelblaue Blitz, und die Registriernummer, die ihn international auswies; und tatsächlich war er schon so viel herumgekommen, daß man ihn in etlichen Weltgegenden (nicht ohne Respekt) den >pingeligen Engländer< nannte. Wenn er an nassen Tagen landete, wischte er die Flügel nicht nur oben, sondern auch an der Unterseite ab, wo die Räder sie mit Matsch bespritzt hatten.

«Steig schon ein«, sagte Bell und hielt ihm die Beifahrertür auf.»Die Lunchparty ist heute, nicht morgen.«

Die Feindseligkeit zwischen ihnen war versteckt, aber eindeutig vorhanden. Ich saß während der acht Kilometer Fahrt zu Caspar Harvey hinten, lauschte dem nicht unhöflichen Zwiegespräch und fragte mich, wie weit ihre gegenseitige Abneigung ging — ob zum Beispiel einer für die Rettung des anderen sein Leben aufs Spiel setzen würde.

Caspar Harveys Haus, so zeigte sich, war mehr als imponierend anzusehen, aber man konnte es nicht direkt protzig nennen. Die Vorderseite mit ihrem kleinen palladianischen Säulenportal machte zwar viel her, doch dahinter war alles recht einfach gehalten. Diele und Wohnzimmer, durch Türbogen miteinander verbunden, boten reichlich Platz für die gut dreißig Leute, die dort herumstanden und Glühwein tranken, Erdnüsse knabberten und über Newmarkets einträglichsten Produktionszweig plauderten — Rennpferde.

Caspar Harvey schlängelte sich, als er Kris’ Ankunft bemerkte, mit hoch erhobenem Glas durch den Raum, bis er seinen neuen Gast durch Zurufen begrüßen konnte.

«Ich hab Sie kreisen gehört. «Er nickte Kris zu.»Und schön, daß Sie mitgekommen sind«, ergänzte er zu mir gewandt.»Mein Trainer schwört auf Ihr Gespür für Regen. Er steckt hier irgendwo. Soll ich meine Stute am Freitag starten? Meine Frau glaubt an die Sterne. Mögen Sie Glühwein?«

Ich nahm den Wein entgegen, der angenehm nach Zimt und Zucker schmeckte, während Harvey auf seinen Trainer Oliver Quigley zeigte, der zapplig und sichtlich gehemmt auf der anderen Seite des Raums stand.

«Sagen Sie ihm, daß es bis Freitag trocken bleibt«, meinte Harvey.»Sagen Sie ihm, er soll mein Pferd laufen lassen.«

Er gefiel sich, wie mir schien, in der Rolle des großzügigen Gastgebers. Verwerflicherweise schien mir auch, daß die Rolle ihm wichtiger war als seine Gäste. Seine überschwengliche Gestik war wie sein Ambiente: ein bewußtes Herausstellen von Wohlstand und Erfolg, aber immerhin ohne Fanfaren.

Ich sagte ihm, daß ich Luftaufnahmen von seinem Haus gemacht hätte und ihm welche schicken würde, und erfreut meinte er, ich dürfe auch seine Gäste fotografieren, wenn es ihnen recht sei.

Er schien ebenso gutgenährt wie wohlhabend, ein breitschultriger Mann mit dickem Hals und einem gepflegten graumelierten Bart. Genau wie ich war er nur eine Handbreit kleiner als der schlanke Kris, in jedem Fall eine herausragende Erscheinung, denn die undefinierbare Aura, die mit dem Erfolg einhergeht, war bei ihm sehr ausgeprägt. Ich fotografierte ihn. Er stellte sich noch einmal anders in Pose und nickte hold, als es wieder blitzte.

Kris trank Coca-Cola, wie sich das für einen braven kleinen Piloten gehört, und hielt seine manische Extravaganz im Zaum. Seelisch hatte er ein klares Hoch heute; gut für Witze und Gelächter und weit weg von verzweifelten Wanderungen über irgendwelche Eisenbahngleise.

Die ungiftige Belladonna tauchte an meiner Seite auf, schenkte mir aus einer dampfenden Karaffe nach und fragte unverblümt, warum sich ein vernünftig wirkender Mensch wie ich mit dem Psycho-Zickzackflieger Ironside abgab.

«Er ist gescheit«, sagte ich gelassen.

«Reicht Ihnen das?«

«Was haben Sie gegen ihn?«fragte ich.

«Gegen ihn? Ich habe den Mistkerl mal geliebt. «Sie schenkte mir die Andeutung eines breiteren Lächelns, zuckte die Achseln und zog mit ihrer Karaffe weiter, während ich, wie das bei solchen Anlässen geht, bei einer Plauderrunde landete, zu der auch der ständig besorgte Trainer Oliver Quigley gehörte. Was mit dem Wind sei, wollte er wissen.»Es ist so kalt«, sagte er.

Meine harmlose leibliche Anwesenheit, noch dazu mit Kamera, schien ihn durcheinanderzubringen. Nun war ich zwar Ablehnung und Empörung von Seiten rennsportorientierter Leute gewohnt, die wie Kinder offenbar annahmen, ich sei am schlechten Wetter schuld. Auch war ich es gewohnt, der Unglücksbote zu sein, der von verlorenen Schlachten kündet, und man hatte es mir oft genug verübelt, daß ich lächelte, wenn ich Schneestürme voraussagte; aber daß ich Gefühle weckte, die nach Angst aussahen, war mir neu.

Du mußt dich irren, dachte ich. Allerdings kannte ich ihn nur als nervösen, vom Wetter besessenen Trainer, und wer weiß, daneben konnte er alle möglichen Probleme haben.

«Das kommt vom Ural«, sagte ich beschwichtigend.

Er war verwirrt.»Was denn?«

«Der Ostwind. Es ist früh für so einen starken Polarwind, aber wenn er bis Freitag bleibt, könnte Caspar Harveys Stute einen klaren, trockenen Tag bekommen.«

«Und bleibt er denn?«Die Frage kam ein wenig streitlustig von einer imposanten grauhaarigen Frau um die Fünfzig, Amerikanerin vermutlich, die mit drei Reihen Perlen und einem verlegen dreinschauenden Gatten zu der Gruppe gestoßen war.

«Evelyn, Liebes…«, meinte er nachsichtig.

Sie fragte weiter.»Und was meinen Sie mit Ural?«

Ihr Gatte, ein rundlicher kleiner Mann mit einem schweren dunklen Brillengestell, nahm mir elegant die Antwort ab.»Evelyn, Liebes, der Ural ist ein Gebirge in Rußland. Vom Ural geht es glatt durch nach London, da liegt kein Höhenzug dazwischen. Nichts, was einen sibirischen Ostwind ablenkt oder zerstreut. «Er taxierte mich mit klugen, freundlichen braunen Augen hinter den dicken Brillengläsern.»Sind Sie nicht der junge Mann, der mit dem Meteorologen im Flugzeug gekommen ist?«

Bevor ich das bestätigen konnte, wies Oliver Quigley auch schon eilig und mit fahrigen Handbewegungen darauf hin, daß ich ebenfalls Wetterexperte sei und beim Fernsehpublikum wahrscheinlich sogar noch bekannter als Kris.

«Robin und Evelyn«, erklärte er mir, um nicht unhöflich zu erscheinen,»sind Amerikaner, und da sie vorwiegend in Florida leben, kennen sie das britische Fernsehen nicht so.«

«Darcy«, sagte der kleine Mann und ergänzte die Vorstellung, indem er sein Weinglas vorsichtig in die linke Hand nahm und mir die rechte anbot,»Robin Darcy. «Er machte Lunchparty-Smalltalk mit gedämpftem Bostoner Akzent.»Und fahren Sie zusammen mit Kris Ironside in Urlaub?«

Was für eine Frage!» Ich glaube nicht«, antwortete ich. Robin, dachte ich, hatte sich gerade ganz diskret nach meinen sexuellen Neigungen erkundigt. Wie sah es denn dann mit seinen aus? Evelyn, matronenhaft in Schwarz und scheinbar älter als ihr Mann, entsprach niemandes Vorstellung von einer heißen Braut.

«Besuchen Sie uns mal«, sagte sie automatisch, ohne es ernst zu meinen.

«Gern. «Auch meine Begeisterung klang falsch, wie das so geht.

Ihr Mann, der sein Glas wieder abgestellt hatte, wippte ein wenig auf Fersen und Zehen, die Hände auf dem Bauch gefaltet. Sein ohnehin geringes Interesse an mir schwand zusehends, und bald wanderte er mit Evelyn im Schlepptau davon, um sich lohnendere Gesprächspartner zu suchen.

Belladonna kehrte mit ihrer Karaffe zurück und schaute hinter den Darcys her.»Wenn Sie kluge Köpfe mögen, ist er Ihr Mann.«

«Worin ist er denn klug?«

Bells helle Wimpern flatterten.»Das ist wie Schönheit. Angeboren. Er ist es einfach.«

Darcy wirkte aber, wie er so umherlief, unscheinbar und wenig eindrucksvoll. Evelyns Plauderstimme war es, die dominierte.

«Lassen Sie sich nicht täuschen«, meinte Bell.

«Nein.«

«Kris sagt, Sie hätten ihm schon ein paarmal das Leben gerettet.«

Nach einem Moment antwortete ich:»Er hat gern mit Zügen gespielt.«

«Jetzt nicht mehr?«

«Immer seltener.«»Ich wollte nicht mit ihm fliegen«, sagte sie.»Dauernd gab es Streit deshalb. «Nach einer Pause setzte sie hinzu:

«Das war das Aus für uns. Macht er Ihnen keine Angst?«

Vor einem Jahr noch hatten die Züge fast einmal den Sieg davongetragen; den ganzen Abend hatte ich bei ihm gesessen, während er wie ein Fötus zusammengerollt dalag und vor sich hin stöhnte, um dann schließlich gequält nur ein einziges Wort herauszubringen:»Tödlich.«

Ein paar Schritte entfernt war Kris gerade am Abheben: Er erzählte einen Fliegerwitz und rief heiteres Gelächter hervor.

«Herrgott!«stöhnte Bell.»Den hab ich ihm vor Jahren erzählt.«

«Gute Witze welken nicht.«

«Wissen Sie, daß er manchmal Gedichte schreibt?«

«Mhm. «Ich schwieg.»Meistens mit wissenschaftlichem Inhalt.«

«Ich habe gesehen, wie er sie zerrissen hat.«

Ich auch. Eine Form von Selbstmord, hatte ich gedacht; aber es war doch besser, wenn es die Gedichte traf.

Bell kehrte Kris den Rücken und sagte, im Eßzimmer gebe es zu essen. Dort standen weiß gedeckte Tische mit goldenen Partyservice-Stühlen drumherum und ein herbstliches Büfett, wie Millionäre und hungrige Wetterpropheten es sich nur wünschen konnten. Ich stellte mir einen unverschämt vollen Teller zusammen und wurde von Evelyn Darcy nachdrücklich aufgefordert, an dem runden Tisch Platz zu nehmen, wo ihr Mann und vier andere Gäste sich gebratenes Moorhuhn zu Gemüte führten.

Die vier Unbekannten hatten das übliche Aha-Erlebnis mit mir und ließen sich versprechen, daß es für den Rest des Tages nicht regnen würde; ich lächelte und ging gern auf sie ein, da ich meinen Beruf wirklich mag und ein wenig Werbung niemals schadet.

Einer der Unbekannten entpuppte sich als der Spitzentrainer George Loricroft, ein distinguierter Mittvierziger, und neben ihm saß seine blonde, auffallend gutgebaute junge Frau Glenda. Wann immer Glenda etwas sagte, widersprach ihr dominanter Mann oder unterbrach sie. Hinter Glendas nervösem Kichern, schien mir, verbarg sich bitterer Groll.

Evelyn Darcy mit ihrer dreireihigen Perlenkette und dem schwarzen Kleid hatte nicht nur zu viel Spray im silbergrauen Haar, sondern war auch entschieden zu neugierig, um sich mit Fragen zurückzuhalten. Sie wollte wissen — und tat es lautstark kund —, ob Kris und ich uns mit unseren vielen Fernsehauftritten eine goldene Nase verdienten. Sonst könne sich Kris doch wohl kein Flugzeug leisten.

Alle hörten sie. Kris, auf der anderen Raumseite, schüttelte sich vor Lachen, zwinkerte mir zu und antwortete ihr noch lauter:»Wir sind im öffentlichen Dienst. Wir kriegen Beamtengehälter. Ihr bezahlt uns — und das langt kaum, um den Kondombedarf zu decken.«

Die Reaktionen auf diese intime und unzutreffende Enthüllung reichten von Gelächter unter den Gästen bis zu Abneigung und Verlegenheit. Ich aß friedlich mein Moorhuhn. Wenn man mit Kris befreundet war, mußte man sich mit dem ganzen Kris abfinden. Er hätte viel Schlimmeres sagen können. Hatte er mitunter auch schon.

Evelyn Darcy gefiel es zu plaudern. Robin saß mit Duldermiene neben ihr. George Loricroft, der Dauerunterdrücker seiner Frau, fragte mich, ob wir wirklich Beamtengehälter bekämen, und ich bestätigte es ihm und meinte, warum auch nicht, schließlich dienten wir ja der Öffentlichkeit.

Hier schob dann Oliver Quigley einen Stuhl in die viel zu schmale Lücke zwischen Evelyn und mir und legte ein Benehmen an den Tag, als sei ihm die Militärpolizei wegen unsäglicher Verbrechen auf den Fersen. Entspannte sich der Mann denn niemals?

«Ich wollte Ihnen noch sagen«, stammelte er mir mehr oder weniger ins Essen,»daß ich gestern ein Angebot von so einem neuen Verein im Briefkasten hatte, da kann man… ehm, also ich meine, es lohnt sich, das mal zu versuchen, denke ich.«

«Was für ein Angebot?«fragte ich ohne sonderliches Interesse, als ihm die Worte ausgingen.

«Na ja… also… für einen persönlichen Wetterbericht.«

«Von einer Privatfirma?«fragte ich.»Meinen Sie das?«

«Hm… ja. Man schreibt… ehm, per E-Mail natürlich, für welchen Ort und welche Zeit man wissen möchte, wie das Wetter wird, und bekommt sofort die Antwort.«

«Faszinierend«, meinte ich trocken.

«Haben Sie noch nichts davon gehört? Das ist doch Konkurrenz für Sie, oder?«

Wäre er mutiger gewesen, hätte man ihm Sarkasmus unterstellen können. So aber aß ich das ausgezeichnete Moorhuhn mit den Croutons auf und lächelte, statt mich zu ärgern.

«Nehmen Sie die ruhig in Anspruch, Mr. Quigley«, sagte ich.»Kein Problem.«

«Jetzt bin ich aber platt!«rief er aus.»Ich meine… stört Sie das denn nicht?«

«Nicht im geringsten.«

Robin Darcy beugte sich vor und fragte mich an seiner Frau und dem zittrigen Trainer vorbei:»Wieviel berechnen Sie Mr. Quigley für die Empfehlung, Caspars Stute am Freitag laufen zu lassen?«

Oliver Quigley war vielleicht nervös, aber nicht dumm. Er hörte zu und begriff. Er machte den Mund auf und zu, und ich wußte, er würde sich auch weiterhin zuverlässige Auskunft bei mir holen, für die er nichts zu zahlen brauchte.

Robin Darcy fragte mich mit scheinbar ungespieltem Interesse, wann ich angefangen hätte, mich für das Wetter zu interessieren, und ich erklärte ihm wie hundert anderen vorher, daß ich schon mit sechs Jahren die Wolken beobachtet und mir nie ein anderes Leben gewünscht hatte.

Seine Freundlichkeit, dachte ich, beruhte auf der Überzeugung von seiner geistigen Überlegenheit. Ich hatte längst gelernt, solche Überzeugungen unangetastet zu lassen, und war als Folge davon einige Male befördert worden. Nur mir selbst gestand ich ein, welch ein beklagenswerter Zynismus dahinterstand. Aber ich war auch bescheiden genug, mir einzugestehen, wenn mir jemand wirklich überlegen war. Ich lächelte Robin Darcy ein wenig an und konnte mir nicht darüber klarwerden, wie klug oder wie stark er war.

Evelyn fragte:»Wo haben Sie denn Meteorologie gelernt? Ist das ein besonderer Studiengang?«

Ich sagte:»Im Regen stehen nennt sich das.«

Kris, wieder auf dem Weg zum Büfett, hörte sowohl die Frage als auch die Antwort und rief Evelyn über die Schulter zu:»Lassen Sie sich nichts aufbinden. Er ist Physiker. Dr. Perry Stuart, jawohl.«

Robin gähnte und kniff die kurzsichtigen Augen zu, aber irgendwo in dem scharfen Verstand hatte es klick gemacht. Ich hatte es gesehen und gespürt, und ich verstand nicht recht, warum er es verbergen wollte.

Oliver Quigley beeilte sich, mir zu versichern, daß er mich mit der Überlegung, ein anderer Wetterdienst sei vielleicht besser, nicht hatte beleidigen wollen, obwohl es vielleicht so geklungen habe. Im Gegensatz zu mir schien ihn das heftig zu beunruhigen. Hätte Oliver Quigley sein zerschlissenes Nervenkostüm genommen und es jemand anderem vor die Füße gelegt, wäre ich entzückt gewesen.

Caspar Harvey spielte tadellos den netten Hausherrn, um bei seinen Gästen in guter Erinnerung zu bleiben, kam zu mir an den Tisch, nahm mich ins Schlepptau, machte mich reihum bekannt und bat alle, sich von mir fotografieren zu lassen. Die Abgeneigten wurden überstimmt: Caspar schenkte Glühwein nach und bekam seinen Willen.

Ich lichtete Quigley und Loricroft zusammen ab, als die beiden Trainer sich noch eine Portion knusprige Röstkartoffeln nahmen und kurz übers Geschäft plauderten. Erst schnappte ich einen Satzfetzen von Quigley auf —»er zahlt nie pünktlich«- und dann von Loricroft —»ist mein Pferd in Baden-Baden am Start behindert worden«.

Loricrofts großbusige Frau vertraute ihren Tischnachbarn stolz an:»George fährt oft nach Deutschland und holt Siege heim, stimmt’s, George?«Aber Loricroft ließ ihre Begeisterung ins Leere laufen, verbesserte das» oft «durch» ein einziges Mal «in der letzten Saison.»In Frankreich gewinne ich viel mehr Rennen, aber es wäre zuviel verlangt, daß meine liebe Frau das klarkriegt.«

Er blickte Beifall heischend in die Runde und lächelte selbstgefällig. Ich fand Glenda schon schwer auszuhalten, ihren lieben George aber unerträglich.

Dem ausgezeichneten Lunch folgten Kaffee und bekömmlicher Portwein, und allmählich brachen die Gäste auf. Kris und ich mußten aber erst zu der Cherokee gebracht werden, und Bell war nirgends zu sehen.

Caspar Harvey selbst machte meiner unentschlossenen Warterei ein Ende, indem er sich vor mich hinstellte und auffordernd sagte:»Wenn Sie schon in Newmarket sind, können Sie genausogut mal einen Blick auf meine Stute werfen. Und sie fotografieren. Dann wissen Sie auch, was am Freitag auf dem Spiel steht.«

Er zupfte mich am Ärmel, so daß es direkt unhöflich gewesen wäre, mich zu weigern. Es sprach auch nichts dagegen, daß ich mir die Stute ansah, schon gar nicht nach einer solchen Bewirtung, außer daß es für Kris, der noch im Hellen zurückfliegen wollte, eng werden konnte.

Nicht die Zeit machte Kris zu schaffen, sondern die Erkenntnis, daß von ihm erwartet wurde, wieder mit Bell in dem Landrover zu fahren. Es gab keinen zwingenden Grund, warum fünf Personen mit drei Autos zu der Stute fahren mußten, aber Caspar Harvey wollte es offensichtlich so, und nachdem er Oliver Quigley mit einem herzlichen» bis gleich «verabschiedet hatte, bekam er seinen Willen.

Er fuhr hinter Quigleys hellblauem Volvo zum Tor hinaus und überließ es seiner Tochter, mit Kris in dem Landrover nachzukommen.

Da es nur eine Fahrt von knapp zehn Kilometern war, kam Caspar Harvey ohne Umschweife auf das zu sprechen, was er auf dem Herzen hatte.

«Wie labil ist Ihr Freund Kris?«

«Hm…«:, wich ich aus.

«Ich möchte ihn nicht zum Schwiegersohn«, erklärte er.

«Im Moment«, sagte ich,»können Sie da ziemlich beruhigt sein.«

«Unsinn! Das Mädchen ist in ihn vernarrt. Vor einem Jahr haben sie sich furchtbar gestritten, und ich muß sagen, da war mir gleich wohler. Nicht, daß er kein erstklassiger Meteorologe wäre; das ist er. Ich halte mich an seine

Wettertips und habe schon Tausende, buchstäblich Tausende dadurch gespart.«

Er schwieg, fand sein Anliegen sicher heikel, brachte es aber trotzdem vor.

«Könnten Sie ihm sagen, er soll meine Tochter in Ruhe lassen?«

Die simple Antwort darauf war natürlich nein. Es schien mir aber nicht die richtige Frage zu sein.

Als ich nicht gleich antwortete, sagte Harvey:»Vor einem Jahr war sie stinksauer auf ihn. Sie nahm einen Job in Spanien an. Vor sechs Wochen kam sie dann wieder und wollte, daß ich heute die Lunchparty gebe, aber Kris nicht sage, daß sie da sei, und Gott weiß, warum, ich habe ihr den Gefallen getan, ich dachte, sie wäre längst über ihn hinweg, aber das war ein Irrtum. Sie ist es nicht.«

Er schwieg düster, während sein großer Wagen schnurrend die Kilometer fraß.»Kris fragte mich, ob er heute einen Freund als Navigator mitbringen könnte, und als ich Sie sah — Sie sind offensichtlich ein vernünftiger Mensch, im Gegensatz zu ihm —, dachte ich, es wäre vielleicht möglich, daß Sie ihm sagen, er solle Bell nicht noch mal durcheinanderbringen… aber wahrscheinlich finden Sie die Idee nicht so gut.«

«Die beiden werden das unter sich ausmachen«, sagte ich ein wenig hilflos.

Das wollte er nicht hören, und wir legten die restliche Strecke in beiderseits unzufriedenem Schweigen zurück.

Oliver Quigleys Rennstall befand sich auf der anderen Seite der Stadt, wo Läden und Hotels dem Hauptgeschäft des Ortes Platz machten, den gestriegelten Pferden in ihren Boxen und dem Trainingsgelände auf der Heide, wo sie sich im Siegen üben und ihren Glanz an den Nachwuchs weitergeben konnten.

Trainer Quigley lenkte den Volvo in sein eigenes Reich, und sogar dort wirkte er noch unsicher. Auf dem großen viereckigen Stallhof liefen Pfleger umher, die den Pferden Heu und Wasser brachten, frisches Stroh aufschütteten und alles für die Nacht herrichteten. Der Aufsichtführende- offensichtlich der erste Mann, der Futtermeister — maß jedem Pferd seine Futterration zu. An einigen Boxen stand die Tür auf, in manchen brannte Licht, andere waren verschlossen, verriegelt und dunkel. Es herrschte Sonntagnachmittagsstimmung; man wollte die Arbeit hinter sich bringen, um möglichst bald vergnüglicheren Dingen nachzugehen.

Caspar Harvey hatte neben Quigleys Wagen angehalten, ohne über die Gefühle seiner Tochter für Kris noch ein Wort zu verlieren.

Die Bewegungen der Pfleger belebten sich merklich bei der Ankunft von Trainer und Besitzer, von Oliver Quigley, der, mochte er noch so nervös herumzappeln, doch ihre Löhne zahlte, und Caspar Harvey, dem Besitzer von vier Superstars, die nicht nur Quigleys Stall, sondern dem ganzen Rennsport Ehre einbrachten.

Die Stute, die am Freitag laufen sollte, befand sich offenbar hinter einer der geschlossenen Türen und war noch nicht für die Nacht versorgt.

Caspar Harvey ging in freudiger Erwartung zu einer Reihe von sechs Boxen hinüber, die von den übrigen durch einen Weg getrennt war, der vom Stall hinunter zum Trainingsgelände Warren Hill führte. Dahinter verlief ein Fußweg, auf dem man das große Haus erreichte, in dem anscheinend Quigley wohnte.

«Das ist die Box der Stute«, sagte er und winkte mich zu sich, als er die obere Hälfte der Stalltür aufriegelte.»Da ist sie drin.«

Das war sie auch. Nur würde sie am Freitag nicht laufen.

Ich sah, wie Harveys Gesichtsausdruck von Stolz zu Entsetzen wechselte. Ich sah, wie es ihm die Kehle zuschnürte und er nach Atem rang. Sein Juwel, die Freitagsstute, die zweijährige Aspirantin auf die Stutenkrone, die mögliche Favoritin für das 1000 Guineas und das Oaks im nächsten Jahr, die künftige Mutter von Champions, die Hellfuchsstute mit dem kleinen Stern, so schnell und so berühmt, lag stöhnend auf den Knien, die Flanken dunkel von Schweiß.

Während Harvey, Quigley und ich sekundenlang wie betäubt hinschauten, fiel sie mit schweren, pfeifenden Atemstößen auf die Seite, offensichtlich unter Schmerzen.

Es sah aus, als wäre sie dem Tod nah, aber sie starb nicht.

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