Nedra Tyre (1912-90), gebürtig in Georgia, verfasste zwischen 1952 und 1971 ein halbes Dutzend Kriminalromane sowie etwa vierzig Kurzgeschichten für Ellery Queen’s Mystery Magazine und andere Publikationen. Obwohl sie schon zu Lebzeiten für ihre in den Südstaaten angesiedelten Kleinstadtszenarien von der Kritik gelobt wurde, wird sie — unter anderem wegen ihres schmalen Œuvres — in den einschlägigen Quellen größtenteils übergangen. Ihr erster und bekanntester Roman Mouse in Eternity (1952), der in Atlanta spielt, wurde inspiriert von ihrer persönlichen Erfahrung als Sozialarbeiterin und nahm den späteren Trend zum Regionalismus im amerikanischen Kriminalroman vorweg.
Tyre lebte damals in Richmond, Virginia, als sie in Contemporary Authors (Band 104, 1982) verriet:»Ich habe in Büros gearbeitet, war Sozialarbeiterin, Bibliotheksgehilfin, Verkäuferin in einer Buchabteilung, Texterin in einer Werbeagentur und habe Soziologie gelehrt. Alles habe ich gemacht und, wie mir scheint, nie auch nur den Mindestlohn verdient. Das Leben ist echt und das Leben ist ernst, vor allem aber ist es lächerlich.
Heute bin ich Redakteurin bei einer Organisation, die den Ärmsten unter den Kindern in fünfundzwanzig Ländern finanzielle Unterstützung gewährt.
Seit vier Jahren bin ich nun vollständig taub. Ich finde es ungeheuer interessant, taub zu sein, obwohl es beim gesellschaftlichen Umgang störend ist. Politisch bin ich das, was man vielleicht liberal nennen könnte, in religiöser Hinsicht eine etwas verwässerte Protestantin. Fast alles ist für mich verwirrend, und alles erstaunt mich.« Tyres Erfahrung als Sozialarbeiterin sowie ihre oben ausgeführte Weltanschauung prägen die Erzählung» Eine schöne Bleibe «mit ihrem tiefen Verständnis für die Psychologie der Armut.
Mein Leben lang habe ich eine schöne Bleibe gewollt. Ich meine nichts Großartiges, bloß ein Zimmerchen mit frisch gestrichenen Wänden und ein paar ordentlichen Möbelstücken und einem Fenster mit Sonneneinfall, damit ein paar Topfpflanzen gedeihen können. Davon habe ich immer geträumt. Ich sehnte mich nicht nach Liebe oder Geld oder schönen Kleidern, obwohl ich ein recht hübsches Mädchen war und hübsche Kleider mich noch hübscher gemacht hätten — aber ich will ja nicht angeben.
Die Verantwortung wurde auf meine Schultern geladen, als ich fünfzehn war. Das war, als Mama krank wurde und ich mich um den Haushalt und die Versorgung von Papa und meinen beiden älteren Brüdern — und natürlich Mamas Pflege — kümmern musste. Bald darauf verlor Papa die Farm, und wir zogen in die Stadt. Ich denke nicht gern an das Haus, in dem wir neben den C & R Eisenbahnschienen wohnten, obwohl wir wahrscheinlich noch von Glück sagen konnten, überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben — es war die schlimmste Zeit während der großen Wirtschaftskrise, und viele Leute hatten gar kein Dach über sich, nicht einmal ein undichtes, von dem es plitsch-platsch machte. Bei starkem Regen konnten wir gar nicht genügend Töpfe und Pfannen und Gemüseschüsseln aufstellen, um das ganze Wasser aufzufangen.
Mama war diejenige, die krank war, doch Papa starb zuerst — ihm bekam das Stadtleben nicht. Inzwischen hatten meine Brüder geheiratet, und Mama und ich zogen in die beiden hinteren Zimmer, die auf eine enge Gasse und die Mülltonnen und Abfallhaufen des ganzen Hauses hinausgingen. Meine Brüder sprangen ein und gaben mir jeden Monat genug Geld für die notwendigsten Ausgaben für Mama und mich, obwohl ihre Ehefrauen stänkerten und sich beschwerten.
Ich bemühte mich, es Mama schön bequem zu machen.
Ich las ihr jeden Wunsch und jede Laune von den Augen ab. Ich liebte sie.
Doch hatte ich auch noch einen anderen Grund, sie so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Ich wusste, solange sie atmete, hatte ich eine Bleibe. Ich hatte fürchterliche Angst davor, was mit mir passieren würde, wenn Mama starb. Ich hatte keinen Schulabschluss und keine offizielle Arbeitserfahrung und wusste, dass mich meine Schwägerinnen nicht aufnehmen oder auch nur erlauben würden, dass meine Brüder mich unterstützten, wenn Mama nicht mehr war.
Dann tat Mama ihren letzten Atemzug, mit einem Lächeln des Dankes auf dem Gesicht für das, was ich getan hatte.
Natürlich sprachen Norine und Thelma, die Ehefrauen meiner Brüder, sofort ein Machtwort, und von da an war ich auf mich gestellt. Und so machte sich in mir die bange Sorge breit, wo ich nun Obdach finden könnte, und wich nie mehr von mir.
Etwas Aufschub bekam ich, als Mr.
Williams, ein Witwer, der vierundzwanzig Jahre älter war als ich, um meine Hand anhielt. Ich nahm das Ehegelöbnis sehr ernst.
Ich hatte vor, ihn zu ehren und zu achten, und tat es auch.
Aber das Haus, in dem wir wohnten! Die Wände hätten nicht schmutziger sein können, wenn sie mit Ruß verschmiert gewesen wären, und die sanitären Einrichtungen taten gerade das, was ihnen passte. Mein linker Fuß war ständig wund, weil ich dem Rohr unter dem Spülbecken einen Tritt verpassen musste, damit Wasser durchkam.
Dann wurde Mr. Williams krank und musste seinen Schusterladen aufgeben, den er ganz allein betrieb. Er hatte ein kleines Sparkonto, ein paar von diesen Regierungsanleihen zu fünfundzwanzig Dollar und bekam auch eine geringe Invalidenrente, bis die Versicherung nach ungefähr einem halben Jahr auslief.
Ich bemühte mich nach Kräften, es ihm schön bequem zu machen und ihn aufzuheitern. Obwohl ich die Wäsche selber machte, bekam er alle drei Tage frische Bettwäsche und einen frischen Schlafanzug, und ich glaube, es gelang mir durch pure Willenskraft, in dem dunklen Hinterzimmer, in dem Mr. Williams lag, eine Begonie zum Blühen zu bringen. Ich bekniete sogar seine beiden Töchter, ihrem Vater doch zu schreiben und ihm gute Besserung zu wünschen, was sie ein paar Mal auch taten.
Ab und zu, wenn einmal ein paar Cent übrig waren, kaufte ich Karten und kritzelte Unterschriften darauf, die niemand entziffern könnte, und schickte sie an Mr. Williams, damit er glaubte, einige seiner früheren Kunden erinnerten sich an ihn und wünschten ihm alles Gute.
Als Mr. Williams starb, standen seine Töchter natürlich sofort auf der Matte, um auch ja ihren Anteil an dem bisschen Geld zu kriegen, das das baufällige Haus einbrachte. Ich missgönnte es ihnen nicht — ich gehöre nicht zu denen, die sich der menschlichen Natur widersetzen.
Ich denke ungern an das Elend zurück, das mir nach Mr. Williams’ Tod widerfuhr. Am schlimmsten war es, einen Schlafplatz zu finden; am Ende ging es immer darum, eine Bleibe zu haben. Denn irgendwie schafft man es ja immer, nicht zu verhungern. Es gibt Mülltonnen, aus denen man sich was holen kann — erstaunlich, wie verschwenderisch manche Leute sind und wie viel gutes Essen sie wegwerfen. Wenn die Müllabfuhr gerade gekommen war und die Tonnen leer waren, ging ich eben in einen Supermarkt und zupfte beispielsweise an den Kirschen herum und tat so, als suchte ich mir welche aus, um sie zu kaufen. Ich steckte mir aber nicht die Besten in den Mund, sondern nahm entweder die, die so reif waren, dass man sie hätte wegwerfen müssen, oder die, die noch nicht reif genug waren und den Leuten gar nicht zum Kauf hätten angeboten werden sollen. Vielleicht stibitzte ich ein welkes Kohlblatt oder ein paar Büschelchen Brunnenkresse oder ein paar von diesen kleinen, runden Tomaten, die etwa so groß sind wie Hickorynüsse — ihren richtigen Namen kann ich mir nie merken. Wild etwas in mich hineingefressen hätte ich nie, sondern aß nur genug, um meinen Hunger zu besänftigen. Und so schlug ich mich durch. Wie gesagt, verhungern muss man nicht.
Die einzige Arbeit, die ich finden konnte, brachte mir nie mehr als Unterkunft und Verpflegung ein. Ich war keine ausgebildete Krankenschwester, obwohl ich wusste, wie man Kranke pflegt. Die Leute, die mich anstellten, sagten aber immer, viel erwarten könnte ich nicht, denn ich hätte ja keine Ausbildung und keinen Abschluss. Die wollten bloß jemanden, der über Nacht bei Tante Myrtle oder Cousine Kate oder Mama oder Daddy blieb. Man verlange schließlich keine richtigen Dienste von mir, behaupteten sie und fanden auch wirklich nicht, dass meine Hilfe mehr wert war als Mahlzeiten und einen Schlafplatz. Die Unterkunft war ziemlich improvisiert. Meistens hatte ich nicht einmal ein Plätzchen, an dem ich meine Sachen aufbewahren konnte — allerdings hatte ich ja auch kaum Kleider —, und manchmal musste ich auf einem Klappbett im Flur vor dem Zimmer des Patienten oder auf irgendeiner notdürftig zusammengebastelten Schlafstatt im Krankenzimmer schlafen.
Alle diese kranken Leute hegte und pflegte ich, genau wie ich Mama und Mr. Williams gehegt und gepflegt hatte. Ich wollte nicht, dass sie starben. Ich tat alles, was ich konnte, um ihnen zu verstehen zu geben, dass mir ihr Wohlergehen am Herzen lag — um ihrer selbst willen, aber auch um meinetwillen, damit ich nicht gehen und eine neue Bleibe finden musste.
Also, nachdem ich nun die Argumente zu meiner Verteidigung vorgebracht habe — ein Ausdruck, von dem ich nie gedacht hätte, dass ich ihn einmal für mich persönlich benutzen musste —, lege ich jetzt die Anklagepunkte dar.
Ich habe gestohlen.
Ich sage es ungern, aber ich war eine Diebin.
Ich bin eigentlich gar nicht langfingrig veranlagt. Nie wollte ich etwas haben, was jemand anderem gehörte.
Doch es kam eine Zeit, in der ich mich gezwungen fühlte zu stehlen. Ein paar Sachen brauchte ich einfach. Meine Schuhe fielen auseinander. Ich brauchte Strümpfe und Unterwäsche. Und wenn ich einen Sohn oder eine Tochter, eine Cousine oder eine Nichte um ein bisschen Geld bat, um das Notwendigste zu kaufen, führten sie sich auf, als wollte ich sie erpressen. Sie erinnerten mich daran, dass ich als Krankenschwester nicht qualifiziert war, dass ich womöglich Scherereien mit den Behörden bekäme, wenn man dort erfuhr, dass ich mich als Krankenschwester ausgab — was ich ja gar nicht tat, und das wussten sie auch.
Jedenfalls sagten sie, ihr Angebot umfasse bloß Unterkunft und Verpflegung.
Also fing ich an, Sachen mitgehen zu lassen – Kleinigkeiten, die in die hinterste Schubladenecke geschoben worden oder in Schachteln hoch auf Regalen aufbewahrt waren, Sachen, die man seit Jahren nicht mehr benutzt oder getragen hatte und wohl auch nie mehr benutzen würde. Die größte Beute ergatterte ich bei Mrs. Bick, wo es einen Dachboden voller Überseekoffer gab, die mit Kleidern und Schnickschnack aus den zwanziger Jahren bis hin zu den Achtzehnhundertneunzigern voll gestopft waren – Uniformen, Fächern aus Straußenfedern, bestickten Umhängetüchern und Perlentäschchen. Ich schmuggelte jedes Mal ein paar Sachen hinaus und verkaufte sie gelegentlich an einen Laden namens Way Out — Hippie-Ausstatter.
Ich versuchte, mir die genaue Summe auszurechnen, die ich verdiente, wenn ich etwas verkaufte. Nun weiß ich ja, dass man Diebstahl nicht wieder gutmachen kann. Aber sagen wir, ich bekam einen Dollar für eine Federboa, die Mrs. Bick gehörte. Dann ging ich wieder hin und nahm mir eine Arbeit vor, die die Putzfrau immer wieder hinausschob, zum Beispiel den oberen Flur bohnern oder das Kaminbesteck polieren oder den Wäscheschrank ordnen.
Trotzdem war das, was ich da tat, stehlen — nicht überall, wo ich wohnte, nicht einmal in den meisten Häusern, doch wenn es sein musste, stahl ich. Das gebe ich zu.
Das silberne Kästchen habe ich aber nicht gestohlen.
Was das Kästchen betraf, war ich so unschuldig wie ein kleines Kind. Als der Polizist damals auf mich zukam und das Kästchen packen wollte, trat ich beiseite, und vielleicht versetzte ich ihm auch den Stoß, der ihn zu Tode kommen ließ. Er hatte keinen Grund, sich so zu verhalten, wo das Kästchen doch mir gehörte, egal was Mrs. Crowes Nichte behauptete.
Und wenn fünfzigtausend Nichten etwas anderes behauptet hätten — das Kästchen gehörte mir.
Der Polizist war jedenfalls tot, und obwohl ich ihm den Tod nicht gewünscht hatte, hatte ich ihm auch nichts Gutes gewünscht. Und dann überlegte ich: Mrs. Crowes Kästchen habe ich zwar nicht gestohlen, dafür aber andere Dinge, und die Mühlen Gottes mahlen nun mal außerordentlich fein, wie ich einen Prediger einmal habe sagen hören, und nun muss ich für die Verfehlungen, die mich eingeholt haben, eben bezahlen.
Sicher begreife ich das, was passiert ist, inzwischen ein bisschen besser, obwohl mir nie ganz genau klar geworden ist, was sich wirklich zugetragen hat.
Mrs. Crowe war die dankbarste Person, für die ich je gearbeitet habe. Sie war bettlägerig und konnte sich kaum rühren. Ich glaube nicht, dass die offizielle Krankenschwester, die sie tagsüber versorgte, es als Teil ihrer Aufgabe betrachtete, Mrs. Crowe zu massieren. Also massierte ich sie abends, was ihr gefiel und sie entspannte.
Sie dankte mir für jede Kleinigkeit, die ich für sie tat – wenn ich ihr Kissen aufschüttelte, wenn ich ihr ein paar Tropfen Parfüm hinter die Ohrläppchen tupfte oder ihr die zerknitterte Bettdecke straff zog.
Ich machte auch kleine Scherze. Ich tat so, als könnte ich die Zukunft vorhersagen, nahm Mrs. Crowes Hand und erzählte ihr, sie würde heute einen wunderschönen Tag erleben, sollte sich aber in Acht nehmen vor dem schönen, blonden Fremden — oder sonst irgendwas Dummes, was sie zum Lachen brachte. Sie konnte nicht gut schlafen, und es schien ihr Freude zu bereiten, sich fast die ganze Nacht mit mir über ihre Kindheit oder ihren verstorbenen Mann zu unterhalten.
Sie wurde zusehends schwächer, und zwei Nächte vor ihrem Tod sagte sie, sie hätte so gern etwas für mich getan, aber als sie so hinfällig geworden sei, habe sie ihrer Nichte alles überschrieben. Jedenfalls hoffte Mrs. Crowe, ich würde ihr silbernes Kästchen annehmen. Ich dankte ihr. Es freute mich, dass sie mich so gern hatte, dass sie mir das Kästchen schenken wollte. Eigentlich hatte ich gar keine Verwendung dafür. Es hätte ein hübsches Schmuckkästchen abgegeben, aber ich besaß gar keinen Schmuck. Das Kästchen schien der Gegenstand zu sein, den Mrs. Crowe am zärtlichsten liebte. Sie hatte es neben sich auf dem Nachttisch stehen, und jedes Mal, wenn sie es ansah, leuchteten ihre Augen auf. Sie war wie ein kleines Mädchen, das am Weihnachtsmorgen zum ersten Mal seine nagelneue Babypuppe erblickt.
Als Mrs. Crowe also starb und ihre Nichte, die ich damals zum ersten Mal zu Gesicht bekam, mich entließ, raffte ich meine wenigen Habseligkeiten zusammen, nahm das Kästchen und ging. Zu Mrs. Crowes Begräbnis ging ich nicht. In der Zeitung stand, es fände im engsten Kreise statt, und ich war nicht eingeladen. Außerdem hätte ich sowieso nichts Passendes zum Anziehen gehabt.
Weil ich von den Sachen, die ich an den Hippieladen namens Way Out verkauft hatte, noch ein paar Dollar übrig hatte, bezahlte ich eine Woche Miete für das übelste Zimmer, in dem ich je gewohnt habe.
Es war eisig kalt, und bis zu mir in den zweiten Stock reichte die Heizung nicht. In diesem Zimmer, wo der Putz herunterfiel, die Fußbodendielen sich wellten und die Küchenschaben herumflitzten, saß ich in sämtliche Sachen gehüllt, die ich besaß, hatte eine eklige Decke und ein ausgebleichtes Steppbett um mich geschlungen und wartete darauf, dass die Wärme nach oben zog, als Mrs.
Crowes Nichte plötzlich in Pelzmantel und Pelzmütze und glänzenden, bis zu den Knien reichenden Lederstiefeln hereingerauscht kam. Ihr Gesicht war vor Wut puterrot angelaufen, als sie anfing, mir zu erzählen, sie habe mich durch einen Privatdetektiv ausfindig machen lassen, und ich solle ihr das Erbstück zurückgeben, das ich gestohlen hätte.
Ihre Behauptung ließ mich noch das wenige vergessen, was ich von der englischen Sprache wusste. Ich brachte kein Wort heraus, und sie schrie immer weiter, von wegen, wenn ich das Kästchen sofort zurückgäbe, würde sie mich auch nicht anzeigen. Da bekam ich meine Stimme wieder und sagte, dass das Kästchen mir gehöre und dass Mrs. Crowe es mir überlassen habe, und sie wollte wissen, ob ich das irgendwie beweisen könne oder ob es bei der Schenkung irgendwelche Zeugen gegeben habe, und ich sagte ihr, wenn man mir etwas schenkte, würde ich mich bedanken, da würde ich nicht nach Beweisen und Zeugen fragen, und nichts könnte mich dazu bringen, Mrs. Crowes Kästchen wieder herzugeben.
Die Nichte stand da und schnaufte, schien fast die Atemzüge zu zählen wie jemand, der eine Übung macht, um die Beherrschung über sich wiederzuerlangen.
«Sie werden schon noch sehen«, rief sie, und dann ging sie.
Im Zimmer war es kälter denn je, und meine Zähne klapperten.
Kurz darauf hörte ich schwere Schritte die Treppe heraufpoltern. Mir wurde klar, dass die Nichte ihre Drohung wahr gemacht hatte und die Polizei hinter mir her war.
Ich geriet in Panik. Ich jagte im Zimmer umher wie eine Ratte, die von der Katze verfolgt wird. Dann dachte ich, wenn die Polizei mein Zimmer durchsucht und dabei das Kästchen nicht findet, hätte ich vielleicht etwas Zeit, mir zu überlegen, was ich tun sollte.
Rasch holte ich das Kästchen aus der obersten Kommodenschublade und huschte den hinteren Gang hinunter. Ich stieß die hintere Tür auf. Ich glaube, ich hatte vor, die Hintertreppe hinunterzulaufen und das Kästchen irgendwo zu verstecken, unter einem Busch vielleicht oder in einer Mülltonne.
Die Stufen der Hintertreppe waren steil und kamen fast senkrecht in den zweiten Stock empor, außerdem waren sie wacklig und vereist.
Ich ging hinunter. Rutschte mit dem rechten Fuß aus.
Das Geländer rettete mich. Ich umklammerte es mit der einen Hand, mit der anderen das silberne Kästchen und tastete mich über die vereisten Flächen mühsam hinunter.
Als ich halbwegs unten war, hörte ich, wie jemand meinen Namen kreischte. Ich sah mich um und erblickte einen großen, kräftigen Mann, der hinter mir die Treppe heruntergesprungen kam. Noch nie habe ich im Gesicht eines Menschen so eine Wut gesehen. Dann war er direkt hinter mir und streckte die Hand aus, um das Kästchen zu packen.
Ich fuhr herum, um seinem Zugriff auszuweichen, und er fluchte. Vielleicht habe ich ihn gestoßen. Ich bin mir nicht sicher — eigentlich nicht.
Jedenfalls glitt er aus und fiel hinunter und immer weiter hinunter, und nachdem er ganz hinuntergefallen war, blieb er vollkommen reglos liegen. Die unterste Stufe war unter seinem Kopf wie ein Kissen, der Rest seines Körpers lag ausgestreckt auf dem gepflasterten Gehweg.
Und dann, wie ein Haustier, das seinem Herrchen folgen will, sprang plötzlich das silberne Kästchen aus meiner Hand, purzelte die Treppe hinunter und landete neben dem linken Ohr des Mannes.
Mein Gehirn war wie betäubt. Ich fühlte mich wie gelähmt. Dann kreischte ich los.
Die Mieter dieses Hauses und des Nachbarhauses und von der anderen Seite der Gasse stießen die Fenster auf und rissen die Türen auf, um zu sehen, was es mit dem Lärm auf sich hatte, und einige von ihnen rannten auf den Hinterhof. Der andere Polizist, der Partner des Toten — so würde man ihn wohl nennen — befahl ihnen zurückzubleiben.
Nach einer Weile kam noch mehr Polizei, und man brachte die Leiche des Mannes weg und fuhr mich auf die Wache, wo ich eingesperrt wurde.
Den jungen Anwalt, den man mir zuteilte, konnte ich von Anfang an nicht leiden. So ganz genau konnte ich es nicht festmachen. Mir war in seiner Gegenwart einfach unbehaglich. Mit Nachnamen hieß er Stanton. Natürlich hatte er auch einen Vornamen, den er mir aber nicht sagte.
Er meinte, ich solle ihn wie alle seine Freunde doch Bat nennen.
Dauernd lächelte er und sah mich aufmunternd an, wo es doch eigentlich gar nichts zu lächeln oder aufzumuntern gab, was er von vornherein hätte wissen müssen, statt bei mir falsche Hoffnungen zu wecken.
Ich konnte nur daran denken, wie froh ich war, dass Mama und Papa und Mr. Williams tot waren und meine Schande ihnen keine Schande mehr machen konnte.
«Das kriegen wir schon hin«, sagte der Anwalt immer wieder bis ganz zum Schluss und tat dann beleidigt, als ich wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, Totschlags und Diebstahls oder Raubs schuldig gesprochen wurde – darüber, ob es nun Diebstahl oder Raub war, gab es das größte Getöse. Ich hatte mir zwar weder das eine noch das andere zuschulden kommen lassen, jedenfalls in diesem speziellen Fall, aber keiner wollte mir glauben.
Man hätte meinen können, der Anwalt würde verurteilt statt mir, so wie der sich aufführte. Er nannte es einen schrecklichen Justizirrtum und sagte, es ginge ja zu wie damals im achtzehnten Jahrhundert, wo man Kinder gehenkt hatte.
Nun, das war eine maßlose Übertreibung, schließlich wurde niemand gehenkt, und es war auch kein Kind im Spiel. Der Polizist war gestorben, und ich hatte einen Anteil daran gehabt. Vielleicht hatte ich ihn gestoßen. Ich war mir nicht recht sicher. Im Grunde meines Herzens hatte ich ihm eigentlich keinen Schaden zufügen wollen.
Ich hatte einfach Angst gehabt. Aber tot war er trotzdem.
Und was das Stehlen betraf — das Kästchen hatte ich zwar nicht gestohlen, aber andere Sachen schon, mehr als einmal.
Und dann ist es passiert. Es war ein Wunder. Mein ganzes Leben hatte ich von einem schönen Zimmer für mich allein geträumt, von einer behaglichen Bleibe. Und genau die bekam ich nun.
Das Zimmer war zwar etwas klein, enthielt aber alles, was ich brauchte, sogar ein Waschbecken mit fließend heißem und kaltem Wasser. Die Wände waren frisch gestrichen, und ich durfte mir aussuchen, ob ich einen Ohrensessel mit Chintzhusse oder einen modernen dänischen Sessel wollte. Ich durfte sogar entscheiden, welche Farbe die Tagesdecke haben sollte. Das Fenster ging auf einen schönen, von Büschen gesäumten Rasen hinaus, und die Aufseherin meinte, ich dürfe ins Gewächshaus gehen und mir für mein Zimmer ein paar Topfpflanzen aussuchen. Am nächsten Tag holte ich mir eine weiße Gloxinie und ein paar rostrote Chrysanthemen.
Die Gitter an den Fenstern störten mich überhaupt nicht.
Schließlich haben heutzutage selbst die vornehmsten Villen vergitterte Fenster, um Einbrecher abzuhalten.
Die Mahlzeiten — ich konnte es einfach nicht fassen, dass es auf der Welt so köstliche Speisen gab. Die Frau, die ihre Zubereitung beaufsichtigte, hatte bei einem der größten Partydienste des Bundesstaates, wo sie sich von der Hilfsköchin bis zur Schatzmeisterin hochgearbeitet hatte, Gelder unterschlagen.
Die anderen Häftlinge waren sehr freundlich, und die meisten von ihnen hatten höchst interessante Lebensgeschichten. Einige von den Damen benutzten manchmal Ausdrücke, die man nur an Zäunen oder auf Gehwegen geschrieben sieht, bevor der Zement trocken ist, doch wenn sie deswegen gerügt wurden, entschuldigten sie sich. Ab und zu ärgerte sich eine über die andere, und dann gingen sie mit den Nägeln aufeinander los oder zogen sich an den Haaren, aber ganz schlimm wurde es nie. Einen Chor gab es auch — singen kann ich zwar nicht, aber ich liebe Musik —, der jeden Dienstagmorgen in der Kapelle ein Konzert gab, und Donnerstagabend war Kinoabend. Es kostete überhaupt keinen Eintritt. Man ging einfach hinein und setzte sich hin, wo man wollte.
Jede hatte ihre besondere Aufgabe, und ich war der Krankenstation zugeteilt. Die Ärztin und die Schwester machten mir Komplimente. Die Ärztin sagte, ich hätte eine Ausbildung als Krankenschwester machen sollen, ich würde den Patientinnen so viel Zuversicht schenken und ihnen bei der Genesung helfen. Damit kenne ich mich nicht aus, aber jedenfalls hatte ich jahrelang Übung mit Kranken und helfe gern, wenn es jemandem schlecht geht.
Ich war so glücklich, dass ich nachts manchmal gar nicht schlafen konnte. Dann stand ich auf, knipste das Licht an und betrachtete die Möbel und die Wände. Es war kaum zu glauben, dass ich so eine behagliche Bleibe hatte. Ich dachte daran, was es an dem Abend zu essen gegeben hatte und dass ich noch einmal zum Serviertisch gegangen war, um mir einen Nachschlag von den Spargeln mit Zitronen-Kräuter-Soße zu holen. Dann verglich ich diesen Überfluss mit jenen schrecklichen Zeiten, als ich mich in Supermärkte geschlichen und überreifes Obst und rohes Gemüse geknabbert hatte, um meinen Hunger zu besänftigen.
Dann kam eines Tages, nicht einmal zur üblichen Besuchszeit, dieser Anwalt, hopste herum und gratulierte mir: Meine Berufung sei nun bestätigt oder wie der Ausdruck auch hieß, und ich sei frei wie ein Vogel und könne sofort gehen.
Er sagte der Aufseherin, sie könne mir meine Habseligkeiten ja später nachschicken, und schleppte mich vorn hinaus, wo die Fernsehkameras und Zeitungsreporter schon warteten.
Sobald die Kameras zu surren und die Fotografen zu knipsen begannen, küsste mich der Anwalt auf die Wange und steckte mir eine Blume an. Er hielt eine Rede, in der er sagte, nun sei ein schrecklicher Justizirrtum wieder gutgemacht. Er hatte Leute ausfindig gemacht, die bezeugten, dass Mrs. Crowe mir das Kästchen geschenkt hatte — sie hatte es dem Gärtner und der Putzfrau erzählt.
Sie hatten nicht als Zeugen aussagen wollen, weil sie nichts mit der Polizei zu tun haben wollten, doch der Anwalt hatte sie im Namen der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit überredet, auszusagen.
Der Anwalt hatte sich auch die Personalakte des toten Polizisten vorgenommen und erfahren, dass man ihn als emotional ungeeignet für seine Arbeit beurteilt hatte und der Psychiater den Polizeichef gewarnt hatte, wenn der Mann nicht seiner Aufgaben entbunden würde, könnte entweder ihm selbst oder einem Verdächtigen etwas Furchtbares zustoßen.
Während der Anwalt in die Mikrofone sprach, hatte er mich die ganze Zeit über fest im Griff, als wäre ich eine Dreijährige, die wegrennen könnte, und ich stand einfach da und glotzte. Als er mit seiner Rede über mich fertig war, sagten die Reporter, er würde bestimmt wie sein Großvater und sein Onkel Gouverneur werden, bloß schon in einem viel jüngeren Alter.
Daraufhin setzte der Anwalt für die Kameras ein breites Grinsen auf, winkte zum Abschied und schubste mich in seinen Wagen.
Ich hatte entsetzliche Angst. Die schöne Bleibe, die ich gefunden hatte, gehörte mir nicht mehr. Mein alter Albtraum war wieder da — die bange Frage, wie ich etwas zu essen beschaffen konnte und wie viel ich stehlen musste, um von einem Tag auf den nächsten zu überleben.
Die Kameras und Reporter waren uns gefolgt.
Ein Fotograf bat mich, mein Wagenfenster herunterzukurbeln, und ich belauschte zwei Männer, die sich weiter hinten in der Menge unterhielten. Ich habe scharfe Ohren. Papa hat immer behauptet, ich könnte es noch drei Staaten weiter donnern hören. Über die Glückwünsche und das allgemeine Gebrabbel hinweg hörte ich einen dieser Männer dort hinten sagen:»Das ist doch ein bisschen viel, findest du nicht? Jetzt spielt sich unser Bat auch noch als Beschützer der älteren Mitbürger auf. Die Teens und die Twens hat er sich schon geschnappt, und das mit Methoden, die eigentlich den Ausschluss aus der Anwaltschaft nach sich ziehen müssten. Er hätte den Gärtner und die Putzfrau doch von Anfang an zu einer Aussage bewegen müssen, und die Akte des Polizisten hätte er sich gleich ansehen müssen.
Es hätte überhaupt keinen Fall geben sollen, geschweige denn eine Verurteilung. Aber dann hätte Bat ja keine Publicity bekommen. Er musste es ja unbedingt auf seine eigene krumme, spektakuläre Tour machen. «Der andere Mann nickte bloß immer wieder und sagte nach jedem Satz:»Verdammt, da hast du Recht.« Dann fuhren wir weg, und ich wagte nicht, mich umzudrehen, weil mir das Herz brach beim Gedanken an das, was ich hinter mir ließ.
Der Anwalt führte mich in sein Büro. Er sagte, er hoffe doch, ein bisschen Aufregung in den nächsten Tagen würde mir nichts ausmachen. Er habe ein paar öffentliche Auftritte für mich arrangiert. Am nächsten Morgen sollte ich an einer Frühsendung im Fernsehen teilnehmen. Ich brauchte mir überhaupt keine Sorgen zu machen. Er wäre direkt neben mir, um zu helfen, so wie er mir durch meine ganzen Schwierigkeiten hindurch geholfen habe. In der Fernsehsendung brauchte ich nur zu sagen, dass ich meine Freiheit ihm verdankte.
Ich muss ziemlich verwirrt und verdattert ausgesehen haben, denn er beeilte sich zu sagen, dass ich ihm ja kein Honorar hatte zahlen können, es ihm aber jetzt zurückzahlen könne — nicht mit Geld, sondern indem ich der Öffentlichkeit mitteilte, dass er der Anwalt der Entrechteten sei.
Ich sagte, man hätte mir gesagt, das Gericht stelle Leuten, die nicht bezahlen könnten, kostenlos einen Anwalt zur Verfügung, und er sagte, das sei schon richtig, er meine es aber so, dass ich es ihm nun zurückzahlen könne, indem ich den Leuten erzählte, was er alles für mich getan habe. Dann sagte er, das Wichtigste sei jetzt, unseren nächsten Fernsehauftritt zu besprechen. Er wolle mit mir einüben, was ich sagen sollte, aber zuerst würde er ins Büro seines Partners gehen und ihm sagen, er solle alle Anrufe annehmen und sich um seine restlichen Termine kümmern.
Als sich die Tür hinter ihm schloss, dachte ich, dass er ja Recht hatte. Ich verdankte ihm tatsächlich meine Freiheit.
Es war seine Schuld. Dieser Klugscheißer. Dieser Emporkömmling. Wer hatte ihn denn gebeten, sich einzumischen und mich aus meinem hübschen Zimmer und von der Arbeit, die ich liebte, und all dem köstlichen Essen wegzuholen?
Zum ersten Mal im Leben wusste ich, was es heißt, jemanden zu verachten.
Ich hasste ihn.
Damals, als man mich wegen Totschlags verurteilte, war viel von Arglist und Vorsatz die Rede gewesen.
Diesmal wäre der Fall eindeutig.
Dem Polizisten hatte ich damals keinen Schaden zufügen wollen. Diesem Anwalt jedoch wollte ich Schaden zufügen.
Ich ergriff einen Brieföffner von seinem Schreibtisch und fuhr mit dem Finger über die Klinge, um zu prüfen, wie scharf sie war. Dann wartete ich hinter der Tür, und als er hereinkam, nahm ich meine ganze Kraft zusammen und stach auf ihn ein. Wieder und wieder und immer wieder.
Jetzt bin ich wieder da, wo ich sein will — in einer schönen Bleibe.