Gillian Linscott (* 1944) wurde im englischen Windsor als Tochter eines Schuhgeschäftsführers und einer Verkäuferin geboren. Nach Abschluss ihres Geschichts-und Literaturstudiums in Oxford arbeitete sie zwischen 1967 und 1972 als Zeitungsjournalistin in Liverpool und Birmingham, ging dann bis 1979 zum Guardian nach Manchester und London und wandte sich schließlich dem Rundfunkjournalismus zu. Für die British Broadcasting Corporation (BBC) berichtete sie aus dem Parlament und schrieb auch Hörspiele für den Sender. In ihrem ersten Roman A Healthy Grave (1984), der in einem Nudistencamp spielt, taucht zum ersten Mal ihr kurzlebiger Serienheld Birdie Linnet auf, ein ehemaliger Polizist, den sie in Contemporary Autbors (Band 128, 1990) als ziemlich mittelmäßigen Detektiv beschreibt:»…tatsächlich sticht [er] vor allem dadurch hervor, dass er die Sache immer erst später als alle anderen kapiert. Er ist gutwillig, nicht allzu intelligent und bekommt öfter eins auf den Schädel. «In dieser Beschreibung deutet Linscott an, dass sie die Form der Detektivgeschichte nicht besonders ernst nimmt und deshalb schätzt, weil sie» nicht überkandidelt daherkommt. Meiner Ansicht nach gibt es wenig Bücher, die nicht gewinnen würden, wenn man in ihnen irgendwo eine Leiche ablüde. Der Kriminalroman ist eine vollkommen künstliche Kreation, und ich schere mich nicht besonders um Wirklichkeitsnähe.« Größte Berühmtheit sowie möglicherweise größere Wirklichkeitsnähe erreichte Linscott, als sie sich vom zeitgenössischen Krimi dem historischen Kriminalroman zuwandte, zunächst mit dem im Jahre 1870 angesiedelten Murder, I Presume (1990) und dann mit der Serie über Nell Bray, eine im frühen zwanzigsten Jahrhundert lebende Suffragette. Der erste Titel in dieser Reihe war Sister Beneath the Sheets (1991; dt. Tod in Biarritz).
Eine beliebte Untergruppe innerhalb der historischen Kriminalliteratur ist das Sherlock-Holmes-Pasticcio, früher relativ selten und — aus welchem Grund auch immer — meist von Männern verfasst. Im Gefolge des Verkaufsschlagers von Nicholas Meyers The Seven-Percent Solution (1974) ist in den letzten Jahren eine regelrechte Industrie von Holmes-Romanen entstanden, und es gibt mehrere umfangreiche Originalanthologien mit Kurzabenteuern des Detektivs aus der Baker Street. Einige der besten haben Frauen geschrieben, darunter eine Romanerzählung von L.B. Greenwood und June Thomsons Beiträge zu verschiedenen Kurzgeschichtensammlungen. Mit ihrer Fachkenntnis des viktorianischen Zeitalters und des frühen zwanzigsten Jahrhunderts war Linscott natürlich für ein Holmes-Pasticcio prädestiniert.»Skandal im Winter«, eine der besten Geschichten in der weihnachtlichen Sherlock-Anthologie Holmes for the Holidays (1996), verdankt ihre Frische und Originalität der Tatsache, dass diesmal eine andere Person als Dr. Watson die Erzählperspektive übernimmt.
Zunächst bedeuteten Silberstock und sein Brummbär uns nicht mehr als eine zufällige Abwechslung im Hotel Edelweiß. Zu Weihnachten und Neujahr wirkte das Edelweiß wie eine glitzernde weiße Wüsteninsel oder wie ein sehr luxuriöser Ozeandampfer, der statt durchs Meer durch den Schnee pflügte. Und da waren wir nun, ungefähr hundert Leute, abgeschnitten vom Rest der Welt, ja sogar vom Rest der Schweiz, und hatten zur Unterhaltung und Gesellschaft nur uns gegenseitig. Das Edelweiß war eines der wenigen passablen Hotels, in denen sich im Jahre 1910 der neuen Mode des Wintersports frönen ließ. Das etwas kleinere Hotel Berghaus gegenüber gehörte nicht zu den passablen Hotels, sein gutes Dutzend Gäste zählte also kaum. Und was die Dorfbewohner in ihren Holzchalets betraf, wo im Untergeschoss die Kühe hausten, so zählten die gar nicht.
Gelegentlich sahen Amanda und ich sie auf unseren Spaziergängen Feuerscheite von den säuberlich aufgeschichteten Holzstößen hereintragen oder Mistgabeln voll warmem, verdrecktem Stroh heraustragen, von dem weißer Dampf in Säulen in die blaue Luft emporstieg. Sie gehörten zum Tal wie die Felsen und die Kiefern, weil sie aber weder Ski noch Schlittschuh liefen, hatten sie keinen Platz in unserer Welt — abgesehen von den Schlitten.
Davon gab es zwei im Dorf. Der eine, ein nüchternes Gefährt, das von einem gleichmütigen, kleinen braunen Pferd mit ein paar spärlichen Glöckchen am Geschirr gezogen wurde, brachte die Gäste und ihr Gepäck vom nahe gelegenen Bahnhof herauf. Der andere, und nur der zählte für Amanda und mich, war ein schwarz-roter Blitz, geschwind wie der Bergwind, voll lärmender Silberglöckchen, und wurde von einem geschmeidigen, honiggelben kleinen Haflinger gezogen, dessen silbrige Mähne und Schwanz zu den Glöckchen passten. Ein Vergnügungsschlitten, dessen einziger Daseinszweck darin bestand, die Gäste des Edelweiß zu erfreuen. Wir hatten ihn auf dem niedergetrampelten Schnee draußen stehen sehen, wo sein hübscher junger Besitzer mit der langen Peitsche und dem blonden Schnurrbart geduldig wartete. Manchmal durften wir noch ein bisschen bleiben und zuschauen, wie er einer Dame und einem Herrn heraufhalf und ihnen die weiße Felldecke auf dem Schoß zurechtzog. Dann fuhren sie zischend und klingelnd über den Schnee davon, zu der ausgefahrenen Spur durch den Kiefernwald. Amanda und mir hatte man als besonderen Leckerbissen versprochen, dass wir am Neujahrstag eine Fahrt damit machen durften. Darauf freuten wir uns noch mehr als auf Weihnachten.
Bis dahin waren es aber noch zehn Tage, und wir mussten uns so lange noch anderweitig amüsieren. Wir drehten unsere Runden auf dem Eislaufplatz hinter dem Hotel. Wir winkten unserem Vater zum Abschied, wenn er morgens mit seinen Skiern und seinem Bergführer wegging. Wir saßen auf der Hotelterrasse und tranken heiße Schokolade mit einem Klacks Schlagsahne obendrauf, während Mutter Briefe las oder schrieb. Wenn wir dachten, Mutter sähe nicht hin, wetteiferten Amanda und ich darin, die ganze Schokolade so auszutrinken, dass der Sahneklacks unten auf dem Boden der Tasse übrig blieb, um dann genüsslich und sehr ungezogen aufgelöffelt zu werden. Wenn sie aber aufsah und uns erwischte, sagte Mutter, wir sollten doch nicht so kindisch sein, was, da Amanda elf und ich dreizehn waren, ja auch stimmte, aber wir wollten uns nun mal so lang wie möglich mit der Schokolade amüsieren. In Wirklichkeit war es so, dass sich hier alle die meiste Zeit zu Tode langweilten. Deshalb wandten wir unsere Aufmerksamkeit auch den Angelegenheiten der anderen Gäste zu: Amanda und ich hielten ständig die Ohren gespitzt, um die kleinen Dramen der Erwachsenengespräche mitzukriegen.
«Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie es wirklich tut.« «Hat der Oberkellner aber gesagt, und der muss es schließlich wissen. Sie hat den Ecktisch mit Blick auf die Terrasse reserviert und gesagt, man soll den Tokajer bereitstellen.« «Den gleichen Tisch wie letztes Jahr.« «Und den gleichen Wein.« Unsere Eltern blickten sich über ihre Croissants hinweg an, das Zimmermädchen, das uns den Kaffee einschenkte, geflissentlich übersehend. (»Bedienstete, mein Liebes, bemerkt man nicht, sonst werden sie bloß ungeschickt.«) «Ich bin sicher, dass es nicht stimmt. Wenn sie auch nur ein bisschen Gefühl …« «Wie kommst du darauf, dass sie welches hat?« Schweigen, während über unseren Köpfen vielsagende Blicke hin und her gingen. Ich wusste, was da signalisiert wurde, ebenso wie ich gewusst hatte, worum es in einem Gesprächsfetzen ging, den ich am Abend unserer Ankunft vor dem Zubettgehen zwischen meinen Eltern belauscht hatte,»… es sich wohl auf Jessica auswirken könnte.« Mein Name. Schlagartig wachte ich aus meinem Halbschlaf auf, ich hielt die Augen geschlossen, horchte aber ganz genau hin.
«Ich glaube nicht, dass wir uns deswegen Sorgen machen müssen. Jessica ist zäher, als du denkst. «Die Stimme meiner Mutter. Unsere Zähigkeit war ihr ein Bedürfnis, denn dann brauchte sie ihre Zeit nicht darauf zu verwenden, sich Sorgen um uns zu machen.
«Trotzdem — sie erinnert sich bestimmt noch daran. Es ist ja erst ein Jahr her. Solch ein Erlebnis kann ein Kind für sein ganzes Leben prägen.« «Liebling, sie reagieren nicht so wie wir. In dem Alter hält man noch viel mehr aus.« An der Art, wie mein Vater schwieg, merkte ich selbst mit geschlossenen Augen, dass er nicht überzeugt war, doch es hatte überhaupt keinen Sinn, sich Mutters kategorischer Art zu widersetzen. Sie knipsten das Licht aus und machten die Tür zu. Ein, zwei Augenblicke lag ich im Dunkeln und überlegte, ob ich nun für mein Leben geprägt war von dem, was ich gesehen hatte, und wie sich das auswirken würde, aber dann fragte ich mich stattdessen, ob ich es jemals schaffen würde, solche Pirouetten auf dem Eis zu drehen wie das Mädchen aus Paris, und schlief schließlich ein, sehnsüchtig träumend von Glöckchen und dem Zischen der Schlittenkufen.
Die Unterhaltung zwischen unseren Eltern am Frühstückstisch über das Thema, was» sie «nun tun würde oder nicht, wurde von der leichten Unruhe unterbrochen, die entstand, als man zwei andere Gäste an ihren Tisch geleitete. Amanda fing meinen Blick auf.
«Silberstock und sein Brummbär gehen Skilaufen.« Beide Herren — ältere Herren, wie uns schien, obwohl sie wahrscheinlich nicht älter als Ende fünfzig waren — trugen schwere Wollpullover, Kniebundhosen aus Tweedstoff und dicke Socken, so wie Vater. Er nickte ihnen über die Tische hinweg zu und wünschte ihnen einen guten Morgen, worauf sie ihm ebenfalls zunickten und einen Gruß entboten. Auch die schwere Sportkleidung konnte nicht verbergen, dass der hoch gewachsene Mann recht merkwürdig und distinguiert war. Er war, glaube ich, der dünnste Mensch, den ich je gesehen hatte. Er ging nicht gebeugt wie so viele große ältere Leute, sondern aufrecht und mit leichtem Schritt. Sein Gesicht mit der Adlernase war tief gebräunt, wie bei einigen von den älteren Dorfbewohnern, im Gegensatz zu ihnen aber faltenlos bis auf die beiden tiefen Kerben, die von der Nase bis zu den Mundwinkeln verliefen. Am meisten beeindruckte uns sein Haar. Es lag wie eine Kappe aus blank geputztem reinem Silber an seinem Kopf an und sah aus wie der Knauf eines kostspieligen Spazierstocks. Sein Gefährte, sowieso schon kräftig und breitschultrig, wirkte in seiner Skiläuferkluft noch kräftiger. Er hatte einen Watschelgang und stolperte bisweilen über Stühle. Er besaß ein rundes, freundliches Gesicht mit hellen, etwas wässrigen Augen, einen gestutzten grauen Schnurrbart, aber nur einen spärlichen Haarkranz um seinen glänzenden kahlen Schädel. Er lächelte uns immer an, wenn wir einander auf der Terrasse oder auf den Korridoren begegneten; er schien nett. Uns war aufgefallen, dass er immer irgendetwas für Silberstock machte, ihm Kaffee einschenkte oder Briefe für ihn einwarf. Irgendwie hatten wir uns in den Kopf gesetzt, dass Brummbär Silberstocks Wärter war. Vielleicht, meinte Amanda, wurde Silberstock bei Vollmond wahnsinnig und Brummbär musste ihn einsperren und laut singen, damit die Leute ihn nicht heulen hörten. Immer wieder erkundigte sie sich, wann denn das nächste Mal Vollmond wäre, aber bisher hatte es ihr niemand sagen können. Ich dachte, er war vielleicht in die Schweiz gekommen, weil er bald an Schwindsucht sterben würde, was seine dünne Figur erklärte, und Brummbär sei sein Leibarzt. Ich passte auf, ob ich einen Hustenanfall hörte, der dies bestätigen würde, aber bisher hatte es noch keine Spur davon gegeben. Als sie sich zu ihrem Frühstück hinsetzten, beobachteten wir sie, so gut wir konnten, ohne dafür getadelt zu werden, dass wir die Leute anstarrten. Brummbär schlug die Zeitung auf, die neben seinem Teller gelegen hatte, und las Silberstock daraus vor. Der nickte hin und wieder über seinen Kaffee hinweg, als hätte er schon die ganze Zeit gewusst, worum es ging. Es war die Times aus London, die bestimmt schon mindestens zwei Tage alt war, weil man sie mit dem Schlitten vom Bahnhof heraufholen musste.
Amanda flüsterte:»Er isst.« Der Kellner hatte ihnen statt der Croissants einen Ständer mit Toast und ein Töpfchen mit Orangenmarmelade an den Tisch gebracht. Silberstock aß Toast wie ein ganz normaler Mensch.
Vater fragte:»Wer isst?« Wir deuteten mit den Augen hinüber.
«Na und, wieso sollte er nicht essen? Zum Skilaufen braucht man viel Energie.« Mutter, die sich zur Abwechslung einmal für unser Gespräch interessierte, meinte, sie seien doch zu alt zum Skilaufen.
«Du würdest dich wundern. Dr.
Watson ist nicht schlecht, aber der andere — nun, der ist an Stellen an mir vorbeigesegelt, die so steil waren, dass selbst der Bergführer sich nicht runtertraute. Und stand am Ende auch noch aufrecht da, wo die meisten von uns bloß ein großes Loch im Schnee hinterlassen hätten. Der Kerl ist so vernünftig, dass ihm überhaupt nichts Angst einjagen kann. Die Angst ist es nämlich, die einen beim Skilaufen Fehler machen lässt. Man kommt an ein steiles Stücke und denkt, jetzt fällt man hin, und meist fällt man dann auch hin. Holmes kommt an dasselbe steile Stück, sieht keinen Grund, wieso er es nicht schaffen sollte — und schafft es.« Meine Mutter meinte, ein wirklich vernünftiger Mensch sei so klug, gar nicht erst Ski laufen zu gehen. Bei einem Wort hatte ich aufgehorcht.
«Brummbär ist ein Doktor? Ist Silberstock denn krank?« «Nicht, dass ich wüsste. Ist noch Kaffee in der Kanne?« Und dabei ließen wir es vorab bewenden. Nun könnte man vielleicht sagen, Amanda und ich hätten gleich wissen müssen, wer die beiden waren, und neun von zehn Kindern in Europa hätten es vermutlich auch gewusst.
Doch hatten wir bisher ein recht ungewöhnliches Leben geführt, was hauptsächlich an Mutter lag, und obwohl wir über vieles Bescheid wussten, was den meisten Mädchen in unserem Alter unbekannt war, hatten wir doch von vielem anderen keine Ahnung, was allgemein bekannt war.
Wir winkten Vater und seinem Bergführer zum Abschied zu, während sie, die Ski geschultert, im Tiefschnee durch die Kiefern davonstapften, und machten dann kehrt, um unsere Schlittschuhe zu holen. An der Auffahrt blieben wir stehen und ließen den nüchternen schwarzen Schlitten vorbei, den, der immer ins Tal hinunter zum Bahnhof fuhr. Es saß zwar keiner drin, doch die Decken lagen bereit und waren ordentlich gefaltet.
«Da kommt jemand Neues«, sagte Amanda.
Ich merkte, dass Mutter mich ansah, doch sie sagte nichts. Weil Amanda und ich innen mit unserer Ferienlektüre beschäftigt waren, als der Schlitten zurückkam, konnten wir nicht sehen, wer darin saß, doch als wir später nach unten gingen, lag eine vibrierende Spannung über dem Hotel, ähnlich dem Gefühl, das einen
überkommt, wenn ein Geiger seinen Bogen knapp über der Saite hält und die zitternde Note einem das Rückgrat auf und ab perlt, bevor man sie vernimmt. Obwohl es erst Nachmittag war, legte sich bereits die Dämmerung über das Tal. Bevor es dunkel wurde, durften wir noch einmal draußen spazieren gehen und steuerten wie üblich auf den Eislaufplatz zu. Bunte elektrische Lämpchen warfen gelbe, rote und blaue Flecken auf die dunkle Fläche. Der Lahme mit der Ziehharmonika spielte einen Strauß-Walzer, zu dem einige Paare tanzten, wenn auch nicht sehr gut.
Andere drängten sich um das Kanonenöfchen am Rand des Eisplatzes, wo ein Kellner in kleinen Gläsern Glühwein ausschenkte. Vielleicht merkte der Mann mit der Ziehharmonika, dass die Tänzer allmählich müde wurden, oder er wollte selbst nach Hause gehen, denn als der Walzer endete, wechselte er zu einer Art wilder Zigeunerweise, nach der schwerer zu tanzen war. Die Paare auf dem Eis versuchten ein paar Schritte, dann gaben sie lachend auf und gesellten sich zu den anderen um das Kanonenöfchen. Eine Zeit lang war die Eisfläche leer, und der Lahme spielte weiter für die Dämmerung und die dunklen Berge.
Da kam plötzlich eine Gestalt auf das Eis geglitten. In ihrem Auftreten lag eine gewisse Entschlossenheit, die sie sofort von den anderen Eisläufern abgrenzte. Die kamen gewöhnlich angestolpert oder anstolziert, je nachdem, ob es Anfänger waren oder ob sie sich für Könner hielten, doch Stolperer wie Stolzierer wirkten immer etwas verlegen, denn sie wussten, dass dies nicht ihre natürliche Umgebung war. Sie dagegen bewegte sich auf dem Eis wie ein Schwan im Wasser oder eine Schwalbe in der Luft. Das Gelächter erstarb, keiner trank mehr etwas, und wir alle schauten zu, wie sie über das Eis flog, sich neigte und ganz allein zu der Zigeunermusik ihre Kreise zog.
Keine angeberischen Pirouetten wie bei dem Mädchen aus Paris, keine verschränkten Arme und kein eingebildetes Lächeln. Wahrscheinlich war sie gar keine besonders großartige Eisläuferin, das Bemerkenswerte an ihr war jedoch, wie selbstverständlich sie den Eislaufplatz, die Musik und die Aufmerksamkeit in Besitz nahm. Dabei war sie nicht einmal fürs Eislaufen angezogen. Den schwarzen Rock, der bis auf wenige Zentimeter zu ihren Schlittschuhstiefeln hinunterreichte, das schwarze Nerzjäckchen und die passende Kappe hatte sie vermutlich schon auf der Fahrt vom Bahnhof herauf getragen. Doch sie war bereit gewesen, hatte es geplant, ihre Rückkunft genau auf diese Weise kundzutun.
Ihre Rückkunft. Zunächst hatte ich sie, wie gebannt von ihrer Vorführung, gar nicht erkannt. Ich hatte bemerkt, dass es keine junge Frau war und dass sie elegant aussah.
Erst als ich kurz zu meiner Mutter hinübersah, wusste ich plötzlich Bescheid. Steif und stachlig wie einer von den Nadelbäumen stand sie da und starrte wie die anderen auf die Gestalt auf dem Eis, doch in ihrer Miene lag keine Bewunderung, eher eine Art Entsetzen. Alle schauten sie so, die Erwachsenen, als wäre sie die Vorbotin irgendeiner Gefahr. Dann sagte eine Frauenstimme, aber nicht die meiner Mutter:»Wie konnte sie nur? Also, wirklich, wie konnte sie nur?« Es erhob sich zustimmendes Gemurmel, und ich spürte, wie sich das Entsetzen in etwas Banaleres verwandelte – in gesellschaftliche Missbilligung. Nachdem die ersten Worte einmal gesagt worden waren, folgten weitere, und dann prasselten die scharfen Bemerkungen herab. Es klang wie Schlittenkufen, die über Schotter knirschten.
«Nur ein Jahr … also, wieder hierher zu kommen … kein Respekt … kann doch froh sein, dass sie nicht … nach dem, was passiert ist.« Meine Mutter legte uns je eine feste Hand auf die Schultern.
«Zeit für euer Abendbrot.« Normalerweise hätten wir protestiert, um ein paar weitere Minuten gebettelt, doch hier wussten wir, es war ernst. Um vom Eisplatz ins Hotel zu gelangen, muss man ein paar Treppenstufen zur rückwärtigen Terrasse hinauf und durch die große Glastür in den Frühstücksraum gehen.
Auf der Terrasse standen zwei Männer. Man konnte von dort aus den Eisplatz sehen, und sie starrten von oben auf das Geschehen hinunter. Silberstock und Brummbär. In dem Licht, das aus dem Frühstücksraum drang, konnte ich die Augen des dünnen Mannes erkennen. Sie waren härter und durchdringender als alles, was ich je gesehen hatte, sogar härter als das Eis. Normalerweise hätten wir im Vorübergehen wohlerzogen guten Abend gesagt, doch Mutter schob uns wortlos hinein. Sobald sie uns an den Tisch verfrachtet hatte, ging sie meinen Vater holen, der inzwischen bestimmt vom Skilaufen zurückgekehrt war.
Ich wusste, dass sie über mich reden würden, und kam mir wichtig vor, war aber auch besorgt, ich könnte dieser wichtigen Stellung nicht gerecht werden. Schließlich hatte das, was ich gesehen hatte, nur ein paar Sekunden gedauert, und ich hatte nichts von dem gefühlt, was ich hätte fühlen sollen. Ich hatte ihn gar nicht gekannt, bevor es passiert war, hatte ihn bloß ein paar Mal im Speisesaal gesehen, und ich hatte nicht einmal gewusst, dass er tot war, bis man es mir danach sagte.
Was an dem Abend beim Essen geschah, war wie auf dem Eisplatz, bloß ohne Zigeunermusik. In diesen Ferien durften Amanda und ich immer zum Abendessen herunterkommen und mit unseren Eltern die Suppe essen.
Nach der Suppe mussten wir dann brav gute Nacht sagen und hinaufgehen und uns alleine schlafen legen.
Leute, die den ganzen Tag Schlittschuh und Ski gelaufen waren, hatten abends Hunger, und so richtete sich die Aufmerksamkeit meist diskret auf die Schwingtüren zur Küche und die Prozession von Kellnern mit den silbernen Terrinen. An jenem Abend war das anders. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit war ein kleiner Tisch in der Ecke des Raums am Fenster. Ein Tisch, wie alle anderen mit weißer Leinenwäsche, Silberbesteck, Goldrandgeschirr und einer kleinen Ansammlung von Kristallgläsern gedeckt. Ein Tisch für eine Person. Ein unbesetzter Tisch.
Mein Vater sagte:»Sieht aus, als wollte sie kneifen.
Kann ich ihr nicht verdenken.« Meine Mutter warf ihm einen ihrer» Sei-still«-Blicke zu, verkündete, dies sei unser Französischabend, und bat mich in ebendieser Sprache, ihr bitte das Brot herüberzureichen.
Ich saß mit dem Rücken zur Tür und hatte die Hand am Brotkorb. Ich wusste nur, dass es im Raum plötzlich ganz still wurde.
«Dreht euch nicht um«, zischte meine Mutter auf Englisch.
Ich drehte mich um, und da stand sie, in schwarzem Samt und mit Diamantschmuck. Ihr Haar, mit mehr grauen Strähnen, als ich mich vom letzten Jahr her erinnern konnte, war hochgekämmt und mit einem perlen- und brillantenbesetzten Kamm festgesteckt. Im vorigen Jahr, bevor die Sache passiert war, hatte meine Mutter die Bemerkung gemacht, für eine ehemalige Opernsängerin sei sie ja überraschend schlank. Dieses Jahr war sie dünn, und Wangenknochen und Schlüsselbeine stachen über dem schwarzen Samtoberteil so scharf hervor, dass man damit Papier hätte schneiden können. Sie neigte ihren eleganten Kopf dem Oberkellner entgegen, lauschte vermutlich einem Willkommensgruß. Er lächelte, aber das tat er ja bei jedem. Sonst lächelte niemand, während sie ihm zu dem Tisch in der hintersten, der allerhintersten Ecke folgte. Man konnte die Hälse knacken hören, wie sie sich von ihr wegdrehten. Bestimmt war kein Auftritt, den sie im Laufe ihrer Bühnenkarriere hatte, so nervenaufreibend gewesen wie jener lange Gang über das Hotelparkett. Trotz der stummen Befehle, die meine Mutter jetzt aussandte, hätte ich mich genauso wenig von ihr abwenden können wie von Blondin, der auf dem Seil die Niagarafälle überquert hatte. Mein Ungehorsam wurde, wie Ungehorsam ja oft, dann auch belohnt, denn ich sah, wie es geschah. Inmitten des schweigenden Speisesaals, unter etwa hundert Leuten, die so taten, als bemerkten sie sie nicht, sah ich, wie Silberstock sich erhob. Zwischen all den Sitzenden wirkte er noch größer als sonst, und sein glatter silberner Kopf glänzte wie der Schnee auf dem Matterhorn über jenem Felsvorsprung von einer Nase und dem Gletscherweiß und Schwarz seiner Abendkleidung darunter. Brummbär zögerte einen Augenblick und folgte dann seinem Beispiel. Als sie auf ihrem einsamen Gang den Tisch der beiden passierte, verbeugte sich Silberstock mit der Würde eines Mannes, der sich nicht sehr oft zu verbeugen braucht, und wieder tat Brummbär es ihm — etwas uneleganter — nach.
Brummbärs Gesicht war gerötet und erhitzt, das des anderen hatte sich jedoch nicht verändert. Sie hielt einen Moment inne, erwiderte ihre Verbeugungen ernsthaft mit einem unmerklichen Neigen ihres weißen Halses und ging dann weiter. Im ganzen Raum blieb es still, bis der Oberkellner ihr den Stuhl hervorgezogen und sie Platz genommen hatte, dann kamen, wie auf ein Stichwort, die Kellner mit ihren Terrinen durch die Schwingtüren marschiert, und das Geplapper und Besteckgeklapper, das plötzlich einsetzte, klang laut wie Kriegsgetümmel.
Beim Frühstück fragte ich Mutter:»Wieso haben sich die beiden vor ihr verbeugt?«Ich wusste, dass das Thema tabu war, wusste allerdings auch, dass ich mich wegen der Wirkung, die dies alles angeblich auf mich hatte, in einer irgendwie privilegierten Position befand. Ich fragte mich, wann sich diese Wirkung wohl zeigen würde — wie bei der Geheimschrift auf einem Lorbeerblatt, das man sich zum Anwärmen auf die Brust legt. Wenn ich vierzehn war oder achtzehn?
«Frag nicht so dumm. Außerdem brauchst du keine zwei Stückchen Zucker in deinem café au lait. « Vater schlug vor, dass wir nach dem Mittagessen ins Tal hinunterfahren könnten, um in der Stadt Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Es war als Ablenkung gedacht und funktionierte auch bis zu einem gewissen Grad, obwohl» sie «mir immer noch nicht aus dem Kopf ging. Später am gleichen Vormittag, als ich mit langweiligen Kindern eine zünftige Schneeballschlacht machen sollte, stahl ich mich davon auf die rückwärtige Terrasse, die auf den Eislaufplatz hinausging. Ich hoffte, «sie «dort wieder anzutreffen, doch der Eisplatz war bloß mit lärmenden Anfängern bevölkert. Laut kreischend schlitterten sie dort herum, und ich verachtete sie wegen ihrer Gewöhnlichkeit.
Ich hatte mich gerade abgewandt, um die Rückseite des Hotels zu betrachten, und dachte an nichts Besonderes, als ich hinter mir plötzlich Schritte hörte und eine Stimme sagte:»Haben Sie da gestanden, als es passiert ist?« Es war das erste Mal, dass ich Silberstocks Stimme aus der Nähe hörte. Es war eine angenehme Stimme, tief, aber deutlich, wie das Meer in einer Höhle. In seinem groben Tweedjackett und der Mütze mit den Ohrenklappen stand er da, nur ein paar Meter von mir entfernt. Brummbär stand hinter ihm, den Hals in einen Wollschal eingemummt, und schaute beunruhigt drein. Ich überlegte, schaute erneut zum Dach hinauf und dann auf meine Füße.
«Ja, hier ungefähr muss es gewesen sein.« «Holmes, meinen Sie nicht, wir sollten die Mutter des Mädchens fragen? Sie könnte eventuell …« «Meine Mutter war nicht dabei. Ich schon.« Vielleicht hatte ich bereits etwas darüber gelernt, wie man sich in Szene setzt. Mir ging durch den Kopf, wie herrlich es doch wäre, wenn er sich vor mir verbeugen würde, wie er sich vor ihr verbeugt hatte.
«Ganz genau.« Er verbeugte sich zwar nicht, schien jedoch sehr erfreut.
«Sehen Sie, Watson, Miss Jessica ist überhaupt nicht aufgeregt deswegen, stimmt’s?« Ich merkte, dass er es als Kompliment meinte, neigte also den Kopf leicht in seine Richtung, so wie ich es vor dem Spiegel geübt hatte, wenn Amanda mal nicht hersah.
Er lächelte, und in seinem Lächeln lag mehr Wärme, als man bei seiner Größe und Kantigkeit erwartet hätte.
«Ich nehme an, Sie haben nichts dagegen, über das zu reden, was Sie gesehen haben.« «Nicht im Geringsten«, sagte ich huldvoll. Mit meiner Ehrlichkeit verdarb ich es dann aber wieder, indem ich hinzufügte:»Ich habe aber nicht sehr viel gesehen.« «Es geht nicht darum, wie viel Sie gesehen haben, sondern wie deutlich. Vielleicht könnten Sie Dr. Watson und mir einmal genau erzählen, was Sie gesehen haben, und zwar in so vielen Einzelheiten, wie Sie sich erinnern können.« Die Stimme war sanft, doch in den dunklen Augen, die unverwandt auf mich gerichtet waren, lag keine Sanftheit.
Ich will damit nicht sagen, dass sie hart oder grausam waren, bloß dass Emotionen in ihnen keine größere Rolle spielten als etwa in der Linse einer Kamera oder eines Fernrohrs. Sie vermittelten mir ein seltsames Gefühl, nicht direkt von Angst, eher als wäre ich auf eine Weise real geworden, wie ich es vorher noch nicht recht gewesen war. Mir war bewusst, dass ich nun eine ganz klare Aussage machen musste über das, was ich vor einem Jahr gesehen hatte, dass dies wichtiger war als alles, was ich je getan hatte. Ich machte die Augen zu und dachte scharf nach.
«Ich stand genau hier und habe auf Mutter und Amanda gewartet, denn wir wollten spazieren gehen, und Amanda hatte wie üblich einen ihrer Pelzhandschuhe verloren. Ich sah den Mann fallen, dann schlug er auf dem Dach über dem Speisesaal auf und kam heruntergerutscht. Der Schnee hat sich mitbewegt, und er kam mit dem Schnee herunter. Direkt da drüben, wo der Stuhl steht, ist er gelandet, und dann kam der restliche Schnee auch noch auf ihn herunter, so dass bloß noch sein Arm herausragte.
Der Arm bewegte sich nicht, aber ich wusste nicht, dass er tot war. Dann kamen viele Leute angerannt und fingen an, den Schnee von ihm wegzuschieben, und jemand sagte, ich sollte gar nicht da sein, also brachten sie mich weg und suchten nach meiner Mutter, und deshalb war ich nicht dabei, als sie den Schnee von ihm wegwischten.« Atemlos hielt ich inne. Brummbär sah etwas beunruhigt und mitleidig aus, Silberstocks Blick hatte sich dagegen nicht verändert.
«Als Sie auf Ihre Mutter und Schwester gewartet haben, in welche Richtung haben Sie da geschaut?« «Auf den Eisplatz. Ich habe den Schlittschuhläufern zugesehen.« «Ganz genau. Das heißt also, Sie standen vom Hotel abgewandt.« «Ja.« «Und doch haben Sie den Mann fallen sehen?« «Ja.« «Wieso haben Sie sich umgedreht?« Darüber hatte ich keinen Zweifel. Es war derjenige Teil meiner Geschichte, für den sich damals alle am meisten interessiert hatten.
«Er schrie.« «Was schrie er denn?« «Er schrie ›Nein‹.« «Wann schrie er das?« Ich zögerte. Das hatte mich bisher noch niemand gefragt, weil die Antwort offensichtlich war.
«Beim Fallen.« «Klar, aber wann genau? Ich nehme an, bevor er auf dem Dach über dem Speisesaal landete, denn sonst hätten Sie sich ja nicht rechtzeitig umgedreht und es gesehen.« «Ja.« «Und Sie haben sich so rechtzeitig umgedreht, dass Sie ihn erst in der Luft und dann fallen gesehen haben?« «Holmes, ich finde, Sie sollten sie nicht …« «Ach, seien Sie still, Watson. Also, Miss Jessica?« «Ja, er war in der Luft und fiel herunter.« «Und da hatte er schon geschrieen. Zu welchem Zeitpunkt schrie er denn genau?« Ich wollte mich clever und erwachsen geben, damit er viel von mir hielt.
«Ich glaube, das war, als sie ihn aus dem Fenster geschubst hat.« Auf Brummbärs Gesicht zeichneten sich nun die meisten Gefühle ab. Er verdrehte die Augen, lief rot an und machte mit den Händen in den Pelzfäustlingen kleine flehende Gesten, wodurch er noch bärenhafter wirkte als sonst.
Diesmal galt der Protest aber nicht seinem Freund, sondern mir. Silberstock hob die Hand, um ihn davon abzuhalten, dass er etwas sagte, aber sein Gesicht hatte sich ebenfalls verändert und auf seiner Stirn kerbte sich eine tiefe V-förmige Falte ein. Die Stimme klang nun eine Spur weniger sanft.
«Als ihn wer aus dem Fenster geschubst hat?« «Seine Frau, Mrs. McEvoy.« Ich überlegte, ob ich hinzufügen sollte:»Die Frau, vor der Sie sich gestern Abend verbeugt haben«, entschied mich aber dagegen.
«Haben Sie gesehen, wie sie ihn geschubst hat?« «Nein.« «Haben Sie Mrs. McEvoy am Fenster gesehen?« «Nein.« «Und trotzdem sagen Sie, Mrs. McEvoy hätte ihren Mann aus dem Fenster gestoßen. Warum?« «Weiß doch jeder, dass sie es getan hat.« An Brummbärs Gesichtsausdruck merkte ich, dass ich mich ganz schön verrannt hatte, wusste aber nicht, wo. Er, ein freundlicher Kerl, hatte es wohl erraten, denn er fing an, es mir zu erklären.
«Wissen Sie, mein Kind, nach all den Jahren mit meinem guten Freund Mr. Holmes …« Wieder wurde er mit einem Wink zum Schweigen gebracht.
«Miss Jessica, Dr. Watson meint es gut, aber ich hoffe doch, er lässt mich für mich selbst sprechen. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum zu glauben, das Alter an sich brächte schon Weisheit mit sich, doch was es ganz sicher mit sich bringt, ist Erfahrung. Gestatten Sie mir, Ihnen aus meiner Erfahrung, wenn auch nicht aus meiner Weisheit, einen kleinen Rat zu geben!« Ich nickte, diesmal nicht huldvoll, sondern bloß verblüfft.
«Mein Rat ist folgender: Denken Sie immer daran, was alle wissen, weiß keiner.« Er benutzte seine Stimme so, wie ein Schlittschuhläufer sein Gewicht auf den Schlittschuhkufen zum Gleiten oder Drehen einsetzt.
«Sie sagen, jeder weiß doch, dass Mrs. McEvoy ihren Mann aus dem Fenster gestoßen hat. Soweit ich weiß, sind Sie die Einzige auf der Welt, die Mr. McEvoy fallen sah.
Und doch haben Sie eben gesagt, Sie hätten nicht gesehen, wie Mrs. McEvoy ihn hinausstieß. Wer also ist dieser
›jeder‹, der mit solcher Gewissheit etwas von einem Vorfall behaupten kann, den unseres Wissens niemand mit eigenen Augen gesehen hat?« Es ist schrecklich, wenn man keine Antwort weiß. Was ist neunzehn mal drei? Wie lautet die Partizipform des Verbs faire? Ich hatte mich ihm als ebenbürtig erweisen wollen, doch er hatte unwissentlich den Knopf gedrückt, der mich wie im Klassenzimmer in Panik versetzte.»Er war sehr reich«, brach es aus mir hervor,»und sie hat ihn nicht geliebt, und jetzt ist sie sehr reich und kann machen, was sie will.« Wieder schossen die Pelzfäustlinge des Bären hoch und scharrten durch die Luft. Wieder wurde er nicht beachtet.
«Mrs. McEvoy ist also reich und kann machen, was sie will? Kommt es Ihnen so vor, als wäre sie glücklich?« «Holmes, wie kann ein Kind denn wissen …?« Ich dachte an die Zigeunermusik, den glänzenden dunklen Pelz, die Perlen in ihrem Haar und schüttelte unwillkürlich den Kopf.
«Nein. Und trotzdem kommt sie wieder hierher, genau ein Jahr nachdem ihr Mann gestorben ist, ausgerechnet an den einen Ort auf der Welt, von dem man meinen würde, sie würde ihn um jeden Preis meiden wollen. Sie kommt hierher, obwohl sie weiß, was die Leute über sie sagen, sorgt dafür, dass auch gewiss jeder sie sieht, mit stolz erhobenem Kopf. Können Sie sich vorstellen, wie das für eine Frau sein muss?« Diesmal protestierte Brummbär tatsächlich und hörte auch nicht mehr auf damit. Wie konnte er nur von einem Kind erwarten, die Gefühle einer reifen Frau nachzuvollziehen? Wie konnte man mir vorwerfen, dass ich das Geklatsche meiner Eltern nachplapperte? Also wirklich, Holmes, das war zu viel. Diesmal schien Silberstock ihm sogar zuzustimmen. Er glättete die V-förmige Falte auf seiner Stirn und entschuldigte sich.
«Dann lassen Sie uns auf den festeren Boden der Tatsachen zurückkehren und uns damit befassen, was Sie tatsächlich gesehen haben. Ich nehme an, dass das Hotel seit dem letzten Jahr nicht in irgendeiner Weise umgebaut wurde.« Ich warf wieder einen Blick auf die Rückseite des Hotels. Soweit ich sehen konnte, war es genauso wie vorher, mit den Glastüren, die vom Speisesaal und vom Frühstücksraum auf die Terrasse hinausführten und dem abschüssigen Ziegeldach darüber. An das Dach angrenzend die drei Hauptetagen mit den Gästezimmern des Hotels. Die meisten Leute wählten die beiden oberen Stockwerke, weil sie schmiedeeiserne Balkone hatten, auf denen man an sonnigen Tagen stehen und die Berge betrachten konnte. Darunter lagen die kleineren Zimmer.
Sie waren weniger beliebt, da sie direkt über der Küche und dem Speisesaal lagen, folglich den Lärm und die Küchengerüche abbekamen und außerdem keinen Balkon hatten.
An Brummbär gewandt, sagte Silberstock:»Das war das Zimmer, das sie im letzten Jahr hatten, im obersten Stockwerk, das zweite von rechts. Wenn er also gestoßen worden wäre, hätte er außer aus dem Fenster auch noch über den Balkon gestoßen werden müssen. Dazu wäre aber ziemlich viel Kraft nötig gewesen, meinen Sie nicht?« Die nächste Frage war an mich gerichtet. Er wollte wissen, ob ich Mr. McEvoy schon einmal gesehen hatte, bevor er aus dem Fenster gefallen war, und ich sagte, ja, ein paar Mal.
«War er ein kleiner Mensch?« «Nein, ziemlich groß und kräftig.« «Etwa so wie unser Dr. Watson?« Wie zur militärischen Musterung reckte Brummbär seine breiten Schultern.
«Er war dicker.« «Jünger oder älter?« «Ziemlich alt. So alt wie Sie.« Brummbär prustete und ließ die Schultern ein wenig sinken.
«Also haben wir einen Mann etwa so alt wie unser Freund Watson, nur schwerer. Ziemlich schwierig für eine Frau, meinen Sie nicht, ihn gegen seinen Willen zu stoßen, egal wohin?« «Vielleicht hat sie ihn überrascht und gesagt, er soll sich mal hinauslehnen und sich etwas ansehen, und ihm dann die Füße weggezogen.« Die Theorie stammte nicht von mir. Der Vorfall war im letzten Jahr natürlich unter sämtlichen Gesichtspunkten analysiert worden, und keine elterliche Vorsicht hätte mir das vorenthalten können.
«Eine rührende Vorstellung. Halten wir uns doch wieder an die Dinge, die wir mit Sicherheit wissen, ja? Lag letztes Jahr genauso viel Schnee wie jetzt?« «Ich glaube schon. Letztes Jahr ging er mir bis über die Knie. Dieses Jahr nicht ganz, aber ich bin ja auch gewachsen.« Brummbär murmelte:»Über so etwas wird es doch Aufzeichnungen geben.« «Gewiss, aber wir sind Miss Jessica auch dankbar für ihre persönlichen Einschätzungen. Dürfen wir Ihnen nur noch eine Frage stellen?« Ich bejahte ziemlich argwöhnisch.
«Sie sagten, kurz bevor Sie sich umgedreht haben und ihn fallen sahen, hörten Sie ihn ›nein‹ schreien. Was für ein ›Nein‹ war das denn?« Ich war verwirrt. Das hatte mich bis jetzt noch niemand gefragt.
«War es ein verärgertes Nein? Ein protestierendes Nein?
Die Art von Nein, die man schreit, wenn einen jemand vom Balkon stößt?« Der andere sah aus, als wollte er wieder etwas einwenden, blieb aber still. Die Intensität in Silberstocks Blick hätte sogar ein munter gluckerndes Bächlein gefrieren lassen. Als ich nicht gleich antwortete, entspannte er sich sichtlich, und seine Stimme wurde weicher.
«Es fällt Ihnen schwer, sich zu erinnern, nicht wahr?
Alle waren sich so sicher, dass es eine ganz bestimmte Art von Nein gewesen war, und nun hat sich diese Version in Ihrem Kopf festgesetzt. Ich möchte, dass Sie etwas für mich tun, wenn Sie so nett wären. Ich will, dass Sie vergessen, dass Dr. Watson und ich hier sind, und sich dahin stellen und auf den Eisplatz hinunterschauen, genau wie letztes Jahr. Ich will, dass Sie an gar nichts anderes denken und sich vorstellen, es ist wirklich letztes Jahr, und Sie hören diesen Schrei zum ersten Mal. Wollen Sie das tun?« Ich wandte den Blick von ihnen ab und betrachtete zuerst die diesjährigen Schlittschuhläufer, dann machte ich die Augen zu und versuchte, mich zu erinnern, wie es gewesen war. Während ich wartete, spürte ich den kratzigen grünen Schal um den Hals und die Kälte, die mir in Zehen und Finger kroch. Ich hörte den Schrei und musste mich richtig beherrschen, um mich nicht umzudrehen und die Gestalt wieder herunterpurzeln zu sehen. Als ich die Augen aufmachte und die beiden ansah, warteten sie immer noch geduldig.
«Ich glaube, ich weiß es wieder.« «Was für ein Nein war es?« Ich hatte es ganz klar im Kopf, konnte es aber schwer in Worte fassen.
«Es … es war, als ob er noch etwas hätte sagen wollen, wenn er Zeit gehabt hätte. Nicht bloß nein. Nein, und noch etwas anderes.« «Nein, und was noch?« Wieder Schweigen, während ich nachdachte, dann ein kleiner Ansporn von Brummbär.
«Hätte es ein Name sein können, mein Kind?« «Geben Sie ihr doch nicht noch mehr Ideen ein. Sie dachten, er hätte nach dem Nein noch etwas sagen wollen, wissen aber nicht was, ist es so?« «Ja, wie ›nein, kein Rennen‹, oder ›nein, kein Kuchen heute‹, bloß war es das nicht. Etwas, was man nicht tun konnte.« «Oder etwas, das fehlte, wie etwa der Kuchen?« «Ja, so ähnlich. Aber, das hätte es doch nicht sein können, oder?« «Nein? Wenn etwas auf eine bestimmte Weise geschieht, dann ist es geschehen, da gibt es kein könnte oder könnte nicht.« Solche Sachen sagen sonst eigentlich Gouvernanten, doch er lächelte dabei, und ich hatte irgendwie das Gefühl, ich hatte etwas gesagt, was ihm gefiel.
«Ich sehe, da kommen Ihre Mutter und Schwester, daher müssen wir diese höchst aufschlussreiche Unterhaltung wohl beenden, fürchte ich. Ich bin Ihnen für Ihre scharfe Beobachtungsgabe sehr zu Dank verpflichtet. Erlauben Sie mir, Ihnen weitere Fragen zu stellen, falls mir noch welche einfallen?« Ich nickte.
«Ist das jetzt ein Geheimnis?« «Möchten Sie gern, dass es eines ist?« «Holmes, ich finde, wir sollten die junge Dame nicht dazu verleiten …« «Mein lieber Watson, meiner Auffassung nach kann man einem Kind kein kostbareres Geschenk machen, als wenn man es ein Geheimnis bewahren lässt.« Meine Mutter kam mit Amanda über die Terrasse herüber. Silberstock und Brummbär tippten sich zum Gruß an die Mützen und wünschten uns einen schönen Spaziergang. Als meine Mutter mich später fragte, worüber wir gesprochen hatten, sagte ich, sie hätten wissen wollen, ob der Schnee letztes Jahr auch so tief gewesen sei — und behielt das Geheimnis meiner Komplizenschaft für mich. In meiner Fantasie wurde ich sein Spähauge und sein Lauschohr. Bei der Kinderfeier an Heiligabend redeten die Erwachsenen mit gedämpfter Stimme und glaubten, wir wären ganz in den Geschenktrubel um den Hotelbaum versunken. Es hätte aber mehr als den Portier im roten Mantel und weißen Schnurrbart gebraucht oder seine großzügige Gabe von drei Holzgänsen an einer Schnur, um mich von meiner Arbeit abzulenken. Ich lauschte und bewahrte jedes Fitzelchen an Information auf für später, wenn er mich wieder befragen würde. Und ich beobachtete Mrs. McEvoy, wie sie den ganzen Weihnachtsabend und Weihnachtstag im Hotel umherging, blass und aufrecht in ihrem Schwarz und den Juwelen, und das Schweigen hinter sich her zog wie die lange Schleppe an einem Kleid.
Mein Aufruf erfolgte am zweiten Weihnachtsfeiertag. Es gab wieder eine Schneeballschlacht auf dem Hotelgelände, diesmal mit Eltern. Ich hielt mich ziemlich heraus und wartete neben einem Grüppchen von kahlen Birken, als Silberstock und Brummbär tatsächlich zu mir herüberkamen.
«Ich habe eine Menge über sie herausgefunden«, sagte ich.
«So, so, haben Sie das?« «Er war ihr zweiter Mann. Sie hatte schon mal einen, den sie mehr liebte, der ist aber am Fieber gestorben. Das war, als sie vor langer Zeit mal in Ägypten waren.« «Vor zehn Jahren.« Silberstocks Stimme klang abwesend. Er sah mich nicht einmal an.
«Vor drei Jahren hat sie Mr. McEvoy geheiratet. Die meisten Leute sagen, wegen seinem Geld, aber auf der Feier war auch eine amerikanische Dame, die meinte, Mr.
McEvoy sei auf den ersten Blick ziemlich nett gewesen und hätte sich für Musik und Sänger interessiert, also war es vielleicht so eine Ehe, bei der sich die Leute ganz gern haben, aber nicht ineinander verliebt sind, verstehen Sie?« Ich dachte eigentlich, ich hätte mich ganz tapfer geschlagen. Ich wollte, dass es so klang wie bei meiner Mutter, wenn sie mit ihren Freundinnen redete, und in meinen Ohren hörte es sich auch ganz überzeugend an. Ich war enttäuscht über die ausbleibende Reaktion und fuhr deshalb meine schweren Geschütze auf.
«Bloß mochte sie ihn danach nicht mehr so, denn nachdem sie geheiratet hatten, fand sie das mit seinem Auge heraus.« «Seinem Auge?« Endlich eine Reaktion, allerdings von Brummbär, nicht von Silberstock. Ich kam auch gleich auf das richtige Wort und klammerte mich daran fest.
«Riskiert. Er hat gern mal ein Auge riskiert. Also, er guckte immer andere Damen an, und das gefiel ihr nicht.« Ich hoffte, sie würden verstehen, dass es bedeutete, man guckte auf eine ganz spezielle Weise. Ich wusste selbst nicht recht, auf was für eine spezielle Weise, aber als die Erwachsenen bei der Feier darüber redeten, verstanden sie einander offensichtlich. Es kam mir allerdings so vor, als hätte ich die beiden überschätzt, denn sie standen bloß da und starrten mich an. Vielleicht war Silberstock doch nicht so schlau, wie ich geglaubt hatte. Ich rückte mein letztes Restchen an Information heraus, etwas, was jeder begreifen würde.
«Ich habe ihren Vornamen herausgekriegt. Irene.« Brummbär räusperte sich. Silberstock sagte gar nichts.
Er blickte über meinen Kopf hinweg zu der Schneeballschlacht.
«Holmes, ich finde wirklich, wir sollten Miss Jessica mit ihren kleinen Freunden spielen lassen.« «Noch nicht. Ich möchte sie etwas fragen. Erinnern Sie sich noch an das Hotelpersonal vom letzten Weihnachten?« Was für eine grässliche Enttäuschung! Da war ich nun zu ihm gekommen, den Kopf voll gepackt mit Liebe, Geld und Hochzeiten, und er erkundigte sich nach den Bediensteten. Vielleicht wirkte meine enttäuschte Miene wie Begriffsstutzigkeit, denn sein Ton wurde ungehalten.
«Die Leute, die sich um euch gekümmert haben, die Portiers und die Kellner und die Zimmermädchen, besonders die Zimmermädchen.« «Es sind immer noch die gleichen … glaube ich. «Ich ging sie im Kopf durch. Da war Petra mit ihren dicken Zöpfen, die uns die Tassen mit heißer Schokolade brachte, die runde Renate, die uns die Betten machte, die grauhaarige Ulrike mit dem Hinkebein.
«Ist niemand weggegangen?« «Ich glaube nicht.« Dann war die Erinnerung plötzlich wieder da: blonde Ringellocken, die unter der Zimmermädchenhaube hervorquollen, und die klare Stimme, mit der sie sang und dabei die Korridore kehrte, froh und unbeschwert wie ein Vogel im Wind.
«Da war noch Eva, aber die hat geheiratet.« «Wen hat sie geheiratet?« «Franz, den Mann, der den Schlitten hat.« Der flog gerade die Auffahrt hinunter, als ich das sagte, mit klingelnden Silberglöckchen und dem kleinen Pferd, das im Sonnenschein golden glänzte.
«Eine gute Partie für ein Zimmermädchen im Hotel.« «O, letztes Jahr hatte er den Schlitten noch nicht. Da war er bloß der zweite Portier.« «So, so. Watson, ich glaube, mit dem müssen wir mal eine Schlittenfahrt machen. Sprechen Sie mit dem Chefportier wegen der Buchung?« Ich hoffte, er würde mich auch dazu einladen, aber davon war nicht die Rede. Trotzdem schien sich seine Stimmung wieder gebessert zu haben — obwohl ich kaum glaubte, dass es an dem lag, was ich ihm erzählt hatte.
«Miss Jessica, ich bin Ihnen wieder sehr zu Dank verpflichtet. Um einen Gefallen werde ich Sie vielleicht noch bitten müssen, aber alles zu seiner Zeit.« Widerwillig kehrte ich zu den Schneeballwerfern zurück, während die beiden durch den Schnee ins Hotel gingen.
Als wir nachmittags dann unseren Spaziergang machten, fuhren sie die Auffahrt hinunter in Franzens Schlitten an uns vorbei. Es sah nicht nach einer Vergnügungsfahrt aus.
Franzens hübsches Gesicht war ernst, und Holmes blickte starr geradeaus. Statt sich am Ende der Hotelauffahrt in Richtung Wald zu wenden, bogen sie links ab ins Dorf.
Unser Spaziergang führte uns ebenfalls ins Dorf, weil Vater bei einem alten Mann vorbeischauen wollte, um sich einen Spazierstock schnitzen zu lassen. Als wir die kleine Hauptstraße hinuntergingen, sahen wir den Schlitten samt Pferd vor einem properen Chalet mit grünen Fensterläden neben der Kirche stehen. Ich wusste, dass es Franzens eigenes Haus war, und fragte mich, was aus seinen Fahrgästen geworden war. Etwa eine halbe Stunde später, als wir das mit Vaters Spazierstock erledigt hatten und wieder die Straße hinaufgingen, sahen wir Holmes und Watson draußen auf dem Balkon des Chalets stehen — mit Eva, dem Zimmermädchen vom letzten Jahr. Ihr helles Haar war lockig wie immer, doch sie hielt den Kopf gesenkt und schien aufmerksam dem zu lauschen, was Holmes gerade sagte. An ihren hängenden Schultern sah ich, dass sie nicht glücklich war.
«Wieso redet Silberstock mit ihr?« Wie es sich gehörte, wurde Amanda getadelt, weil sie hingestarrt und nach Sachen gefragt hatte, die sie nichts angingen. Weil ich älter und klüger war, sagte ich nichts, sondern bewahrte mein Geheimnis fest in meinem Herzen.
Hatte Eva ihn hinuntergestoßen? Würde man sie ins Gefängnis stecken? In meine Freude mischten sich Schuldgefühle, weil er das mit Eva ja nicht erfahren hätte, wenn ich es ihm nicht gesagt hätte, aber nicht so viele, dass es mir die Sache verdorben hätte. Später hielt ich aus unserem Fenster Ausschau und hoffte, den Schlitten zurückkommen zu sehen, der an dem Tag aber nicht mehr kam. Stattdessen kehrten Holmes und Watson kurz vor Einbruch der Dunkelheit zu Fuß zurück. Raschen Schrittes und schweigend kamen sie die Auffahrt herauf.
Am nächsten Morgen kam Brummbär beim Frühstück zu Mutter an den Tisch.»Ob Sie wohl gestatten, dass ich Miss Jessica auf einen kurzen Spaziergang auf die Terrasse mitnehme?« Mutter zögerte, aber Brummbär war offenkundig sehr seriös, und überhaupt konnte man die Terrasse vom Frühstücksraum aus einsehen. Ich setzte meine Mütze auf, zog Mantel und Handschuhe an und ging mit ihm durch die Glastür hinaus in die kalte Luft. Wir sahen zum Eislaufplatz hinunter, von genau der gleichen Stelle aus, an der ich gestanden hatte, als sie das erste Mal mit mir gesprochen hatten. Ich wusste, dass das kein Zufall war.
Brummbärs hektische Betriebsamkeit, die Spannung in seiner Stimme, die er erfolglos zu verbergen suchte, ließen keinen Zweifel. Irgendetwas stimmte auch nicht mit der Terrasse — es waren viel mehr Leute darauf als sonst an einem kalten Vormittag. Etwa zwei Dutzend standen steif in Grüppchen herum, unterhielten sich und warteten.
«Wo ist Mr. Holmes?« Brummbär sah mich an, die Augen vor Kälte tränend.
«Ehrlich gesagt, mein Kind, weiß ich nicht, wo er steckt oder was er treibt. Er hat mir beim Frühstück meine Anweisungen gegeben, und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen.« «Anweisungen über mich?« Bevor er antworten konnte, ertönte der Schrei. Es war der Schrei eines Mannes; er durchschnitt die Luft wie ein Sägeblatt und bestand aus einem Wort. Das Wort lautete «Nein«. Ich wandte mich ab, mir stockte der Atem, und genau wie im letzten Jahr war da ein dunkles Ding in der Luft, um das die Kleider flatterten. Alle Leute auf der Terrasse hielten gleichzeitig den Atem an, dann ertönte ein dumpfer Aufprall, als das Ding im tiefen Schnee auf dem Restaurantdach aufschlug und abzurutschen begann. Ich hörte wieder» Nein«, aber diesmal war es meine eigene Stimme, denn vom letzten Jahr wusste ich, was als Nächstes kommen würde — die Rutschpartie vom abschüssigen Dach, der zusammengeschobene Schnee, der Knall auf die Terrasse nur ein paar Meter von der Stelle, an der ich jetzt stand, der herausragende Arm.
Zunächst war die Erinnerung so stark, dass ich dachte, ich würde das vor mir sehen, und es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass es sich gar nicht so abspielte. Das Ding war ein wenig zur Seite gefallen, und anstatt geradeaus das Dach hinunterzurutschen, geriet es an ein kleines Ziergeländer am Rand, wo das Hauptgebäude des Hotels in den Anbau überging, und schob dabei einen Schneekeil vor sich her. Dann sagte jemand ungläubig:»Er ist liegen geblieben!«Das Ding war tatsächlich liegen geblieben. Statt über das Dach auf die Terrasse zu stürzen, war es gegen das Geländer geschoben worden, wie ein walzenförmiger Schneeball in Schnee eingerollt, und etwa einen Meter vor der Kante liegen geblieben. Dann setzte es sich auf, klammerte sich mit einer Hand an das Geländer, von der Körpermitte abwärts mit Schnee bedeckt. Falls er eine Mütze aufgehabt hatte, als er aus dem Fenster fiel, so hatte er sie beim Fallen verloren, denn sein feuchtes Haar glänzte silbern über seinem lächelnden, braunen Gesicht. Es war ein nach innen gekehrtes Lächeln, als könnte nur er allein richtig ermessen, was er da soeben getan hatte.
Dann begannen die Leute wild durcheinander zu reden.
Ein paar schrieen nach einer Leiter, andere rannten herum.
Die Übrigen fragten sich gegenseitig, was denn passiert sei, bis jemand drei Stockwerke über uns das weit offen stehende Fenster bemerkte.
«Ihr Fenster. Mrs. McEvoys Fenster.« «Er ist von Mrs. McEvoys Balkon gefallen, genau wie letztes Jahr.« «Aber er ist doch gar nicht …« Irgendwann hatte Brummbär mir die Hand auf die Schulter gelegt. Jetzt beugte er sich zu mir herunter, blickte mir besorgt ins Gesicht und sagte, wir sollten hineingehen zu meiner Mutter. Mir wäre lieber gewesen, er ginge mir aus dem Weg, damit ich Silberstock auf dem Dach sehen konnte. Dann kam Mutter angerauscht, Wolken von Parfüm und Theatralik verströmend. Ich musste natürlich hinein, aber vorher sah ich noch, wie die Leiter ankam und Silberstock herunterstieg, ein wenig steif zwar, jedoch voller Würde. Und noch etwas. In dem Moment, als er von der Leiter stieg, öffnete sich die Glastür zur Terrasse und» sie «trat heraus. Sie war nicht dabei gewesen, als es geschehen war, doch nun schritt sie in ihrer schwarzen Pelzjacke zwischen den Leuten hindurch, als ob sie gar nicht vorhanden wären, reichte ihm die Hand und bedankte sich.
Wie an den anderen Abenden speiste sie allein an ihrem Tisch, brauchte aber länger, um dorthin zu gelangen. Ihr langer Gang quer durch den Speisesaal wurde noch verlängert von all den Leuten, die mit ihr sprechen wollten, sich nach ihrem Befinden erkundigten, ihr sagten, wie sehr sie sich freuten, sie wieder zu sehen. Es war, als wäre sie an dem Nachmittag erst angekommen und nicht schon fünf Tage dort gewesen. Mehrere Blumensträußchen standen auf ihrem Tisch, die anscheinend extra aus der Stadt heraufgeschickt worden waren, daneben Champagner in einem silbernen Kübel.
Silberstock und Brummbär verbeugten sich, als sie an ihrem Tisch vorbeiging, aber mit einem gewöhnlichen höflichen leichten Nicken, nicht wie an jenem ersten Abend. Als sie ihnen ein Lächeln schenkte, war es, als würde die Sonne aufgehen.
Wir wurden wie gewöhnlich sofort nach der Suppe ins Bett geschickt. Amanda schlief gleich ein, aber ich lag noch wach und ärgerte mich, dass ich von den wirklich wichtigen Dingen ausgeschlossen war. Da der kleine Salon unserer Eltern neben unserem Schlafzimmer lag, hörte ich sie hereinkommen. Sie waren immer noch aufgeregt. Kurz darauf klopfte es an der Tür zu unserer Suite, Stimmengemurmel ertönte, woraufhin mein Vater etwas verblüfft sagte:»Ja, dann kommen Sie doch bitte herein. «Dann ihre Stimmen, erst die von Brummbär, der sich umständlich entschuldigte, es sei ja schon so spät, dann die von Silberstock, der ihn unwirsch abfertigte:»Es ist so, wir schulden Ihnen eine Erklärung, beziehungsweise Ihrer Tochter. Dr. Watson meinte, wir sollten sie Ihnen geben, damit Sie es Jessica irgendwann in der Zukunft, wenn sie alt genug ist, vielleicht sagen können.« Hätte ich eine Truhe voller Gold gehabt und gerade gesehen, wie jemand sie in einer bevölkerten Straße wegwarf, ich hätte nicht wütender sein können: zu hören, wie mein Geheimnis hier preisgegeben wurde. Mein erster Gedanke war, barfuss und im Nachthemd ins Nebenzimmer zu stürmen und zu verlangen, dass er mit mir redete, nicht mit ihnen. Dann gewann die Vorsicht die Oberhand. Ich stieg zwar aus dem Bett, ging aber nur bis zur Tür, öffnete sie einen Spalt, um besser hören zu können, und tappte wieder zurück ins Bett. Ich hörte, wie Sessel gerückt wurden und Leute sich darauf niederließen, dann ertönte Silberstocks Stimme.
«Ich sollte gleich zu Anfang sagen, Dr. Watson und ich — aus Gründen, die hier nicht erörtert zu werden brauchen — waren überzeugt, dass Irene McEvoy ihrem Mann nicht den tödlichen Stoß versetzt hat. Die Frage war, wie man es beweisen sollte, und in dieser Hinsicht war die Aussage Ihrer Tochter unverzichtbar. Sie allein sah Mr. McEvoy fallen, und nur sie hörte, was er schrie. Das akkurate kindliche Ohr — nachdem es gewisse dumme Bemerkungen der Erwachsenen aussortiert hatte – registrierte diesen Schrei so präzise wie ein Phonograph und wusste, dass es genau genommen nur die Hälfte eines Schreis war, dem Mr. McEvoy, wenn er Zeit gehabt hätte, noch etwas hinzugefügt hätte.« Pause. Ich saß aufrecht im Bett, die Tagesdecke um den Hals, und spitzte die Ohren, damit mir auch nicht ein Wort davon entging, was er mit seiner ruhigen, klaren Stimme äußerte.
«Nein — und dann noch etwas. Die Frage war, nein und was? Mr. McEvoy hatte erwartet, dass etwas dort war, und sein letzter Gedanke auf Erden galt der Überraschung darüber, dass es fehlte, einer Überraschung, die so heftig war, dass er sie mit seinem letzten Atemzug herausschreien wollte. Die Frage war nun, was es gewesen sein könnte.« Schweigen, Warten auf eine Antwort, doch niemand sagte etwas.
«Wenn Sie sich einmal die Rückseite des Hotels von der Terrasse aus ansehen, wird Ihnen eines ganz klar auffallen: Der zweite und der dritte Stock sind mit Baikonen ausgestattet. Der erste Stock nicht. Das Zimmer, das Mr. und Mrs. McEvoy bewohnten, hatte einen Balkon.
Jemand, der in der Suite wohnte, würde sich das merken.
Nicht unbedingt merken würde er sich — falls er nicht ein außergewöhnlich genauer Beobachter war —, dass die Zimmer im ersten Stock keine Balkone haben. Bis es zu spät war. Ich habe mir nun die Theorie zurechtgelegt, dass Mr. McEvoy in der Tat nicht aus dem Fenster seines eigenen Zimmers gefallen war, sondern aus einem der unteren Zimmer, das jemand anderem gehörte. Das erklärt auch seine unvollendeten letzten Worte: ›Nein … kein …
Balkon.‹« Meine Mutter rang nach Luft. Mein Vater sagte:
«Gütiger Himmel …« «Nachdem ich zu dieser Schlussfolgerung gelangt war, blieb noch die Frage, was Mr. McEvoy im Zimmer einer anderen Person zu suchen hatte. Diebstahl war auszuschließen, da er ein sehr reicher Mann war. Er wollte sich also mit jemandem treffen. Die nächste Frage war, mit wem. Und hier war Ihre Tochter auf eine Weise behilflich, die sie in ihrem jungen Alter noch nicht begreifen kann. Sie vertraute uns in aller Unschuld an, die Erwachsenen klatschen gehört zu haben, wonach der verstorbene Mr.
McEvoy gern mal ein Auge riskiert habe.« Mein Vater fing an zu lachen, hörte aber gleich wieder auf.
«Aha«, meinte meine Mutter auf eine Art, die Ärger für mich verhieß.
«Als ich erst einmal auf diese Spur aufmerksam geworden war, war die Lösung offensichtlich.
Mr. McEvoy hielt sich in einem fremden Hotelzimmer zum Zwecke eines — wie könnte man sagen? — eines Schäferstündchens auf. Allerdings trug sich der Unfall mitten am Vormittag zu. Hat man in der Weltgeschichte je von einer Dame gehört, die sich zu dieser Tageszeit auf ein heimliches Stelldichein eingelassen hätte? Es handelte sich folglich nicht um eine Dame. Also fragte ich mich, welche Personengruppe vormittags am wahrscheinlichsten in einem Hotelzimmer anzutreffen ist, und die Antwort war …« «Du liebe Güte, das Zimmermädchen!« Die Stimme meiner Mutter, und offenkundig war Holmes über die Unterbrechung nicht besonders erfreut.
«Ganz genau. Mr.
McEvoy hatte sich mit einem Zimmermädchen verabredet. Ich fragte ein wenig herum, um festzustellen, ob irgendwelche jungen und attraktiven Zimmermädchen das Hotel seit letzte Weihnachten verlassen hatten. Und es gab eine — eine gewisse Eva. Sie hatte den zweiten Portier geheiratet und als Mitgift so viel Geld in die Ehe gebracht, dass er den eleganten kleinen Schlitten kaufen konnte. Nun mag ein umsichtiges Zimmermädchen sich ja durch Trinkgelder durchaus eine bescheidene Mitgift ansparen, aber ein Blick auf diesen Schlitten wird Ihnen sagen, dass Evas Mitgift sich eher als, nun … unbescheiden bezeichnen lässt.« Wieder ertönte das Lachen meines Vaters, abgewürgt von einem scharfen Blick meiner Mutter, den ich mir gut vorstellen konnte.
«Dr. Watson und ich statteten Eva also einen Besuch ab.
Ich sagte ihr, zu welchen Schlüssen ich gekommen war, und die Arme bestätigte sie, indem sie noch einige Einzelheiten hinzufügte — die Stimme der Wirtschafterin vor der Tür, Mr. McEvoys bewährte, diesmal aber unkluge Taktik, auf dem Balkon Zuflucht zu suchen. Sie mögen nun einwenden, die junge Eva hätte gleich gestehen sollen, was sich zugetragen hatte …« «In der Tat.« «Aber bedenken Sie doch einmal ihre Lage. Dann hätte sie nicht nur ihre Stellung im Hotel verloren, auch ihre Verlobung mit dem schönen Franz wäre in die Brüche gegangen. Und schließlich war ja auch keine Rede davon, dass irgendjemand vor Gericht gestellt werden sollte. Die feine Gesellschaft war durchaus damit zufrieden, stillschweigend die Geschichte zu dulden, dass Mr. McEvoy aus Versehen aus seinem Fenster gefallen war — und innerlich eine Unschuldige des Mordes an ihm zu bezichtigen.« Meine Mutter sagte — und klang zur Abwechslung einmal ziemlich gedämpft:»Aber das muss Mrs. McEvoy doch gewusst haben. Warum hat sie nichts gesagt?« «Ah, um das zu beantworten, muss man etwas über Mrs. McEvoys Lebensgeschichte wissen, und Dr. Watson und ich sind zufällig in dieser Lage. Vor langer Zeit, vor ihrer ersten, glücklichen Ehe, wurde Mrs. McEvoy von einem Prinzen geliebt. Er war zugegebenermaßen kein besonders bewundernswerter Prinz, aber ein Prinz.
Können Sie sich vorstellen, wie sich eine Frau gefühlt haben muss, die aus so einer Welt kommt und dann von einem Mann, der sein Vermögen mit Badezimmereinrichtungen gemacht hat, mit einem Zimmermädchen betrogen wird? Können Sie sich vorstellen, dass eine stolze Frau vielleicht lieber für eine Mörderin gehalten wird, als sich dieser Demütigung zu unterwerfen?« Wieder Schweigen, dann hauchte meine Mutter:»Ja. Ja, das kann ich wohl. Die Ärmste.« «Nicht Mitleid war es, was Irene McEvoy brauchte.« Und in einem anderen Tonfall:»So, jetzt wissen Sie Bescheid. Und es ist Ihre Entscheidung, wie viel — und ob überhaupt — Sie Jessica davon einmal sagen wollen.« Es hörte sich an, als würden sie sich von ihren Sesseln erheben, dann sagte mein Vater:»Und Ihre, äh, Vorführung heute Morgen?« «Ach, dieses kleine Schauspiel. Ich wusste, was sich zugetragen hatte, aber Mrs.
McEvoy zuliebe war es notwendig, der Welt zu beweisen, dass sie unschuldig war.
Eva konnte ich als Zeugin nicht aufrufen, denn ich hatte ihr mein Wort gegeben. Ich hatte mir die Neigung des Dachs und die Schneetiefe genau angesehen und war vom wissenschaftlichen Standpunkt aus überzeugt, dass ein Mensch, der von Mrs. McEvoys Balkon fiel, nicht auf der Terrasse gelandet wäre. Das Ergebnis kennen Sie.« Man wünschte einander ziemlich gedämpft gute Nacht, und die beiden wurden an die Tür gebracht. Durch die einen Spalt offen stehende Tür konnte ich einen Blick auf sie erhaschen. Als sie an der Tür vorbeikamen, ließ Silberstock, der sich normalerweise sehr beherrscht bewegte, seine Pfeife fallen und musste sich hinknien, um sie aufzuheben. Während er kniete, trafen sich seine hellen Augen durch den Spalt mit meinen, und er setzte ein merkwürdiges, flüchtiges Lächeln auf, das von den anderen unbemerkt blieb. Er hatte gewusst, dass ich die ganze Zeit zugehört hatte.
Als sie gegangen waren, blieben Mutter und Vater lange schweigend sitzen.
Schließlich sagte Vater:»Wenn er sich geirrt hätte, hätte er sich umgebracht.« «Wie beim Skilaufen.« «Er muss sie sehr geliebt haben.« «Seine eigene Logik, die liebt er.« Aber meine Mutter war schon immer die Unromantischere von beiden gewesen.