Sommerleute von SHIRLEY JACKSON

Shirley Hardie Jackson (1916-65) war als Romanautorin und Kurzgeschichtenerzählerin sehr produktiv, doch wird ihr Name vor allem mit einer ganz bestimmten Erzählung in Verbindung gebracht —»The Lottery«(1948; dt. Die Lotterie). Geboren in San Francisco, wuchs Jackson in Burlingame, Kalifornien auf und studierte an den Universitäten von Rochester und Syracuse. Ihre erste größere Veröffentlichung, eine Kurzgeschichte mit dem Titel» My Life with R.H. Macy«, erschien 1941 in The New Republic. 1948 kam ihr erster Roman heraus, The Road Through the Wall, und im gleichen Jahr wurde» The Lottery «im New Yorker veröffentlicht und beschwor eine große Kontroverse herauf. Wie Jackson in ihrem Essay «Biography of a Story«(1960) beschreibt, konnte keiner der Geschichte etwas abgewinnen (auch nicht Jacksons Agentin und der Verleger, der sie kaufte). Harold Ross, der Herausgeber des New Yorker, verstand sie nicht, und sie rief eine Flut von verstörten Leserbriefen hervor.

Jackson, wegen ihrer berühmten Story auf Horror und Übernatürliches festgelegt, war jedoch weit vielseitiger, und neben Kinderbüchern umfasst ihr Werk auch den unbeschwert häuslich-humorvollen Aspekt in ihren Autobiografien Life among the Savages (1953) und Raising Demons (1957).

Jacksons berühmtes Gespür für den subtil angedeuteten Horror entwickelte sich recht früh, etwa in ihrer knappen Kurzgeschichte» Janice«(1938), in der eine Collegestudentin auf unglaublich lässige Art ihren Selbstmordversuch beschreibt. Wie Jacksons Ehemann Stanley Edgar Hyman in seiner Einleitung zur posthum veröffentlichten Sammlung mit dem Titel Come Along with Me (1968) beschreibt, führte diese während ihrer frühen Studienzeit in Syracuse verfasste Geschichte zur ersten Begegnung des Paars.

«Sommerleute «ist eine subtile, auf verstörende Weise unaufgelöste Erzählung, in der eine immer größer werdende Bedrohung in den Alltag einbricht. Ist es eine Allegorie, eine Horrorstory, eine Kriminalgeschichte?

Sterben die Allisons am Ende oder werden sie von irgend jemandem terrorisiert? Die Geschichte macht die Leser zu Detektiven, ohne deren Schlussfolgerungen jedoch unbedingt zu belegen.

Das Sommerhäuschen der Allisons war sieben Meilen vom nächsten Ort entfernt hübsch auf einem Hügel gelegen. Auf drei Seiten blickte man hinunter auf eine sanfte Baumlandschaft und Wiesen, die auch mitten im Sommer selten vertrockneten. Auf der vierten Seite befand sich, dicht am hölzernen Bootssteg, den die Allisons immer wieder reparieren mussten, der See, der von ihrer Veranda vorm Haus, von der seitlichen Veranda oder jedem Punkt auf der Holztreppe, die von der Veranda ans Wasser hinunterführte, immer gleich gut aussah. Obwohl die Allisons ihr Sommerhaus liebten, sich schon im Frühsommer auf die Ankunft dort freuten und im Herbst nur ungern wieder wegfuhren, hatten sie sich nicht die Mühe gemacht, irgendwelche Verbesserungen vorzunehmen, denn ihnen bedeuteten Haus und See schon Verbesserung genug für das Leben, das ihnen noch verblieb. Das Haus hatte keine Heizung, bis auf die spärliche Versorgung aus der Wasserpumpe im Hof kein fließendes Wasser und keinen Strom. Siebzehn Sommer lang hatte Janet Allison auf einem Petroleumherd gekocht und ihren gesamten Wasserbedarf heiß gemacht, Robert Allison hatte jeden Tag eimerweise Wasser von der Pumpe hereingetragen und abends seine Zeitung im Schein der Petroleumlampe gelesen, und auch als hygienebewusste Stadtmenschen hatten sie es gelernt, ihr Aborthäuschen als selbstverständlich hinzunehmen. In den ersten zwei Jahren hatten sie all die üblichen Variete- und Zeitschriftenwitze über Aborthäuschen erzählt, sich inzwischen aber, seit nicht mehr oft Gäste kamen, die es zu beeindrucken galt, in behaglicher Sicherheit eingerichtet, in der das Aborthäuschen, ebenso wie Pumpe und Petroleum, zu einem unerlässlichen Bestandteil ihres Sommerlebens zählte.

Die Allisons waren an sich ganz normale Leute.

Mrs. Allison war achtundfünfzig Jahre alt, Mr. Allison sechzig. Ihre Kinder waren dem Sommerhäuschen mittlerweile entwachsen und fuhren mit ihren eigenen Familien ans Meer in Urlaub. Ihre Freunde waren entweder gestorben oder hatten sich das ganze Jahr über in behaglichen Häusern niedergelassen, und ihre Nichten und Neffen wollten sich immer nicht festlegen. Im Winter versicherten sie einander, in ihrer Wohnung in New York ließe es sich doch aushalten, solange man auf den Sommer wartete, und im Sommer sagten sie sich, den Winter würde man auch durchstehen, während man darauf wartete, wieder aufs Land zu fahren.

Da sie alt genug waren, sich ihrer festen Angewohnheiten nicht zu schämen, verließen die Allisons ihr Sommerhaus immer regelmäßig Anfang September am Dienstag nach dem Labor Day, und regelmäßig tat es ihnen wieder Leid, wenn das Wetter im September und Anfang Oktober noch so schön wurde, dass es in der Stadt fast unerträglich öde war. Jedes Jahr stellten sie von neuem fest, dass sie nichts nach New York zurückzog, doch erst in diesem Jahr überwanden sie ihre übliche Trägheit so weit, dass sie beschlossen, nach dem Labor Day noch im Häuschen zu bleiben.

«Es gibt eigentlich gar nichts, was uns in die Stadt zurücktreibt«, sagte Mrs. Allison zu ihrem Mann so ernst, als handelte es sich um eine neue Idee, und er erwiderte ihr, als hätte keiner von beiden es je in Betracht gezogen:

«Dann lass uns doch das Landleben noch so lange wie möglich genießen.« Und so fuhr Mrs. Allison hocherfreut und mit einem etwas abenteuerlichen Gefühl am Tag nach Labor Day in ihr Dorf und erzählte den Ortsansässigen, mit denen sie Umgang pflegte, in der hübschen Manier derjenigen, die von der Tradition abweichen, sie und ihr Mann hätten beschlossen, noch mindestens einen Monat länger in ihrem Sommerhaus zu bleiben.

«Es ist ja nicht so, als müssten wir unbedingt in die Stadt zurück«, sagte sie zu Mr.

Babcock, ihrem Lebensmittelhändler.»Da können wir doch das Landleben genießen, solange es noch geht.« «Nach Labor Day ist noch nie jemand am See geblieben«, sagte Mr.

Babcock. Er packte soeben Mrs. Allisons Einkäufe in einen großen Pappkarton und hielt kurz inne, um nachdenklich in eine Tüte Plätzchen zu spähen.»Niemand«, fügte er hinzu.

«Aber die Stadt!«Über die Stadt sprach Mrs. Allison zu Mr.

Babcock immer in einem Ton, als wäre es Mr. Babcocks Traum, dorthin zu gehen.»Es ist so heiß – Sie haben ja keine Ahnung. Es tut uns immer Leid, wenn wir wegfahren.« «Fahren ungern weg«, sagte Mr. Babcock. Eine der iritierendsten Eigenheiten der Ortsansässigen, die Mrs. Allison aufgefallen waren, bestand darin, eine triviale Bemerkung aufzugreifen und in eine noch banalere Bemerkung umzumünzen.»Würd auch nicht gern wegfahren«, sagte Mr.

Babcock nach reiflicher

Überlegung, woraufhin er und Mrs.

Allison beide lächelten.»Habe aber noch nie gehört, dass jemand nach Labor Day draußen am See geblieben wäre.« «Nun, wir werden es mal ausprobieren«, sagte Mrs.

Allison, und Mr.

Babcock erwiderte bedeutsam:

«Probieren geht über studieren.«

Äußerlich, fand Mrs. Allison jedes Mal, wenn sie nach einem ihrer vagen Gespräche mit Mr. Babcock davonging, äußerlich könnte Mr. Babcock für eine Statue von Daniel Webster, dem amerikanischen Politiker, Modell stehen, aber geistig … schrecklich, wenn man überlegte, wie tief der Typus des guten alten New-England-Yankee gesunken war. Sie sagte etwas in dem Sinn zu Mr. Allison, als sie ins Auto einstieg, und er meinte:»Das sind all die Generationen von Inzucht. Das und das karge Land.« Weil es ihr großer Stadttag war, zu dem sie nur alle zwei Wochen herfuhren, um die Dinge zu kaufen, die sie nicht geliefert bekamen, brachten sie den ganzen Tag damit zu, aßen im Zeitungs- und Getränkeladen ein Sandwich und stapelten die Päckchen hinten im Wagen. Obwohl Mrs. Allison die Lebensmittel auf Bestellung regelmäßig geliefert bekam, war sie nie in der Lage, sich von Mr. Babcocks jeweiligen Vorräten telefonisch ein genaues Bild zu machen, und so wurde ihre Liste von eventuell zu liefernden verschiedenen Kleinigkeiten fast immer über ihre Bedürfnisse hinaus ergänzt durch frisches, einheimisches Gemüse, das Mr.

Babcock zeitweilig verkaufte, oder die abgepackten Süßigkeiten, die gerade eingetroffen waren. Diesmal liebäugelte Mrs. Allison auch mit einem Set gläserner Backformen, das sich völlig unverhofft in der Mode-, Haushalts- und Eisenwarenhandlung fand und scheinbar bloß auf Mrs. Allison gewartet hatte, denn die Landbevölkerung mit ihrem angeborenen Misstrauen gegenüber allem, was nicht so beständig wie Bäume, Felsen und der Himmel aussah, hatte erst vor kurzem damit begonnen, mit Backformen aus Aluminium statt aus Gusseisen herumzuexperimentieren, und in der einheimischen Bevölkerung konnte man sich noch erinnern, wie man irdene Töpfe zugunsten des Gusseisens verworfen hatte.

Mrs.

Allison ließ sich die gläsernen Backformen sorgfältig einpacken, damit sie die unbequeme Heimfahrt über die holprige Landstraße zum Häuschen der Allisons gut überstanden, und während Mr. Charley Walpole — der zusammen mit seinem jüngeren Bruder Albert die Mode-, Haushalts- und Eisenwarenhandlung führte (das Geschäft selbst hieß Johnson’s, weil es sich auf dem Grundstück der ehemaligen Blockhütte des alten Johnson befand, die fünfzig Jahre vor Charley Walpoles Geburt abgebrannt war) — umständlich ein paar Zeitungen entfaltete, um die Backformen darin einzupacken, sagte Mrs.

Allison beiläufig:»Natürlich hätte ich auch warten und die Backformen in New York kaufen können, aber wir fahren dieses Jahr nicht so früh zurück.« «Hab gehört, dass Sie noch bleiben«, sagte Mr. Charley Walpole. Seine alten Finger fummelten nervenaufreibend mit den dünnen Seiten der Zeitung herum, als er versuchte, ein Blatt nach dem anderen abzulösen. Er blickte nicht zu Mrs. Allison hoch, während er fortfuhr:

«Also, ich weiß nicht, ob das so gut ist, oben am See zu bleiben. Nicht nach Labor Day.« «Nun ja, wissen Sie«, entgegnete Mrs. Allison, als wäre sie ihm tatsächlich eine Erklärung schuldig,»wir dachten uns einfach, jedes Jahr sind wir wieder nach New York zurückgeeilt, und dabei war es gar nicht nötig. Sie wissen ja, wie die Stadt im Herbst ist.« Dabei lächelte sie Mr. Charley Walpole vertraulich an.

Mit rhythmischen Bewegungen wand er den Bindfaden um das Päckchen. Er überlässt mir ein Stück, das lang genug ist, um es aufzuheben, dachte Mrs. Allison und wandte den Blick rasch ab, um nur ja kein Anzeichen von Ungeduld zu vermitteln.»Für mich fühlt es sich irgendwie so an, als gehörten wir dann mehr hierher«, sagte sie.

«Wenn wir dableiben, nachdem alle anderen abgereist sind.« Als wollte sie dies untermauern, lächelte sie eine andere Frau im Laden freundlich an, deren Gesicht ihr bekannt vorkam und bei der es sich vielleicht um die Frau handelte, die den Allisons in einem Jahr Beeren verkauft hatte, oder um die Frau, die gelegentlich im Lebensmittelladen aushalf und bei der es sich vermutlich um Mr. Babcocks Tante handelte.

«Hm«, machte Mr. Charley Walpole. Er schob das Päckchen ein Stück über den Verkaufstresen, um anzudeuten, dass es fertig und er jetzt bereit war, für einen gut abgeschlossenen Verkauf und ein gut verschnürtes Päckchen die Bezahlung entgegenzunehmen.

«Hm«, machte er wieder.»Sommerleute waren noch nie am See, nicht nach Labor Day.« Mrs. Allison reichte ihm einen Fünfdollarschein, und er gab ihr wohl überlegt Wechselgeld heraus, wobei er selbst die Cents bedächtig abzählte.»Nie nach Labor Day«, sagte er, nickte Mrs. Allison grüßend zu und ging ernst und gesetzt durch den Laden, um sich zwei Frauen zu widmen, die die baumwollenen Hauskleider begutachteten.

Als Mrs. Allison beim Hinausgehen an ihnen vorbeikam, hörte sie, wie eine der beiden Frauen spitz bemerkte:

«Wieso kostet eins von den Kleidern eigentlich einen Dollar neununddreißig und das hier bloß achtundneunzig Cent?« «Großartige Leute«, sagte Mrs. Allison zu ihrem Mann, als sie nach ihrem Treffen an der Tür der Eisenwarenhandlung zusammen den Bürgersteig entlang gingen.»So solide, so vernünftig und so ehrlich. « «Da wird einem ganz wohl, wenn man weiß, dass es solche Orte noch gibt«, sagte Mr. Allison.

«Weißt du«, meinte Mrs. Allison,»in New York hätte ich vielleicht ein paar Cent weniger für die Backformen gezahlt, aber dafür wäre der Kauf auch nicht so persönlich gewesen.« «Bleiben Sie noch am See?«, wollte Mrs. Martin im Zeitungs- und Sandwichladen von den Allisons wissen.

«Ich hab gehört, Sie bleiben noch.« «Wir dachten uns, wir wollen dieses Jahr mal das schöne Wetter ausnutzen«, sagte Mr. Allison.

Mrs. Martin war verhältnismäßig neu im Ort. Sie hatte von einer benachbarten Farm in den Zeitungs- und Sandwichladen eingeheiratet und war nach dem Tod ihres Mannes dageblieben. Sie servierte Limonadengetränke in echten Glasflaschen und Sandwiches aus gebratenem Ei mit Röstzwiebeln auf dicken Brotscheiben, die sie im rückwärtigen Teil des Ladens auf ihrem eigenen Herd herstellte. Gelegentlich, wenn Mrs. Martin ein Sandwich servierte, kam der üppige Duft nach Eintopf oder Schweinerippchen, Mrs.

Martins Abendessen, herübergeweht.

«Ich glaube nicht, dass schon mal jemand so lang draußen geblieben ist«, bemerkte Mrs. Martin.»Jedenfalls nicht nach Labor Day.« «Am Labor Day fahren sie ja sonst alle ab«, erfuhren die Allisons später vor Mr. Babcocks Laden von Mr. Hall, ihrem nächsten Nachbarn, als sie gerade ins Auto einstiegen, um nach Hause zu fahren.»Wundert mich ja, dass Sie noch bleiben.« «Wir fanden, es wäre ein Jammer, so früh zu gehen«, erwiderte Mrs.

Allison. Mr.

Hall wohnte drei Meilen entfernt und versorgte die Allisons mit Butter und Eiern, und gelegentlich konnten die Allisons am frühen Abend oben von ihrem Hügel aus die Lichter in seinem Haus sehen, bevor die Halls zu Bett gingen.

«Normalerweise fahren sie am Labor Day ab«, sagte Mr. Hall.

Die Heimfahrt war lang und anstrengend; es wurde allmählich dunkel, und Mr. Allison musste ganz vorsichtig über den Feldweg am See fahren. Mrs. Allison hatte sich in den Sitz zurückgelehnt, angenehm entspannt nach einem Tag, der ihr im Vergleich zu ihrem sonstigen Alltag wie Einkaufen im Wirbelwindtempo vorkam. Ihre Gedanken verweilten behaglich bei den neuen gläsernen Backformen, dem halben Scheffel rotbackiger Tafeläpfel und dem Päckchen mit bunten Reißzwecken, mit denen sie in der Küche die neue Regalbordüre befestigen wollte.

«Ach, ist es schön, nach Hause zu kommen«, sagte sie leise, als sie in Sichtweite ihres Häuschens gelangten, das sich über ihnen vom Himmel abhob.

«Wie gut, dass wir beschlossen haben zu bleiben«, pflichtete Mr. Allison ihr bei.

Mrs. Allison verbrachte den nächsten Morgen damit, liebevoll ihre Backformen zu waschen, obwohl der gute Charley Walpole es in aller Unschuld versäumt hatte, die angeschlagene Stelle am Rand zu bemerken. In einem Anfall von Verschwendungssucht beschloss sie, zum Abendessen einige der roten Tafeläpfel zu einem Kuchen zu verarbeiten, und während der Kuchen im Ofen war und Mr. Allison die Post holen ging, setzte sie sich auf den kleinen Rasen, den die Allisons auf dem Hügel oben angelegt hatten, und betrachtete das Wechselspiel des Lichts auf dem See, mal grau, mal blau, während die Wolken an der Sonne vorbeizogen.

Als Mr. Allison zurückkam, war er leicht irritiert; es ärgerte ihn immer, wenn er die eine Meile bis zum Briefkasten laufen musste und mit leeren Händen zurückkam, obwohl ihm der Spaziergang natürlich gut tat.

An diesem Morgen war nichts gekommen außer der Werbebroschüre eines New Yorker Kaufhauses und ihrer New Yorker Zeitung, die unregelmäßig einen bis vier Tage später eintraf, als sie eigentlich sollte, so dass die Allisons an manchen Tagen drei Zeitungen hatten und häufig gar keine. Obwohl Mrs. Allison sich ebenso sehr wie ihr Mann darüber ärgerte, keine Post zu bekommen, wo sie beide doch so darauf warteten, schmökerte sie hingebungsvoll in der Kaufhauswerbung und nahm sich vor, sobald sie wieder in New York war, dem Geschäft einen Besuch abzustatten und sich das Sonderangebot an Wolldecken genau anzusehen. Heutzutage war es nicht leicht, hochwertige Decken in hübschen Farben zu finden.

Sie überlegte, ob sie die Broschüre zur Erinnerung aufheben sollte, doch nachdem sie mit dem Gedanken gespielt hatte, aufzustehen und ins Haus zu gehen, um sie irgendwo sicher zu verstauen, ließ sie sie neben ihrem Liegestuhl ins Gras fallen und legte sich zurück, die Augen halb geschlossen.

«Sieht aus, als bekämen wir Regen«, sagte Mr. Allison und blinzelte in den Himmel.

«Gut für die Ernte«, meinte Mrs. Allison lakonisch, und beide lachten.

Der Petroleummann kam am nächsten Morgen, während Mr. Allison gerade die Post holte. Sie hatten kaum noch Petroleum, und Mrs. Allison begrüßte den Mann freudig, der Brennstoff und Blockeis verkaufte und während des Sommers auch den Müll der Sommerleute abfuhr. Einen Müllmann brauchten nur die sorglosen Stadtleute; Landbewohner hatten keinen Abfall.

«Wie schön, Sie zu sehen«, sagte Mrs. Allison zu ihm.

«Wir haben gar nicht mehr viel.« Der Petroleummann, dessen Namen Mrs. Allison nie erfahren hatte, benutzte eine Schlauchvorrichtung zum Füllen des Fünfundsiebzig-Liter-Tanks, der die Allisons mit Licht, Wärme und Kochmöglichkeiten versorgte.

Heute jedoch, statt schwungvoll aus seinem Laster zu steigen und den Schlauch, der sich um das Führerhäuschen wand, vom Haken zu nehmen, starrte der Mann Mrs. Allison bei laufendem Motor bloß verlegen an.

«Ich hab gedacht, ihr Leute fahrt ab«, sagte er.

«Wir bleiben noch einen Monat«, versetzte Mrs. Allison fröhlich.»Das Wetter war so schön, da dachten wir — « «Hat man mir gesagt«, meinte der Mann.»Kann Ihnen aber kein Öl geben.« «Was soll das heißen?«Mrs.

Allison blickte ihn verblüfft an.

«Wir bleiben einfach bei unserer regulären — « «Labor Day ist vorbei«, meinte der Mann.»Nach Labor Day krieg ich selber nicht so viel Öl rein.« Wie so häufig bei Unstimmigkeiten mit ihren Nachbarn, rief Mrs.

Allison sich in Erinnerung, dass man mit Großstadtallüren bei den Leuten auf dem Land nicht weit kam. Man konnte nicht erwarten, einen Angestellten auf dem Lande wie einen städtischen Arbeiter umstimmen zu können, und so sagte sie mit einem gewinnenden Lächeln:

«Können Sie denn aber kein Extraöl bekommen, wenigstens solange wir hier sind?« «Sehen Sie. «Beim Sprechen trommelte der Mann mit dem Finger auf das Lenkrad, was ziemlich enervierend war.»Sehen Sie«, sagte er bedächtig,»ich bestell das Öl.

Ich bestell es aus vielleicht fünfzig, fünfundfünfzig Meilen Entfernung. Ich bestell schon im Juni so viel, wie ich für den Sommer brauch. Und dann bestell ich noch mal … äh, so im November. Jetzt um die Zeit wird’s allmählich knapp. «Als wäre das Thema damit erledigt, hörte er auf, mit dem Finger zu trommeln, und packte das Lenkrad etwas fester, bereit zur Abfahrt.

«Aber können Sie uns nicht wenigstens ein bisschen geben?«, bat Mrs. Allison.»Gibt’s denn sonst niemand?« «Wüsste nicht, wo Sie um diese Zeit sonst Öl herkriegen könnten«, sagte der Mann nachdenklich.»Ich kann Ihnen jedenfalls nichts geben. «Bevor Mrs. Allison etwas sagen konnte, begann sich der Laster in Bewegung zu setzen.

Dann blieb er kurz stehen, und der Mann sah durchs Rückfenster des Führerhäuschens zu ihr hinaus.»Eis?«, rief er.»Eis kann ich Ihnen dalassen.« Mrs. Allison schüttelte den Kopf; an Eis waren sie nicht so knapp, und sie war wütend. Sie lief dem Laster ein paar Schritte nach und rief:»Können Sie versuchen, uns welches zu besorgen? Nächste Woche?« «Kann ich mir nicht vorstellen«, sagte der Mann.»Nach Labor Day ist es schwerer. «Der Laster fuhr davon, und Mrs. Allison, nur von dem Gedanken getröstet, dass sie wahrscheinlich von Mr. Babcock Petroleum bekommen konnte oder schlimmstenfalls von den Halls, sah ihm wütend hinterher.»Nächsten Sommer«, sagte sie bei sich, « der soll es nächsten Sommer bloß noch mal bei uns versuchen!« Wieder war keine Post gekommen, nur die Zeitung, die anscheinend beharrlich pünktlich eintraf, und Mr. Allison war sichtlich sauer, als er zurückkehrte. Als Mrs. Allison ihm von dem Petroleummann erzählte, war er nicht sonderlich beeindruckt.

«Das behalten die wahrscheinlich ein, um es im Winter teuer zu verkaufen«, bemerkte er.»Was glaubst du, was mit Anne und Jerry los ist?« Anne und Jerry waren ihre Tochter und ihr Sohn, beide verheiratet, er lebte in Chicago, sie draußen im Westen.

Ihre allwöchentlich pflichtschuldigst eintreffenden Briefe hatten Verspätung, waren in der Tat derart überfällig, dass Mr. Allison seinem Unmut über die fehlende Post in einer berechtigten Klage Luft machen konnte.»Die müssten doch wissen, wie sehr wir auf ihre Briefe warten«, sagte er.»Gedankenlose, selbstsüchtige Kinder. Das müssten sie eigentlich wissen.« «Ach, mein Lieber«, sagte Mrs.

Allison beschwichtigend. Für sie war der Ärger über Anne und Jerry kein Ventil für ihre Ungehaltenheit über den Petroleummann. Nach einer Weile sagte sie:»Wünschen bringt die Post auch nicht herbei, mein Lieber. Ich rufe jetzt Mr. Babcock an und sage ihm, er soll bei meiner Lieferung Petroleum mitschicken.« «Wenigstens eine Postkarte«, sagte Mr. Allison, als sie hinausging.

Wie die meisten anderen Unannehmlichkeiten ihres Häuschens fiel den Allisons auch das Telefon nicht mehr besonders auf; sie nahmen das exzentrische Gerät mehr oder weniger klaglos hin. Es handelte sich um ein Wandtelefon jener Bauart, die nur noch in wenigen Gemeinden zu sehen war. Um zur Vermittlung durchzukommen, musste Mrs. Allison zuerst die seitliche Kurbel betätigen und es dann einmal klingeln lassen.

Normalerweise waren zwei bis drei Versuche nötig, bis die Vermittlung sich endlich meldete, und Mrs. Allison näherte sich dem Apparat vor jedem Anruf immer mit Ergebenheit und einer gewissen verzweifelten Geduld. An diesem Morgen musste sie dreimal kurbeln, bevor die Vermittlung sich meldete, und dann dauerte es noch einmal, bis Mr. Babcock im Laden in der Ecke hinter der Fleischtheke den Hörer abnahm.»Laden?«, sagte er, wobei er mit der Stimme nach oben ging, um jedem, der versuchte, sich mittels dieses unzuverlässigen Geräts mit ihm in Verbindung zu setzen, seinen Argwohn anzudeuten.

«Hier spricht Mrs. Allison, Mr. Babcock. Ich dachte, ich gebe Ihnen meine Bestellung einen Tag früher durch, weil ich ganz sichergehen wollte und etwas — « «Was sagen Sie, Mrs. Allison?« Mrs. Allison hob die Stimme ein wenig; sie sah, wie sich Mr. Allison draußen auf dem Rasen in seinem Liegestuhl umdrehte und sie mitfühlend ansah.»Ich sagte, Mr. Babcock, ich dachte, ich rufe mit meiner Bestellung früher an, damit Sie mir was schicken können — « «Mrs. Allison?«, sagte Mr. Babcock.»Sie kommen es abholen?« «Abholen?«Vor Überraschung ließ Mrs. Allison ihre Stimme wieder auf den normalen Tonfall absinken, und Mr. Babcock rief:»Was sagen Sie, Mrs. Allison?« «Eigentlich wollte ich es wie üblich herbringen lassen«, sagte Mrs. Allison.

«Ahm, Mrs.

Allison«, sagte Mr.

Babcock, und es entstand eine Pause, während Mrs. Allison wartete und am Telefon vorbei und über den Kopf ihres Mannes hinweg in den Himmel starrte.»Mrs. Allison«, fuhr Mr. Babcock schließlich fort,»wissen Sie, das ist so — der Junge, der für mich gearbeitet hat, der ist seit gestern wieder in der Schule, und jetzt habe ich keinen, der ausliefert. Ich habe bloß im Sommer einen Lieferjungen, wissen Sie.« «Ich dachte, Sie liefern immer«, sagte Mrs. Allison.

«Nicht nach Labor Day, Mrs. Allison«, sagte Mr. Babcock nachdrücklich,»Sie waren ja noch nie hier nach Labor Day, da können Sie’s natürlich nicht wissen.« «Ach so«, sagte Mrs. Allison hilflos. Innerlich sagte sie sich immer wieder vor: keine Großstadtallüren bei Landbewohnern, sich ärgern bringt nichts.

«Sind Sie sicher! «, fragte sie schließlich.»Könnten Sie uns nicht einfach heute noch eine Lieferung rausschicken, Mr. Babcock?« «Ehrlich gesagt«, meinte Mr. Babcock,»könnte ich das nicht, Mrs. Allison! Es lohnt sich ja kaum, jetzt wo sonst niemand mehr draußen am See ist.« «Was ist mit Mr. Hall?«, erkundigte sich Mrs. Allison unvermittelt,»die Leute, die hier etwa drei Meilen von uns wohnen? Mr.

Hall könnte es mitbringen, wenn er rausfährt.« «Hall?«überlegte Mr. Babcock.»John Hall? Die sind nach Norden gefahren, Mrs.

Allison, Verwandte besuchen.« «Aber die bringen uns doch immer unsere Butter und die Eier«, sagte Mrs. Allison entgeistert.

«Sind gestern gefahren«, sagte Mr. Babcock.»Haben wohl nicht gedacht, dass Sie noch oben bleiben.« «Aber ich sagte doch noch zu Mr. Hall …«Mrs. Allison hielt inne.»Ich schicke Mr. Allison morgen wegen der Lebensmittel vorbei«, sagte sie.

«Bis dahin haben Sie ja alles, was Sie brauchen«, sagte Mr. Babcock zufrieden. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

Nachdem sie aufgehängt hatte, ging Mrs.

Allison langsam nach draußen, um sich neben ihrem Mann wieder in den Liegestuhl zu setzen.»Er liefert nicht«, sagte sie.

«Du wirst morgen in den Ort fahren müssen. Wir haben gerade noch genug Petroleum, bis du zurückkommst.« «Das hätte er uns früher sagen sollen«, sagte Mr. Allison.

Doch an einem solchen Tag konnte man sich nicht lange grämen. Nie hatte die Landschaft einladender gewirkt, der See unter ihnen bewegte sich still zwischen den Bäumen, lag da in der fast unglaublichen Lieblichkeit eines Bilderbuchsommertags. Mrs.

Allison seufzte tief auf, voller Freude, dass sie diesen Seeblick für sich hatten mit den grünen Hügeln hinten in der Ferne und dem leichten Wind, der zart durch die Bäume strich.

Das schöne Wetter hielt an. Am nächsten Morgen ging Mr. Allison, gebührend bewaffnet mit einer Einkaufsliste, auf der ganz oben in Großbuchstaben» Petroleum «stand, den Fußweg zur Garage hinunter, und Mrs. Allison machte sich erneut daran, in ihren neuen Backformen einen Kuchen zu backen. Sie hatte den Teig für den Boden gemischt und wollte gerade anfangen, die Äpfel zu schälen, als Mr. Allison den Pfad heraufgestürmt kam und die Fliegengittertür zur Küche aufstieß.

«Der verdammte Wagen springt nicht an«, verkündete er im genervten Tonfall eines Mannes, der auf einen Wagen ebenso angewiesen ist wie auf seinen rechten Arm.

«Was fehlt ihm denn?«Mrs. Allison blieb mit dem Schälmesser in der einen und einem Apfel in der anderen Hand wie angewurzelt stehen.»Am Dienstag war er doch noch in Ordnung.« «Schön«, stieß Mr. Allison zwischen den Zähnen hervor, «und am Freitag ist er nicht mehr in Ordnung.« «Kannst du ihn reparieren?«, fragte Mrs. Allison.

«Nein«, erwiderte Mr. Allison,»kann ich nicht. Da muss ich wohl jemanden kommen lassen.« «Wen?«, fragte Mrs. Allison.

«Den Kerl, der die Tankstelle führt, denk ich.« Mr. Allison ging entschlossen auf das Telefon zu.»Der hat ihn letzten Sommer schon mal repariert.« Etwas besorgt schälte Mrs.

Allison geistesabwesend weiter ihre Apfel, während Mr.

Allison am Telefon lauschte, wie es klingelte. Er wartete, es klingelte, er wartete, bis er die Nummer schließlich der Vermittlung nannte, dann wieder wartete und wieder die Nummer nannte, die Nummer ein drittes Mal nannte und schließlich den Hörer aufknallte.

«Niemand da«, verkündete er, als er wieder in die Küche kam.

«Vermutlich ist er einen Augenblick rausgegangen«, sagte Mrs. Allison nervös. Weshalb sie so nervös war, wusste sie nicht recht, es sei denn, weil ihr Mann wahrscheinlich gleich komplett ausrasten würde.»Ich denke mir, er ist allein, und wenn er raus muss, ist keiner da, der ans Telefon geht.« «So wird’s wohl sein«, sagte Mr. Allison tief ironisch.

Er ließ sich auf einen Küchenstuhl fallen und sah Mrs. Allison beim Äpfelschalen zu. Nach einer Weile sagte Mrs.

Allison besänftigend:»Du könntest doch runtergehen und die Post holen und ihn dann noch mal anrufen!« Mr. Allison überlegte und sagte dann:»Könnte ich vielleicht.« Er erhob sich schwerfällig, und als er an der Küchentür war, drehte er sich um und sagte:»Wenn aber keine Post da ist …«Eine schreckliche Stille hinterlassend, ging er den Weg entlang davon.

Mrs. Allison beeilte sich mit ihrem Kuchen. Zweimal trat sie ans Fenster und schaute zum Himmel, um zu sehen, ob Wolken aufzogen. Der Raum schien ungewohnt dunkel, und sie fühlte sich seltsam angespannt wie vor einem Gewitter, doch beide Male, als sie nachschaute, war der Himmel klar und heiter und lächelte gleichmütig auf das Sommerhaus der Allisons und den Rest der Welt herunter. Als Mrs. Allison den Kuchen ofenfertig hatte und ein drittes Mal hinüberging, um hinauszublicken, sah sie ihren Mann den Fußweg heraufkommen. Er wirkte fröhlicher, und als er sie sah, winkte er heftig und hielt einen Brief hoch.

«Von Jerry«, rief er, sobald er nah genug war, dass sie ihn hören konnte,»endlich — ein Brief!«Voller Besorgnis bemerkte Mrs. Allison, dass er den leicht ansteigenden Pfad nicht heraufkam, ohne ins Keuchen zu geraten, doch dann stand er in der Tür und streckte ihr den Brief entgegen.»Ich wollte ihn noch nicht aufmachen«, sagte er.

Mit einer Begierde, die sie selbst überraschte, blickte Mrs. Allison auf die vertraute Handschrift ihres Sohnes.

Sie konnte sich nicht denken, weshalb der Brief sie so aus dem Häuschen brachte, außer dass es der erste war, den sie seit langem bekommen hatten. Es wäre bestimmt ein netter, pflichtbewusster Brief, voll mit Berichten über das, was Alice und die Kinder so machten und wie er in seinem Job vorankam, mit Kommentaren über das Wetter in Chicago in letzter Zeit und am Schluss lieben Grüßen von allen. Sowohl Mr. als auch Mrs. Allison konnten, wenn sie wollten, einen Musterbrief von jedem ihrer Kinder auswendig hersagen.

Ganz bedächtig schlitzte Mr. Allison den Brief auf, breitete ihn dann auf dem Küchentisch aus, und gemeinsam beugten sie sich darüber und lasen.

« Liebe Mutter, lieber Dad«, begann er in Jerrys vertrauter, ziemlich kindlicher Handschrift.» Bin froh, dass der Brief wie gewöhnlich an den See geht, wir fanden immer, ihr kommt zu früh zurück und solltet droben bleiben, so lange ihr könnt. Alice meint, jetzt, wo ihr nicht mehr so jung seid wie früher und in der Stadt keine Verpflichtungen habt, weniger Freunde usw., solltet ihr euch amüsieren, so lang es noch geht. Nachdem ihr beide euch dort oben wohl fühlt, ist es doch eine gute Idee, dass ihr noch bleibt. « Mrs.

Allison warf ihrem Mann einen beklommenen Seitenblick zu. Während er aufmerksam las, streckte sie die Hand nach dem leeren Briefumschlag aus, unschlüssig, wonach sie suchte. Er trug wie üblich die Anschrift in Jerrys Handschrift und war in Chicago abgestempelt.

Selbstverständlich war er in Chicago abgestempelt, fuhr es ihr durch den Kopf, wieso sollte man ihn woanders abstempeln? Als sie wieder auf den Brief hinuntersah, hatte ihr Mann umgeblättert, und sie las mit ihm weiter:» – und wenn sie die Masern usw. jetzt kriegen, sind sie natürlich später besser dran. Alice geht’s natürlich gut und mir auch. Wir spielen in letzter Zeit ziemlich viel Bridge mit ein paar Leuten, die ihr nicht kennt, Carruthers heißen sie. Nettes junges Ehepaar etwa in unserem Alter.

Also, ich schließe jetzt, denn wahrscheinlich langweilt es euch, von Sachen zu hören, die so weit weg sind. Sag Dad, der alte Dickson in unserer Niederlassung in Chicago ist gestorben. Er hat sich oft nach Dad erkundigt. Viel Spaß da oben am See, und beeilt euch nicht mit der Rückreise.

Liebe Grüße von uns allen, Jerry. « «Komisch«, bemerkte Mr. Allison.

«Klingt gar nicht nach Jerry«, sagte Mrs. Allison leise.

«Er hat nie so was geschrieben wie …«Sie hielt inne.

«Wie was?«, wollte Mr. Allison wissen.»Was hat er nie geschrieben?« Mrs. Allison drehte den Brief unschlüssig hin und her.

Es war unmöglich, einen Satz, ja selbst ein Wort zu finden, das sich nicht nach Jerrys üblichen Briefen anhörte. Vielleicht lag es nur daran, dass der Brief so spät kam oder an der ungewöhnlichen Anzahl von schmutzigen Fingerabdrücken auf dem Umschlag.

«Ach, ich weiß nicht«, sagte sie ungehalten.

«Ich versuche noch mal dort anzurufen«, sagte Mr. Allison.

Mrs. Allison las den Brief noch zweimal durch auf der Suche nach einem Satz, der sich falsch anhörte. Dann kam Mr. Allison zurück und sagte tonlos:»Die Leitung ist tot.« «Was?«Erschrocken ließ Mrs. Allison den Brief fallen.

«Die Leitung ist tot«, sagte Mr. Allison.

Der Rest des Tages ging rasch vorüber. Nach einem Mittagessen, bestehend aus Crackern und Milch, setzten sich die Allisons draußen auf den Rasen, doch wurde ihr Nachmittag durch die sich allmählich zusammenballenden Gewitterwolken verkürzt, die über den See zum Haus heraufzogen, so dass es um vier Uhr bereits so dunkel wie sonst erst abends war. In gleichsam liebender Vorahnung jenes Augenblicks, in dem es über das Sommerhaus hereinbrechen würde, verzögerte sich das Gewitter allerdings, und gelegentlich blitzte es, regnete aber nicht.

Abends schalteten Mr. und Mrs. Allison, in ihrem Haus dicht aneinander geschmiegt, das batteriebetriebene Radio an, das sie aus New York mitgebracht hatten. Drinnen brannten keine Lampen, die einzige Beleuchtung stammte vom Blitz draußen und der kleinen, quadratischen Skalenbeleuchtung am Radioapparat.

Das Sommerhaus war leicht gebaut und konnte den Stadtgeräuschen, der Musik und den Stimmen aus dem Radio nicht standhalten, und die Allisons konnten sie weit draußen über den See hallen hören: die Saxophone der New Yorker Tanzkapelle, die über das Wasser heulten, die flache Stimme der jungen Sängerin, die unwiederbringlich in die saubere Landluft entschwand. Selbst der Ansager, der mit glühenden Worten die Vorzüge von Rasierklingen pries, war nicht mehr als eine unmenschliche Stimme, die aus dem Haus der Allisons tönte und als Echo wiederkam, als schickten der See, die Hügel und die Bäume sie unerwünscht zurück.

Während einer Pause zwischen den Werbesendungen drehte sich Mrs. Allison um und lächelte ihren Mann kläglich an.»Ich frage mich, ob wir vielleicht etwas … tun sollen«, sagte sie.

«Nein«, erwiderte Mr. Allison bedächtig.»Das glaube ich nicht. Bloß abwarten.« Mrs. Allison hielt kurz den Atem an, als Mr. Allison sagte, während die banale Melodie der Tanzkapelle wieder einsetzte:»An dem Wagen hat sich jemand zu schaffen gemacht, weißt du. Das habe sogar ich gemerkt.« Mrs. Allison zögerte erst und sagte dann ganz leise:»Ich nehme an, jemand hat die Telefonkabel zerschnitten.« «Denke ich mir«, sagte Mr. Allison.

Nach einer Weile endete die Tanzmusik, und sie lauschten gespannt einer Nachrichtensendung, bei der die voll tönende Stimme des Ansagers ihnen atemlos von einer Hochzeit in Hollywood, dem neuesten Stand beim Baseball und dem geschätzten Anstieg der Lebensmittelpreise während der kommenden Woche erzählte. Er sprach zu ihnen im Sommerhaus ganz so, als verdienten sie es noch, Nachrichten aus einer Welt zu hören, die sie nicht mehr erreichte, außer durch die defekten Batterien des Radios, die allmählich schwächer wurden, fast als wären die beiden noch, und sei der Faden noch so dünn, mit dem Rest der Welt verbunden.

Mrs. Allison sah zum Fenster auf die glatte Oberfläche des Sees hinaus, auf die schwarz dräuenden Bäume und den wartenden Sturm und sagte im Plauderton:»Mir ist schon wohler wegen dem Brief von Jerry.« «Ich wusste es, als ich gestern Abend das Licht bei den Halls unten sah«, sagte Mr. Allison.

Der Wind, der plötzlich über dem See aufkam, fegte um das Sommerhaus herum und schlug heftig gegen die Fensterscheiben. Unwillkürlich rückten Mr. und Mrs.

Allison näher zusammen, und beim ersten Donnerschlag ergriff Mr. Allison die Hand seiner Frau.

Und während es draußen blitzte und das Radio knackte und schwächer wurde, kauerten die beiden alten Leute sich in ihrem Sommerhaus zusammen und warteten.

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