Dorothy L(eigh) Sayers (1893–1957) ist eine der bemerkenswertesten und einflussreichsten Persönlichkeiten in der Geschichte der Kriminalliteratur.
Geboren in Oxford, absolvierte sie das Somerville College in Oxford und arbeitete zunächst als Sprachlehrerin, Verlagslektorin und Werbetexterin, bevor sie sich ganz dem Schreiben zuwandte. In Whose Body? (1923; dt. Der Tote in der Badewanne) führte sie einen der berühmtesten» gentleman detectives «der Literaturgeschichte ein — Lord Peter Wimsey, eine Figur im Stil von P. G. Wodehouse, also etwas affektiert in Sprachstil und Gebaren und voll alberner und skurriler Allüren, den sie im Lauf seiner Karriere zu einer viel tiefgründigeren Figur entwickeln sollte. In Strong Poison (1930; dt. Geheimnisvolles Gift) begegnet Wimsey der Romanautorin Harriet Vane, die er erst einmal von einer Anklage wegen Mordes befreit, um ihr (in kühner Missachtung der Regel: keine Liebesgeschichten in den Kriminalromanen des Goldenen Zeitalters) durch mehrere Romane hindurch — darunter der Klassiker aus dem Universitätsleben Gaudy Night (1935; dt. Aufruhr in Oxford) — den Hof zu machen und sie in Busman’s Honeymoon (1937, dt. Lord Peters Hochzeitsfahrt), Sayers’ letztem Kriminalroman, schließlich zu ehelichen. Thrones, Dominations (dt. In feiner Gesellschaft. Lord Peters letzter fall), ein Fragment, sollte viele Jahre später von Jill Paton Walsh in bemerkenswerter Werktreue vollendet und 1998 unter gemeinsamer Urheberschaft veröffentlicht werden.
Über Sayers, die in den siebziger Jahren teils aufgrund ihrer persönlichen Unabhängigkeit, teils aufgrund ihrer Schöpfung von Harriet Vane zu einer Ikone des Feminismus wurde, wurden mehr Biografien und kritische Untersuchungen verfasst als über jede andere Kriminalautorin des Goldenen Zeitalters mit Ausnahme von Agatha Christie, und in ihrer Hingabe an die spielerischen Elemente des Kriminalromans fand sie kaum ihresgleichen. Dennoch wandte sie sich später von der Kriminalliteratur ab zugunsten anderer literarischer Bestrebungen, darunter einige hoch gerühmte religiöse Dramen und eine Dante-Übersetzung.
Dorothy L. Sayers schrieb eine Reihe von Kurzgeschichten über Lord Peter Wimsey, doch kommen ihre besten kürzeren Arbeiten ohne einen Seriendetektiv aus. In» Der Mann, der wusste wie «gelingt es Sayers, sich auf geistreiche Weise über ihre spezielle Art des Detektivromans zu äußern und dazu eine Situation zu entwickeln, die leicht den Titel einer anderen ihrer besten Kurzgeschichten hätte tragen können:»Suspicion«(1933; dt. Die Giftmischerin).
«Der Mann, der wusste wie «ist die Art von Kriminalgeschichte, die sich ausgezeichnet für eine Rundfunkfassung eignet, so etwa in der denkwürdigen Adaption für die Hörfunkreihe Suspense mit Charles Laughton als Pender und Hans Conreid in der Titelrolle.
Mindestens zum zwanzigsten Mal, seit der Zug Carlisle verlassen hatte, sah Pender vom» Mord im Pfarrhaus «auf, und jedes Mal begegneten seine Augen denen des Mannes, der ihm gegenübersaß.
Er runzelte ein wenig die Stirn. Es war irritierend, so unablässig beobachtet zu werden; und immer mit diesem leichten, höhnischen Lächeln. Noch irritierender war, dass man sich dadurch derart stören ließ. Pender wandte sich wieder seinem Buch zu, fest entschlossen, sich auf den ermordeten Geistlichen in der Bibliothek zu konzentrieren.
Unglücklicherweise handelte es sich um eine dieser hochgestochenen Geschichten, in denen sich sämtliche aufregenden Ereignisse in dem ersten Kapitel zusammenballen, um sich dann in endlosen Schlussfolgerungen fortzusetzen und schließlich mit einer wissenschaftlichen Lösung zu enden. Der dünne Faden seines Interesses, auf dem Rad von Penders unkonzentriert arbeitendem Gehirn gesponnen, war endgültig abgerissen.
Zweimal hatte er entscheidende Wendungen in der Geschichte einfach überlesen. Schließlich wurde ihm bewusst, dass seine Augen drei Seiten lang Buchstaben für Buchstaben aufgenommen hatten, ohne das Geringste von ihrem Sinn seinem Verstand mitzuteilen. Seine Gedanken beschäftigten sich nicht im Entferntesten mit dem ermordeten Geistlichen — an die Oberfläche seines Bewusstseins trat immer klarer das Gesicht des anderen Mannes. Ein merkwürdiges Gesicht, dachte Pender.
Die Gesichtszüge an sich waren nicht außergewöhnlich; ihr Ausdruck war es, der Pender Furcht einflößte. Dieses Gesicht gehörte zu einem Menschen, der zum Schaden seiner Zeitgenossen eine ganze Menge wusste. Der leicht gekrümmte Mund presste sich in den faltigen Winkeln fest aufeinander, so, als ob er sich Mühe gäbe, ein geheimes Vergnügen zu verbergen. Die Augen hinter dem randlosen Kneifer glitzerten neugierig. Doch dieser Eindruck konnte sehr wohl durch Lichtreflexe auf den Gläsern entstanden sein. Pender versuchte zu erraten, was für einem Beruf der Mann nachgehen mochte. Er war mit einem dunklen Gesellschaftsanzug, einem Regenmantel und mit einem schäbigen, weichen Hut bekleidet.
Pender räusperte sich überflüssigerweise, rückte sich in seiner Ecke zurecht und hob seinen Kriminalroman hoch vor sein Gesicht, auf eine Art, als ob er eine Barriere zwischen sich und seinem Gegenüber errichten wollte.
Das war mehr als sinnlos. Er fühlte deutlich, dass der Mann dieses Manöver durchschaute und dass es ihn obendrein noch amüsierte. Ein unwiderstehliches Verlangen erfüllte ihn, unruhig auf seinem Platz hin und her zu rücken. Er wusste, dass es absurd war, doch in seiner Einbildung hätte das für seinen Quälgeist den Sieg bedeutet. Dieses Bewusstsein zwang ihn in einen so angespannten und verkrampften Zustand, dass es geradezu eine physische Unmöglichkeit für ihn wurde, seine Aufmerksamkeit auf das Buch zu konzentrieren.
Vor Rugby kam keine Station mehr, und es war unwahrscheinlich, dass irgendein Mitreisender vom Gang her das Abteil betreten würde, um diese unerfreuliche Zweisamkeit zu beenden. Aber irgendetwas musste geschehen. Das Schweigen hatte so lange zwischen ihnen gelastet, dass jede noch so triviale Bemerkung wie das Rasseln einer Alarmglocke in die gespannte Atmosphäre hineinplatzen würde. So empfand es jedenfalls Pender.
Man könnte natürlich einfach auf den Gang hinausgehen und nicht wieder zurückkehren, aber das würde ein klares Eingeständnis der Niederlage sein. Pender ließ den» Mord im Pfarrhaus «sinken.
«Genug davon?«, fragte der Mann.
«Nachtreisen sind immer ein bisschen langweilig«, gab Pender halb erleichtert, halb widerwillig zurück.
«Möchten Sie ein Buch?« Er holte» The Paper-Clip Clue «aus seiner Diplomatentasche heraus und hielt es ihm hoffnungsvoll entgegen. Der andere Mann warf einen flüchtigen Blick auf den Titel und schüttelte den Kopf.
«Vielen Dank«, sagte er,»aber ich lese niemals Kriminalromane. Sie sind so — unzulänglich, finden Sie nicht?« «Sicherlich fehlt ihnen manchmal Charakteristik und menschliches Interesse«, entgegnete Pender.»Doch auf einer Eisenbahnfahrt — « «Das ist es nicht, was ich meine«, fiel ihm sein Gegenüber ins Wort.»Ich bin nicht interessiert an der menschlichen Natur. Aber alle diese Mörder sind so unfähig — sie langweilen mich.« «Na, ich weiß nicht …«, widersprach Pender,»auf jeden Fall haben sie meist mehr Phantasie und Scharfsinn als die Mörder im wirklichen Leben.« «Als die Mörder, die im wirklichen Leben entdeckt werden — ja«, gab der Mann zu.
«Sogar einige von denen machten ihre Sache recht geschickt, bevor sie erwischt wurden«, wandte Pender ein.
«Grippen, zum Beispiel. Er wäre nie geschnappt worden, wenn er nicht den Kopf verloren hätte und nach Amerika durchgebrannt wäre. Dann — George Joseph Smith. Er lebte recht erfolgreich, sogar mit zwei Bräuten, bevor ihm das Schicksal und die News of the World ein Bein stellten.« «Das schon«, sagte der andere Mann.»Aber sehen Sie denn nicht die Unbeholfenheit, den ganzen komplizierten Aufbau, die Lügen, das überflüssige Drum und Dran?« «Aber ich bitte Sie!«, widersprach Pender.»Die können schließlich nicht erwarten, einen Mord zu begehen und dann so simpel weiterzuleben, als wäre nichts geschehen!« «Ah! Das ist also Ihre Meinung?«, fragte der Mann.
Pender wartete darauf, wie er diese Bemerkung weiter ausbauen würde, aber es folgte nichts mehr. Der Mann lehnte sich zurück und lächelte in seiner geheimnisvollen Art zur Decke des Abteils hinauf. Er machte den Eindruck, als ob er die Unterhaltung nicht für interessant genug hielte, um sie weiterzuführen. Pender, der wieder sein Buch aufnahm, ertappte sich dabei, wie er aufmerksam die Hände seines Reisegenossen betrachtete.
Sie waren blass und überraschend langfingrig. Fasziniert beobachtete er, wie sie sanft die Knie ihres Besitzers tätschelten. Er wandte resolut eine Seite seines Buches um — dann legte er das Buch wieder weg und sagte:»Gut, wenn es so leicht ist, wie würden dann Sie einen Mord arrangieren?« «Ich?«, wiederholte der Mann. Das Licht, das auf die Gläser seines Kneifers fiel, ließ seine Augen völlig ausdruckslos erscheinen, aber seine Stimme klang leicht amüsiert.»Das ist etwas anderes. Ich müsste nicht zweimal darüber nachdenken.« «Warum nicht?« «Weil ich zufällig weiß, wie man es macht.« «Ah! Tatsächlich?« «Oh, da gehört nicht viel dazu.« «Wie können Sie sich dessen so sicher sein? Ich nehme nicht an, dass Sie es ausprobiert haben?« «Das ist nicht eine Sache des Ausprobierens«, meinte der Mann.
«An meiner Methode ist nichts Aufregendes, das ist gerade das Schöne dabei.« «Das kann man leicht sagen«, winkte Pender spöttisch ab.
«Wollen Sie mir Ihre wundervolle Methode nicht verraten?« «Das können Sie wohl nicht im Ernst von mir erwarten, nicht wahr?«, sagte der Mann und musterte Pender fast neugierig.»Das könnte gefährlich sein. Sie sehen zwar harmlos aus, aber wer könnte noch harmloser als Crippen ausschauen? Niemand ist so beschaffen, dass man ihm die absolute Macht über das Leben anderer Menschen anvertrauen könnte.« «Unsinn!«, ereiferte sich Pender.»Ich würde nie auch nur daran denken, jemanden zu ermorden!« «O doch. Sie würden«, beharrte der Mann.»Wenn Sie wirklich daran glaubten, dass es ungefährlich für Sie wäre!
Sie und jeder andere. Warum denken Sie wohl, dass von Kirche und Staat um den Mord alle diese ungeheuer kunstreichen Barrieren aufgebaut wurden? Genau deshalb, weil es sich um ein Verbrechen handelt, zu dem jedermann fähig ist — das so natürlich ist wie das Atmen.« «Aber das ist doch absurd!«, rief Pender erregt.
«So? Meinen Sie? Genau das würden die meisten Leute sagen. Aber ich würde keinem von ihnen trauen. Nicht, wenn sie im Besitz von Sulfaten des Thanatol sind, das man übrigens für zwei Pence in jeder Drogerie kaufen kann.« «Sulfate von was?«, fragte Pender scharf.
«Oho! Sie bilden sich wohl ein, dass ich etwas verrate?
Nun, es ist eine Mischung von diesem und jenem oder zwei anderen Dingen — alle gleich gebräuchlich und billig.
Für neun Pence könnte man genug davon erwerben, um das gesamte Parlament zu vergiften. Aber das wäre natürlich dumm, die ganze Clique auf einmal zu beseitigen; es könnte ein bisschen komisch aussehen, wenn sie alle auf die gleiche Weise in ihren Badewannen sterben würden.« «Wieso in ihren Badewannen?« «Weil das die Art ist, wie es sie erwischen würde. Es ist die Funktion des heißen Wassers, das die Wirkung von dem Zeug hervorbringt, verstehen Sie? Jederzeit, zwischen ein paar Stunden und einigen Tagen, nachdem die Droge eingenommen wurde. Es ist eine völlig einfache, chemische Reaktion, und es gibt keine Möglichkeit der Entdeckung bei einer Untersuchung. Es würde genau wie ein Herzschlag aussehen.« Pender starrte ihn misstrauisch an. Er konnte dieses Lächeln nicht ausstehen. Es war nicht nur ironisch, es war blasiert, fast schadenfroh — triumphierend! Er konnte keine wirklich passende Bezeichnung dafür finden.
«Wissen Sie«, fuhr der Mann fort, nachdenklich eine Pfeife aus seiner Jackentasche holend. Er begann sie umständlich zu stopfen,»es ist eigentlich komisch, wie oft man liest, dass Leute tot in ihren Badewannen aufgefunden wurden. Es muss ein recht häufiger Unfall sein. Direkt verlockend. Letzten Endes hat ein Mord etwas Faszinierendes an sich. Die Idee wächst in einem — nimmt von dem ganzen Menschen Besitz … Das heißt, ich stelle es mir so vor, verstehen Sie?« «Sehr wahrscheinlich, dass es so ist«, sagte Pender lahm.
«Denken Sie an Palmer. Erinnern Sie sich an Gesina Gottfried. Denken Sie an Armstrong. Nein! Ich würde niemandem in der Welt trauen, der diese chemische Formel kennt. Nicht einmal einem so tugendhaften jungen Mann wie Ihnen.« Die langen weißen Finger klopften den Tabak nachdrücklich in den Pfeifenkopf und zündeten ein Streichholz an.
«Aber wie ist es mit Ihnen?«, fragte Pender verwirrt. Er war verärgert. Niemand legt Wert darauf, als tugendhafter junger Mann bezeichnet zu werden.»Wenn niemand so beschaffen ist, dass man ihm vertrauen kann — « «Dann bin ich es auch nicht, wie?«, beendete der Mann Penders angefangenen Satz.»Well — das ist richtig. Aber das hieße das Thema wiederkäuen, nicht wahr? Ich kenne die Formel, und das kann ich nicht ungeschehen machen.
Das ist ein Unglück — aber nun kann man es nicht mehr ändern. Auf jeden Fall haben Sie die Beruhigung, dass mir nicht so leicht etwas Unerfreuliches passieren kann. Du lieber Himmel! Das ist ja schon Rugby. Ich steige hier aus.
Habe hier eine geschäftliche Angelegenheit zu erledigen.« Er stand auf, schüttelte sich ein wenig und knöpfte den Regenmantel zu. Dann drückte er den schäbigen Hut tiefer über die rätselhaft funkelnden Gläser seines Kneifers. Der Zug verlangsamte seine Fahrt und hielt. Mit einem kurzen «Gute Nacht «und einem schiefen Lächeln stieg er aus.
Pender sah ihm nach, wie er schnell den Bahnsteig entlangging.
«Verrückt«, murmelte Pender, sonderbar erleichtert.
«Gott sei Dank, es sieht so aus, als ob ich nun das Abteil für mich alleine haben werde.« Er wandte sich wieder dem» Mord im Pfarrhaus «zu, doch seine Gedanken waren woanders.
Wie hieß doch gleich wieder das Zeug, von dem der Kerl geredet hatte? Nicht um alles in der Welt hätte er sich an den Namen erinnern können.
Es war am folgenden Nachmittag, dass Pender die Notiz im Standard las. Wenn sein Blick nicht an dem Wort» Badewanne «hängen geblieben wäre, hätte er sicherlich die kurze Nachricht überlesen: WOHLHABENDER FABRIKANT STIRBT IN DER BADEWANNE!
Ehefrau entdeckt die Tragödie Eine schreckliche Entdeckung machte heute Morgen Mrs. John Brittlesea, die Frau des bekannten Direktors der Brittleseas Engineering Werke in Rugby. Da ihr Ehemann, den sie noch vor einer Stunde wohlbehalten und gesund gesprochen hatte, nicht rechtzeitig zum gemeinsamen Frühstück erschien, suchte sie ihn im Badezimmer, wo sie ihn, nachdem man die verriegelte Tür aufgebrochen hatte, tot in der Badewanne liegend fand. Nach Feststellung des Arztes war Brittlesea bereits vor einer halben Stunde gestorben. Als Todesursache wird Herzschlag angegeben.
Der verstorbene Fabrikant …
Ein komischer Zufall, sagte sich Pender. Noch dazu in Rugby! Mein unbekannter Freund würde sich sehr dafür interessieren, wenn er noch dort ist, um seine geschäftliche Angelegenheit zu erledigen. Möchte eigentlich wissen, was für eine Art von Geschäften er betreibt …
Es ist eine sonderbare Sache, wie man dauernd auf die gleichen Umstände trifft, wenn die Aufmerksamkeit erst einmal darauf gelenkt ist. Diese Umstände scheinen dann direkt hinter einem her zu jagen. Angenommen man bekommt eine Blinddarmentzündung: Augenblicklich füllen sich die Spalten der Zeitungen mit Nachrichten über Staatsmänner, die an Blinddarmentzündungen erkranken, und Opfern, die daran sterben. Man erfährt, dass beinahe alle Bekannten, oder wenigstens ihre Freunde, daran gelitten haben oder daran gestorben sind — oder sich viel schneller davon erholten als man selbst. Es ist ausgeschlossen, eine Zeitschrift aufzuschlagen, ohne auf einen Artikel zu stoßen, der die Heilung davon als Triumph der modernen Chirurgie bezeichnet oder zumindest über einen wissenschaftlichen Vergleich des wurmförmigen Blinddarms von Männern und Affen berichtet. Wahrscheinlich war die Beachtung des Blinddarms zu allen Zeiten die gleiche; nur dass man das erst in diesem Augenblick bemerkt, da die eigene Aufmerksamkeit sich darauf richtet. Auf jeden Fall ging es Pender so, dass er plötzlich entdeckte, mit welcher außergewöhnlichen Häufigkeit Leute in ihren Badewannen zu sterben schienen.
Die Fälle verfolgten ihn geradezu. Jedes Mal dieselbe Reihenfolge von Tatsachen: das heiße Bad, die Entdeckung der Leiche, die gerichtliche Untersuchung.
Und immer das gleiche medizinische Ergebnis: Herzschlag, infolge zu heißen Badens. Pender kam zu dem Schluss, dass es keineswegs ungefährlich war, in die mit heißem Wasser gefüllte Badewanne zu steigen. Er begann sein eigenes Bad jeden Tag ein wenig kälter zu nehmen, bis es geradezu ungemütlich wurde.
Jeden Morgen, noch bevor er sich hinsetzte, um in Ruhe die Nachrichten zu studieren, suchte er die Zeitung nach Schlagzeilen über einen Unfall im Badezimmer ab und war sofort erleichtert, aber gleichzeitig irgendwie enttäuscht, wenn eine Woche vorüberging, ohne dass sich eine Tragödie dieser Art ereignete.
Einer von diesen plötzlichen Todesfällen, von denen er auf solche Weise erfuhr, ereilte eine junge, schöne Frau, deren Ehemann, ein Chemiker, einige Monate vorher erfolglos versucht hatte, sich von ihr scheiden zu lassen.
Der staatliche Untersuchungsrichter schöpfte Verdacht und unterzog den Ehemann einer Reihe von Kreuzverhören. Es gelang ihm nicht, den medizinischen Befund des Arztes zu erschüttern. Pender, über die phantastische, unglaubliche Möglichkeit brütend, wünschte leidenschaftlich, wie jeden Tag seit seiner Begegnung mit dem Unbekannten in dem Zug, dass er sich an den Namen der Droge erinnern könnte, die der Mann erwähnt hatte.
Dann brach die Aufregung in Penders eigene Nachbarschaft ein. Der alte Mr. Skimmings, der allein mit seiner Haushälterin gerade um die Ecke wohnte, wurde tot in seinem Badezimmer aufgefunden. Sein Herz war nie sehr kräftig gewesen. Die Haushälterin sagte zu dem Milchmann, dass sie immer etwas dieser Art erwartet hatte, weil der alte Herr darauf bestand, sein Bad so heiß zu nehmen. Pender ging zu der gerichtlichen Untersuchung.
Die Haushälterin machte ihre Aussage. Mr. Skimmings war immer außerordentlich gut und freundlich zu ihr gewesen, und sie nahm es schwer, dass sie ihn nun für immer verloren hatte. Nein, sie hatte keine Ahnung gehabt, dass Mr. Skimmings ihr eine recht ansehnliche Summe Geldes hinterlassen würde, doch das zeigte, was für ein gütiges Herz er gehabt hatte. Der Wahrspruch lautete auf Tod durch Unglücksfall.
Wie gewöhnlich, machte Pender auch an diesem Abend seinen Spaziergang mit dem Hund. Eine besondere Neugier trieb ihn, an dem Haus des verstorbenen Mr.
Skimmings vorbeizugehen. Als er langsam vorbeischlenderte, verstohlen die leeren Fenster beobachtend, öffnete sich die Gartentür, und ein Mann kam heraus. In dem Lichtkreis einer Straßenlampe erkannte Pender ihn sofort.
«Hallo!«, sagte er.
«Ach, Sie sind’s«, antwortete der Mann.»Besehen sich wohl den Schauplatz der Tragödie, wie? Was denken Sie über diesen Fall?« «Was soll ich darüber denken? Nichts Besonderes«, sagte Pender.»Ich kannte ihn nicht persönlich. Komisch, dass wir uns auf diese Weise wieder begegnen.« «Ja, nicht wahr? Ich nehme an, dass Sie hier in der Nähe wohnen.« «Ja«, gab Pender zu und wünschte, er hätte es nicht getan.
«Wohnen Sie auch in diesem Viertel?« «Ich?«, fragte der Mann.»Nein. Habe hier nur eine geschäftliche Angelegenheit zu erledigen gehabt.« «Das letzte Mal, als wir uns trafen, waren Sie in Geschäften in Rugby«, bemerkte Pender. Sie gingen nun im gleichen Schritt nebeneinander her, sich langsam der Ecke nähernd, hinter der Penders Haus lag.
«Stimmt«, nickte der Mann.»Meine Geschäfte bringen mich im ganzen Land herum. Ich weiß nie vorher, wo ich am nächsten Tag benötigt werde.« «Sie müssten sich gerade in Rugby aufgehalten haben, als man den alten Brittlesea tot in seiner Badewanne fand, stimmt es?«, erwähnte Pender beiläufig.
«Ja. Komische Sache, der Zufall. «Der Mann blickte ihn von der Seite durch seine funkelnden Kneifergläser an.
«Hinterließ alles seiner Frau, glaube ich. Sie ist nun eine reiche Witwe. Sieht übrigens attraktiv aus. Sie war viel jünger als er.« Sie waren an Penders Haustür angelangt.»Kommen Sie auf einen Drink mit herein«, forderte ihn Pender auf und bereute sofort seine impulsive Einladung.
Der Mann war einverstanden, und sie gingen in Penders Bibliothek.
«In letzter Zeit sind auffallend viele dieser Unfälle beim Baden passiert, finden Sie nicht?«, begann Pender im leichten Unterhaltungston, während er Sodawasser in die Whiskygläser goss.
«Sie finden das auffallend?«, sagte der Mann in seiner irritierenden Weise, alles in Frage zu stellen, worüber immer man auch mit ihm redete.»Tja — ich weiß nicht.
Vielleicht ist es wirklich so. Aber es war immer schon ein ziemlich häufiger Unfall.« «Kann sein, dass ich seit unserer Unterhaltung damals im Zug mehr darauf achte. «Pender lachte ein wenig selbstbewusst.»Sie wissen, wie das ist. Ich habe mich nur gefragt, ob nicht etwa doch noch jemand anders diese – diese Formel — wie heißt sie gleich wieder — kennt?« Der Mann ignorierte die Frage.
«Das glaube ich nicht«, meinte er überzeugt.»Ich bilde mir ein, der einzige Mensch zu sein, der darüber Bescheid weiß. Ich bin selber nur zufällig darauf gekommen, als ich etwas anderes suchte. Es ist unwahrscheinlich, dass es gleichzeitig in so vielen Teilen des Landes entdeckt worden sein sollte. Übrigens — alle diese gerichtlichen Urteile zeigen deutlich, was für ein todsicherer Weg es wäre, wenn jemand einen Menschen beseitigen wollte.« «Sie sind also Chemiker?«, fragte Pender, in der Hoffnung, auf diese Weise etwas aus ihm herauszubringen.
«Oh — ich bin ein wenig von allem. Ein ›Hans-Dampf-in-allen-Gassen‹, gewissermaßen. Ich befasse mich mit allen möglichen Dingen. Sie haben hier einige recht interessante Bücher, wie ich sehe.« Pender fühlte sich geschmeichelt. Für einen Mann in seiner Position — er hatte in einer Bank gearbeitet, bevor er zu seinem kleinen Vermögen gekommen war — konnte man schon sagen, dass er sein Wissen beachtlich erweitert hatte. Er wusste, dass seine Sammlung von modernen Erstausgaben eines Tages wertvoll sein würde. Nicht ohne Stolz ging er zu seinem Bücherschrank hinüber und holte einige Werke heraus, um sie seinem Gast zu zeigen.
Der Mann gab vor, sich dafür zu interessieren, und trat an seine Seite.
«Habe ich Recht, wenn ich annehme, dass diese Ihren persönlichen Geschmack repräsentieren?«Er zog einen Band von Henry James heraus und warf einen Blick auf das Vorsatzblatt.»Ist das Ihr Name? E. Pender?« Pender bestätigte es.»Sie haben sich noch nicht vorgestellt«, fügte er hinzu.
«Ach so! Ich bin einer von der großen Smith-Familie«, erklärte der andere humorlos.»Bloß einer von den vielen, die sich ihr tägliches Brot verdienen müssen. Sie scheinen sich hier sehr nett eingerichtet zu haben.« Pender informierte ihn kurz über seinen Bankberuf und über die Erbschaft.
«Sehr angenehm, nicht wahr?«, sagte Smith.»Nicht verheiratet? Nein. Sie sind ein Glückspilz. Sieht nicht so aus, als ob Sie in nächster Zeit irgendein Sulfat von — oder eine andere nützliche Droge benötigen werden. Und Sie werden nie in die Verlegenheit kommen, wenn Sie sich an das halten, was Sie haben, und sich vor Frauen und Spekulationen in Acht nehmen.« Er lächelte Pender von unten herauf an. Jetzt, da er seinen Hut abgelegt hatte, war eine Menge klein gelockter grauer Haare zum Vorschein gekommen. Er wirkte älter als damals in dem Eisenbahnabteil.
«Nein. Ich denke, dass ich vorerst noch nicht um Ihren Beistand zu bitten brauche«, stimmte Pender lachend zu.
«Abgesehen davon — wie könnte ich Sie finden, für den Fall, dass ich es wünschte?« «Das haben Sie gar nicht nötig«, sagte Smith.» Ich würde Sie finden. Das ist keine Schwierigkeit. «Er grinste merkwürdig.
«Well, ich denke, es ist besser, wenn ich nun gehe.
Vielen Dank für die Gastfreundschaft. Ich nehme nicht an, dass wir uns noch einmal begegnen werden — aber es ist natürlich möglich.« Als er weggegangen war, kehrte Pender wieder zu seinem Sessel zurück. Er nahm das Glas mit Whisky in die Hand, das vor ihm auf dem Tisch stand. Es war noch beinahe voll.
«Komisch«, redete er laut mit sich selbst.»Ich kann mich nicht erinnern, dass ich es eingeschenkt habe. Ich muss es mechanisch getan haben. «Während seine Gedanken sich mit Smith beschäftigten, trank er langsam das Glas leer.
Was hatte Smith in Skimmings Haus zu tun gehabt?
Alles in allem eine merkwürdige Geschichte. Wenn nun Skimmings Haushälterin doch von dem Geld gewusst hatte … Aber sie hatte es nicht, und wenn, wie wäre sie dann an Smith und seine Sulfate des — der Name lag ihm nun auf der Zunge.
«Sie haben es nicht nötig, mich zu finden. Ich würde Sie finden.« Was der Mann nur damit gemeint hatte? Das ist ja purer Unsinn! Smith war aller Wahrscheinlichkeit nach nicht der Teufel persönlich. Doch wenn er tatsächlich über diese geheimnisvolle Zusammensetzung der Droge verfügte – wenn er sie um einen bestimmten Preis verriet …
Blödsinn!
Geschäfte in Rugby — eine kleine geschäftliche Angelegenheit in Skimmings Haus … Was für eine Idiotie!
«Niemand ist so beschaffen, dass man ihm trauen könnte. Absolute Macht über das Leben eines anderen Menschen … die Idee wächst in einem.« Das ist ja Wahnsinn! Und wenn etwas daran sein sollte, dann war dieser Mann irrsinnig, mit ihm darüber zu sprechen. Wenn er, Pender, sich einfallen ließe zu reden, dann konnte der Kerl aufgehängt werden. Seine Existenz wäre mehr als gefährlich für diesen Burschen.
Der Whisky!
Je mehr er darüber nachdachte, umso überzeugter wurde Pender, dass er ihn sich niemals selber eingegossen hatte.
Smith musste es in einem Moment getan haben, da er ihm den Rücken zugewandt hatte. Warum dieses plötzliche Interesse an dem Bücherschrank? Es hatte in keinem Zusammenhang mit der Unterhaltung vorher gestanden.
Nun, da Pender es sich überlegte, stellte er fest, dass es ein sehr starker Whisky gewesen war. War es nun Einbildung, oder hatte er tatsächlich einen seltsamen Nachgeschmack gehabt?
Auf Penders Stirn brach kalter Schweiß aus.
Eine Viertelstunde später, nachdem er ein großes Glas Milch getrunken hatte, ging Pender hinunter und setzte sich so nahe an das Kaminfeuer als möglich. Er fühlte sich kalt bis auf die Knochen. Mit knapper Not war er noch einmal davongekommen. Wenn er es wirklich war. Er hatte keine Vorstellung, wie das Zeug wirkte, aber er würde einige Tage kein heißes Bad nehmen. Man konnte nie wissen.
War es nun die Milch gewesen, die ihre Wirkung getan hatte, oder war es tatsächlich so, dass das heiße Bad ein unentbehrlicher Teil der Todbringenden Methode war – auf jeden Fall war Penders Leben für dieses Mal gerettet.
Aber er fühlte sich immer noch beunruhigt. Ängstlich sorgte er dafür, dass seine Haustür mit einer Sicherheitskette verschlossen blieb, und warnte außerdem noch seine Haushälterin, keine Fremden in das Haus zu lassen.
Er bestellte zwei Tageszeitungen mehr und obendrein noch die News of the World für den Sonntag. Mit Sorgfalt studierte er täglich die Berichte. Todesfälle im Badezimmer wurden für ihn zu einer fixen Idee. Er gewöhnte sich daran, bei den gerichtlichen Nachuntersuchungen dabei zu sein.
Drei Wochen später befand er sich in Lincoln. Ein Mann war in einer Sauna vom Herzschlag getroffen worden. Das Gericht hatte, nachdem es zu dem Schluss gekommen war, dass es sich um einen Unglücksfall gehandelt habe, noch hinzugefügt, es sei Pflicht der Direktion, die Badegäste künftig einer genaueren Kontrolle zu unterziehen und außerdem dafür zu sorgen, dass sich niemals jemand unbeaufsichtigt in dem heißen Raum aufhalte.
Als Pender sich seinen Weg durch die Menschenmenge im Flur bahnte, entdeckte er plötzlich in einiger Entfernung vor sich einen schäbigen Hut, der ihm bekannt vorkam. Er drängte sich durch und erwischte Mr. Smith gerade in dem Augenblick, da er in ein Taxi einsteigen wollte.
«Smith!«, schrie er, ein wenig nach Luft schnappend. Er griff hart nach seiner Schulter.
«Was, schon wieder Sie?«, sagte Smith.»Sie haben sich wohl mit diesem Fall beschäftigt, wie? Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?« «Sie — Sie Teufel!«, kreischte Pender.»Sie haben die Finger dabei im Spiel! Sie versuchten mich damals zu ermorden!« «Was Sie nicht sagen? Warum sollte ich das tun?« «Dafür werden Sie hängen!«, schrie Pender drohend.
Ein Polizist bahnte sich einen Weg durch den Menschenauflauf, der sich um die beiden angesammelt hatte.
«He!«, sagte er streng.»Was ist denn hier los?« Smith tupfte sich mit dem Zeigefinger auf die Stirn.
«Nicht weiter wichtig, Officer«, sagte er.»Dieser Herr scheint der Ansicht zu sein, dass ich eine schlechte Rolle in diesem Fall spielte. Hier ist meine Karte. Der Untersuchungsrichter kennt mich. Der Herr hier griff mich an. Es wird gut sein, wenn Sie ihn im Auge behalten.« «Das stimmt«, sagte einer der Umstehenden.
«Dieser Mann versuchte mich zu ermorden«, erklärte Pender.
Der Polizist nickte.
«Lassen Sie es gut sein, Sir«, riet er.»Sie werden es sich noch anders überlegen. Die Hitze dort drinnen hat Sie vermutlich durcheinander gebracht. Ist schon gut, ist schon gut.« «Aber ich bestehe darauf, dass er verhaftet wird«, beharrte Pender.
«Das würde ich an Ihrer Stelle bleiben lassen«, meinte der Polizeibeamte gutmütig.
«Aber wenn ich Ihnen sage, dass dieser Mann versucht hat, mich zu vergiften! Er ist ein Mörder. Er hat eine ganze Anzahl von Menschen vergiftet!« Der Beamte zwinkerte Smith zu.
«Das Beste ist, Sie fahren jetzt, Sir«, sagte er.»Ich werde das schon in Ordnung bringen. Nun, mein Freund« — er hielt Pender mit hartem Griff am Arm fest —»jetzt beruhigen Sie sich erst mal. Dieser Herr heißt nicht Smith.
Sie haben das irgendwie verwechselt.« «Gut. Aber wie heißt er denn?«, verlangte Pender zu wissen.
«Das tut nichts zur Sache«, antwortete der Polizist.»Sie lassen ihn besser in Ruhe, oder Sie werden sich eine Menge Schwierigkeiten machen.« Das Taxi war inzwischen weggefahren. Pender blickte verwirrt in die amüsierten Gesichter der Umstehenden.
«Also gut, Officer«, sagte er schließlich.»Ich habe nicht die geringste Absicht, Ihnen Schwierigkeiten zu machen.
Ich will mit Ihnen zur Polizeistation gehen und dort die Sache erklären.« «Was halten Sie von dem?«, fragte der Inspektor den Sergeanten, nachdem Pender aus der Polizeistation hinausgestolpert war.
«Der hat nicht alle Tassen im Schrank, wenn Sie mich nach meiner Meinung fragen«, antwortete sein Untergebener.»Muss so was wie ’ne fixe Idee haben, oder wie man das nennt.« «Hm«, machte der Inspektor.»Wir haben jedenfalls seinen Namen und die Adresse notiert. Kann sein, dass er noch mal irgendwo auftaucht. Leute vergiften, so dass sie sterben, wenn sie ein heißes Bad nehmen! Was für eine Idee, wie? Das ist kein schlechter Witz. Man muss sich nur wundern, was sich diese Halbverrückten alles ausdenken!« Der Frühling zeigte sich dieses Jahr kalt und neblig. Es war im März, als Pender zu einer gerichtlichen Untersuchung nach Deptford fuhr. Eine so undurchdringliche Nebeldecke lag über dem Fluss, dass man hätte glauben können, es wäre November. Die Kälte fraß sich einem bis auf die Knochen durch. Der schäbige kleine Gerichtssaal war in ein gelbes Zwielicht getaucht.
Pender konnte kaum die Zeugen erkennen, als sie vor den Richtertisch traten. Jedermann schien erkältet zu sein.
Auch Pender hustete. Seine Knochen schmerzten ihn, und er hatte ein Gefühl, als ob er demnächst Grippe bekommen würde.
Er strengte seine Augen an, da er glaubte, auf der anderen Seite des Raumes ein Gesicht erkannt zu haben.
Aber der schmierige Nebel, der durch jede Spalte eindrang, reizte und blendete seine Augen. Er steckte tastend seine Hand in die Manteltasche. Sie schloss sich beruhigt um etwas Dickes und Schweres. Seit jenem denkwürdigen Tag in Lincoln hatte er beschlossen, sich zu seinem eigenen Schutz zu bewaffnen. Ein Revolver kam nicht in Frage — er verstand nicht mit Feuerwaffen umzugehen. Ein Schlagring eignete sich viel besser zu diesem Zweck. Er hatte ihn von einem alten Mann gekauft, der mit einem Handkarren herumzog.
Wieder einmal hatte es mit dem unvermeidlichen Wahrspruch der Jury geendet. Die Besucher drängten aus dem Raum hinaus. Pender musste sich beeilen, wenn er seinen Mann nicht aus den Augen verlieren wollte. An der Tür war er ihm fast so nahe gekommen, dass er ihn hätte berühren können, aber eine dicke Frau schob sich dazwischen. Er drängte sie vorwärts, und sie gab einen leisen Laut der Entrüstung von sich. Der Mann vor ihm wandte den Kopf. Das Licht über der Tür reflektierte in seinen Kneifergläsern.
Pender zog hastig seinen Hut tiefer in die Stirn und folgte ihm. Seine Schuhe hatten Gummisohlen und machten keinerlei Geräusch auf dem Pflaster des Bürgersteigs. Der Mann ging, ohne sich ein einziges Mal umzusehen, die Straße hinauf und bog nach einiger Zeit in eine andere ein. Der Nebel war so undurchdringlich, dass Pender gezwungen war, ihm in nur wenigen Schritten Abstand zu folgen. Wohin mochte er gehen? Würde er in eine beleuchtete Straße einbiegen? Oder wollte er mit dem Bus oder der Straßenbahn heimfahren? Nein. Jetzt bog er rechts in eine schmale Gasse ein.
Der Nebel war hier womöglich noch dichter. Pender konnte sein Wild nicht mehr sehen, aber er konnte die Schritte vor sich hören, wie sie im gleichmäßigen Rhythmus ihren Weg verfolgten. Das seltsame Gefühl ergriff ihn, als ob nur er und dieser Mann allein auf der Welt wären — Jäger und Gejagter, Rächer und Schuldiger.
Die Straße begann sich sanft zu neigen.
Ganz plötzlich wichen die schattenhaften Umrisse der Häuser an beiden Seiten zurück. Ein offener Platz, mit einer undeutlich sichtbaren Lampe in der Mitte, tauchte durch den Nebel auf. Die Schritte verstummten. Pender, sich in lautloser Eile nähernd, sah, wie der Mann dicht an der Lampe stand. Offensichtlich suchte er etwas in seinem Notizbuch.
Vier Schritte — und Pender stand dicht hinter ihm. Er zog den Schlagring aus der Manteltasche.
Der Mann hob den Kopf.
«Diesmal habe ich dich«, sagte Pender und schlug mit ganzer Kraft zu.
Pender hatte sich nicht getäuscht, er bekam wirklich Grippe. Es verging eine ganze Woche, bis er wieder ausgehen konnte. Das Wetter hatte sich geändert, und die Luft war von einer süßen Frische. Anstatt sich nach der Krankheit schwach zu fühlen, war ihm, als ob man ein schweres Gewicht von seinen Schultern genommen hätte.
Er schlenderte zu seinem bevorzugten Buchladen am Strand und erwarb eine Erstausgabe von D. H. Lawrence zu einem Preis, den man einen guten Handel nennen konnte. Durch den günstigen Einkauf in gute Laune versetzt, betrat er ein billiges kleines Restaurant, das in der Hauptsache von Journalisten aufgesucht wurde, und bestellte sich ein Kotelett vom Grill und einen halben Krug Bier.
Am Tisch nebenan saßen zwei Journalisten.
«Gehst du zur Beerdigung vom armen alten Buckley?«, fragte der eine.
«Ja«, entgegnete der andere.»Armer Teufel! Eine Gemeinheit, auf diese Weise niedergeschlagen zu werden.
Er muss auf dem Weg zu dem Interview mit der Witwe von dem Burschen gewesen sein, der in der Badewanne starb. Das ist ein übles Viertel. Vermutlich war es einer von der Jimmy-Card-Bande. Er war ein großartiger Kriminalreporter — so einen bekommen sie nicht gleich wieder.« «Und außerdem einer von den anständigen. Ein verlässlicher Bursche. Keiner von denen, die einen hereinlegen, wo sie nur können. Erinnerst du dich an seine sensationelle Story über Sulfate des Thanatol?« Pender erstarrte. Das war der Name, den er seit vielen Monaten suchte. Ein merkwürdiges Schwindelgefühl ergriff ihn. Er nahm einen Schluck von dem Bier, um sich zu beruhigen.
«… schaute dich durchdringend wie ein Richter an«, redete der Journalist weiter.»Er pflegte diesen Trick auf seinen Reisen auszuprobieren, wenn er mit so einem armen Burschen allein im Abteil war. Wollte sehen, wie sie es aufnehmen. Du wirst es kaum glauben, aber einer hat ihm doch tatsächlich angeboten …« «He!«, unterbrach ihn sein Freund.»Der Kerl da drüben ist ohnmächtig geworden. Fiel mir vorher schon auf, wie blass er war.«