Die Beutegreiferin von SHARYN McCRUMB

Sharyn McCrumb (*1948) lebt nach Abschluss ihres Studiums an der University of North Carolina und der Virginia Tech in den Blue Ridge Mountains in Virginia, reist jedoch zu Vorlesungen über ihr Werk in den Vereinigten Staaten und in der ganzen Welt herum. Zuletzt hielt sie im Sommer 2001 ein Autorenseminar in Paris ab.

Für ihre» Bailad«-Serie, angefangen mit If Ever I Return, Pretty Peggy-O (1990), erhielt McCrumb zahlreiche Preise und Auszeichnungen, darunter den Appalachian Writers Association’s Award für ihren besonderen Beitrag zur Literatur der Appalachen.

Mehrmals haben auch New York Times und Los Angeles Times ihre Werke auf der Liste lesenswerter Bücher genannt. In der Einleitung zu ihrer Kurzgeschichtensammlung Foggy Mountain Breakdown and Other Stories (1997) beschreibt sie detailliert, wie die Geschichte ihrer Familie in North Carolina und Tennessee Eingang in ihr Schreiben über die Appalachen gefunden hat. Einer der Protagonisten, die immer wieder auftauchen, Sheriff Spencer Arrowood, ist nach einem Vorfahren der Autorin väterlicherseits benannt, während es sich bei Frankie Silver (»die erste Frau, die im Staat North Carolina wegen Mordes gehenkt wurde«), deren Geschichte McCrumb später in The Bailad of Frankie Silver (1998) einbauen sollte, um eine entfernte Cousine der Autorin handelt.»Meine Bücher sind wie Quilts aus den Appalachen«, schreibt sie.»Ich nehme lauter leuchtend bunte Stückchen von Legenden, Balladen, Bruchstücken bäuerlichen Lebens und lokalen Tragödien und setze sie zu einem komplexen Ganzen zusammen, das nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern auch eine tiefere Wahrheit über das Wesen des gebirgigen Südens.« Der sechste und neueste Titel in der Reihe, The Songcatcher, erschien im Sommer 2001.

«Die Beutegreiferin «beschreibt McCrumb als» meine persönliche Betrachtung über das, was geschehen könnte, wenn Myra Hindley, die britische Moor-Mörderin von 1966, aus dem Gefängnis entlassen würde. Obwohl Myra nie einen Menschen umgebracht hat (sie war die Freundin und Komplizin des Kindermörders Ian Brady), hat sie für ihr Verbrechen mittlerweile länger im Gefängnis gesessen als jeder tatsächliche Mörder in der Geschichte Großbritanniens.« «Sieht doch aus wie eine richtige Mörderin, was?«, sagte Ernie Sleaford und tippte auf das Foto einer Wasserstoffblondine. Er hatte jenes höhnische Grinsen aufgesetzt, mit dem er speziell die» Schreckschrauben« bedachte, sein Ausdruck für unattraktive Frauen.

Indem sie sich etwas befangen durch ihr eigenes, professioneller aufgehelltes Haar fuhr, nickte Jackie Duncan. Sie war siebenundzwanzig, zierlich und daher nie Zielscheibe von Ernies herablassendem Spott gewesen.

Wenn er sie anschrie, hatte es eher berufliche Gründe – eine verpasste Gelegenheit für ein Foto oder eine nachlässig durchgeführte Berichterstattung. Sie nahm das reizlose Foto zur Hand.»Sieht ja gnadenlos aus. Man wundert sich, dass die Kinder der überhaupt vertraut haben.« «Woher sollten sie es denn wissen, die armen Dinger?

So ein Weib wie Erma war schließlich noch nie da gewesen, oder?« Jackie betrachtete das Foto eingehend und überlegte, ob das Gesicht wirklich so bösartig war oder ob ihr Eindruck von dem beeinflusst war, was sie über die dazugehörige Person wussten. Ob das Gesicht nun grausam war oder nicht, es war jedenfalls recht hässlich. Erma Bradley hatte teigige Züge mit Augen wie Stachelbeeren und jenen Ausdruck trotziger Verdrossenheit, den unscheinbare Frauen oft in Erwartung abfälliger Bemerkungen zur Schau tragen.

Auf dem Foto hatte Ernie das Wort Titelseite vermerkt.

Es war nicht die Art von Gesicht, die normalerweise im Stellar abgebildet war, einem Boulevardblatt, das für sein tägliches Foto von Prinzessin Diana und die vollbusigen Schönheiten auf Seite drei bekannt war. Ein feistes Weib mit schlecht blondiertem Haarschopf musste sich den Platz in der Regenbogenpresse schon verdienen — und das hatte Erma Bradley ganz sicher getan. 1966 wegen vierfachen Kindermordes verurteilt, saß sie im Holloway-Gefängnis in Nordlondon eine lebenslange Haftstrafe ab.

Aus den Augen, aber nicht aus dem Sinn. Weil sie Großbritanniens einzige Serienmörderin war, hielt die Regenbogenpresse ihr Andenken dadurch aufrecht, dass sie häufig Geschichten über sie brachte, alle begleitet von jenem 1965 aufgenommenen Gruselfoto der finster dreinblickenden, frisch verhafteten Erma. Die meisten aktuelleren Artikel über sie bemühten sich gar nicht erst um Glaubwürdigkeit:»Erma Bradley: Hitlers uneheliche Tochter«,»Geister der Kinder vor Ermas Zelle gesichtet« und der Oktober-Hit:»Ist Erma Bradley ein Vampir?« Diese letzte Schlagzeile war womöglich die zutreffendste, denn sie trug der Tatsache Rechnung, dass die Öffentlichkeit sie mittlerweile kaum noch als reale Person betrachtete. Sie war bloß noch eine weitere Figur im Monsterkabinett und hatte ihren festen Platz neben Frankenstein, Dracula und Guy Fawkes — einem ebenfalls überschätzten Kriminellen. Ernie Sleafords Spezialität bestand darin, sich immer wieder neue Ausreden auszudenken, um das alte Foto von Erma anbringen zu können. Zum Ankurbeln des Verkaufs war Ermas Gesicht immer gut.

Jackie Duncan hatte noch nie eine Erma-Story gemacht.

Zur Zeit des berüchtigten Prozesses war Jackie vier Jahre alt gewesen, und später — die Verbrechen waren aufgeklärt und die Mörder weggesperrt — hatte der Fall sie nie sonderlich interessiert.»Die Morde, dachte ich, hätte ihr Freund Sean Hardie begangen«, sagte sie und versuchte angestrengt, sich an die Einzelheiten des Falls zu erinnern.

Der Chefredakteur des Stellar quittierte ihre Frage mit verächtlichem Schnauben.»Hardie? In puncto Hartgesottenheit konnte der Erma nicht das Wasser reichen. Sehen Sie ihn sich jetzt an. Vollkommen weggetreten, sitzt in der Gefängnisklapse, hat bloß noch Grießbrei im Hirn. So soll’s einem auch gehen, wenn man das Leben von vier Kindern auf dem Gewissen hat. Und unsere Erma? Hat über das Fernsehen ein Studium gemacht, nicht? Im Knast gelernt, sich fein auszudrücken!

Und jetzt kommen so ein paar verdammte Gutmenschen daher und hauen sie raus!« Jackie, die bei dieser Tirade fast abgeschaltet und lieber den neuen Farbton ihres Nagellacks betrachtet hätte, sah ihn wieder interessiert an.»Das ist mir neu, Sleaford! Sind Sie sicher, dass das nicht bloß wieder eins von Ihren Märchen ist?«Sie grinste.»›Erma Bradley — Prinz Edwards Braut?‹ Die hat mir am besten gefallen.« Solchermaßen an seine letzte Erma-Schlagzeile erinnert, musste Ernie zwar erröten, erwiderte dann aber feierlich:

«Stimmt aber Jackie. Hat mir eine Gefängniswärterin in Holloway gesteckt Nächste Woche kommt sie raus aus dem Bau.« «Na, na! Das würden sie doch landesweit in jeder Nachrichtensendung bringen! Und einen Riesenaufmacher im Guardian, Und eine Debatte im Parlament.« «Die Gefängnisleitung hält es streng geheim. Man will verhindern, dass Erma nach ihrer Freilassung von unsereinem belästigt wird. Sie will in Ruhe gelassen werden. «Er lächelte affektiert.

«Für diesen Tipp musste ich ganz schön was springen lassen, kann ich Ihnen sagen.« Jackie lächelte.»Armer fieser Ernie! Und wo komme ich ins Spiel?« «Dreimal dürfen Sie raten!« «Aha. Sie wollen Ermas persönliche Story, auf Teufel komm raus.« «Ach, die können wir selber schreiben. Ich habe Paul schon drauf angesetzt. Was ich eigentlich brauche, ist ein neues Foto, Jackie. Die alte Kuh hat sich doch seit zwanzig Jahren nicht mehr fotografieren lassen. Legt Wert auf ihre Privatsphäre, unsere gute Erma. Aber Stellar-Leser würden sich gern ein genaues Bild machen, wie Erma Bradley heute aussieht, meine ich, Sie nicht?« «Damit sie sie nicht als Kindermädchen anheuern.« Jackie wartete ab, bis er fertig gelacht hatte, und brachte dann das Gespräch aufs Finanzielle.

Die Zelle sah allmählich wieder so aus wie damals bei ihrer Ankunft. Frisch gekehrt und ohne Gardinen, enthielt das zwei mal dreieinhalb Meter messende Rechteck ein Bett, einen Schrank, einen Tisch und einen Stuhl, ein hölzernes Waschbecken mit Schüssel und Kanne aus Plastik sowie einen Eimer. Die Poster und die Fotos von zu Hause waren schon weg. Ihre Bücher waren in einer Einkaufstüte von Marks & Spencer verstaut.

Ruthie, deren kleine, spitze Züge ihr den Spitznamen Frettchen eingetragen hatten, saß auf der Bettkante und sah ihr beim Packen zu.»Nimmst alles mit, ja?«, fragte sie aufgekratzt.

Die dünne, dunkelhaarige Frau starrte auf die Ansammlung von Gegenständen auf dem Tisch.

«Wahrscheinlich nicht«, sagte sie finster. Sie hielt eine Büchse mit grünem Zahnpulver hoch.»Hier. Willst du das?« Achselzuckend griff das Frettchen danach.»Warum nicht? Du kommst ja raus, und ich hab noch paar Jährchen vor mir. Schreibst du mir, wenn du draußen bist?« «Du weißt, dass das nicht erlaubt ist.« Die Jüngere kicherte.»Als ob dich das je von was abgehalten hätte. «Sie griff nach einem anderen Gegenstand.»Was ist mit deiner Weihnachtsseife? Die kriegst du draußen auch, weißt du.« Sie gab sie ihr.»Freesienseife will ich nie wieder.« «Ach, deine Poster nimmst du mit? Man sollte meinen, du hättest sie inzwischen über.« «Stimmt auch. Die habe ich Senga versprochen. «Sie legte die zusammengerollten Poster neben Ruthie aufs Bett und griff nach einem kleinen gerahmten Foto.»Aber willst du das, Frettchen?« Die kleine Blonde riss beim Anblick des grobkörnigen Schnappschusses von einem finster dreinblickenden Mann erschrocken die Augen auf.»Um Gottes willen! Das ist doch Sean! Tu das bloß schnell weg. Ich bin froh, wenn das hier raus ist.« Lächelnd steckte Erma Bradley das Foto zwischen ihre Kleider.

«Das werde ich mir aufheben.« Zu Interviews trug Jackie Duncan selten ihr bestes Seidenkostüm, aber diesmal hatte sie das Gefühl, es könnte nicht schaden, gleichermaßen mondän und wohlhabend auszusehen. Unter ihrem blonden, zu einem modischen Bubikopf geschnittenen Haar blitzten muschelförmige Ohrringe aus echtem Gold hervor, und Handtasche und Schuhe aus Kalbsleder bildeten ein Ensemble und waren teuer gewesen. Es entsprach

überhaupt nicht der Art, in der sich eine Stellar-Reporterin normalerweise zur Arbeit kleidete, doch es verlieh Jackie einen Anflug von Kompetenz und Professionalität, die sie brauchte, um von diesem Interview zu profitieren.

Sie ließ den Blick über den heruntergekommenen Versammlungsraum schweifen und fragte sich, ob Erma Bradley sich wohl hier aufgehalten, und wenn ja, wo sie gesessen hatte. Zur Vorbereitung auf den neuen Auftrag hatte Jackie alles gelesen, was sie über den Fall Bradley hatte auftreiben können: das melodramatische Buch des BBC-Journalisten, die maßvoll-nüchternen Einlassungen des Staatsanwalts und eine ganze Reihe von Artikeln aus etwas zuverlässigeren Zeitungen als dem Stellar.

Mittlerweile fand sie Erma Bradley und ihren mörderischen Liebhaber Sean Hardie richtig interessant – dieses Pärchen, fest vereint im gemeinsamen Morden? In den verschiedenen Analysen des Falls hatte man sich ausführlich über die Beweislast und das allgemeine Entsetzen bei einem Kindermord verbreitet, sich mit der Suche nach einem Tatmotiv jedoch schwer getan und bei der detaillierten Beschreibung der Tötungen selbst Zurückhaltung geübt. Daraus ließe sich ein Buch machen, und wer das Material beschaffen und es schreiben könnte, würde sich eine goldene Nase verdienen. Jackie hatte vor, noch mehr herauszufinden als das, was sie bereits in der Hand hatte, zu recherchieren, musste Erma Bradley aber erst einmal finden.

Mit ihrem Sloane-Ranger-Ensemble hatte sie die alten Tanten im Gefängnisbüro bezirzt, damit sie überhaupt hereinkam und der Story nachgehen konnte. Der vermeintlichen Story. Jackie warf einen kurzen Blick auf ihr Spiegelbild. Sehr nützlich, dieser flotte Fummel, wenn man bei alten dienstführenden Damen Eindruck schinden wollte. Und wieso, dachte sie, sollte sie den Knastschwestern nicht eine kleine Modenschau bieten?

Die sechs Häftlinge fläzten, in formlose Polyestersachen gekleidet, lässig auf ihren Stühlen und glotzten sie ziemlich gleichmütig an. Eine las einen Roman von Barbara Cartland.

«Hallo, Mädels!«, sagte Jackie in ihrem schönsten Pflegeheimton. Wie man alte Damen für eine Titelgeschichte in Stimmung brachte, wusste sie, und das hier konnte auch nicht viel anders sein, dachte sie sich.

«Hat man Ihnen gesagt, wieso ich hier bin?« Wieder nur dumpfes Geglotze, bis eine stämmige Rothaarige fragte:»Hast du’s schon mal mit ’ner Frau getrieben?« Jackie ignorierte sie.»Ich bin hier, weil ich eine Story darüber schreiben will, wie es ist, im Gefängnis zu leben.

Also, jetzt haben Sie die Gelegenheit, sich zu beschweren, falls es was gibt, was Sie geändert haben wollen.« Nur höchst widerwillig brachten sie schließlich das Essen zur Sprache und die unlogischen, starren Regeln, die jeden Aspekt ihres Lebens beherrschten. Beim Reden legte sich die Spannung allmählich, und Jackie merkte, dass sie immer geneigter wurden, sie ins Vertrauen zu ziehen. Sie kritzelte ein paar flüchtige Notizen aufs Papier, damit sie weiterredeten. Plötzlich sagte eine, ihre Kinder würden ihr fehlen: Jackies Stichwort.

Unwillkürlich ließ sie den Notizblock sinken.»Kinder!«, sagte sie atemlos gespannt.»Da fällt mir ein — hat hier nicht auch Erma Bradley eingesessen?« Blicke kreuzten sich.»Und?«, sagte die Stumpfäugige mit den ungewaschenen Haaren.

Eine wieselhafte Blonde, die von Jackies Glamour mehr beeindruckt schien als die Älteren, antwortete bereitwillig:

«Ich kannte sie! Wir waren sehr gut befreundet!« «Na, nun untertreib mal nicht, Frettchen«, sagte die Ungepflegte aus Croydon, die Gelder veruntreut hatte.

Nun brauchte Jackie kein falsches Interesse mehr vorzutäuschen.»Wirklich?«, sagte sie zu der Frau namens Frettchen.»Da hätte ich ja furchtbar Angst! Wie war sie denn?« Jetzt fingen alle an, über Erma zu reden.

«Bisschen reserviert war sie«, sagte eine.»Hat nie gewusst, wem sie trauen kann, wegen ihrem Ruf, Sie wissen schon. Viele von uns hier haben selber Kinder, da waren einige gegen sie eingestellt. In der Küche haben sie ihr ins Essen gespuckt, bevor sie’s ihr reingebracht haben.

Und von den Neuen sind manchmal welche auf sie losgegangen, um zu zeigen, wie hart sie sind.« «Das muss man sich erst mal trauen!«, rief Jackie.»Ich habe sie auf Fotos gesehen!« «Ah, so hat sie aber gar nicht mehr ausgesehen!«, sagte Frettchen.»Hat sich die Haare wieder dunkel nachwachsen lassen und war auch viel dünner. Sah gar nicht schlecht aus. Seit dem Prozess hatte die bestimmt an die fünfzig Pfund abgenommen!« «Haben Sie vielleicht ein Foto von ihr?«, fragte Jackie, immer noch nach Kräften bemüht, atemlos gespannt und schwer beeindruckt zu wirken.

Die Rothaarige legte ihre fleischige Hand auf Frettchens Schulter.»Moment mal. Was wollen Sie eigentlich wirklich hier?« Jackie holte tief Luft.»Ich muss Erma Bradley finden.

Können Sie mir dabei helfen? Ich bezahle auch dafür.« Einige Minuten später verabschiedete sich Jackie mit einem affektierten Lächeln von der Wärterin und teilte ihr mit, sie müsse in eine paar Tagen wegen weiterer Recherchen wiederkommen. Bis dahin musste sie sich überlegen, wie sie zwei Flaschen Glenlivet hineinschmuggeln konnte: das Kopfgeld für Erma Bradley. Vermutlich würde Ernie sie den Whisky aus eigener Tasche zahlen lassen. Geschah ihm recht, wenn für sie dann noch ein guter Buchabschluss heraussprang.

Die Wohnung hätte einen neuen Anstrich vertragen können und auch ein paar bessere Möbel, doch das hatte Zeit. Sie war an Schäbigkeit gewöhnt. Am besten gefielen ihr die hohe Zimmerdecke und das große Flügelfenster mit dem Blick aufs Moor. Aus diesem Fenster sah man nur Hügel, Heidekraut und Himmel — keine Straßen, keine Häuser, keine Leute. Nach vierundzwanzig Jahren im Gewusel und Gedränge eines Frauengefängnisses war diese Einsamkeit herrlich. Jeden Tag verbrachte sie Stunden nur damit, aus diesem Fenster zu schauen, in dem Bewusstsein, dass sie im Moor spazieren gehen konnte, wann immer sie wollte, ohne Wachen, Anzüglichkeiten oder Einschränkungen der Bewegungsfreiheit.

Erma Bradley versuchte sich zu erinnern, ob sie überhaupt schon einmal allein gewesen war. Mit ihrer Mutter hatte sie bis zum Schulabschluss in einer winzigen Wohnung gewohnt, und dann, nachdem sie bei Hadlands als Sekretärin angefangen hatte, war Sean auf den Plan getreten. Mit dreiundzwanzig war sie ins Gefängnis gekommen und hatte von da an nicht einmal mehr das Recht auf Privatsphäre gehabt. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es je eine Zeit gegeben hätte, wo sie für sich hätte sein können, um sich über ihre persönlichen Vorlieben und Abneigungen klar zu werden. Aus Mums Schatten war sie in den von Sean getreten. Sein Bild bewahrte sie auf, ebenso das ihrer Mutter, aber nicht aus Liebe, sondern als Mahnung an die Gefängnisse, die sie vor Holloway ertragen hatte.

Jetzt fand sie heraus, dass sie Pflanzen mochte — und die Musik von Sibelius. Auch hatte sie es gern schön sauber.

Sie überlegte, ob sie die Wohnung vielleicht selbst streichen könnte, denn die sähe erst dann sauber aus, wenn sie diese schmutzig grünen Wände überstrich.

Sie sagte sich wieder, dass sie ja auch ein Haus hätte haben können, wenn … Wenn sie bereit gewesen wäre, etwas von dieser Abgeschiedenheit aufzugeben.

Verkaufen Sie Ihre Story an einen Verlag; verkaufen Sie die Filmrechte an eine Filmgesellschaft. Keith, ihr leidgeprüfter Anwalt, reichte ihr pflichtschuldig alle diese Angebote zur Begutachtung weiter. Alle Welt schien ihr das Geld nachschmeißen zu wollen, doch sie wollte bloß weg von allem. Die etwas reizlose, aber schlanke Miss Emily Kay, mit siebenundvierzig neugeboren, würde es schon allein schaffen, mit Dosengerichten und Möbeln aus zweiter Hand, während die Journalistenmeute einer Erma Bradley hinterher bellte, die gar nicht mehr existierte. Sie wollte nur noch Einsamkeit. Nie dachte sie an diese schrecklichen Monate mit Sean, an das, was sie zusammen getan hatten. Vierundzwanzig Jahre lang hatte sie es sich untersagt, daran zu denken.

Jackie Duncan blickte an dem hübsch verzierten Gebäude empor, das in Wohnungen für Leute aus der Arbeiterschicht unterteilt worden war. Zu jenen liebenswürdigeren Zeiten hatten die Bauarbeiter Blattmotive in das Mauerwerk um die Fenster gearbeitet und bei jedem Dach an einer Ecke Wasserspeier angebracht. Dieses nützliche Detail merkte sich Jackie: Jetzt war dem Gebäude noch ein weiteres Monster hinzugefügt worden.

Im heruntergekommenen, aber immer noch vornehmen Foyer sah Jackie die Namen auf den Briefkästen durch, um sich zu vergewissern, dass ihre Information stimmte.

Da stand es: E. Kay. Während sie die Treppe hinaufeilte, dachte sie nur kurz an die Veränderungen, die in diesen letzten Wochen mit ihr selbst vorgegangen waren. Als Ernie ihr den Auftrag gegeben hatte, hätte sie sich vielleicht noch davor gefürchtet, einer Mörderin gegenüberzutreten, oder wäre mit der Kamera im Anschlag nach oben gegangen um in dem Moment, wenn Erma Bradley die Tür aufmachte, schnell das Foto zu schießen und gleich wieder abzuhauen. Jetzt aber brannte sie darauf, der Frau zu begegnen, als handelte es sich um ein Interview mit einem berühmten Filmstar. Umso mehr, als diese Berühmtheit ihr ganz allein gehörte. Nicht einmal Ernie hatte sie erzählt, dass sie Erma gefunden hatte. Das hier war ihre Show, nicht die des Stellar. Ohne weiter nachzudenken, was sie sagen würde, klopfte Jackie am Unterschlupf des Monsters an.

Nach einer Weile ging die Tür ein Stückchen auf, und eine zierliche, dunkelhaarige Frau spähte nervös zu ihr heraus. Sie war dünn und trug einen schlichten grünen Pullover und einen Rock. Es war nicht mehr die freche Blondine aus den sechziger Jahren. Die Augen waren jedoch dieselben. Und das Gesicht war immer noch das von Erma Bradley.

Jackie kam gleich zur Sache.»Darf ich hereinkommen, Miss Kay ? Sie wollen ja wohl nicht, dass ich an Ihre Tür trommle und Ihren richtigen Namen rufe, oder?« Die Frau trat zurück, um sie hereinzulassen.»Es hat wohl keinen Sinn, wenn ich Ihnen sage, Sie irren sich?« Von ihrem früheren Midlands-Akzent war nichts mehr übrig. Sie sprach in ruhigem, kultiviertem Ton.

«Vergessen Sie’s. Ich habe mich wochenlang abgerackert, um Sie zu finden, meine Liebe.« «Können Sie mich nicht einfach in Ruhe lassen?« Jackie setzte sich auf das abgewetzte braune Sofa und lächelte ihre Gastgeberin an.»Ich denke, das lässt sich einrichten. Ich könnte zum Beispiel der BBC, der Boulevardpresse und dem Rest der Welt nicht verraten, wie Sie aussehen und wo Sie sind.« Die Frau blickte hinunter auf ihre unberingten Hände.

«Ich habe kein Geld«, sagte sie.

«Und trotzdem sind Sie ein Schweinegeld wert, oder nicht? In all den Jahren, wo Sie eingelocht waren, haben Sie nie was anderes gesagt als Ich hab’s nicht getan, was natürlich Quatsch ist, weil alle Welt weiß, dass Sie’s getan haben. Die Ermordung des kleinen Doyle haben Sie ja sogar auf Band aufgenommen, mein Gott!« Die Frau senkte den Kopf und wandte sich ab.»Was wollen Sie?«, fragte sie schließlich, während sie sich auf den Stuhl neben dem Sofa setzte.

Jackie Duncan tippte die andere an den Arm.» Ich will, dass Sie mir davon erzählen. « «Nein. Das kann ich nicht. Ich habe es vergessen.« «Nein, haben Sie nicht. Das könnte niemand. Und das ist das Buch, das alle Welt lesen will. Nicht dieses zimperliche Gewäsch, das die anderen über Sie geschrieben haben. Ich will, dass Sie mir jedes einzelne Detail schildern, bis ins Kleinste. Das ist das Buch, das ich schreiben will. «Sie holte tief Luft und zwang sich zu einem Lächeln.»Dafür halte ich Ihre Identität und Ihren Aufenthaltsort geheim, so wie Ursula Bloom damals in den fünfziger Jahren, als sie Crippens Geliebte interviewte.« Erma Bradley zuckte die Achseln.»Geschichten über Verbrechen lese ich nicht«, sagte sie.

Das Licht vor dem großen Fenster, das aufs Moor hinausging, war schwächer geworden. Auf dem zerkratzten Kiefernholztisch lief ein Kassettenrecorder, und in der hereinbrechenden Dämmerung schwoll Erma Bradleys Stimme erschöpft und resigniert auf und ab, immer wieder unterbrochen von Jackies drängenden Fragen.

«Ich weiß es nicht«, sagte sie wieder.

«Na los. Denken Sie mal nach. Essen Sie einen Keks, während Sie nachdenken. Mit der kleinen Allen hatte Sean keinen Sex, aber hat er danach mit Ihnen geschlafen? Was glauben Sie, bekam er eine Erektion, während er sie würgte?« Pause.»Ich habe nicht hingesehen.« «Aber Sie haben miteinander geschlafen, nachdem er sie umgebracht hatte?« «Ja.« «Auf dem gleichen Bett?« «Aber erst später. Ein paar Stunden danach. Nachdem wir die Leiche weggeschafft hatten. Es war doch Seans Schlafzimmer. Dort haben wir immer geschlafen.« «Haben Sie sich vorgestellt, dass der Geist des Kindes Ihnen dabei zuschaut?« «Ich war zweiundzwanzig. Er sagte — er hat mich immer betrunken gemacht — und ich …« «Ach, Erma, Schluss damit. Verdammt, hier sitzen doch keine Geschworenen. Sagen Sie mir einfach, ob es Sie angetörnt hat, Sean dabei zuzuschauen, wie er Kinder erdrosselte. Wenn er es tat waren Sie da beide nackt oder bloß er?« «Bitte, ich — bitte!« «Na schön, Erma. Ich kann jetzt die BBC herholen, rechtzeitig für die Frühnachrichten.« «Bloß er.« Eine Stunde später.»Ach, hören Sie auf zu heulen, Erma. Sie haben es einmal durchlebt, oder? Schadet doch nicht, darüber zu reden! Noch mal vor Gericht gestellt werden können Sie nicht. Los, meine Liebe, beantworten Sie mir die Frage.« «Ja. Der kleine Junge — Brian Doyle —, der war eigentlich recht tapfer. Sagte immer wieder, er müsse sich um seine Mum kümmern, weil sie jetzt geschieden sei, und bat uns, ihn gehen zu lassen. Er war erst acht und ziemlich klein. Er bot sogar an, mit uns zu kämpfen, wenn wir ihn losbinden würden. Als Sean das Klebeband aus dem Schrank holte, ging ich zu ihm und flüsterte, er soll den Jungen doch laufen lassen, aber er …« «Ah — schon wieder, Erma! Also, ich schalte jetzt die Maschine aus, und Sie fangen sich erst mal wieder.« Sie war allein. Endlich war die Reporterin gegangen. Kurz vor elf hatte sie ihre Notizen zusammengerafft und ihren Kassettenrecorder eingepackt und die Fotos der toten Kinder, die sie aus den Fotoarchiven mitgebracht hatte, und war gegangen, nicht ohne die Ankündigung, in ein paar Tagen wiederzukommen, um» dem Interview noch den letzten Schliff zu geben«. Daten, Ortsangaben und gerichtsmedizinische Einzelheiten könne sie sich anderweitig beschaffen, hatte sie gesagt.

Die Reporterin war weg, das Zimmer war leer, aber Miss Emily Kay war nicht mehr allein. Jetzt war Erma Bradley auch drin.

Sie wusste allerdings, dass keine weiteren Journalisten auftauchen würden. Diese eine, diese Jackie, würde ihr Geheimnis gut bewahren, wenn auch nur, um die Exklusivität ihres eigenen Buches sicherzustellen.

Ansonsten war es Miss Emily Kay gestattet, in dem schäbigen Zimmerchen mit Blick übers Moor ihre Freiheit zu genießen. Doch es war kein angenehmer Unterschlupf mehr, jetzt, wo sie nicht mehr allein war. Erma hatte die Geister wieder mitgebracht.

Jetzt, wo sie darüber gesprochen hatte, waren die Ereignisse von vor fünfundzwanzig Jahren viel realer als damals, als sie sie durchlebt hatte. Damals war alles so konfus gewesen. Sean trank viel und hatte es gern, wenn sie ihm dabei Gesellschaft leistete. Beim ersten Mal war alles so schnell gegangen, und danach gab es kein Zurück mehr. Doch sie gestattete sich nie, darüber nachzudenken.

Es war allein Sean, sagte sie sich immer, und dann schaltete sich ihr Kopf teilweise ab, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit etwas anderem zu. Beim Prozess hatte sie an den beinahe greifbaren Hass gedacht, der ihr von fast allen Anwesenden im Gerichtssaal entgegenschlug.

Damals konnte sie nicht nachdenken, denn wenn sie zusammenbrach, würden die anderen gewinnen. Man hatte sie nie in den Zeugenstand gerufen. Sie beantwortete keine Fragen, und wenn ihr ein Mikrofon hingestreckt wurde, sagte sie nur: Ich hab’s nicht getan. Und später dann im Gefängnis musste sie sich erst einmal eingewöhnen und die üblen Szenen mit den anderen Häftlingen durchstehen.

Da konnte sie keine Gefühle gebrauchen, die sie auch noch runtergezogen hätten. Ich hab’s nicht getan bekam für sie einen Wahrheitsgehalt; es bedeutete: Ich bin nicht mehr diejenige, die das getan hat. Ich bin klein und dünn, redegewandt und höflich. Das hässliche, unbeholfene Monster gibt es nicht mehr.

Aber nun hatte sie ausgesagt. Ihre eigene Stimme hatte die Bilder von Sarah Allan heraufbeschworen, die nach ihrer Mutter gerufen hatte, und von Brian Doyle, der ihnen als Lösegeld sein Fahrrad angeboten hatte, um seiner Mutter willen. Die Blondine mit dem harten Gesicht, die ihnen gesagt hatte, sie sollten den Mund halten, die sie festgehalten hatte … sie war hier. Und sie würde auch hier wohnen, mit all dem Weinen und den Schreien. Und bei jedem Schritt auf der Treppe dächte sie: Sean, der wieder ein kleines Kerlchen auf Besuch mitbrachte.

Ich hab’s nicht getan, flüsterte sie. Inzwischen hatte es auch noch eine andere Bedeutung angenommen. Ich hab’s nicht getan. Sean Hardie davon abhalten, ihnen wehzutun.

Die Polizei verständigen. Mich in den Jahren im Gefängnis bei den Eltern entschuldigen. Mich vor lauter Scham umbringen. Ich hab’s nicht getan, flüsterte sie wieder. Aber ich hätte es tun sollen.

Ernie Sleaford behandelte sie jetzt mit mehr Respekt. Als er von dem neuen Buch erfuhr — und von der Höhe ihres Vorschusses —, wurde ihm klar, dass sie jetzt beim großen Spiel mitspielte, und er begegnete ihr nun mit neuer Hochachtung. Sogar eine Gehaltserhöhung hatte er ihr angeboten, für den Fall, dass sie daran dachte zu kündigen.

Sie hatte aber gar nicht vor zu kündigen. Ihre Arbeit machte ihr ziemlich Spaß. Außerdem amüsierte es sie so sehr, dass er jetzt immer aufstand, wenn sie sein schmuddeliges kleines Büro betrat.

«Wir brauchen noch ein Foto für die Titelseite, meine Liebe«, sagte er in sehr gesittetem Ton.»Hätten Sie was dagegen, wenn Denny Sie kurz ablichtet, oder haben Sie eins, das Sie lieber nehmen würden?« Jackie zuckte die Achseln.»Soll er mich fotografieren.

Ich war gerade beim Friseur. Dann komme ich also auch auf die Titelseite?« «O ja. Wir machen die ganze Seite über Erma Bradleys Selbstmord und seitlich eine Kolumne mit Ihrem Beitrag:

›Ich war die Letzte, die das Monster lebend sah.‹ Das wird ein hübscher Kontrast. Ihr Foto neben dem Schwabbelgesicht Erma.« «Ich fand, sie sah eigentlich recht gut aus für siebenundvierzig. Ist denn mein Bild von ihr nichts geworden?« Schockiert sah Ernie sie an.»Aber das nehmen wir doch nicht, Jackie. Wir wollen sie so im Gedächtnis behalten, wie sie war. Ein ekelhaftes, hässliches Ungeheuer, und daneben ein reines junges Ding wie Sie. So als eine Art moralischen Kommentar, dachte ich.«

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