Der Fall der Andromache von Pietro von SARA PARETSKY

Sara Paretsky (*1947) wurde in Ames/Iowa geboren und studierte an der University of Kansas in Lawrence sowie an der University of Chicago, wo sie mit einer Promotion in Geschichte abschloss. Nachdem sie sich als Verfasserin von Geschäftstexten und als Direktmarketingmanagerin einer Versicherungsgesellschaft betätigt hatte, wandte sie sich mit Indemnity Only (1982.; dt. Schadenersatz) der Belletristik zu. Zum ersten Mal tritt hier die Chicagoer Privatdetektivin V.I. Warshawski auf, eine von zwei berühmten Privatdetektivinnen, die im Epoche machenden Jahr 1982 ihr Debüt feierten. Was fiktive Spürnasen angeht, so ist Warshawski Spezialistin. Paretsky schreibt im St. James Guide to Crime & Mystery Writers (4. Auflage, 1996):»Wie vor ihr Lew Archer blickt sie tiefer und betrachtet auch die ›Kehrseite des Dollars‹, jene Seite, wo Menschen, korrumpiert durch Macht und Geld, kriminelle Entscheidungen treffen, um ihre Positionen zu sichern. Alle ihre Fälle setzen sich mit dem einen oder anderen Aspekt von Wirtschaftskriminalität auseinander, wo leitende Angestellte ohne Rücksicht auf die kleinen Leute, die für sie arbeiten, ihre Positionen festigen oder ihre Firmen stützen. «Diese allgemeine Richtung bietet Raum für die verschiedensten Themen, von der Medizin bis zur Politik, von der Religion bis zum Gesetzesvollzug.

Neben ihrer eigenen schriftstellerischen Arbeit hat Paretsky auch viel für die Förderung von Kriminalautorinnen im Allgemeinen getan, indem sie beispielsweise deren Werk in Anthologien herausgab und die höchst erfolgreichen» Sisters in Crime «gründete.

Paretsky wird seit jeher in einem Atemzug mit Sue Grafton genannt, deren Privatdetektivin Kinsey Millhone ebenfalls 1982 zum ersten Mal in Erscheinung trat. Die beiden Autorinnen sind einander vom Können her ebenbürtig, wobei Paretskys V.I. Warshawski etwas härter und politisch in jedem Fall entschiedener auftritt als Graftons Millhone. Die ständigen Vergleiche haben bei Paretsky dazu geführt, wie sie kürzlich in einem Gespräch in der Zeitschrift Crime Time gesteht, dass sie Grafton nun nicht mehr lesen kann, was sie vorher mit Vergnügen tat, weil sie befürchtet, unbewusst beeinflusst zu werden.

Wie viele Privatdetektivinnen verfügt V.I. Warshawski über ein weitläufiges Netz von Freunden, die von Buch zu Buch wiederkehren. Zwei davon, Lotty Herschel und Max Loewenthal, tauchen in» Der Fall der Andromache von Pietro «auf, einer Geschichte, die — wenn man bedenkt, wie oft sie schon in Anthologien erschienen ist —, längst den Status eines modernen Klassikers erreicht hat.

I

«Du hast dich nur wegen seiner Kunstsammlung bereit erklärt, ihn einzustellen. Da bin ich mir ganz sicher.« Lotty Herschel bückte sich, um ihre Strümpfe zurechtzuzupfen.»Und hör auf, mit den Augenbrauen zu wackeln — du siehst aus wie ein pubertärer Groucho Marx.« Gehorsam glättete Max Loewenthal seine Augenbrauen, sagte aber:»Es ist wegen deiner Beine, Lotty. Sie erinnern mich an meine Jugend. Wenn wir in den U-Bahnstationen auf das Ende des Fliegeralarms gewartet haben, haben wir uns immer die Damen angeguckt, die auf der Rolltreppe herunterkamen. Der Luftzug hat ihnen die Röcke aufgebauscht.« «Erzähl keine Geschichten, Max. Ich war auch in diesen U-Bahnstationen, und soweit ich mich erinnere, waren die Damen immer mit Mänteln und Kindern bepackt.« Max kam von der Tür herüber und legte den Arm um Lotty.

«Genau das schweißt uns zusammen, Lottchen. Ich bin ein Romantiker, und du bist durch und durch logisch.

Außerdem weißt du genau, dass wir Caudwell nicht wegen seiner Sammlung eingestellt haben. Obwohl ich sie unbedingt sehen will. Die Klinikleitung möchte am Beth Israel Hospital ein Transplantationsprogramm aufbauen.

Nur so können wir wettbewerbsfähig werden — « «Halte mir jetzt bloß keinen PR-Vortrag«, fuhr Lotty ihn an. Ihre dichten Augenbrauen zogen sich zu einer durchgehenden schwarzen Linie quer über die Stirn zusammen.»Für mich ist er ein Kretin; er hat die Hände eines Unholds und die Persönlichkeit von Attila, dem Hunnen.« Lotty engagierte sich so intensiv für die Medizin, dass für so weltliche Dinge wie Geld kein Raum blieb. Als leitender Direktor des Krankenhauses stand Max beim Kuratorium aber in der Pflicht, dass das Beth Israel profitabel wirtschaftete. Oder zumindest keine so hohen Verluste machte wie in den letzten Jahren. Man hatte Caudwell nicht zuletzt deswegen eingestellt, weil man durch ihn mehr zahlende Patienten anlocken und einen Ausgleich für die Mittellosen schaffen wollte, die immerhin zwölf Prozent der Patienten des Beth Israel ausmachten. Max fragte sich, wie lange das Krankenhaus es sich noch leisten konnte, so gegensätzliche Persönlichkeiten wie Lotty und Caudwell mit ihren radikal unterschiedlichen Auffassungen von Medizin zu beschäftigen.

Er ließ seinen Arm sinken und lächelte sie fragend an.

«Wieso hasst du ihn eigentlich so, Lotty?« « Ich muss mich den Patienten gegenüber verantworten, die ich an diesen — diesen primitiven Kerl überweise. Ist dir eigentlich klar, dass er Mrs. Mendes nicht in den Operationssaal lassen wollte, als er erfuhr, dass sie Aids hat? Dabei hätte er sich gar nicht mal selbst die Hände schmutzig machen müssen. Und er wollte auch nicht, dass ich sie operiere.« Lotty machte sich los und deutete anklagend mit dem Finger auf Max.»Du kannst es der Kommission ruhig ausrichten — wenn er mein Urteil weiterhin in Frage stellt, können sie sich bald einen neuen Perinatalmediziner suchen. Das meine ich ganz ernst. Pass heute Nachmittag genau auf, Max, ob er mich wieder ›unsere kleine Babyärztin‹ nennt oder nicht. Ich bin achtundfünfzig Jahre alt, Fellow des Royal College of Surgeons und habe so viele Referenzen, dass ich ein ganzes Krankenhaus damit versorgen könnte. Und für ihn bin ich nur die ›kleine Babyärztin‹.« Max setzte sich auf die Bettcouch und zog Lotty neben sich.

«Nein, nein, Lottchen, nicht streiten. Hör mir zu. Warum hast du mir das denn nicht früher gesagt?« «Stell dich nicht so dumm, Max. Du bist der Leiter des Krankenhauses. Ich kann mir doch nicht unser spezielles Verhältnis zunutze machen, um mit Problemen fertig zu werden, die ich mit Kollegen habe. Ich habe meine Meinung gesagt, als Caudwell zum letzten Vorstellungsgespräch kam. Einige von den anderen Ärzten waren nicht sehr glücklich über seine Haltung. Wie du dich vielleicht erinnerst, haben wir die Kommission gebeten, ihn erst einmal als Herzchirurgen einzustellen und dann nach einem Jahr zum Chefarzt zu befördern, wenn alle mit ihm zufrieden wären.« «Wir haben darüber geredet, es so zu machen«, gab Max zu.»Er wollte den Posten aber nur als Chefarzt annehmen.

Nur so konnten wir ihm so viel Geld bieten wie die Universitätskliniken oder das Humana. Und außerdem, Lotty, musst du zugeben, dass er ein erstklassiger Chirurg ist, auch wenn du ihn als Mensch nicht leiden kannst.« «Ich gebe überhaupt nichts zu. «In ihren schwarzen Augen tanzten rote Lichter.»Wenn er mich als Kollegin schon so herablassend behandelt, was glaubst du, wie er dann erst mit seinen Patienten umspringt? Man kann den Arztberuf nicht ausüben, wenn — « «Jetzt muss ich dich aber bitten, mir keinen Vortrag zu halten«, unterbrach Max sie sanft.»Aber wenn du dich so über ihn aufregst, solltest du heute Nachmittag vielleicht lieber nicht auf seine Party gehen.« «Und zugeben, dass er mich kleinkriegen kann?

Niemals.« «Na schön. «Max stand auf und legte Lotty ein üppig besticktes Wolltuch um die Schultern.»Du musst mir aber versprechen, dass du dich benimmst. Vergiss nicht, wir gehen zu einer gesellschaftlichen Veranstaltung, nicht zu einem Kampf der Gladiatoren. Caudwell will sich heute Nachmittag als Gastgeber erkenntlich zeigen, nicht dich heruntermachen.« «Von dir brauche ich keinen Benimmunterricht. Die Herschels haben den Kaisern von Österreich aufgewartet, als die Loewenthals noch Obst und Gemüse auf dem Wiener Ring verkauft haben«, sagte Lotty hochmütig.

Max lachte und küsste ihr die Hand.»Dann besinn dich auf diese noblen Herschels und benimm dich wie sie, Eure Hoheit.«

II

Als er nach Chicago gezogen war, hatte Caudwell sich eine Wohnung gekauft, ohne sie vorher zu besichtigen.

Ein geschiedener Mann, dessen Kinder das College besuchen, braucht nur auf seinen eigenen Geschmack Rücksicht zu nehmen. Er bat die Kommission des Beth Israel, ihm einen Makler zu empfehlen, und schickte diesem eine Liste mit seinen Vorstellungen: Haus aus den Zwanzigern, in der Nähe vom Michigansee, gute Sicherheitsvorkehrungen, moderne Sanitäranlagen. Dann blätterte er siebenhundertfünfzigtausend Dollar für eine Eigentumswohnung mit acht Zimmern und Seeblick an der Scott Street hin.

Da das Beth Israel das Privileg, Dr. Charlotte Herschel als Perinatalmedizinerin beschäftigen zu dürfen, anständig honorierte, hätte sie es nicht nötig gehabt, in einer Fünfzimmerwohnung ohne Aufzug am Rand der Außenviertel zu wohnen, und deshalb war es ein bisschen unfair, Max das Wort» Parvenü«zuzumurmeln, als sie die Eingangshalle betraten.

Max ließ Lotty erleichtert ihrer eigenen Wege gehen, sobald sie aus dem Aufzug ausgestiegen waren. Ihr Liebhaber zu sein war wie der Versuch, sich mit einer bengalischen Tigerin zusammenzutun: Man wusste nie, wann sie zum tödlichen Schlag ausholen würde.

Trotzdem, falls Caudwell vorhatte, sie selbst — oder ihre Haltung — zu kritisieren, musste er mit dem Chirurgen sprechen und ihm erklären, wie wichtig Lotty für den Ruf des Beth Israel war.

Die beiden Kinder von Caudwell machten ihren obligatorischen Weihnachtsbesuch. Der Junge und das Mädchen, Deborah und Steve, waren nur ein Jahr auseinander. Beide groß, beide blond und cool, besaßen sie jene unnachahmliche Lässigkeit, die man sich durch eine Kindheit auf den teuren Skipisten erwirbt. Max war nicht sehr groß, und als das eine der Kinder ihm den Mantel abnahm und das andere ihn kurz und knapp den Gästen vorstellte, spürte er, wie seine Selbstsicherheit dahinschwand. Er nahm ein Glas Spezialcuvée von einem der Kinder entgegen — war es der Junge oder das Mädchen, fragte er sich verwirrt — und flüchtete sich ins Gedränge.

Er landete neben einer der Kuratorinnen des Beth Israel, einer Frau um die Sechzig in einem grauen Minikleid, dessen schwarze Streifen aus Federn gearbeitet waren. Sie ließ sich geistreich über Caudwells Kunstsammlung aus, aber Max spürte einen feindseligen Unterton: Wohlhabende Kuratoren sehen es nicht gern, wenn das Personal mehr Geld hat als sie.

Während er in passenden Abständen die Stirn runzelte und nickte, wurde Max klar, dass Caudwell wusste, wie sehr das Krankenhaus Lotty brauchte. Herzchirurgen leiden nicht gerade unter einem unterentwickelten Ego: Wenn man sie nach den drei führenden Medizinern der Welt fragt, können sie sich nie an die Namen der beiden anderen erinnern. Lotty war eine Kapazität auf ihrem Gebiet, und auch sie war es gewohnt, ihren Kopf durchzusetzen. Und da ihr Konfrontationsstil eher an die Ardennenoffensive als an den Kaiserhof von Wien erinnerte, konnte er es Caudwell nicht verdenken, dass dieser sie aus dem Krankenhaus drängen wollte.

Max trennte sich von Martha Gildersleeve, um einige der Gemälde und Figurinen zu bewundern, von denen sie gesprochen hatte. Da er selbst chinesisches Porzellan sammelte, zog Max beeindruckt die Augenbrauen hoch und stieß beim Anblick der ausgestellten Stücke einen tonlosen Pfiff hervor. Ein kleiner Watteau und ein Aquarell von Charles Demuth, die so viel wert waren, wie das Jahresgehalt, das Caudwell vom Beth Israel bezog.

Kein Wunder, dass Mrs. Gildersleeve verärgert gewesen war.

«Beeindruckend, nicht wahr?« Max drehte sich um und sah Arthur Gioia vor sich aufragen. Max war kleiner als die meisten anderen Belegschaftsmitglieder des Beth Israel — abgesehen von Lotty. Doch Gioia, ein großer, muskulöser Immunologe, überragte alle. Er hatte ein Football-Stipendium der University of Arkansas gehabt und vor seinem Medizinstudium sogar einmal eine Saison für Houston gespielt. Es war zwar schon zwanzig Jahre her, seit er das letzte Mal Gewichte gestemmt hatte, aber sein Nacken sah immer noch aus wie ein Redwood-Stumpf.

Gioia war der Wortführer der Gruppe gewesen, die gegen Caudwells Einstellung votiert hatte. Max hatte damals vermutet, es sei wohl am ehesten darauf zurückzuführen, dass der Mediziner keinen Chirurgen als nominellen Chef haben wollte, doch nach Lottys Gefühlsausbruch war er sich nicht mehr so sicher. Er überlegte gerade, ob er den Arzt fragen sollte, was er jetzt von Caudwell hielt, nachdem er ein halbes Jahr mit ihm zusammengearbeitet hatte, als der Gastgeber zu ihm herüberkam und ihm die Hand schüttelte.

«Tut mir Leid, dass ich Sie nicht gleich gesehen habe, Loewenthal. Gefällt Ihnen der Watteau? Eins von meinen Lieblingsstücken. Obwohl man als Sammler eigentlich kein Stück bevorzugen sollte, genauso wenig wie als Vater, stimmt’s, mein Schatz?«Die letzte Bemerkung war an seine Tochter Deborah gerichtet, die hinter Caudwell getreten war und den Arm um ihn schlang.

Caudwell sah mehr wie ein viktorianischer Seebär aus als wie ein Chirurg. Er hatte ein rundes, rotes Gesicht unter einem gelblich weißen Haarschopf, ein kräftiges Nikolauslachen und eine raue, aber herzliche Art. Trotz Lottys Schmähungen war er bei seinen Patienten außerordentlich beliebt. In der kurzen Zeit, die er am Krankenhaus war, hatte sich die Anzahl der Herzoperationen um fünfzehn Prozent erhöht.

Seine Tochter kniff ihn neckisch in die Schulter.»Ich weiß, dass du keinen von uns bevorzugst, Dad, aber was deine Sammlung anbelangt, lügst du Mr. Loewenthal doch was vor. Na komm schon, du weißt, dass ich Recht habe.« Sie wandte sich Max zu.»Er hat nämlich ein Stück, auf das er so stolz ist, dass er es gar nicht herzeigen will. Er möchte nicht, dass jemand was von seinem schwachen Punkt erfährt. Aber es ist Weihnachten, Dad, sei doch locker, zeig den Leuten mal zur Abwechslung, wie du wirklich bist.« Max sah den Chirurgen neugierig an, aber Caudwell schien sich über die vertrauliche Art seiner Tochter zu freuen. Der Sohn kam dazu und verlieh dem Geschmeichel seiner Schwester eine eigene lustige Note.

«Es ist wirklich Dads ganzer Stolz. Er hat es Onkel Griffen geklaut, als Großvater starb, und Mutter daran gehindert, es sich unter den Nagel zu reißen, als sie sich trennten.« Dagegen hatte Caudwell nun doch etwas einzuwenden.

«Du vermittelst meinen Kollegen noch einen ganz falschen Eindruck von mir, Steve. Ich habe es Grif nicht geklaut. Ich habe ihm gesagt, er kann den restlichen Besitz haben, wenn er mir den Watteau und die Skulptur von Pietro überlässt.« «Natürlich hätte er sich mit dem Erlös zehn solche Anwesen kaufen können«, murmelte Steve seiner Schwester über Max’ Kopf hinweg zu.

Deborah ließ den Arm ihres Vaters los, lehnte sich über Max und flüsterte zurück:»Mom auch.« Max wich vor diesem beunruhigenden Pärchen zurück und sagte zu Caudwell:»Ein Pietro? Sie meinen Pietro d’Alessandro? Haben Sie ein Modell oder tatsächlich eine echte Skulptur?« Caudwell stieß sein abgehacktes Admiralslachen aus.

«Eine waschechte Skulptur, Loewenthal. Waschecht. Eine Alabasterskulptur.« «Eine Alabasterskulptur?«Max zog erstaunt die Augenbrauen hoch.»Das kann doch nicht sein. Ich dachte, Pietro hat nur in Bronze und Marmor gearbeitet.« «Ja, ja«, kicherte Caudwell und rieb sich die Hände.

«Das denkt jeder, aber es gab tatsächlich ein paar Alabasterskulpturen in privaten Sammlungen. Ich habe mir von Fachleuten die Echtheit bestätigen lassen.

Kommen Sie, schauen Sie sie sich ruhig an — das wird Ihnen den Atem verschlagen. Sie auch, Gioia, kommen Sie mit«, bellte er den Immunologen an.»Sie sind doch Italiener, da interessiert es Sie sicher, was Ihre Altvorderen so getrieben haben.« «Eine Alabasterskulptur von Pietro?«Lottys schneidender Ton ließ Max zusammenzucken. Er hatte nicht bemerkt, dass sie sich zu ihnen gesellt hatte.»Ich würde das Stück sehr gern sehen.« «Dann kommen Sie doch mit, Dr. Herschel, kommen Sie ruhig mit. «Caudwell führte sie in einen kleinen Flur, wechselte im Vorbeigehen einige freundliche Worte mit seinen Gästen, zeigte ihnen eine Miniatur von William Hill, die ihnen vielleicht entgangen wäre, und versammelte noch einige weitere Leute um sich, die sich aus unterschiedlichen Gründen für sein kostbarstes Stück interessierten.

«Übrigens, Gioia, ich war letzte Woche in New York und habe dort einen alten Freund von Ihnen aus Arkansas kennen gelernt. Paul Nierman.« «Nierman?«Gioia schien ratlos.»Ich fürchte, ich erinnere mich nicht mehr an ihn.« «Tja, er hat sich aber ziemlich gut an Sie erinnert. Lässt Ihnen alles Mögliche ausrichten — Sie müssen am Montag bei mir im Büro vorbeikommen und sich die ganze Ladung abholen.« Caudwell öffnete eine Tür auf der rechten Seite des Flurs und führte die anderen in sein Arbeitszimmer. Es war ein achteckiger Raum, aus einer Gebäudeecke geschnitten.

Auf zwei Seiten gingen Fenster auf den Michigansee hinaus. Caudwell zog die lachsfarbenen Vorhänge zu, während er ihnen erklärte, weshalb er den Raum als Arbeitszimmer gewählt hatte, obwohl die Aussicht ihn von der Arbeit ablenkte.

Lotty beachtete ihn gar nicht und ging zu einem kleinen Sockel hinüber, der ganz für sich vor einer holzgetäfelten Wand stand. Max folgte ihr und warf einen ehrfürchtigen Blick auf die Skulptur. Außer in einem Museum hatte er nur selten ein so schönes Stück gesehen. Die Skulptur war gut dreißig Zentimeter hoch und stellte eine Frau in klassischen Gewändern dar, die sich gramvoll über die Leiche eines Soldaten zu ihren Füßen beugte. Der Schmerz in ihrem schönen Gesicht war so ergreifend, dass er den Betrachter an jeden Kummer erinnerte, den er selbst schon durchgemacht hatte.

«Wen stellt sie dar?«, fragte Max wissbegierig.

«Andromache«, sagte Lotty mit erstickter Stimme.

«Andromache, die um Hektor trauert.« Max starrte Lotty überrascht an, erstaunt über ihre emotionale Reaktion und dass sie über die Skulptur Bescheid wusste — Lotty interessierte sich sonst absolut nicht für Bildhauerei.

Caudwell konnte sich das selbstgefällige Grinsen des Sammlers, der eine Trouvaille gemacht hatte, nicht verkneifen.»Schön, nicht? Woher kennen Sie das Thema?« «Das sollte ich ja wohl kennen. «Lottys Stimme war vor Erregung ganz heiser.»Meine Großmutter hatte so eine Skulptur von Pietro. Eine Alabasterskulptur, die Kaiser Joseph II. ihrem Urgroßvater für seine Bemühungen um die Festigung der kaiserlichen Beziehungen zu Polen geschenkt hatte.« Hastig riss sie die Skulptur vom Sockel, ohne auf Max’ erschreckte Reaktion zu achten, und drehte sie um.»Man kann die Reste des kaiserlichen Siegels noch erkennen.

Und die Macke an Hektors Fuß, die die Habsburger überhaupt erst bewog, die Skulptur wegzugeben. Wieso haben Sie dieses Stück? Wo haben Sie es gefunden?« Die kleine Gruppe, die sich Caudwell angeschlossen hatte, stand schweigend an der Tür, erschrocken über Lottys Gefühlsausbruch. Gioia sah noch entsetzter aus als die anderen, doch war ihm Lotty sowieso immer zu viel – er war wie ein Elefant, der sich mit einer aggressiven Maus konfrontiert sieht.

«Ich finde, Sie lassen sich hier von Ihren Gefühlen überwältigen, Dr.

Herschel. «Caudwell behielt seinen lockeren Tonfall bei, wodurch Lotty im Vergleich noch unbeholfener wirkte.»Ich habe dieses Stück von meinem Vater geerbt, der es — völlig legal — in Europa gekauft hat.

Vielleicht von — Ihrer Großmutter. Aber wahrscheinlich verwechseln Sie die Skulptur mit einer anderen, die Sie als Kind im Museum gesehen haben.« Deborah stieß ein spitzes Lachen aus und rief ihrem Bruder mit lauter Stimme zu:»Dad hat sie vielleicht von Onkel Grif gestohlen, aber es sieht ganz so aus, als hätte Großvater sie auch schon geklaut.« «Sei still, Deborah«, blaffte Caudwell sie an.

Seine Tochter schenkte ihm keine Beachtung. Sie lachte wieder und gesellte sich zu ihrem Bruder, um das kaiserliche Siegel auf der Unterseite der Skulptur zu betrachten.

Lotty schob die beiden beiseite.» Ich soll das Siegel von Joseph II. verwechseln?«, zischte sie Caudwell an.»Oder die Macke an Hektors Fuß? Hier sieht man sogar noch den Riss, wo irgendein Banause das fehlende Stück wieder angefügt hat. Jemand, der glaubte, er könnte dadurch den Wert von Pietros Werk erhöhen. Waren Sie das, Doktor?

Oder Ihr Vater?« «Lotty. «Max stand neben ihr, entwand die Skulptur sanft ihren zitternden Händen und stellte sie wieder auf den Sockel.»Lotty, dies ist weder der richtige Ort noch die richtige Art, solche Dinge zu besprechen.« Tränen der Wut glitzerten in ihren schwarzen Augen.

«Zweifelst du etwa an dem, was ich sage?« Max schüttelte den Kopf.»Ich zweifle nicht an dir. Aber ich unterstütze dich auch nicht. Ich bitte dich nur, hier nicht so über diese Sache zu sprechen.« «Aber Max — dieser Mann oder sein Vater ist ein Dieb!« Caudwell schlenderte zu Lotty hinüber und kniff sie ins Kinn.

«Sie arbeiten zu viel, Dr.

Herschel. Sie haben im Moment zu viel um die Ohren. Ich glaube, die Kommission würde es begrüßen, wenn Sie ein paar Wochen Urlaub nehmen, irgendwohin fahren, wo es warm ist, und sich etwas ausruhen. Wenn Sie so angespannt sind, haben Ihre Patienten doch nichts davon. Was meinen Sie dazu, Loewenthal?« Max sagte nichts von dem, was er eigentlich sagen wollte — dass er Lotty unmöglich und Caudwell unerträglich fand. Er glaubte Lotty, glaubte, dass die Skulptur ihrer Großmutter gehört hatte. Denn erstens wusste sie zu viel darüber, und zweitens waren viele Kunstwerke, die früher europäischen Juden gehört hatten, heute in Museen und privaten Sammlungen auf der ganzen Welt verstreut. Es war also nur ein scheußlicher Zufall, dass die Skulptur von Pietro ausgerechnet im Besitz von Caudwells Vater gelandet war.

Aber wie kam Lotty dazu, die Angelegenheit auf eine Art anzusprechen, die alle Anwesenden gegen sie aufbringen musste? Er konnte sie in einer solchen Situation keinesfalls unterstützen. Gleichzeitig weckte die gönnerhafte Geste, mit der Caudwell sie ins Kinn gekniffen hatte, in ihm den Wunsch, die Regeln des Anstands abzuschütteln und den Chirurgen k.o. zu schlagen — wenn er bloß zehn Jahre jünger und ein gutes Stück größer gewesen wäre.

«Es ist wohl nicht der richtige Ort und der richtige Zeitpunkt, um über solche Dinge zu reden«, wiederholte er so beherrscht wie möglich.»Beruhigen wir uns lieber alle und unterhalten uns am Montag noch mal darüber, ja?« Lotty schluckte unwillkürlich und rauschte dann aus dem Zimmer, ohne sich auch noch einmal umzudrehen.

Max weigerte sich, ihr nachzugehen. Er war so wütend auf sie, dass er sie an diesem Nachmittag nicht mehr sehen wollte. Als er sich etwa eine Stunde später auf den Weg machte, nach einem langen Gespräch mit Caudwell, das seine kultivierten Umgangsformen auf eine harte Probe gestellt hatte, erfuhr er erleichtert, dass Lotty längst gegangen war. Die Nachricht von ihrem Gefühlsausbruch hatte sich unter den Anwesenden natürlich wie ein Lauffeuer verbreitet. Er fühlte sich nicht imstande, sie etwa gegenüber Martha Gildersleeve zu verteidigen, die während der Fahrt im Aufzug eine Erklärung von ihm verlangte.

Er kehrte zu einem einsamen Abend in sein Haus in Evanston heim. Normalerweise genoss er Stunden wie diese, in denen er in seinem Arbeitszimmer Musik hörte, mit ausgezogenen Schuhen auf dem Sofa lag, Geschichtsbücher las und dabei die Wellen vom See heraufschwappen hörte.

An diesem Abend jedoch kam er nicht zur Ruhe. Sein Zorn auf Lotty ging über in Bilder des Grauens, die Erinnerungen an seine eigene auseinander gerissene Familie, die Suche nach seiner Mutter quer durch ganz Europa. Er hatte nie jemanden gefunden, der genau wusste, was aus ihr geworden war, obwohl mehrere Leute ihm mit Gewissheit sagen konnten, dass sein Vater Selbstmord begangen hatte. Und über diesen Gedankenfetzen lag das beunruhigende Bild von Caudwells Kindern, wie sie, den blonden Kopf im selben Winkel zurückgeworfen, hämisch im Chor sangen:

«Grandpa war ein Dieb, Grandpa war ein Dieb«, während Caudwell seine Gäste aus dem Arbeitszimmer schob.

Bis zum Morgen musste er sich wieder so weit gefasst haben, dass er Lotty und der unvermeidlichen Flut von Anrufen erzürnter Kuratoren entgegentreten konnte. Er würde sich etwas überlegen müssen, womit er Caudwells Eitelkeit besänftigen konnte, die allerdings mehr durch das Verhalten seiner Kinder verletzt war als durch das, was Lotty gesagt hatte. Und er musste einen Weg finden, wie er beide wichtigen Ärzte am Beth Israel Hospital halten konnte.

Max fuhr sich durch das graue Haar. Von Woche zu Woche bereitete ihm seine Arbeit weniger Freude und mehr Kopfschmerzen. Vielleicht war es an der Zeit, abzutreten und einem jungen Wirtschaftsfachmann Platz zu machen, der die Finanzen des Beth Israel sanieren würde. Lotty würde dann kündigen und damit den Spannungen zwischen ihr und Caudwell ein Ende setzen.

Max schlief auf dem Sofa ein. Gegen fünf Uhr wachte er davon auf, dass er» bis zum Morgen, bis zum Morgen« murmelte. Seine Gelenke waren vor Kälte ganz steif und seine Augen verklebt von den Tränen, die er im Schlaf geweint hatte.

Aber am Morgen war alles ganz anders. Als Max in seinem Büro ankam, herrschte dort helle Aufregung, jedoch nicht über Lottys Gefühlsausbruch, sondern weil Caudwell nicht zu einer für den frühen Morgen angesetzten Operation erschienen war. Die Arbeit kam mittags fast völlig zum Erliegen, als seine Kinder anriefen und sagten, sie hätten den Chirurgen erdrosselt in seinem Arbeitszimmer gefunden und außerdem fehle die Andromache von Pietro. Am Dienstag nahm die Polizei Dr.

Charlotte Herschel wegen des Mordes an Lewis Caudwell fest.

III

Lotty wollte mit niemandem sprechen. Sie war wieder auf freiem Fuß, gegen eine Kaution von zweihundertfünfzigtausend Dollar. Max hatte das Geld aufgebracht, doch sie hatte sich nach zwei Nächten im Bezirksgefängnis sofort in ihre Wohnung an der Sheffield Avenue begeben, ohne sich vorher bei ihm zu bedanken.

Sie wollte nicht mit Reportern reden, schwieg bei der Polizei und weigerte sich nachdrücklich, mit der Detektivin zu sprechen, mit der sie schon seit Jahren eng befreundet war.

Auch Max hatte sich hinter eine undurchdringliche Mauer des Schweigens zurückgezogen. Während Lotty auf unbefristete Zeit Urlaub nahm und ihre Patienten an eine Reihe von Kollegen überwies, ging Max weiterhin jeden Tag ins Krankenhaus. Doch auch er wollte nicht mit den Reportern sprechen. Er sagte nicht einmal» Kein Kommentar«. Mit der Polizei redete er erst, als man ihm drohte, ihn als Hauptzeugen zu verhaften, und selbst dann musste man ihm noch jedes Wort mühsam abringen, als wäre sein Mund der Stein und das Wort Excalibur. Drei Tage lang hinterließ V.I. Warshawski Nachrichten für ihn, ohne dass er sich bei ihr meldete.

Als am Freitag keine Nachricht mehr von der Detektivin kam, in der Herrentoilette kein Reporter mehr auf ihn zusprang, um ihn fintenreich zum Reden zu bringen, und keine Anrufe mehr vom Staatsanwalt kamen, fühlte sich Max bei der Heimfahrt zum ersten Mal wieder etwas entspannt. Sobald das Verfahren vorbei war, würde er in den Ruhestand gehen und nach London ziehen. Wenn er nur bis dahin durchhielt, wäre alles — nicht direkt gut, aber doch zumindest erträglich.

Er öffnete das Garagentor mit der Fernbedienung und steuerte den Wagen vorsichtig in die schmale Lücke. Beim Aussteigen erkannte er bitter, dass er zu optimistisch gewesen war, als er geglaubt hatte, man würde ihn in Frieden lassen. Er hatte die Frau nicht gesehen, die auf dem Treppenabsatz zwischen Garage und Küche saß und sich aufrichtete, als er näher kam.

«Bin ich froh, dass du da bist — ich wäre hier fast erfroren.« «Wie bist du in die Garage gekommen, Victoria?« Die Detektivin grinste auf eine Art, die er normalerweise gewinnend fand, die ihn jetzt aber an ein Raubtier erinnerte,»Berufsgeheimnis, Max. Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst, aber ich muss mit dir sprechen.« Er schloss die Tür zur Küche auf.»Wieso bist du nicht einfach ins Haus gegangen, wenn dir kalt war? Wenn du es mit deinem Gewissen vereinbaren kannst, in die Garage einzubrechen, wieso dann nicht gleich ins Haus?« Sie biss sich erst etwas verlegen auf die Lippe und sagte dann leichthin:»Ich konnte nicht richtig mit dem Dietrich hantieren, meine Hände waren zu kalt.« Die Detektivin folgte ihm ins Haus. Auch so ein Riesenmonster — einsdreiundsiebzig, athletisch, leichtfüßig hinter ihm. Vielleicht mischten amerikanische Mütter ihren Kindern Hormone und Steroide unter die Cornflakes.

Er musste Lotty fragen. Bei dem Gedanken zuckte er zusammen.

«Ich habe natürlich mit der Polizei gesprochen«, fuhr die helle Altstimme hinter ihm unbeirrt fort und ignorierte einfach die ausgesuchte Unhöflichkeit, mit der er sich einen Cognac einschenkte, die Schuhe auszog, in seine Pantoffeln schlüpfte und über den Flur zur Haustür schlurfte, um die Post zu holen.

«Ich verstehe, warum sie Lotty festgenommen haben – Caudwell ist mit einer ganzen Menge Beruhigungsmittel betäubt und erdrosselt worden, während er noch dahindämmerte. Außerdem war sie Sonntagnacht noch mal bei seinem Wohngebäude. Sie will nicht sagen warum, aber einer von den Mietern hat sie als die Frau identifiziert, die ihm so etwa gegen zehn am Lieferanteneingang begegnete, als er mit dem Hund spazieren ging. Sie will nicht sagen, ob sie mit Caudwell gesprochen hat, ob er sie hereingelassen hat und ob er da noch am Leben war.« Max versuchte, ihre klare Stimme zu ignorieren. Als ihm das nicht gelang, versuchte er eine Zeitschrift zu lesen, die mit der Post gekommen war.

«Und die Kinder — das sind vielleicht Typen, was? Wie aus einer Freakshow. Mit mir wollen sie nicht reden, aber Murray Ryerson vom Star haben sie ein langes Interview gegeben.

Nachdem Caudwells Gäste weg waren, sind sie an der Chestnut Street Station ins Kino, haben danach eine Pizza gegessen und sind dann noch in eine Disko an der Division Street gegangen. So gegen zwei Uhr morgens sind sie nach Hause gekommen — der Pförtner hat es bestätigt — und haben im Arbeitszimmer ihres Vaters Licht gesehen. Sie waren allerdings nicht besonders scharf darauf, noch mit ihm zu reden, weil er immer

überreagierte — ihr Ausdruck —, wenn sie einen sitzen hatten. Also sind sie nicht mehr hinein, um ihm gute Nacht zu sagen. Sie haben ihn erst gegen Mittag gefunden, nachdem sie aufgestanden und ins Arbeitszimmer gegangen waren.« Während V.I. dies sagte, war sie Max vom Flur zur Tür seines Arbeitszimmers gefolgt. Er blieb unschlüssig stehen, weil er nicht wollte, dass sie mit ihrer hartnäckigen Presslufthammerstimme in seinen Privatbereich eindrang.

Also ging er schließlich über den Flur in sein selten genutztes Wohnzimmer hinüber. Er setzte sich steif auf einen der Brokatsessel und sah sie abweisend an, als sie auf der Kante des zweiten Sessels Platz nahm.

«Der Schwachpunkt in der Geschichte der Polizei ist die Skulptur«, fuhr V.I. fort.

Skeptisch beäugte sie den Perserteppich, machte den Reißverschluss an ihren Stiefeln auf und stellte sie auf die Klinker vor dem Kamin.

«Alle, die auf der Party waren, sind sich darüber einig, dass Lotty völlig außer sich war. Inzwischen hat sich die Geschichte so weit herumgesprochen, dass sogar Leute, die gar nicht in der Wohnung waren, als sie sich die Skulptur ansah, schwören, sie hätten gehört, wie sie drohte, ihn umzubringen. Aber wenn das der Fall ist, was ist dann aus der Skulptur geworden?« Max’ leichtes Achselzucken sollte sein völliges Desinteresse an dem Thema bekunden.

V.I. ließ nicht locker.»Nun glauben manche Leute, sie könnte sie einem Freund oder Verwandten gegeben haben, der sie für sie aufbewahrt, bis sie vor Gericht freigesprochen wird. Und diese Leute denken, dass entweder ihr Onkel Stefan hier in Chicago, ihr Bruder Hugo in Montreal oder du dafür in Frage kommen. Also haben die Mounties Hugos Wohnung durchsucht und halten ein Auge auf seine Post. Und die Polizei in Chicago macht hier bei Stefan dasselbe. Und vermutlich war hier auch schon jemand mit einem Haussuchungsbefehl, oder?« Max sagte nichts, spürte aber, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Die Polizei im Haus, die seine Sachen durchwühlte? Würden sie ihn denn nicht zuerst um Erlaubnis bitten müssen? Oder nicht? Victoria wüsste es, doch er konnte sich einfach nicht dazu durchringen, sie zu fragen. Sie wartete einige Minuten, aber als er immer noch nichts sagte, redete sie weiter. Er sah, dass es ihr zusehends schwerer fiel, kam ihr jedoch nicht entgegen.

«Aber ich bin anderer Meinung als diese Leute. Weil ich weiß, dass Lotty unschuldig ist. Und deswegen bin ich hier. Nicht wie ein Aasgeier, wie du denkst, der sich an deinem Unglück weidet. Sondern um dich dazu zu kriegen, dass du mir hilfst. Lotty will nicht mit mir reden, und wenn es ihr so mies geht, will ich sie auch nicht dazu zwingen. Aber du, Max, du wirst doch nicht einfach hier rumsitzen und zusehen, wie sie wegen etwas verknackt wird, was sie nicht getan hat.« Max sah sie nicht an. Er merkte überrascht, dass er den Cognacschwenker in der Hand hielt, und stellte ihn behutsam auf dem Tisch neben sich ab.

«Max!«Ihre Stimme klang höchst verwundert.»Das ist doch nicht zu fassen. Du glaubst also, dass sie Caudwell umgebracht hat.« Max errötete ein wenig, aber endlich war es ihr geglückt, ihm eine Antwort zu entlocken.»Und du bist der Allwissende, der auch weiß, dass sie es nicht getan hat?« «Jedenfalls weiß ich mehr als du«, herrschte V.I. ihn an.

«Ich kenne Lotty zwar noch nicht so lange wie du, aber ich weiß, wann sie die Wahrheit sagt.« «Also bist du doch der Allwissende. «Max verneigte sich voll Ironie.»Du siehst über die bloßen Tatsachen hinaus bis in die tiefste Seele von Mann und Frau.« Er rechnete mit einem weiteren Gefühlsausbruch der jungen Frau, doch sie sah ihn nur unverwandt an und schwieg. Ihr Blick war so verständnisvoll, dass Max sich für seinen Sarkasmus schämte und mit dem herausplatzte, was ihm auf der Seele lag.

«Was soll ich denn sonst glauben? Sie hat mir nichts gesagt, aber es besteht kein Zweifel daran, dass sie Sonntagnacht noch einmal in seine Wohnung zurückgekehrt ist.« Jetzt war es an V.I., sarkastisch zu werden.»Mit einem kleinen Fläschchen Beruhigungsmittel, das sie ihm irgendwie eingeflößt hat? Und dann hat sie ihn obendrein noch erdrosselt? Komm schon, Max, du kennst Lotty doch. Die Ehrlichkeit folgt ihr wie ein Schatten. Wenn sie Caudwell tatsächlich umgebracht hätte, hätte sie etwa gesagt: ›Jawohl, ich habe dem Widerling den Schädel eingeschlagen.‹ Stattdessen sagt sie überhaupt nichts.« Plötzlich weiteten sich die Augen der Detektivin ungläubig.

«Aber natürlich. Sie denkt, du hast Caudwell umgebracht. Du tust das einzig Mögliche, um sie zu decken — du schweigst. Und sie tut dasselbe. Was für ein bewundernswertes Paar mittelalterlicher Ritter ihr doch abgebt!« «Nein!«, erwiderte Max heftig.»Das ist nicht möglich.

Wie könnte sie so etwas glauben? Sie hat sich so unmöglich aufgeführt, dass es mir peinlich war, neben ihr zu stehen. Ich wollte sie nicht mehr sehen und nicht mehr mit ihr sprechen. Deswegen fühle ich mich auch so elend.

Wenn ich nur nicht so stur gewesen wäre, wenn ich sie doch nur am Sonntagabend noch angerufen hätte. Wie kann sie glauben, dass ich ihr zuliebe jemanden umbringen würde, wo ich doch so wütend auf sie war?« «Warum sonst sagt sie zu keinem was?«, wollte Warshawski wissen.

«Vielleicht aus Scham«, erwiderte Max.»Du hast sie am Sonntag nicht erlebt. Ich schon. Deshalb glaube ich, dass sie ihn umgebracht hat, und nicht, weil irgendwer sie ins Gebäude gelassen hat.« Seine braunen Augen verengten sich bei dem Gedanken.

«Ich habe Lotty schon oft voll Zorn gesehen, öfter, als mir lieb ist, glaub mir. Aber noch nie, nie habe ich sie in einer so hemmungslosen Wut erlebt. Man konnte einfach nicht mit ihr reden. Unmöglich.« Die Detektivin erwiderte nichts darauf. Stattdessen sagte sie:»Erzähl mir von der Skulptur. Ich habe schon einige etwas verworrene Aussagen von Leuten gehört, die auf der Party waren, aber ich habe bis jetzt noch mit keinem gesprochen, der mit im Arbeitszimmer war, als Caudwell sie euch gezeigt hat. Was meinst du — hat sie früher wirklich ihrer Großmutter gehört? Und wenn ja, wie ist Caudwell dann daran gekommen?« Max nickte bekümmert.»Ach ja, sie hat wirklich einmal ihrer Familie gehört. Davon bin ich überzeugt. Sie konnte schließlich nicht im Voraus von den Details Bescheid wissen, von der Macke am Fuß und dem kaiserlichen Siegel auf der Unterseite. Und zu der Frage, wie Caudwell dazu gekommen ist — damit habe ich mich gestern selbst ein bisschen beschäftigt. Sein Vater war nach dem Krieg mit der Besatzungsarmee in Deutschland, als Chirurg unter Patton. Leute in solchen Positionen hatten nach dem Krieg unzählige Möglichkeiten, an Kunstwerke zu gelangen.« V.I. schüttelte fragend den Kopf.

«Du hast sicher davon gehört, Victoria. Oder vielleicht auch nicht. Du weißt, dass sich die Nazis jede Menge Kunstwerke unter den Nagel gerissen haben, die Juden im ganzen besetzten Europa gehörten. Und nicht nur Juden – ganz Osteuropa haben sie im großen Stil geplündert.

Vorsichtig geschätzt, haben sie etwa sechzehn Millionen Stücke gestohlen — Skulpturen, Gemälde, Altarbilder, Gobelins, seltene Bücher. Die Liste sprengt jede Vorstellungskraft.« Die Detektivin schluckte.»Sechzehn Millionen! Du machst Witze.« «Das ist kein Witz, Victoria. Ich wünschte, es wäre so, aber es ist keiner. Die amerikanische Besatzungsmacht hat in den besetzten Gebieten so viele Kunstwerke beschlagnahmt, wie sie bekommen konnte. Theoretisch sollten sie die rechtmäßigen Besitzer ausfindig machen und sie ihnen möglichst zurückgeben. In der Praxis fand man aber nur sehr wenige Stücke wieder, und viele landeten auf dem Schwarzmarkt.

Man brauchte lediglich zu behaupten, ein Kunstwerk sei weniger als fünftausend Dollar wert, und schon durfte man es kaufen. Für einen Offizier, der unter Patton diente, gab es unzählige Gelegenheiten zu fabelhaften Erwerbungen.

Caudwell sagte, er habe die Echtheit der Skulptur überprüfen lassen, aber natürlich machte er sich nie die Mühe, ihre Herkunft zu erforschen. Wie sollte er auch?«, schloss Max bitter.»Lottys Familie hatte eine Schenkungsurkunde vom Kaiser, aber die ist sicher längst verschwunden, zusammen mit dem anderen Vermögen.« «Und du glaubst wirklich, dass Lotty einen Mann umgebracht hätte, nur um wieder an diese Skulptur zu kommen? Schließlich konnte sie nicht damit rechnen, sie behalten zu können. Jedenfalls nicht, wenn sie jemanden dafür umgebracht hätte.« «Du bist so rational, Victoria. Manchmal bist du so logisch, dass du nicht verstehst, warum Menschen das tun, was sie tun. Es ging nicht einfach nur um irgendeine Skulptur. Sicher, als Kunstwerk ist sie unbezahlbar, aber du kennst doch Lotty, du weißt, dass sie sich aus solchen Besitztümern nichts macht. Nein, die Skulptur bedeutete für sie ihre Familie, ihre Vergangenheit, ihre Geschichte, alles, was der Krieg für immer zerstört hat. Du darfst nicht glauben, dass diese Dinge sie nicht belasten, bloß weil sie nie darüber spricht.« V.I. errötete bei diesem Vorwurf.»Du solltest froh sein, dass ich logisch denke. Das bringt mich nämlich zu der Überzeugung, dass Lotty unschuldig ist. Und ob du’s glaubst oder nicht — ich werde es beweisen.« Max zog auf typisch europäische Art die Schultern hoch.

«Wir alle unterstützen Lotty, so gut wir eben können. Ich habe mich um die Kaution gekümmert und werde ihr einen guten Anwalt besorgen. Und ich glaube kaum, dass sie dich braucht, um ihre innersten Geheimnisse zu offenbaren.« V.I.s graue Augen verdunkelten sich plötzlich in einem Anflug von Zorn.»Du täuschst dich gewaltig über Lotty.

Ich glaube gern, dass man den Schmerz des Krieges nie verwindet, aber Lotty lebt in der Gegenwart, und sie arbeitet in der Hoffnung auf die Zukunft. Die Vergangenheit verfolgt sie nicht so und frisst sie nicht so auf wie vielleicht dich.« Max erwiderte nichts. Er kniff seinen breiten Mund zu einer dünnen Linie zusammen. Die Detektivin legte ihm zerknirscht die Hand auf den Arm.

«Entschuldige, Max. Das war unter der Gürtellinie.« Er zwang sich zu einem gequälten Lächeln.

«Vielleicht hast du Recht. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich diese uralten Dinge so liebe. Ich wünschte, ich könnte dir das mit Lotty glauben. Frag mich, was du wissen willst. Wenn du mir versprichst, mich in Ruhe zu lassen, sobald ich dir geantwortet habe, und mich nicht mehr zu belästigen, beantworte ich dir deine Fragen.«

IV

Pflichtschuldig ließ Max sich am Montagnachmittag auf der Beisetzung von Lewis Caudwell in der Michigan Avenue Presbyterian Church blicken. Auch die Exfrau des Chirurgen war erschienen, zusammen mit ihren Kindern und Griffen, dem Bruder ihres Mannes. Selbst nach drei Jahrzehnten in Amerika fand Max das Verhalten der Einheimischen immer noch verwirrend: Wenn Caudwell und seine Exfrau geschieden waren — warum trug sie trotzdem Schwarz? Sie hatte sogar einen Hut mit Schleier auf, der an Queen Victoria erinnerte.

Die Kinder führten sich leidlich anständig auf, doch das Mädchen trug ein weißes, mit schwarzen Blitzen gemustertes Kleid, das wohl besser in eine Disko oder an einen Urlaubsort gepasst hätte. Vielleicht war es ihr einziges Kleid oder vielleicht das einzige, in dem Schwarz vorkam, dachte Max, der sich bemühte, die blonde Amazone mit Wohlwollen zu betrachten — immerhin war sie gerade auf schrecklichem und unerwartetem Wege Waise geworden.

Obwohl Deborah in der Stadt wie auch in der Kirche fremd war, hatte sie einen der Kirchensäle anmieten können und auch jemanden gefunden, der für Kaffee und einen leichten Imbiss sorgte. Max schloss sich dem Rest der Trauergemeinde nach dem Gottesdienst an.

Er kam sich ziemlich absurd vor, als er der geschiedenen Witwe kondolierte. Vermisste sie den Verstorbenen denn tatsächlich so sehr? Sie nahm seine höflichen Beileidsbezeugungen mit melancholischer Anmut entgegen und stützte sich leicht auf ihren Sohn und ihre Tochter. Die umsorgten sie reichlich übertrieben, fand Max. Neben ihrer Tochter wirkte Mrs.

Caudwell so zerbrechlich und unterernährt wie ein Geist. Oder vielleicht besaßen ihre Kinder auch nur eine derart überschäumende Vitalität, die sich nicht einmal durch eine Beerdigung eindämmen ließ.

Caudwells Bruder Griffen hielt sich so nahe bei der Witwe, wie die Kinder es zuließen. Er war ganz anders als der kernige Seebär von einem Chirurgen. Max hätte sie nie für Verwandte gehalten, wenn er die Brüder nebeneinander gesehen hätte. Griffen war groß, wie seine Nichte und sein Neffe, aber nicht so robust wie sie.

Caudwell hatte einen dichten, gelblich weißen Haarschopf gehabt, auf Griffens gewölbtem Kopf wuchsen dagegen nur ein paar schüttere graue Strähnen. Er wirkte schwach und nervös, und ihm ging Caudwells leutselige Jovialität ab. Kein Wunder, dass es dem Chirurgen leicht gefallen war, die Regelung des väterlichen Erbes zu seinen Gunsten zu entscheiden. Max fragte sich, was Griffen wohl als Gegenleistung bekommen hatte.

Mrs. Caudwells unzusammenhängende, wahllose

Äußerungen deuteten darauf hin, dass sie unter dem Einfluss starker Beruhigungsmittel stand. Auch das war irgendwie seltsam. Seit vier Jahren lebte sie nicht mehr mit dem Mann zusammen und war über seinen Tod so erschüttert, dass sie die Beerdigung nur unter Drogen durchstehen konnte? Oder vielleicht war es die Scham darüber, nur als geschiedene Frau und nicht als echte Witwe daran teilzunehmen? Aber warum war sie dann überhaupt gekommen?

Max stellte verärgert fest, dass er diese Fragen eigentlich gern Victoria gestellt hätte. Sie hätte sicher irgendeine zynische Erklärung auf Lager gehabt — Caudwells Tod bedeutete für die Witwe das Ende der Unterhaltszahlungen, und sie wusste, dass er sie im Testament nicht bedacht hatte. Oder sie hatte ein Verhältnis mit Griffen und fürchtete, sich ohne die Beruhigungsmittel zu verraten. Obwohl man sich Griffen nicht so recht als Objekt einer starken Begierde vorstellen konnte.

Da er Victoria am Freitag zum Abschied gesagt hatte, er wolle sie nicht mehr sehen, war es lächerlich von ihm, sich zu fragen, was sie wohl tat, ob sie tatsächlich Beweise entdeckte, die Lotty von jeglichem Verdacht befreien würden. Seit sie ihn verlassen hatte, spürte er ein leichtes Flackern der Hoffnung in der Magengrube. Er versuchte immer wieder, es zu unterdrücken, aber es wollte einfach nicht ganz verschwinden.

Lotty war natürlich nicht zur Beisetzung gekommen, aber fast alle anderen Beschäftigten des Beth Israel sowie die Kuratoren waren anwesend. Arthur Gioia, der mit seinem massigen Körper den kleinen Empfangssaal fast allein ausfüllte, bemühte sich um ein taktvolles Gleichgewicht zwischen Aufrichtigkeit und Höflichkeit gegenüber der Familie des Verstorbenen. Es fiel ihm nicht leicht.

Martha Gildersleeve erschien im Zobel und wirkte an Gioias Arm fast wie ein kleiner pelziger Fußball, den er sich unter die Achsel geklemmt hatte. Sie machte der trauernden Familie gegenüber geistreiche, aber unpassende Bemerkungen über den weiteren Verbleib von Caudwells Kunstsammlung.

«Die berühmte Skulptur ist jetzt natürlich weg. Wie schade. Allein mit dem Erlös aus dem Verkauf dieses einen Stückes hätte man einen Lehrstuhl zu seinen Ehren einrichten können. «Sie lachte schrill und sinnlos.

Max warf einen verstohlenen Blick auf seine Uhr und überlegte, wie lange er höflichkeitshalber wohl noch bleiben musste. Sein sechster Sinn, die perfekte Höflichkeit, die ihn bei all seinen Handlungen leitete, hatte ihn im Stich gelassen, so dass er genauso unbeholfen war wie gewöhnliche Sterbliche auch. Er schaute bei gesellschaftlichen Anlässen sonst nie auf die Uhr, und bei jeder anderen Beisetzungsfeier hätte er Martha Gildersleeve geschickt von ihrem Opfer abgelenkt.

Stattdessen stand er nun hilflos dabei, während sie Mrs. Caudwell und die anderen Anwesenden quälte.

Er sah erneut auf die Uhr. Seit dem letzten Blick waren gerade zwei Minuten vergangen. Kein Wunder, dass die meisten Leute bei langweiligen Veranstaltungen ständig auf die Uhr schauten: Sie konnten es einfach nicht glauben, wie langsam sich die Zeiger bewegten.

Er schob sich verstohlen zur Tür und tauschte dabei leere Floskeln mit den Mitarbeitern und Kuratoren aus. Offen sagte niemand etwas Negatives über Lotty, aber die Gespräche, die bei seinem Näherkommen plötzlich abbrachen, trugen zur Vergrößerung seines Elends bei.

Er war schon fast am Ausgang angelangt, als zwei Neuankömmlinge eintrafen. Die meisten Anwesenden musterten sie mit gleichgültiger Neugierde, aber Max wurde plötzlich von einer absurden Hochstimmung ergriffen. Victoria, die in ihrem marineblauen Kostüm nüchtern und modern aussah, stand in der Tür und suchte mit hochgezogenen Augenbrauen den Raum ab. Neben ihr stand ein Sergeant, den Max schon ein paar Mal mit ihr zusammen gesehen hatte. Er war für den Fall Caudwell zuständig. An diesem unangenehmen Zusammenhang lag es wohl, dass Max sich momentan nicht an seinen Namen erinnerte.

V.I. entdeckte Max schließlich bei der Tür und machte ihm diskret ein Zeichen. Er ging sofort zu ihr hinüber.

«Ich glaube, wir haben die Lösung«, murmelte sie.

«Könntest du dafür sorgen, dass die Gäste gehen? Wir brauchen bloß die Familie, Mrs. Gildersleeve und Gioia.« «Du magst die Lösung ja vielleicht haben«, knurrte der Sergeant,»aber ich bin nur inoffiziell und unter Vorbehalt hier.« «Aber du bist hier. «Warshawski grinste, und Max fragte sich, wie er an diesem Blick je etwas Raubtierhaftes hatte finden können. Beim Anblick ihres Lächelns verbesserte sich seine Laune schlagartig.»Tief im Inneren weißt du, dass es dumm war, Lotty zu verhaften. Ich werde jetzt dafür sorgen, dass du unglaublich clever dastehst. Und noch dazu in aller Öffentlichkeit.«

Ähnlich beglückt wie eine leidende Diva, die ihre Stimme plötzlich wieder findet, spürte Max seine Höflichkeit und Weltgewandtheit zurückkehren. Hier eine kleine Geste, dort ein kurzes Wort, und schon verschwanden die Gäste wie die Heerscharen von Sanherib. In der Zwischenzeit führte er erst Martha Gildersleeve und dann Mrs.

Caudwell zu zwei nebeneinander stehenden Sesseln, bat den Bruder, Kaffee für Mrs. Gildersleeve zu holen, und die Tochter und den Sohn, sich um die Witwe zu kümmern.

Mit Gioia konnte er etwas rücksichtsloser umgehen. Ihm sagte er, er solle warten, da die Polizei ihm ein paar wichtige Fragen zu stellen habe. Als auch der letzte Gast gegangen war, stand der Immunologe nervös beim Fenster und ließ das Kleingeld immer wieder klimpernd durch die Finger gleiten. Plötzlich war dieses Geklingel das einzige Geräusch im Raum. Gioia wurde rot und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.

Victoria kam mit einem strahlenden Lächeln ins Zimmer — wie eine Gouvernante, die für ihre Schützlinge ein ganz besonderes Vergnügen in petto hat. Sie stellte sich den Caudwells vor.

«Nach dieser Woche kennen Sie Sergeant McGonnigal ja sicher. Ich bin Privatdetektivin. Da ich keine rechtliche Handhabe habe, sind Sie nicht verpflichtet, meine Fragen zu beantworten. Ich werde Ihnen also auch keine stellen.

Ich werde Ihnen lediglich einen Reisebericht präsentieren.

Leider ohne Dias, aber Sie müssen sich die Bilder eben dazu denken, während die Tonspur abläuft.« «Eine Privatdetektivin!«Steves Mund formte ein übertriebenes» O«. Seine Augen weiteten sich vor Staunen.»Wie Bogie.« Wie üblich war die Bemerkung an seine Schwester gerichtet. Die stieß ihr spitzes Lachen aus und sagte:

«Damit gewinnen wir bestimmt den ersten Preis beim Aufsatzwettbewerb ›Wie ich die Weihnachtsferien verbracht habe‹. Unser Daddy ist ermordet worden.

Zowie! Dann hat man sein kostbarstes Kunstwerk geklaut.

Powie! Aber er hatte es schon vorher von der jüdischen Ärztin gestohlen, die ihn umgebracht hat. Yowie! Und dann als Krönung noch eine Privatdetektivin. Yowie!

Zowie! Powie!« «Deborah, bitte«, seufzte Mrs. Caudwell.»Ich weiß, dass du aufgeregt bist, Schätzchen, aber lass das jetzt, ja?« «Ihre Kinder halten Sie jung, nicht wahr, Madam?«, meinte Victoria.»Wie könnte man sich jemals alt fühlen, wenn die Kinder ihr Leben lang sieben Jahre alt bleiben?« «Auweia, sie beißt, Debbie, pass auf, sie beißt!«, rief Steve aus.

McGonnigal machte eine unwillkürliche Bewegung, als wollte er dem jungen Mann eine Ohrfeige verpassen.»Ms.

Warshawski hat Recht: Sie sind nicht verpflichtet, ihre Fragen zu beantworten. Aber Sie sind ja alle intelligente Menschen. Dann wissen Sie auch, dass ich nicht hier wäre, wenn die Polizei ihre Überlegungen nicht sehr ernst nehmen würde. Jetzt also ein bisschen Ruhe, und hören Sie zu, was sie zu sagen hat.« Victoria setzte sich in einen Sessel neben Mrs. Caudwell. McGonnigal ging zur Tür hinüber und lehnte sich gegen den Pfosten. Deborah und Steve flüsterten miteinander und versetzten sich gegenseitig Rippenstöße, bis einer oder alle beide zu quieken anfingen. Dann machten sie ein ernstes Gesicht, setzten sich ordentlich hin und falteten wie Chorknaben mit großen, glänzenden Augen die Hände auf dem Schoß.

Griffen stand aufrecht neben Mrs. Caudwell.»Du weißt, dass du nichts sagen musst, Vivian. Ich glaube, es ist besser, du fährst zurück ins Hotel und legst dich hin. Die anstrengende Beerdigung — und dann all diese fremden Leute — « Mrs. Caudwell schürzte unter ihrem Schleier tapfer die Lippen.

«Schon gut, Grif. Wenn ich bis jetzt alles überstanden habe, bringt mich das hier auch nicht mehr um.« «Toll. «Victoria ließ sich von Max eine Tasse Kaffee geben.

«Lassen Sie mich die Ereignisse einfach so darstellen, wie ich sie letzte Woche erlebt habe. Wie jeder in Chicago habe ich in den Zeitungen über den Mord an Dr. Caudwell gelesen und im Fernsehen Berichte darüber gesehen. Da ich einige Leute vom Beth Israel kenne, habe ich der Sache vielleicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt als die anderen Zuschauer. Aber erst seit Dr.

Herschels Verhaftung am Dienstag befasse ich mich persönlich mit dem Fall.« Sie nahm einen Schluck Kaffee und stellte die Tasse mit Schwung auf den Tisch neben sich.»Ich kenne Dr.

Herschel schon fast zwanzig Jahre. Es ist unvorstellbar, dass sie so einen Mord begehen würde. Das hätte allen, die sie gut kennen, von vornherein klar sein müssen. Ich mache der Polizei keinen Vorwurf, aber andere hätten es eigentlich besser wissen müssen: Sie ist jähzornig. Ich behaupte nicht, dass ihr kein Mord zuzutrauen wäre — so etwas ist wohl jedem von uns zuzutrauen. Vielleicht hätte sie die Skulptur ja auch nehmen und Dr. Caudwell in ihrer Wut damit den Schädel einschlagen können. Es erscheint mir jedoch kaum glaubhaft, dass sie erst nach Hause ging, über die Ungerechtigkeit der Welt nachgrübelte, ein verschreibungspflichtiges Beruhigungsmittel einpackte und wieder an die Goldcoast zurückeilte, um einen Mord zu begehen.« Max spürte, wie er bei ihren Worten ganz heiße Wangen bekam. Er wollte schon etwas einwenden, hielt sich dann aber doch zurück.

«Dr. Herschel hat sich die ganze Woche geweigert, eine Aussage zu machen, aber als ich heute Nachmittag von meiner Erkundungsreise zurückgekehrt bin, hat sie sich endlich bereit erklärt, mit mir zu sprechen. Sergeant McGonnigal war dabei. Sie bestreitet nicht, abends um zehn noch einmal zu Dr.

Caudwells Wohnung zurückgekehrt zu sein — sie wollte sich für ihren Ausrutscher entschuldigen und ihn dazu bewegen, ihr die Skulptur zurückzugeben. Er antwortete nicht, als der Pförtner hinauftelefonierte, und auf einen Impuls hin ging sie um das Gebäude herum und zum Lieferanteneingang hinein. Sie wartete einige Zeit vor der Wohnungstür. Als er weder auf ihr Klingeln reagierte, noch nach Hause kam, ging sie gegen elf Uhr wieder weg. Die Kinder waren inzwischen natürlich in der Stadt unterwegs.« «Behauptet sie«, warf Gioia ein.

«Stimmt. «V.I. lächelte.»Ich will gar nicht abstreiten, dass ich parteiisch bin. Ich akzeptiere ihre Geschichte.

Und das umso mehr, als sie uns nur deswegen nicht schon vor einer Woche davon erzählt hat, weil sie selbst einen alten Freund schützen wollte. Sie meinte, vielleicht hätte dieser Freund Caudwell ihr zuliebe umgebracht, um die tödlichen Beleidigungen ihr gegenüber zu rächen. Erst als ich sie davon überzeugt hatte, dass dieser Verdacht ebenso unbegründet war wie — nun, die Anschuldigungen gegen sie selbst, hat sie eingewilligt, mit mir zu sprechen.« Max biss sich auf die Lippe und beschäftigte sich angelegentlich damit, den drei Frauen Kaffee nachzuschenken. Victoria wartete, bis er damit fertig war, bevor sie weitersprach.

«Als ich endlich ein genaues Bild davon hatte, was sich auf Caudwells Party abgespielt hatte, hörte ich von drei Leuten, die mit Caudwell noch ein Hühnchen zu rupfen hatten. Natürlich muss man immer nachfragen, wie groß dieses Hühnchen ist. Und genau damit habe ich das Wochenende verbracht. Ich kann Ihnen gleich verraten, dass ich dazu in Little Rock und in Havelock, North Carolina, gewesen bin.« Gioia begann wieder, mit den Münzen in seiner Tasche herumzuklimpern. Mrs. Caudwell sagte leise:»Grif, ich fühle mich ein bisschen schwach. Vielleicht sollte ich — « «Ab nach Hause mit dir, Mom«, rief Steve munter aus.

«Ein paar Minuten noch, Mrs. Caudwell«, sagte der Sergeant von der Tür aus.»Sie kann doch die Füße hochlegen, Warshawski.« Einen Augenblick hatte Max Angst, dass Steve oder Deborah Victoria angreifen würden, doch dann trat McGonnigal zum Sessel der Witwe hinüber, und die Kinder setzten sich wieder. Kleine Schweißperlen standen auf Griffens fast kahlem Kopf. Gioias Gesicht glänzte grünlich — wie Laub über seinem Redwood-Hals.

«Besonders auffällig fand ich«, fuhr Victoria ruhig fort, als hätte es keinerlei Unterbrechung gegeben,»was Caudwell zu Dr. Gioia gesagt hatte. Der Doktor war offensichtlich beunruhigt, aber die anderen Gäste waren so sehr von Lotty und der Skulptur in Anspruch genommen, dass sie es gar nicht bemerkten.

Also fuhr ich am Samstag nach Little Rock in Arkansas und suchte Paul Nierman auf, dessen Namen Caudwell Gioia gegenüber erwähnt hatte. Nierman und Gioia hatten vor fünfundzwanzig Jahren, als sie beide noch im Grundstudium waren, im selben Wohnheim gewohnt. Und er hatte für Dr.

Gioia die ersten Anatomie- und Physiologieprüfungen abgelegt, als bei Gioia die Gefahr bestand, dass er sie nicht bestehen würde. So konnte Gioia weiter im Footballteam bleiben.

Hm, das war natürlich ziemlich unappetitlich, vielleicht sogar ein Skandal. Aber anscheinend hat Gioia das Medizinstudium dann allein durchgezogen und auch alle seine Prüfungen bestanden. Ich glaubte daher nicht, dass die Kommission des Krankenhauses wegen dieses jugendlichen Fehlverhaltens seine Kündigung verlangen würde. Die Frage war jedoch, ob Gioia es glaubte und ob er Caudwell umgebracht haben könnte, um diesen daran zu hindern, es an die Öffentlichkeit zu tragen.« Als Victoria eine Pause machte, platzte der Immunologe heraus:»Nein, nein. Aber Caudwell — Caudwell wusste, dass ich gegen seine Einstellung war. Er und ich — wir unterschieden uns grundsätzlich in unserer Haltung zur Medizin. Und sobald er Niermans Namen erwähnte, wusste ich, dass er die Sache herausgefunden hatte und mich ewig damit quälen würde. Ich — ich bin am Sonntagabend noch mal zu seiner Wohnung zurückgegangen, um mit ihm darüber zu reden. Ich war entschlossener als Dr. Herschel und bin über die Küche hineingelangt, die er nicht abgeschlossen hatte.

Ich ging in sein Arbeitszimmer, aber er war schon tot.

Ich konnte es einfach nicht glauben. Ich hatte furchtbare Angst. Ich sah, dass er erdrosselt worden war, und — nun, jeder kann sehen, dass ich die Kraft dazu hätte. Ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Ich habe mich einfach aus dem Staub gemacht — seitdem renne ich eigentlich nur noch weg.« «Sie!«, rief McGonnigal aus.»Und wieso haben wir davon bis jetzt noch nichts erfahren?« «Weil ihr euch ja unbedingt auf Dr.

Herschel konzentrieren musstet«, sagte V.I. etwas giftig.»Ich wusste, dass er dort gewesen war, weil der Pförtner es mir gesagt hat. Und er hätte es dir auch gesagt, wenn du ihn danach gefragt hättest.« «Das ist ja furchtbar«, ließ sich Mrs.

Gildersleeve vernehmen.

«Ich werde gleich morgen bei der Kommission die Entlassung von Dr. Gioia und Dr. Herschel beantragen.« «Nur zu«, stimmte Victoria ihr freundlich zu.»Und sagen Sie auch gleich, dass Sie heute deswegen bei uns bleiben durften, weil Murray Ryerson vom Herald Star für mich hier in Chicago ein paar Nachforschungen angestellt hat. Er hat herausbekommen, dass Sie unter anderem deshalb so neidisch auf Caudwells Sammlung waren, weil sie bis über beide Ohren verschuldet sind. Ich werde Sie hier nicht öffentlich bloßstellen, indem ich verrate, wo Ihr ganzes Geld geblieben ist. Aber Sie mussten die Kunstsammlung Ihres Mannes verkaufen und eine dritte Hypothek auf Ihr Haus aufnehmen. Mit so einer wertvollen Skulptur ohne Dokumente wären Sie alle Probleme auf einen Schlag los gewesen.« Martha Gildersleeve versank in ihrem Zobel.»Sie wissen ja gar nichts über diese Sache.« «Murray hat mit Pablo und Eduardo gesprochen …

Mehr werde ich dazu nicht sagen. Jedenfalls hat Murray nachgeprüft, ob Gioia oder Mrs. Gildersleeve die Skulptur hat. Das war nicht der Fall, also — « «Sie waren in meinem Haus?«, kreischte Mrs. Gildersleeve.

V.I. schüttelte den Kopf.»Nicht ich. Murray Ryerson.« Sie warf dem Sergeant einen entschuldigenden Blick zu.

«Ich wusste, dass du mir nie einen Haussuchungsbefehl besorgen würdest, weil du ja schon jemanden verhaftet hattest. Und außerdem hättest du ihn auch nicht rechtzeitig bekommen.« Sie sah ihre Kaffeetasse an, merkte, dass sie leer war, und stellte sie wieder hin. Max nahm sie vom Tisch und füllte sie zum dritten Mal. Seine Fingerspitzen kribbelten vor Nervosität, so dass ein Teil des Kaffees auf seinem Hosenbein landete.

«Ich habe Murray am Samstagabend von Little Rock aus angerufen. Als er hier nichts herausfand, machte ich mich auf nach North Carolina. Nach Havelock, wo Griffen und Lewis Caudwell aufwuchsen und wo Mrs.

Caudwell immer noch lebt. Ich habe das Haus gesehen, wo Griffen wohnt, und mit dem Arzt gesprochen, bei dem Mrs. Caudwell in Behandlung ist, und — « «Sie sind ja wirklich ein Superschnüffler«, meinte Steve.

«Superschnüffler, Superschnüffler«, sang Deborah.»Ihr eigenes Leben ist wohl nicht aufregend genug, da müssen Sie noch in der Scheiße von anderen Leuten rumwühlen.« «Ja, über Sie beide haben mir die Nachbarn auch was erzählt.« Victoria sah sie mit verächtlicher Nachsicht an.»Sie waren ein zweiköpfiges Wolfsrudel; die meisten ihrer Mitmenschen versetzen Sie in Angst und Schrecken, seit Sie drei Jahre alt sind. Aber die Leute in Havelock haben immer bewundert, wie Sie sich für Ihre Mutter einsetzen.

Sie beide meinten, Ihr Vater hätte sie in die Tablettensucht getrieben und dann einfach hängen lassen. Also haben Sie ihr zuletzt verordnetes Beruhigungsmittel mitgebracht, und dann konnte es losgehen — Sie mussten nur noch entscheiden, wann Sie es ihm verpassen sollten.

Dr. Herschels Wutanfall wegen der Skulptur kam Ihnen gerade gelegen. Sie dachten, dass Ihr Vater sie von Ihrem Onkel gestohlen hatte — also war es nur logisch, dass Sie sie an Ihren Onkel zurückschickten und Dr. Herschel die Geschichte ausbaden ließen.« «So war es gar nicht«, sagte Steve mit hektischen roten Flecken auf den Wangen.

«Wie war es denn dann, Bürschchen?«, McGonnigal stand nun direkt neben ihm.

«Red nicht mit ihnen — die legen dich rein!«, kreischte Deborah.

«Die Superschnüfflerin mit ihrer Bullensau.« «Sie — ich meine, Mommy hat uns echt geliebt, bevor Daddy sie dazu gebracht hat, dieses ganze Zeug zu nehmen. Dann ist sie weggegangen. Wir wollten bloß, dass er sieht, wie das ist. Wir haben angefangen, ihm Beruhigungsmittel in den Kaffee zu schütten. Wir wollten sehen, ob er bei einer Operation pfuscht und sich damit das Leben ruiniert. Aber wie er dann nach dieser bescheuerten Party im Arbeitszimmer geschlafen hat, haben wir uns gedacht, wir lassen ihn einfach seine Operation am nächsten Morgen verpennen. Schlafe süß in alle Ewigkeit, wissen Sie, es war ja so einfach. Wir haben es mit seiner eigenen Harvard-Krawatte gemacht. Ich hatte die Schnauze so voll, immer diese Sprüche wie

›Morgenstund hat Gold im Mund‹. Und die Skulptur haben wir an Onkel Grif geschickt. Da hat die Superschnüfflerin sie wahrscheinlich gefunden. Jetzt kann er sie verkaufen, und Mutter kann wieder gesund werden.« «Grandpa hat sie den Juden geklaut, und Daddy hat sie Grif geklaut, da dachten wir uns, dann klauen wir sie doch einfach von Daddy«, rief Deborah. Sie lehnte ihren Blondschopf gegen den ihres Bruders und kreischte vor Lachen.

V

Max betrachtete Lottys Beine, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um nach einem Cognacschwenker zu greifen. Kurz waren sie und muskulös, weil sie damit schon seit Jahren in Höchstgeschwindigkeit von einem Ort zum anderen raste. Sie waren vielleicht nicht so grazil wie die langen Beine moderner junger Amerikanerinnen, aber ihm waren sie lieber. Er wartete, bis sie wieder sicher auf dem Boden stand, bevor er ihr seine Neuigkeit mitteilte.

«Die Kommission hat gerade Justin Hardwick zum letzten Vorstellungsgespräch für den Posten des Chefarzts eingeladen.« «Max!«Sie wirbelte herum, und in ihren Augen funkelte bengalisches Feuer.»Ich kenne diesen Hardwick, der ist ein zweiter Caudwell. Der will bloß Ausgaben kürzen und keine bedürftigen Patienten aufnehmen. Das lasse ich nicht zu.« «Wir haben ja schon dich und Gioia und noch ein Dutzend andere, die uns so viele bedürftige Patienten bringen, dass wir die nächsten fünf Jahre nicht überstehen, wenn es so weitergeht wie bisher. Ich denke, das ist jetzt ein Balanceakt. Wir brauchen jemanden, der das Krankenhaus am Leben hält, damit du mit Arthur so praktizieren kannst, wie du willst. Und wenn Hardwick erfährt, was mit seinem Vorgänger passiert ist, wird er den Teufel tun und sich mit unserer Haustigerin anlegen.« «Max!«Sie war gleichzeitig verletzt und verwundert.

«Ach, verstehe, das soll ein Witz sein. Ich finde das nicht besonders witzig.« «Mein Liebes, wir müssen lernen, darüber zu lachen, anders werden wir es nie schaffen, uns unsere schrecklichen Fehleinschätzungen zu verzeihen. «Er trat zu ihr und legte ihr den Arm um die Taille.»Und wo ist jetzt die große Überraschung, die du mir zeigen wolltest?« Sie sah ihn schelmisch an — Trotzkopf Lotty, genau wie damals mit achtzehn, als er sie kennen gelernt hatte. Er nahm sie fester in den Arm und folgte ihr ins Schlafzimmer. In einer Vitrine in der Ecke, mit eingebautem Feuchtigkeitskontrollgerät, stand die Andromache von Pietro.

Max betrachtete ihr schönes, gequältes Gesicht. Ich verstehe deinen Kummer, schien sie ihm zu sagen. Ich verstehe deine Trauer um deine Mutter, deine Familie, deine Geschichte, aber du darfst jetzt loslassen, in der Gegenwart leben und auf die Zukunft hoffen. Das ist kein Verrat.

Tränen brannten ihm in den Augen, doch er fragte:»Wie bist du dazu gekommen? Soviel ich weiß, wollte die Polizei sie unter Verschluss halten, bis die Anwälte Caudwells Nachlass geregelt hätten.« «Victoria«, sagte Lotty knapp.»Ich habe ihr mein Problem geschildert, und sie hat sie mir besorgt. Unter der Bedingung, dass ich nicht frage, wie sie es gemacht hat.

Und, Max, du weißt verdammt genau, dass es nicht Caudwell war, der darüber zu verfügen hatte.« Diese Entscheidung stand allein Lotty zu. Schließlich gehörte ihr die Skulptur ja. Max fragte sich kurz, wie Joseph II. überhaupt zu ihr gekommen war. Und was hatte Lottys Urururgroßvater dem Kaiser dafür wohl für einen Gefallen getan? Max sah in Lottys Tigerinnenaugen und behielt diese Überlegungen für sich. Stattdessen untersuchte er Hektors Fuß, wo man sorgfältig den Kleber weggekratzt hatte und die alte Macke wieder deutlich zu sehen war.

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