Geschworene von ihresgleichen von SUSAN GLASPELL

Susan Keating Glaspell (1876–1948) wurde in Davenport/Iowa geboren, studierte an der Drake University und der University of Chicago und arbeitete zunächst als Journalistin, bevor sie sich 1901 ganz der Schriftstellerei widmete. Ihr erster Roman The Glory of the Conquered erschien 1909, 1912 dann ihre erste Sammlung von Erzählungen mit dem Titel Lifted Masks, den größten Ruhm erlangte sie jedoch als Dramatikerin, gipfelnd im umstrittenen Pulitzer-Preis für Alison’s House (1930), ein von Emily Dickinsons Leben inspiriertes Stück. Von 1914 bis 1921 gehörte sie den Provincetown Players an, einer avantgardistischen, von ihrem idealistischen Ehemann George Cram Cook gegründeten Theatertruppe. Zu deren Mitgliedern zählten auch Edna St. Vincent Millay, Djuna Barnes, Edna Ferber, John Reed und ein Autor, der zum bedeutendsten amerikanischen Dramatiker jener Zeit werden sollte — Eugene O’Neill.

Nach einigen frühen Erzählungen — regional gefärbten populären Liebesgeschichten — entwickelte Glaspell unter dem Einfluss ihres Ehemanns und Floyd Dells einen naturalistischeren Ansatz und sozialistische Ansichten. Die Rebellion der Frauen gegen die Dominanz einfältiger Männer war ihr Dauerthema. Auf einem ihrer Stücke, dem Einakter Trifles (1916), basiert ihre berühmteste Erzählung» Geschworene von ihresgleichen«(1917). Es handelt sich zwar unverkennbar um eine Detektivgeschichte — hier sind es übrigens ganz zeitgemäß die Amateure, die viel aufmerksamer beobachten als die professionellen Spürnasen —, allerdings um eine höchst unkonventionelle, einzigartige Detektivgeschichte, in der durch die Art der Aufdeckung ein sehr wichtiges Statement gemacht wird.

Als Martha Hale die Sturmtür aufmachte und ihr der Nordwind schneidend ins Gesicht fuhr, lief sie schnell wieder hinein, um ihren dicken Wollschal zu holen.

Während sie ihn sich hastig um den Kopf wand, ließ sie den Blick schockiert über ihre Küche gleiten. Nichts Gewöhnliches war es, was sie von hier fortrief – wahrscheinlich weiter entfernt vom Gewöhnlichen als alles, was sich im Dickson County je zugetragen hatte.

Doch ihr Blick registrierte bloß die Tatsache, dass sich ihre Küche nicht in einem Zustand befand, in dem man sie zurücklassen konnte: Ihr Brotteig war bereit zum Mischen, das Mehl halb gesiebt, halb ungesiebt.

Sie hasste den Anblick von halbfertigen Dingen. Doch war sie gerade mitten in der Arbeit gewesen, als das Gespann aus der Stadt vorgefahren war, um Mr. Hale abzuholen, und dann kam der Sheriff auch noch hereingerannt und sagte, seine Frau hätte Mrs. Hale gern dabei — wobei er grinsend hinzufügte, sie hätte vermutlich Angst und wollte deshalb noch eine andere Frau mitnehmen. Also hatte sie einfach alles stehen und liegen lassen.

«Martha!«, war nun die ungeduldige Stimme ihres Gatten zu hören.»Lass doch die Leute hier draußen in der Kälte nicht warten.« Sie öffnete wieder die Sturmtür, diesmal um sich zu den drei Männern und der Frau zu gesellen, die in dem geräumigen Einspänner auf sie warteten.

Nachdem sie die wärmenden Decken um sich festgestopft hatte, musterte sie die Frau etwas genauer, die neben ihr auf dem Rücksitz saß. Sie hatte Mrs. Peters im Jahr zuvor auf dem Jahrmarkt kennen gelernt und wusste noch, dass sie überhaupt nicht wie die Frau eines Sheriffs aussah. Sie war klein und schmal und hatte keine kräftige Stimme. Mrs. Gorman, die Frau von Peters’ Vorgänger, hatte eine Stimme, die das Gesetz mit jedem Wort zu untermauern schien. Dass Mrs. Peters nicht wie die Frau eines Sheriffs aussah, machte Peters dadurch wett, dass er wie ein Sheriff aussah. Er war haargenau die Sorte Mann, die zum Sheriff gewählt würde — ein schwergewichtiger Mann mit einer mächtigen Stimme, der sich gesetzestreuen Bürgern gegenüber ausnehmend jovial gab, als wollte er deutlich machen, dass er den Unterschied zwischen Verbrechern und Nicht-Verbrechern kannte.

Und in dem Moment schoss Mrs. Hale der Gedanke durch den Kopf, dass dieser Mann, der hier zu allen so freundlich und aufgeräumt war, in seiner Eigenschaft als Sheriff zu den Wrights fuhr.

«In dieser Jahreszeit ist es auf dem Land nicht besonders angenehm«, ließ Mrs. Peters sich schließlich vernehmen, als hätte sie das Gefühl, sie sollten sich wie die Männer ebenfalls unterhalten.

Mrs. Hale brachte ihre Antwort kaum zu Ende, denn inzwischen waren sie einen kleinen Hügel hinaufgefahren, von dem aus sie das Anwesen der Wrights sehen konnten, und bei dem Anblick war ihr nicht nach Reden zumute. Es sah an diesem kalten Märztag sehr einsam und verlassen aus. Das Gehöft hatte schon immer einsam und verlassen gewirkt. Es lag unten in einer Senke, und auch die Pappeln, die es säumten, sahen einsam und verlassen aus.

Die Männer warfen einen Blick hinüber und sprachen über das, was passiert war. Der Bezirksstaatsanwalt lehnte sich über eine Seite des Einspänners und hielt den Blick unverwandt auf das Haus gerichtet, während sie heranfuhren.

«Ich bin froh, dass Sie mitgekommen sind«, sagte Mrs. Peters nervös, als die beiden Frauen den Männern durch den Hintereingang nach innen folgten.

Als sie den Fuß schon auf der Schwelle und die Hand am Türknauf hatte, verspürte Martha Hale kurz das Gefühl, die Schwelle nicht überschreiten zu können. Der Grund, weshalb sie sie jetzt nicht überschreiten konnte, bestand schlichtweg darin, dass sie sie vorher noch nie überschritten hatte. Immer wieder war es ihr durch den Kopf gegangen:»Ich sollte mal rüber und Minnie Foster besuchen. «Für sie war sie immer noch Minnie Foster, obwohl sie schon seit zwanzig Jahren Mrs. Wright hieß.

Doch es war immer irgendetwas zu tun gewesen, worüber sie Minnie Foster dann wieder vergaß. Jetzt aber konnte sie kommen.

Die Männer gingen zum Herd hinüber. Die Frauen standen dicht nebeneinander an der Tür. Henderson, der junge Bezirksstaatsanwalt, wandte sich um und sagte:

«Kommen Sie doch ans Feuer, meine Damen.« Mrs. Peters tat einen Schritt vorwärts und blieb dann stehen.

«Mir ist nicht — kalt«, sagte sie.

Also blieben die beiden Frauen an der Tür stehen und sahen sich zunächst nicht einmal in der Küche um.

Die Männer redeten erst darüber, wie gut es doch gewesen sei, dass der Sheriff seinen Stellvertreter in der Frühe zum Feuermachen hergeschickt hatte, dann trat Sheriff Peters vom Herd zurück, knöpfte seinen Mantel auf und stützte die Hände auf dem Küchentisch auf, so dass es aussah, als wollte er nun den offiziellen Teil einleiten.»Also, Mr. Hale«, sagte er in halb amtlichem Ton,»bevor wir hier anfangen herumzuräumen, erzählen Sie Mr. Henderson bitte, was genau Sie gesehen haben, als Sie gestern früh hierher kamen.« Der Bezirksstaatsanwalt sah sich in der Küche um.

«Übrigens«, sagte er,»wurde hier irgendetwas verändert?«Er wandte sich an den Sheriff.»Ist alles so, wie Sie es gestern zurückgelassen haben?« Peters blickte vom Küchenschrank zum Spülbecken und von dort zu einem kleinen, durchgesessenen Schaukelstuhl seitlich am Küchentisch hinüber.

«Es ist noch genau so.« «Man hätte gestern jemanden hier postieren sollen«, sagte der Bezirksstaatsanwalt.

«Ach — gestern«, entgegnete der Sheriff mit einer leichten Geste, wie um zu sagen, an gestern wolle er lieber gar nicht mehr denken.

«Da musste ich Frank ins Morris Center schicken wegen dem durchgedrehten Kerl — glauben Sie mir, gestern hatte ich alle Hände voll zu tun. Ich wusste ja, dass Sie bis heute aus Omaha zurück sein könnten, George, und nachdem ich hier alles selbst untersucht hatte …« «Nun, Mr. Hale«, sagte der Bezirksstaatsanwalt, wie um das Thema abzuschließen,»erzählen Sie doch mal genau, was passiert ist, als Sie gestern früh hier ankamen.« Mrs. Hale, die immer noch an der Tür lehnte, bekam vor Aufregung weiche Knie wie eine Mutter, deren Kind gleich etwas aufsagen muss. Lewis kam oft vom Hundertsten ins Tausendste und brachte Sachen durcheinander. Sie hoffte, er würde es direkt und ohne Umschweife erzählen und keine unnötigen Dinge sagen, die es für Minnie Foster nur noch schwerer machten. Er fing nicht gleich an, und ihr fiel auf, dass er merkwürdig aussah — als würde ihm fast schlecht davon, dass er in der Küche stehen und erzählen musste, was er gestern früh dort gesehen hatte.

«Nun, Mr. Hale?«, forderte der Staatsanwalt ihn auf.

«Harry und ich waren mit ’ner Fuhre Kartoffeln auf dem Weg in die Stadt«, begann Mrs. Hales Mann.

Harry war Mrs. Hales Ältester. Er war jetzt nicht dabei, aus dem guten Grund, dass die Kartoffeln gestern nicht in die Stadt gelangt waren und er sie heute früh hinbrachte.

Er war also nicht zu Hause gewesen, als der Sheriff eintraf, um Mr. Hale zu den Wrights mitzunehmen, damit er dem Bezirksstaatswalt seine Geschichte dort erzählte, wo er alles zeigen konnte. Zu Mrs.

Hales anderen Gefühlen gesellte sich nun noch die Sorge, Harry könnte vielleicht nicht warm genug angezogen sein — keiner von ihnen hatte bemerkt, wie scharf dieser Nordwind tatsächlich blies.

«Wir sind die Straße da entlanggekommen«, erzählte Hale soeben mit einer Handbewegung auf die Landstraße, auf der sie gerade hergefahren waren,»und wie wir das Haus sehen, sag ich zu Harry, ›mal schaun, vielleicht kriege ich John Wright dazu, sich ein Telefon anzuschaffen.‹ Wissen Sie, das ist nämlich so«, wandte er sich erklärend an Henderson,»wenn ich keinen dazu kriege, dass er mitmacht, kommen die auch nicht raus auf so ’ne Nebenstraße, oder bloß zu ’nem Preis, den ich mir nicht leisten kann. Ich hatte mit Wright schon mal drüber geredet, aber der hat nichts davon wissen wollen; er hat gemeint, die Leute reden sowieso schon zu viel und dass er seine Ruhe haben will — Sie wissen wahrscheinlich auch, wie viel der selber geredet hat. Aber ich hab mir gedacht, wenn ich ins Haus geh und mit ihm spreche, wenn seine Frau dabei ist, und sage, dass die Frauen doch immer fürs Telefon sind und dass es hier draußen an der abgelegenen Straße doch gut wär — also, zu Harry hab ich gesagt, dass ich vorhätte, das zu sagen — obwohl andererseits hab ich auch gesagt, ich wüsste nicht, ob John viel drauf gäbe, was seine Frau will …« Und schon ging’s wieder los — schon sagte er lauter unnötiges Zeug. Mrs. Hale versuchte, den Blick ihres Mannes aufzufangen, als ihn der Staatsanwalt zum Glück unterbrach:»Darüber reden wir später noch, Mr. Hale. Ich will schon noch darüber sprechen, aber jetzt liegt mir doch daran zu hören, was passiert ist, als Sie hier ankamen.« Als er diesmal anfing, klang es entschlossen und wohl überlegt:»Ich hab nichts gesehen oder gehört. Ich hab angeklopft, aber drinnen war alles still. Dass sie auf sein mussten, wusste ich — es war ja schon nach acht. Also hab ich noch mal geklopft, lauter diesmal, und glaubte, ich hörte jemand ›Herein‹ sagen. Ich war mir nicht sicher – bin ich mir immer noch nicht. Ich hab aber die Tür aufgemacht — die Tür da«— er deutete energisch auf die Tür, neben der die beiden Frauen standen —,»und da drüben, in dem Schaukelstuhl«— er deutete hin —»saß Mrs. Wright.« Alle Anwesenden blickten auf den Schaukelstuhl.

Mrs. Hale kam der Gedanke, dass dieser Schaukelstuhl eigentlich überhaupt nicht zu Minnie Foster passte — zu der Minnie Foster von vor zwanzig Jahren. Er war schmutzig rot und hatte Holzstreben in der Rückenlehne, die mittlere Strebe fehlte, und der Sitz hing auf einer Seite herunter.

«Wie sah sie — denn aus?«, wollte der Staatsanwalt wissen.

«Hm«, sagte Hale,»ziemlich komisch.« «Komisch? Wie meinen Sie das?« Während er fragte, zog er Notizblock und Bleistift hervor. Der Anblick des Bleistifts behagte Mrs. Hale ganz und gar nicht. Sie hielt den Blick starr auf ihren Gatten geheftet, als wollte sie ihn davon abhalten, unnötige Dinge zu sagen, die auf den Notizblock gelangen und Ärger machen würden.

Hale sprach jedoch ganz bedächtig, als hätte ihn der Bleistift ebenfalls schwer beeindruckt.

«Na ja, wie wenn sie nicht wusste, was sie als Nächstes tun soll. Und irgendwie — geschafft.« «Wie schien Sie Ihr Kommen denn zu empfinden?« «Hm, ich glaub nicht, dass es ihr was ausgemacht hat – so oder so. Sie hat mich nicht groß beachtet. Ich hab gesagt: ›Wie geht’s, Mrs. Wright? Ganz schön kalt, was?‹ Und sie hat gesagt: ›Ach ja?‹ — und weiter an ihrer Schürze rumgefaltet.

Also, ich hab mich gewundert. Sie hat mich nicht aufgefordert, zum Herd rüberzukommen oder mich zu setzen, sie hat bloß da gesessen und hat mich nicht mal angeschaut. Also habe ich gesagt: ›Ich will John sprechen.‹ Und dann — dann hat sie gelacht. Ja, man könnte es wohl lachen nennen.

Ich hab an Harry und das Gespann draußen gedacht und deswegen ein bisschen scharf gesagt: ›Kann ich John mal sprechen?‹ — ›Nein‹, sagt sie — irgendwie so abgestumpft.

›Ist er denn nicht zu Hause?‹, frag ich. Da schaut sie mich an. ›Doch‹, sagt sie, ›er ist zu Hause.‹ — ›Wieso kann ich ihn dann nicht sprechen?‹, frag ich sie. Da war ich schon ziemlich ungeduldig. ›Weil er tot ist‹, sagt sie, wieder genauso ruhig und abgestumpft und faltet wieder an ihrer Schürze rum. ›Tot?‹, sag ich, wie man halt so sagt, wenn man nicht fassen kann, was man grade gehört hat.

Sie hat bloß mit dem Kopf genickt, kein bisschen aufgeregt, und ist vor und zurück geschaukelt.

›Wieso — wo ist er denn?‹, sag ich, weil ich nicht so recht wusste, was ich sagen soll.

Sie hat bloß nach oben gedeutet — so«— er wies mit dem Finger zu dem Raum im Obergeschoss hinauf.

«Da bin ich aufgestanden, um selber mal raufzugehen.

Inzwischen wusste ich gar nicht mehr, was ich tun soll. Ich bin ein bisschen auf und ab gegangen, und dann hab ich gefragt: ›Na, woran ist er denn gestorben?‹

›An ’nem Strick um den Hals ist er gestorben‹, sagt sie und faltet bloß weiter an ihrer Schürze rum.« Hale hörte auf zu reden und starrte den Schaukelstuhl an, als könnte er die Frau, die am vorherigen Morgen darin gesessen hatte, immer noch sehen.

«Und was haben Sie dann gemacht?«, unterbrach der Bezirksstaatsanwalt schließlich das Schweigen.

«Ich bin raus und hab Harry gerufen. Ich dachte, ich brauchte — vielleicht Hilfe. Ich hab Harry reingeholt, und wir sind nach oben.« Seine Stimme senkte sich fast zu einem Flüstern.»Und da — ist er über dem — « «Ich glaube, das lasse ich Sie lieber oben erklären«, unterbrach ihn der Staatsanwalt,»wo Sie alles zeigen können. Jetzt erzählen Sie aber noch den Rest der Geschichte.«

«Äh, also mein erster Gedanke war, den Strick abzumachen. Es hat noch so — «Mit zuckendem Gesicht hielt er inne.

«Aber Harry, der ist zu ihm hin und hat gesagt: ›Nein, der ist wirklich tot, lass uns lieber nichts anfassen.‹ Also sind wir wieder runtergegangen.

Sie hat immer noch genauso dagesessen. ›Ist schon jemand verständigt worden?‹, hab ich gefragt. ›Nein‹, sagt sie vollkommen gleichgültig.

›Wer hat das getan, Mrs. Wright?‹, hat Harry wissen wollen. Er hat ganz nüchtern gefragt, und sie hat aufgehört, an ihrer Schürze rumzufalten. ›Weiß ich nicht‹, sagt sie. ›Das wissen Sie nicht?‹, sagt Harry. ›Haben Sie denn nicht bei ihm im Bett geschlafen?‹ ›Doch‹, sagt sie, ›aber auf der Innenseite.‹ — ›Jemand hat ihm ’nen Strick um den Hals gelegt und ihn erdrosselt, und Sie sind davon nicht aufgewacht?‹, sagt Harry. ›Ich bin nicht aufgewacht‹, sagt sie ihm nach.

Wir haben wohl so ausgesehen, als könnten wir uns das nicht so recht vorstellen, wie das geh’n soll, denn nach

’ner Weile sagt sie: ›Ich hab einen festen Schlaf.‹ Harry wollte sie noch paar Sachen fragen, aber ich hab gesagt, dass uns das vielleicht nichts anginge, wir sollten sie die Geschichte vielleicht erst dem Coroner oder dem Sheriff erzählen lassen. Also ist Harry so schnell er konnte rüber nach High Road gefahren — zu den Rivers, wo sie ein Telefon haben.« «Und was tat sie, als sie wusste, dass Sie den Coroner holen wollten?«Der Anwalt hatte den Bleistift schon zum Schreiben gezückt.

«Sie hat sich von dem Stuhl rüber in diesen hier«— Hale deutete auf einen kleinen Stuhl in der Ecke —»gesetzt, und dann hat sie da gesessen, mit zusammengelegten Händen, und hat auf den Boden geschaut. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich ein bisschen mit ihr unterhalten sollte, also hab ich ihr erzählt, ich wär gekommen, um John zu fragen, ob er ein Telefon anschließen lassen will. Darauf hat sie angefangen zu lachen, und dann hat sie aufgehört und mich angestarrt — voller Angst.« Beim Geräusch des schreibenden Bleistifts hob der Mann, der die Geschichte erzählte, den Blick.

«Ich weiß nicht — vielleicht war es auch keine Angst«, meinte er hastig.»Ich möchte das nicht so direkt behaupten. Bald war Harry wieder da, und dann ist Dr. Lloyd gekommen und dann Sie, Mr. Peters, und das ist, glaub ich, alles, was ich weiß und Sie noch nicht.« Letzteres sagte er voller Erleichterung und bewegte sich ein wenig, wie um sich zu lockern. Die anderen begannen sich ebenfalls zu regen. Der Bezirksstaatsanwalt trat auf die Tür zur Treppe zu.

«Dann gehen wir jetzt erst mal nach oben — und dann raus in die Scheune und sehen uns dort um.« Er hielt inne und blickte in der Küche umher.

«Sie sind überzeugt, dass hier nichts Wichtiges war?«, fragte er den Sheriff.»Nichts, was auf ein — Tatmotiv hindeuten würde?« Der Sheriff blickte ebenfalls umher, wie um sich selbst erneut davon zu überzeugen.

«Hier ist nichts außer Küchenkram«, sagte er und lachte leise über die Bedeutungslosigkeit von Küchenkram.

Der Bezirksstaatsanwalt betrachtete den Schrank — ein merkwürdiges grobes Möbel, halb Wandschrank und halb Küchenschrank, das Oberteil in die Wand eingebaut, das untere Teil ein einfaches, altmodisches Küchenbüfett. Wie von dessen seltsamem Aussehen angezogen, holte er sich einen Stuhl, öffnete das obere Teil und sah hinein. Gleich darauf zog er seine Hand klebrig wieder heraus.

«So eine Schweinerei«, sagte er verärgert.

Die beiden Frauen waren näher getreten, und nun sagte die Frau des Sheriffs etwas.

«Ach — ihr Obst«, sagte sie und sah Mrs. Hale dabei um Verständnis bittend an. Sie wandte dem Bezirksstaatsanwalt den Rücken zu und erläuterte:»Sie hat sich Sorgen darum gemacht, als es gestern Nacht so kalt wurde. Sie sagte, wenn das Feuer ausgeht, könnten ihre Gläser platzen.« Mrs. Peters’ Gatte brach in Gelächter aus.

«Ha, ist die Frau denn zu fassen! Sitzt in Haft wegen Mord und macht sich Sorgen um ihr Eingemachtes!« Der junge Anwalt kniff die Lippen zusammen.

«Ich glaube, bis wir mit ihr fertig sind, wird sie sich über was Ernsteres Sorgen machen müssen als über ihr Eingemachtes.« «Ach, was soll’s«, sagte Mrs.

Hales Gatte voll gutmütiger Überheblichkeit,»Frauen sind es ja gewohnt, sich um die geringsten Sachen Sorgen zu machen.« Die beiden Frauen rückten etwas näher zusammen.

Keine von beiden sagte etwas. Der Bezirksstaatsanwalt schien sich plötzlich wieder an seine guten Manieren zu erinnern — und an seine Zukunft zu denken.

«Und doch«, sagte er in der galanten Art eines jungen Politikers,»trotz all ihrer Sorgen, was täten wir bloß ohne die Damen?« Die beiden Frauen sagten nichts, blieben reserviert. Er trat ans Spülbecken und begann sich die Hände zu waschen. Dann wollte er sie sich an dem Rollhandtuch abtrocknen — suchte es nach einer sauberen Stelle ab.

«Schmutzige Handtücher! Keine besonders gute Hausfrau, was meinen Sie, meine Damen?« Er stieß mit dem Fuß gegen ein paar schmutzige Töpfe unter dem Spülbecken.

«Auf einer Farm gibt’s ’ne Menge Arbeit«, sagte Mrs. Hale steif.

«Aber sicher. Und doch«— mit einer leichten Verbeugung in ihre Richtung —»weiß ich, dass es im Dickson County ein paar Höfe gibt, wo solche Rollhandtücher nicht hängen. «Er zog daran, um es in voller Länge vorzuführen.

«Solche Tücher werden furchtbar schnell dreckig. Und Männerhände sind auch nicht immer besonders sauber.« «Aha, solidarisch mit Ihren Geschlechtsgenossinnen, ich verstehe!«, lachte er. Dann hielt er inne und musterte sie aufmerksam.

«Sie und Mrs. Wright waren doch Nachbarinnen. Dann waren Sie ja wohl auch befreundet, nehme ich an.« Martha Hale schüttelte den Kopf.

«Ich hab sie in den letzten Jahren selten gesehen. In diesem Haus war ich — schon über ein Jahr nicht mehr.« «Wie das? Konnten Sie sie nicht leiden?« «Ich konnte sie recht gut leiden«, gab sie energisch zurück.»Farmerfrauen haben alle Hände voll zu tun, Mr. Henderson. Außerdem — «Sie blickte in der Küche umher.

«Ja?«, fragte er aufmunternd.

«Ich fand es hier nie besonders anheimelnd«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihm.

«Nein«, pflichtete er ihr bei.»Anheimelnd kann man es bestimmt nicht nennen. Ich würde sagen, ihr fehlt’s ein bisschen am Nestbauinstinkt.« «Na, Wright aber auch, würde ich sagen«, murmelte sie.

«Wollen Sie damit andeuten, sie vertrugen sich nicht besonders gut miteinander?«, beeilte er sich zu fragen.

«Nein, damit will ich überhaupt nichts andeuten«, entgegnete sie nachdrücklich. Etwas von ihm abgewandt, fügte sie hinzu:»Ich glaub aber nicht, dass John Wrights Gegenwart dazu angetan war, ein Haus heimeliger zu machen.« «Darüber möchte ich mit Ihnen später reden, Mrs. Hale«, sagte er.»Jetzt will ich unbedingt das obere Stockwerk in Augenschein nehmen.« Er ging auf die Tür zur Treppe zu, gefolgt von den beiden Männern.

«Ich nehme an, was Mrs. Peters macht, ist in Ordnung?«, erkundigte sich der Sheriff.»Sie soll ihr nämlich ein paar Kleider mitbringen — und ein paar andere Kleinigkeiten.

Wir mussten gestern so überstürzt weg.« Der Bezirksstaatsanwalt betrachtete die beiden Frauen, die sie nun inmitten des Küchenkrams allein ließen.

«Ja — Mrs. Peters«, sagte er, und sein Blick verweilte auf der Frau, die nicht Mrs. Peters war, auf der grobknochigen Farmerfrau, die hinter der Frau des Sheriffs stand.

«Mrs. Peters ist natürlich eine von uns«, sagte er in einem Ton, der ihr Verantwortung auferlegte.»Und, Mrs. Peters, haben Sie doch auch ein Auge auf alles, was uns eventuell nützlich sein könnte. Man kann nie wissen, ihr Frauen entdeckt vielleicht einen Hinweis auf das Tatmotiv — und das ist genau das, was wir brauchen.« Mr. Hale rieb sich das Gesicht wie ein Alleinunterhalter, der gleich einen Witz machen will.

«Würden die Frauen denn einen Hinweis erkennen, wenn sie darauf stoßen?«, fragte er, bevor er den anderen durch die Tür zur Treppe folgte.

Die Frauen blieben reglos und schweigend stehen und lauschten den Schritten, erst auf der Treppe, dann im Zimmer über ihnen.

Und dann, als wollte sie sich von etwas Fremdem befreien, begann Mrs. Hale die schmutzigen Töpfe unter dem Spülbecken wieder ordentlich hinzustellen, die der verächtliche Fußtritt des Staatsanwalts durcheinander gebracht hatte.

«Ich könnte es nicht ausstehen, wenn Männer in meine Küche kommen«, sagte sie gereizt,»und rumschnüffeln und meckern.« «Sie tun natürlich nur ihre Pflicht«, sagte die Frau des Sheriffs in scheuer Ergebenheit.

«Pflicht ist ja schön und gut«, erwiderte Mrs. Hale schroff,»aber ich finde, der Hilfssheriff, der hier war, um das Feuer zu machen, hätte ruhig ein bisschen aufräumen können. «Sie zog an dem Rollhandtuch.»Wenn mir das bloß früher eingefallen wäre! Ist doch gemein, so über sie zu reden, weil sie hier nicht alles blank geputzt hatte, wo sie doch so überstürzt weg musste.« Sie blickte in der Küche umher.»Blank geputzt «war sie bestimmt nicht. Ihr Blick fiel auf ein Eimerchen mit Zucker in einem der unteren Regale. Von dem Holzeimer war der Deckel abgenommen, und daneben lag eine Papiertüte — halb voll.

Mrs. Hale ging darauf zu.

«Sie wollte das hier einfüllen«, sagte sie nachdenklich bei sich.

Das Mehl zu Hause in ihrer eigenen Küche fiel ihr ein – halb gesiebt, halb nicht gesiebt. Sie war unterbrochen worden und hatte die halb fertige Arbeit liegen lassen.

Wovon war Minnie Foster unterbrochen worden? Warum war diese Arbeit bloß halb fertig gemacht? Sie wollte sie gerade zu Ende bringen — unfertige Dinge störten sie immer —, als sie plötzlich bemerkte, dass Mrs. Peters sie beobachtete — und sie wollte nicht, dass Mrs. Peters denselben Eindruck gewann wie sie, von einer Arbeit, die angefangen und dann — aus irgendeinem Grund — nicht beendet worden war.

«Das mit ihrem Obst ist ein Jammer«, sagte sie und ging auf den Küchenschrank zu, den der Bezirksstaatsanwalt geöffnet hatte, stieg auf den Stuhl und murmelte:»Ob wohl alles hin ist?« Es war ein ziemlich trauriger Anblick.»Hier ist noch ein Glas in Ordnung«, sagte sie schließlich. Sie hielt es gegen das Licht.»Es sind Kirschen. «Sie sah noch einmal hin.

«Ich glaube fast, es ist das Einzige.« Mit einem Seufzer stieg sie vom Stuhl und trat ans Spülbecken, um das Glas abzuwischen.

«Das wird ihr arg sein, nach der ganzen harten Arbeit bei dem heißen Wetter. Ich erinnere mich noch gut an den Nachmittag im letzten Sommer, als ich meine Kirschen eingemacht habe.« Sie stellte das Glas auf den Tisch und wollte sich mit einem weiteren Seufzer im Schaukelstuhl niederlassen.

Doch dann setzte sie sich doch nicht hin. Etwas hielt sie davon ab, sich auf jenen Stuhl zu setzen. Sie richtete sich auf — trat zurück und betrachtete ihn halb abgewandt, während sie sich die Frau vorstellte, die dort gesessen und «an ihrer Schürze rumgefaltet «hatte.

Die Frau des Sheriffs platzte mit ihrer dünnen Stimme in ihre Gedanken:»Ich muss ja noch die Sachen aus dem Schrank im Wohnzimmer holen. «Sie öffnete die Tür zum Nebenzimmer, wollte schon hineinstürzen und wich zurück.»Sie kommen doch mit, Mrs. Hale?«, fragte sie nervös.»Sie — Sie könnten mir dabei helfen.« Sie waren gleich wieder da — in der strengen Kälte des selten genutzten Raumes hielt man sich nicht gern auf.

«Meine Güte!«, sagte Mrs. Peters, indem sie die Sachen auf den Tisch fallen ließ und zum Herd hinübereilte.

Mrs. Hale stand da und begutachtete die Kleider, die die Frau, die sie in der Stadt festgesetzt hatten, verlangt hatte.

«Wright war ganz schön knauserig!«, rief sie aus und hielt einen schäbigen schwarzen Rock hoch, der Spuren von häufigem Ausbessern zeigte.»Vielleicht hat sie deswegen so zurückgezogen gelebt. Kann doch sein, dass sie das Gefühl hatte, sie könnte nicht recht mithalten. Es ist schließlich kein Spaß, wenn man so schäbig daherkommt. Früher hat sie hübsche Kleider getragen und war fröhlich — als sie noch Minnie Foster war, eins von den Mädels in der Stadt, und im Chor gesungen hat. Aber das — ach, das ist schon zwanzig Jahre her.« Mit einer Behutsamkeit, die auch etwas Liebevolles an sich hatte, faltete sie die schäbigen Kleider zusammen und stapelte sie an einer Ecke des Tisches aufeinander. Sie sah zu Mrs. Peters hinüber. Im Blick der anderen lag etwas, was sie irritierte.

Es ist ihr egal, sagte sie bei sich. Ihr ist es doch gleich, ob Minnie Foster als junges Mädchen hübsche Kleider hatte.

Dann sah sie wieder hin und war sich nicht mehr so sicher; sie war sich eigentlich nie recht sicher gewesen, was Mrs. Peters anging. Die gab sich so unscheinbar und hatte dabei einen Blick, als könnte sie ganz tief in die Dinge hineinsehen.

«Ist das alles, was Sie ihr mitbringen sollen?«, fragte Mrs. Hale.

«Nein«, sagte die Frau des Sheriffs,»sie sagte, sie wolle eine Schürze. Komisch«, bemerkte sie auf ihre nervöse leise Art,»im Gefängnis kann man sich doch eigentlich nicht schmutzig machen, weiß der Himmel. Aber sie will sich vielleicht einfach normaler fühlen. Wenn man dran gewöhnt ist, eine Schürze zu tragen … Sie hat gesagt, sie sind hier im Schrank in der untersten Schublade. Ach, da sind sie ja. Und dann noch ihr kleines Umschlagtuch, das immer an der Treppentür hängt.« Sie holte das kleine graue Umschlagtuch hinter der Tür hervor, die nach oben führte, und betrachtete es eine Weile.

Plötzlich trat Mrs. Hale einen Schritt auf die andere Frau zu.

«Mrs. Peters!« «Ja, Mrs. Hale?« «Glauben Sie, sie — hat es getan?« Ein ängstlicher Ausdruck verschleierte alles andere in Mrs. Peters’ Augen.

«Ach, ich weiß nicht«, sagte sie mit einer Stimme, als wollte sie dem Thema ausweichen.

«Also, ich glaub nicht, dass sie’s war«, behauptete Mrs. Hale fest.»Wo sie doch nach einer Schürze verlangt, nach ihrem kleinen Umschlagtuch. Und sich um ihr Obst Sorgen macht.« «Mr. Peters sagt — «Im oberen Zimmer waren Schritte zu hören. Sie hielt inne, sah nach oben und fuhr dann mit gesenkter Stimme fort:»Mr. Peters sagt — es sieht schlecht für sie aus. Mr. Henderson drückt sich immer furchtbar sarkastisch aus, er wird sich darüber lustig machen, dass sie behauptet, nicht — aufgewacht zu sein.« Eine Zeit lang wusste Mrs. Hale nicht, was sie darauf sagen sollte. Dann meinte sie:»Na, ich nehm an, dass John Wright auch nicht aufgewacht ist — als man ihm den Strick unterm Hals durchgeschoben hat«, murmelte sie.

«Nein, ist doch merkwürdig«, hauchte Mrs. Peters.»So eine — komische Art, jemanden umzubringen, sagen sie.« Sie fing an zu lachen und hielt beim Geräusch des Gelächters abrupt inne.

«Genau das hat Mr. Hale auch gesagt«, sagte Mrs. Hale mit entschlossen natürlicher Stimme.»Sie hatten doch ein Gewehr im Haus. Er sagt, das kapiert er einfach nicht.« «Mr. Henderson hat auf dem Herweg gesagt, was in dem Fall fehlt, ist das Tatmotiv. Etwas, was auf Wut hindeutet — oder einen plötzlichen Gefühlsausbruch.« «Na, ich seh jedenfalls keinerlei Anzeichen für einen Wutausbruch hier«, sagte Mrs. Hale.»Ich kann keine — « Sie hielt inne. Es war, als ob ihre Gedanken über etwas gestolpert wären. Ihr Blick fiel auf ein Geschirrtuch mitten auf dem Küchentisch. Langsam ging sie auf den Tisch zu.

Die eine Hälfte war sauber gewischt, die andere schmutzig. Ihr Blick wanderte langsam, fast widerstrebend zu dem Zuckereimerchen und der halb leeren Tüte daneben. Etwas angefangen — und nicht zu Ende geführt.

Nach einer Weile trat sie zurück und sagte, wie um sich innerlich zu lösen:»Was die dort oben wohl entdecken?

Ich hoffe, sie hatte es oben ein bisschen ordentlicher.

Wissen Sie«— sie machte eine Pause, um sich zu sammeln «es kommt einem doch wie Schnüffeln vor, sie erst in der Stadt einzusperren und dann hier rauszukommen, um ihr eigenes Heim gegen sie zu verwenden!« «Aber, Mrs. Hale«, sagte die Frau des Sheriffs,»Gesetz ist Gesetz.« «Das schon«, entgegnete Mrs. Hale knapp.

Sie wandte sich zum Herd und sagte etwas über das Feuer, mit dem es nicht weit her sei. Sie machte sich eine Weile daran zu schaffen, und als sie sich wieder aufrichtete, meinte sie herausfordernd:»Gesetz ist Gesetz — und ein schlechter Herd ist ein schlechter Herd. Hätten Sie denn Lust, auf dem Ding zu kochen?«Dabei deutete sie mit dem Schürhaken auf die kaputte Umrandung. Sie öffnete die Backofentür und begann, sich über den Ofen auszulassen, verfiel dann jedoch in Gedanken, überlegte, was es wohl bedeutete, sich jahraus, jahrein mit diesem Herd abkämpfen zu müssen. Dachte daran, wie Minnie Foster in diesem Ofen zu backen versuchte — und daran, dass sie nie herübergekommen war, um Minnie Foster einen Besuch abzustatten …

Sie schreckte hoch, als sie Mrs. Peters sagen hörte:

«Davon kann man sich schon entmutigen lassen — bis man nicht mehr will.« Die Frau des Sheriffs hatte vom Herd zum Spülbecken gesehen — zu dem Eimer Wasser, der von draußen hereingetragen worden war. Schweigend standen die beiden Frauen da, über ihnen die Schritte der Männer, die nach Beweismaterial gegen die Frau suchten, die in dieser Küche gearbeitet hatte. Dieser gewisse Blick, der in die Dinge hineinsah, der durch ein Ding hindurch auf ein anderes sah, lag nun in den Augen der Frau des Sheriffs.

Als Mrs. Hale wieder etwas zu ihr sagte, klang es sanft.

«Machen Sie sich’s doch ein bisschen bequemer in den Sachen, Mrs. Peters. Dann ist uns nachher wärmer, wenn wir wieder rausgehen.« Mrs. Peters ging in den hinteren Teil des Raumes, um den Pelzumhang aufzuhängen, den sie anhatte. Gleich darauf rief sie aus:»Ach, sehen Sie mal, sie hat einen Quilt zusammengesetzt. «Dabei hielt sie einen großen Nähkorb hoch, in dem sich die Quiltflicken häuften.

Mrs. Hale breitete ein paar fertig genähte Quadrate auf dem Tisch aus.

«Es ist das Blockhaus-Muster«, sagte sie und legte einige zusammen.»Hübsch, nicht?« Sie waren so mit dem Quilt beschäftigt, dass sie die Schritte auf der Treppe nicht hörten. Als die Tür aufging, sagte Mrs. Hale gerade:»Meinen Sie, sie wollte die Lagen zusammennähen oder bloß verknoten?« Der Sheriff konnte es nicht fassen.

«Die fragen sich, ob sie die Lagen zusammennähen oder bloß verknoten wollte!« Es wurde über den typischen Weiberkram gelacht, dann wurden die Hände über dem Herd gewärmt und dann sagte der Bezirksstaatsanwalt energisch:»So, und jetzt gehen wir hinaus in die Scheune und klären das.« «Ich weiß nicht, was daran komisch sein soll«, sagte Mrs. Hale verdrießlich, nachdem die Außentür hinter den drei Männern zugegangen war —»dass wir uns die Zeit mit Kleinigkeiten vertreiben, solange wir warten, bis die ihr Beweismaterial haben. Da gibt’s doch nichts zu lachen.« «Die haben natürlich schrecklich wichtige Sachen im Kopf«, erwiderte die Frau des Sheriffs entschuldigend.

Sie machten sich wieder an die Begutachtung der Quiltblöcke. Mrs. Hale betrachtete die feine, ebenmäßige Näharbeit und machte sich Gedanken über die Frau, die diese Näharbeit angefertigt hatte, als sie die Frau des Sheriffs plötzlich in merkwürdigem Tonfall sagen hörte:

«Ach, schauen Sie sich mal das an.« Mrs. Hale betrachtete den Quiltblock, der ihr hingehalten wurde.

«Wie der genäht ist«, sagte Mrs. Peters beunruhigt.

«Alle anderen waren so schön gleichmäßig — bis auf — den hier. Oje, sieht aus, als hätte sie nicht recht gewusst, was sie tat!« Ihre Blicke trafen sich, plötzlich entstand etwas, ging zwischen ihnen hin und her; und dann schienen sie sich fast gewaltsam voneinander loszureißen. Einen Augenblick lang saß Mrs. Hale da, die Hände über der Näharbeit gefaltet, die so ganz anders war als der Rest.

Und schon hatte sie einen Knoten gelöst und die Fäden herausgezogen.

«Aber was machen Sie denn da, Mrs. Hale?«, fragte die Frau des Sheriffs erschrocken.

«Bloß ein paar Stiche auftrennen, die nicht sehr gut gelungen sind«, sagte Mrs. Hale sanft.

«Ich finde, wir sollten nichts anfassen«, sagte Mrs. Peters ein wenig hilflos.

«Ich mach bloß diese Ecke fertig«, antwortete Mrs. Hale immer noch in diesem sanften, nüchternen Tonfall.

Sie fädelte eine Nadel ein und begann die schlecht genähte Stelle auszubessern. Eine Zeit lang nähte sie schweigend. Dann hörte sie die dünne, furchtsame Stimme sagen:»Mrs. Hale!« «Ja, Mrs. Peters?« «Warum, glauben Sie, war sie denn so — nervös?« «Ach, das weiß ich doch nicht«, sagte Mrs.

Hale wegwerfend, als hielte sie es für Zeitverschwendung, sich darüber Gedanken zu machen.»Ich weiß nicht, ob sie – nervös war. Ich nähe selber manchmal ganz komisch, wenn ich einfach bloß müde bin.« Sie schnitt einen Faden ab und sah aus dem Augenwinkel zu Mrs. Peters hoch. Das kleine, schmale Gesicht der Frau des Sheriffs wirkte plötzlich verkniffen.

In ihren Augen lag wieder dieser Blick, als spähte sie in etwas hinein. Gleich darauf rührte sie sich aber und sagte auf ihre zaghafte, unschlüssige Art:»Ich muss noch die Kleider einpacken. Die sind womöglich schneller fertig, als wir denken. Wo ich wohl ein Stück Papier — und Bindfaden finde.« «In dem Wandschrank da vielleicht«, schlug Mrs. Hale vor, nachdem sie sich umgesehen hatte.

Ein Stück der wirren Näharbeit blieb unaufgetrennt. Da Mrs. Peters ihr den Rücken zuwandte, begutachtete Martha Hale das Stück nun eingehend und verglich es mit der fein säuberlichen Arbeit an den anderen Quiltblöcken.

Der Unterschied war verblüffend. Wie sie den Block so in der Hand hielt, überkam sie ein merkwürdiges Gefühl, so als teilten sich ihr die zerstreuten Gedanken der Frau mit, die sich der Arbeit vielleicht zugewandt hatte, um Ruhe zu finden.

Mrs. Peters’ Stimme rüttelte sie auf.

«Hier ist ein Vogelkäfig«, sagte sie.»Hatte sie denn ein Vögelchen, Mrs. Hale?« «Hm, keine Ahnung, ob sie eins hatte oder nicht. «Sie sah den Käfig an, den Mrs. Peters hochhielt.»Ich war schon so lang nicht mehr hier. «Sie seufzte.»Letztes Jahr war mal einer da und hat billige Kanarienvögel verkauft – ich weiß aber nicht, ob sie einen genommen hat.

Vielleicht. Sie hat früher selber sehr hübsch gesungen.« Mrs. Peters blickte in der Küche umher.

«Einen Vogel kann man sich hier eigentlich nicht recht vorstellen. «Sie lachte ein wenig — als versuchte sie etwas abzuwehren.

«Aber sie muss ja einen gehabt haben — wieso hätte sie sonst einen Käfig? Ich möchte wissen, was aus dem geworden ist.« «Vielleicht hat ihn die Katze erwischt«, warf Mrs. Hale ein und nahm ihre Näharbeit wieder auf.

«Nein, sie hatte keine Katze. Sie war so, wie manche Leute bei Katzen sind — sie hatte Angst vor ihnen. Als sie sie gestern zu uns nach Hause brachten und meine Katze ins Zimmer kam, hat sie sich schrecklich aufgeregt und mich gebeten, sie rauszuschaffen.« «So war meine Schwester Bessie auch«, lachte Mrs. Hale.

Die Frau des Sheriffs gab keine Antwort. Auf ihr Schweigen drehte Mrs. Hale sich um. Mrs. Peters war dabei, den Vogelkäfig eingehend zu untersuchen.

«Sehen Sie sich mal dieses Türchen an«, sagte sie bedächtig.»Es ist kaputt. Da ist eine Angel abgerissen.« Mrs. Hale kam näher.

«Sieht so aus, als hätte jemand es — mit Gewalt getan.« Wieder trafen sich ihre Blicke — erschrocken, fragend, ängstlich. Einen Augenblick lang verharrten sie reglos.

Keine sagte etwas. Dann wandte Mrs. Hale sich ab und sagte brüsk:»Wenn die irgendwelche Beweismittel finden wollen, sollen sie sich jetzt mal ranhalten. Mir gefällt’s hier nicht.« «Ich bin furchtbar froh, dass Sie mitgekommen sind, Mrs. Hale. «Mrs. Peters stellte den Vogelkäfig auf den Tisch und setzte sich.»Ich käme mir einsam vor — so ganz allein hier zu sitzen.« «Ja, nicht?«, stimmte Mrs. Hale ihr in entschlossen natürlichem Ton zu. Sie nahm die Näharbeit zur Hand, ließ sie nun aber in den Schoß sinken und murmelte in verändertem Tonfall:»Aber wissen Sie was, Mrs. Peters?

Ich hätte doch mal herkommen sollen, als sie noch hier war. Ach, hätte ich es doch getan!« «Aber Sie waren doch so schrecklich eingespannt, Mrs. Hale. Ihr Haus — Ihre Kinder.« «Ich hätte schon kommen können«, gab Mrs. Hale knapp zurück.»Ich bin weggeblieben, weil es hier so freudlos war — und gerade darum hätte ich kommen sollen. Ich« – sie blickte umher —»ich habe dieses Haus noch nie leiden können. Vielleicht weil es in einer Mulde liegt und man die Straße nicht sehen kann. Ich weiß nicht, was es ist, aber es ist so einsam und abgelegen, immer schon. Ach, wär ich doch gekommen und hätte Minnie Foster mal besucht. Jetzt verstehe ich auch — «Sie sprach es nicht aus.

«Sie sollten sich keine Vorwürfe machen«, redete Mrs. Peters ihr gut zu.»Wir begreifen nicht, wie es um andere Leute steht, bis — etwas passiert.« «Ohne Kinder hat man zwar weniger Arbeit«, sinnierte Mrs. Hale nach kurzem Schweigen,»aber es ist so still im Haus — und Wright war ja den ganzen Tag draußen bei der Arbeit —, und wenn er da war, auch keine richtige Gesellschaft. Kannten Sie John Wright eigentlich, Mrs. Peters?« «Nicht so richtig. Ich hab ihn öfter in der Stadt gesehen.

Er war ein braver Mann, heißt es.« «Ja — brav«, räumte John Wrights Nachbarin grimmig ein.»Er hat nicht getrunken, hat zu seinem Wort gestanden wie wohl jeder andere auch und hat seine Schulden gezahlt. Aber er war ein harter, schroffer Mensch, Mrs. Peters. Nur mit ihm zu plaudern — «Sie hielt inne und erschauderte leicht.»Wie ein rauer Wind, der einem in die Knochen fährt. «Ihr Blick fiel auf den Käfig vor ihr auf dem Tisch, und sie fügte fast bitter hinzu:»Ich kann mir schon vorstellen, dass sie sich ein Vögelchen gewünscht hat!« Plötzlich beugte sie sich vor und betrachtete den Käfig interessiert.»Was glauben Sie, was mit ihm passiert sein könnte?« «Keine Ahnung«, entgegnete Mrs. Peters.»Vielleicht ist es krank geworden und eingegangen.« Doch nachdem sie das gesagt hatte, reichte sie über den Tisch und klappte das kaputte Türchen auf und zu. Beide Frauen starrten wie gebannt darauf.

«Sie kannten — sie also nicht?«, fragte Mrs. Hale, einen etwas freundlicheren Ton anschlagend.

«Nicht, bis sie sie gestern gebracht haben«, sagte die Frau des Sheriffs.

«Sie — wenn ich’s recht überlege, war sie selber so ein bisschen wie ein Vogel. Wirklich lieb und hübsch, aber ziemlich scheu und — flatterig. Wie — hat — sie — sich – doch — verändert!« Dem Gedanken hing sie lange nach. Dann, als wäre ihr gerade etwas Erfreuliches eingefallen, erleichtert, wieder von etwas Alltäglichem sprechen zu können, rief sie aus:

«Wissen Sie was, Mrs. Peters, bringen Sie ihr doch den Quilt mit! Das bringt sie vielleicht auf andere Gedanken.« «Ach, das finde ich aber eine schöne Idee, Mrs. Hale«, stimmte die Frau des Sheriffs zu, als wäre sie ebenfalls froh, dass es jetzt nur darum ging, jemandem etwas Gutes zu tun.»Dagegen kann doch niemand was haben, oder?

Also, was nehme ich denn mit? Ob ihre Stoffstreifen vielleicht hier drin sind — und ihr Nähzeug?« Sie wandten sich dem Nähkorb zu.

«Hier ist etwas Rotes«, sagte Mrs. Hale und brachte eine Stoffrolle zum Vorschein. Darunter befand sich eine Schachtel.»Hier, vielleicht ist hier ihre Schere drin — und ihr Nähzeug. «Sie hielt die Schachtel hoch.»Was für eine hübsche Schachtel! Die hat sie bestimmt schon sehr lange — seit sie ein Mädchen war.« Sie behielt sie ein Weilchen in der Hand, dann öffnete sie sie mit einem leisen Seufzer.

Unwillkürlich fuhr sie sich mit der Hand an die Nase.

«Ach je — !« Mrs. Peters kam näher — und wandte sich gleich ab.

«Da ist was in das Seidenfetzchen eingewickelt«, stammelte Mrs. Hale.

«Es ist aber nicht ihre Schere«, sagte Mrs. Peters mit ersterbender Stimme.

In der zitternden Hand hielt Mrs. Hale das seidene Stoffstückchen hoch.»O, Mrs. Peters!«, rief sie aus.»Es ist — « Mrs. Peters beugte sich vor.

«Es ist der Vogel«, flüsterte sie.

«Aber, Mrs. Peters!«, rief Mrs. Hale.» Sehen Sie doch!

Sein Hals — sehen Sie doch seinen Hals! Der ist ganz – verdreht.« Sie hielt die Schachtel von sich weg.

Die Frau des Sheriffs beugte sich noch näher.

«Jemand hat ihm den Hals umgedreht«, sagte sie mit gedehnter, tiefer Stimme.

Und da trafen sich die Blicke der beiden Frauen erneut – diesmal mit einem Ausdruck ahnungsvoller Erkenntnis, in wachsendem Entsetzen aneinander geklammert.

Mrs. Peters Blick wanderte von dem toten Vogel zum kaputten Käfigtürchen hinüber. Wieder sahen sie einander an. Und in diesem Moment war an der Außentür ein Geräusch zu hören.

Schnell schob Mrs. Hale die Schachtel in den Korb unter die Quiltflicken und ließ sich auf den Stuhl davor sinken.

Mrs. Peters blieb aufrecht stehen und hielt sich am Tisch fest. Der Bezirksstaatsanwalt und der Sheriff kamen von draußen herein.

«Nun, meine Damen«, sagte der Anwalt in einem Ton, als wollte er sich von den ernsthaften Dingen des Lebens nun dem scherzhaften Geplänkel zuwenden,»haben Sie sich jetzt darüber geeinigt, ob sie es zusammennähen oder verknoten wollte?« «Wir glauben«, begann die Frau des Sheriffs aufgeregt, «dass sie — Knoten knüpfen wollte.« Er war so beschäftigt, dass er nicht bemerkte, wie sich ihre Stimme am Ende veränderte.

«Aha, sehr interessant, muss ich sagen«, meinte er wohlwollend. Sein Blick fiel auf den Vogelkäfig.»Ist das Vögelchen weggeflogen?« «Wir glauben, die Katze hat es geholt«, versetzte Mrs. Hale in merkwürdig festem Ton.

Er ging auf und ab, als heckte er irgendetwas aus.

«Gibt’s hier denn eine Katze?«, fragte er zerstreut.

Mrs. Hale warf der Frau des Sheriffs einen raschen Blick zu.

«Na, jetzt nicht mehr«, sagte Mrs. Peters.»Die sind nämlich abergläubisch; die hauen ab.« Sie sank auf ihren Stuhl.

Der Staatsanwalt beachtete sie überhaupt nicht.

«Keinerlei Anzeichen, dass jemand von draußen hereingekommen wäre«, sagte er zu Peters, als wollte er eine unterbrochene Unterhaltung fortsetzen.»Der Strick ist von hier. Jetzt gehen wir noch mal hinauf und gehen alles Stück für Stück durch. Es muss jemand gewesen sein, der ganz genau wusste — « Dann ging die Tür zur Treppe hinter ihnen zu, und ihre Stimmen verloren sich.

Die beiden Frauen saßen reglos da, ohne einander anzusehen, als blickten sie in etwas hinein und hielten sich gleichzeitig davor zurück. Als sie schließlich sprachen, war es, als fürchteten sie sich vor dem, was sie sagten, könnten aber nicht umhin, es auszusprechen.

«Sie hatte den Vogel gern«, sagte Martha Hale leise und bedächtig.»Sie wollte ihn in der hübschen Schachtel begraben.« «Als ich klein war«, sagte Mrs. Peters im Flüsterton, «und mein Kätzchen — das hat ein Junge mit einer Hacke – vor meinen eigenen Augen — bevor ich dazukommen konnte …«Sie schlug die Hände vors Gesicht.»Wenn sie mich nicht zurückgehalten hätten, ich hätte«— sie fasste sich wieder, blickte nach oben, wo Schritte zu hören waren, und schloss matt —»ihm was angetan.« Danach saßen sie da, ohne zu sprechen oder sich zu rühren.

«Ich frage mich, wie es wohl ist«, begann Mrs. Hale schließlich zögernd, als tastete sie sich über unbekanntes Gelände voran,»wenn man nie Kinder um sich gehabt hat?«Ihr Blick schweifte langsam durch die Küche, als könnte sie sehen, was diese Küche all die Jahre bedeutet hatte.»Nein, Wright konnte den Vogel bestimmt nicht leiden«, sagte sie dann,»etwas, das singt. Sie hat früher so gern gesungen. Das hat er auch getötet. «Ihre Stimme versagte.

Mrs. Peters rutschte unbehaglich hin und her.

«Wir wissen natürlich nicht, wer den Vogel getötet hat.« «Ich habe John Wright gekannt«, lautete Mrs. Hales Antwort.

«In jener Nacht ist in diesem Haus etwas Schreckliches getan worden, Mrs. Hale«, sagte die Frau des Sheriffs.

«Einen Mann im Schlaf umbringen — ihm etwas um den Hals schlingen, so dass er erstickt.« Mrs. Hale streckte die Hand nach dem Vogelkäfig aus.

«Seinen Hals. Dass er erstickt.« «Wir wissen nicht, wer ihn umgebracht hat«, flüsterte Mrs. Peters aufgeregt.»Wir wissen es nicht.« Mrs. Hale hatte sich nicht gerührt.»Wenn da jahrelang, jahrelang — nichts war, und dann ein Vogel, der einem was vorsingt, dann war es bestimmt furchtbar — still —, nachdem der Vogel verstummt war.« Es war, als hätte irgendetwas in ihr gesprochen, das nicht sie selbst war, und in Mrs. Peters etwas angerührt, was sie nicht als sich selbst erkannte.

«Ich weiß, was Stille ist«, sagte sie mit seltsamer, monotoner Stimme.»Als wir in Dakota gesiedelt haben und mein erstes Baby gestorben ist — es war zwei Jahre alt — und ich noch kein anderes hatte …« Mrs. Hale regte sich.

«Was glauben Sie, wann die mit ihrer Suche nach Beweismitteln fertig sind?« «Ich weiß, was Stille ist«, wiederholte Mrs. Peters im gleichen Ton. Dann nahm auch sie sich wieder zusammen.

«Ein Verbrechen muss vom Gesetz bestraft werden, Mrs. Hale«, sagte sie in ihrer verkniffenen, leisen Art.

«Sie hätten Minnie Foster sehen sollen«, war die Antwort,»in dem weißen Kleid mit den blauen Bändern, wie sie da oben im Chor stand und sang.« Das Bild von diesem Mädchen und der Gedanke, dass sie zwanzig Jahre lang die Nachbarin dieses Mädchens gewesen war und es aus Mangel an Lebensfreude hatte eingehen lassen, war plötzlich mehr, als sie ertragen konnte.

«Ach, wäre ich doch ab und zu hergekommen!«, rief sie.

« Das war ein Verbrechen! Und wer bestraft das?« «Wir dürfen nicht so ein Theater machen.«Ängstlich sah Mrs. Peters zur Treppe hinüber.

«Ich hätte doch wissen müssen, dass sie Hilfe brauchte!

Wissen Sie, Mrs. Peters, das ist doch einfach seltsam. Da leben wir so nah beisammen und sind doch so weit voneinander entfernt. Wir machen alle dasselbe durch — es ist doch nur eine Spielart von derselben Sache! Wenn’s nicht so wäre — warum verstehen Sie und ich es dann?

Warum wissen wir — was wir in diesem Augenblick wissen?« Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann, als sie das Glas mit dem Obst auf dem Tisch stehen sah, griff sie danach und stieß mühsam hervor:»Ich an Ihrer Stelle würde ihr nicht sagen, dass das Eingemachte verdorben ist! Sagen Sie’s ihr nicht. Sagen Sie, es ist in Ordnung – alles. Hier — nehmen Sie ihr das da als Beweis mit! Sie – sie erfährt ja vielleicht nie, ob es kaputtgegangen ist oder nicht.« Sie wandte sich ab.

Mrs. Peters griff nach dem Glas mit dem Eingemachten, als wäre sie froh, es an sich zu nehmen — als würde es sie von etwas anderem ablenken, wenn sie etwas Vertrautes berührte. Sie stand auf, sah sich nach etwas um, in das sie das Eingemachte einwickeln könnte, nahm von dem Kleiderstapel, den sie aus dem Vorderzimmer hereingebracht hatte, einen Unterrock und fing an, ihn nervös um das Glas zu wickeln.

«Ach je!«, hob sie mit hoher, gekünstelter Stimme an, «wie gut, dass uns die Männer nicht hören konnten! Da regen wir uns so auf über eine Kleinigkeit wie einen – toten Kanarienvogel. «Rasch redete sie weiter.»Als ob das was zu tun haben könnte mit — mit — ach je, die würden uns doch auslachen! « Auf der Treppe waren Schritte zu hören.

«Vielleicht schon«, murmelte Mrs. Hale.»Vielleicht aber auch nicht.« «Nein, Peters«, sagte der Staatsanwalt ungehalten,»es ist alles vollkommen klar, bis auf den Grund für die Tat.

Aber Sie wissen ja, wie Geschworene sind, wenn’s um Frauen geht. Wenn wir was Eindeutiges hätten – irgendetwas zum Vorweisen. Etwas, aus dem sich eine Geschichte bauen ließe. Was sich mit dieser plumpen, ungeschickten Vorgehensweise in Verbindung bringen ließe.« Mrs. Hale warf Mrs. Peters einen verstohlenen Blick zu.

Mrs. Peters sah sie an. Rasch wandten sie den Blick wieder voneinander ab. Die Außentür ging auf, und Mr. Hale trat ein.

«Ich bin jetzt vorgefahren«, sagte er.»Ganz schön kalt da draußen.« «Ich bleibe noch eine Weile allein hier«, verkündete der Anwalt unvermittelt.»Sie können doch Frank herschicken, dass er mich abholt, ja?«, fragte er den Sheriff.»Ich will noch mal alles durchgehen. Ich bin noch nicht überzeugt, dass wir es nicht besser hinkriegen.« Erneut trafen sich die Blicke der beiden Frauen für einen kurzen Augenblick.

Der Sheriff trat an den Tisch.

«Wollten Sie sehen, was Mrs. Peters für sie mitnimmt?« Der Staatsanwalt hob die Schürze hoch. Er lachte.

«Ach, es ist wohl nichts besonders Gefährliches, was die Damen da herausgesucht haben.« Mrs. Hales Hand lag auf dem Nähkorb, in dem die Schachtel versteckt war. Sie hatte das Gefühl, sie sollte die Hand vom Korb nehmen. Doch sie konnte es nicht. Der Bezirksstaatsanwalt nahm einen der Quiltblöcke hoch, die sie zur Tarnung auf die Schachtel gehäuft hatte. Ihre Augen brannten wie Feuer. Sie hatte das Gefühl, wenn er jetzt den Korb hochhob, würde sie ihn ihm entreißen.

Doch er hob ihn nicht hoch. Leise lachend wandte er sich ab und sagte:»Nein, Mrs. Peters muss nicht überwacht werden. Die Frau eines Sheriffs ist schließlich mit dem Gesetz verheiratet. Haben Sie das schon mal so betrachtet, Mrs. Peters?« Mrs. Peters stand neben dem Tisch. Mrs. Hale warf ihr einen Blick zu, konnte ihr Gesicht aber nicht sehen, denn Mrs. Peters hatte sich abgewandt. Als sie zu reden begann, klang ihre Stimme gedämpft.

«Nicht — nur so«, erwiderte sie.

«Mit dem Gesetz verheiratet!«, kicherte Mrs. Peters’ Gatte. Er ging auf die Tür zum Vorderzimmer zu und sagte zum Staatsanwalt:»Kommen Sie doch kurz hier rein, George. Wir sollten uns mal diese Fenster ansehen.« «Ach — die Fenster«, sagte der Anwalt spöttisch.

«Wir kommen gleich raus, Mr. Hale«, sagte der Sheriff zu dem Farmer, der immer noch an der Tür wartete.

Hale ging hinaus, um nach den Pferden zu sehen. Der Sheriff folgte dem Staatsanwalt ins andere Zimmer.

Wieder waren die beiden Frauen — für einen kurzen Moment — allein in der Küche.

Martha Hale sprang auf, die Hände fest aneinander gepresst, und sah die andere Frau an, bei der das Geheimnis ruhte. Erst konnte sie ihre Augen nicht sehen, denn die Frau des Sheriffs hatte sich seit der Bemerkung, sie sei mit dem Gesetz verheiratet, nicht wieder umgedreht. Doch nun zwang Mrs. Hale sie dazu, sich umzudrehen. Mit ihrem Blick zwang sie sie dazu.

Langsam, widerstrebend wandte Mrs. Peters den Kopf, bis ihre Augen auf die der anderen trafen. Eine Weile hielten sie einander in einem unverwandten, brennenden Blick fest, bei dem es kein Entrinnen oder Ausweichen gab.

Dann deuteten Martha Hales Augen auf den Korb hinüber, in dem das Ding versteckt war, das mit Sicherheit zur Verurteilung der anderen Frau führen würde — jener Frau, die nicht anwesend und doch während dieser ganzen Stunde bei ihnen gewesen war.

Eine Weile rührte Mrs. Peters sich nicht. Dann schritt sie zur Tat. Sie warf die Stoffteile beiseite, ergriff die Schachtel und versuchte, sie in ihre Handtasche zu stecken. Sie war zu groß. Verzweifelt klappte sie sie auf und wollte den Vogel herausnehmen. Doch dann konnte sie nicht weiter — sie war nicht imstande, den Vogel zu berühren. Hilflos stand sie da, töricht.

Das Geräusch des Türknaufs, der sich an der inneren Tür drehte, war zu hören. Martha Hale entriss der Frau des Sheriffs die Schachtel und stopfte sie in dem Moment in die Tasche ihres Wintermantels, als der Sheriff und der Bezirksstaatsanwalt wieder in die Küche traten.

«Also, Henry«, witzelte der Anwalt,»wenigstens wissen wir jetzt, dass sie es nicht zusammennähen wollte. Sie wollte es — wie nennen Sie das noch mal, meine Damen?« Mrs. Hale hielt die Hand auf die Tasche ihres Mantels gepresst.»Wir nennen es — Knoten knüpfen, Mr. Henderson.«

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