Liebende in Stadt und Land von NADINE GORDIMER

Die Nobelpreisträgerin Nadine Gordimer (*1923) wurde als Tochter eines Juweliers in der Goldminenregion Südafrikas geboren. Nach der Schulerziehung in einem Kloster schloss sie ihr Studium an der Universität von Witwatersrand in Johannesburg ab. Wie viele Schriftstellerinnen und Schriftsteller war sie in ihrer Kindheit Einzelgängerin und besuchte wegen einer offenbar eingebildeten Herzerkrankung im Alter von elf bis sechzehn keine Schule. Sie wuchs ohne den Kontakt zu anderen Kindern auf, ihre einzigen Gesprächspartner waren ihre Mutter und erwachsene Freunde. Nachdem sie im Alter von fünfzehn Jahren erstmals veröffentlicht wurde, erschienen ihre Kurzgeschichten in so marktbeherrschenden Publikationen wie The New Yorker, Harper’s und Mademoiselle. 1952 kam ihre erste Sammlung von Kurzgeschichten mit dem Titel The Soft Voice of the Serpent and Other Stories heraus (dt. Die sanfte Stimme der Schlange), 1955 dann ihr erster Roman, The Lying Days (dt. Entzauberung). Ihre Ansichten über Rassengleichheit und ihr Loblied auf die menschliche Vielfalt, die sie schließlich zum offenen Widerstand gegen die Apartheidpolitik ihres Landes veranlassten, schrieb sie eher ihrer Lektüre zu als dem Vorbild ihres unpolitischen Elternhauses. Als einen ihrer Lieblingsschriftsteller nannte sie J.D. Salinger, auch er ein Spezialist für die Beschreibung gesellschaftlicher Außenseiter.

Gordimer äußert sich sowohl in ihren belletristischen Werken als auch ihren journalistischen Texten kritisch über das südafrikanische Regime. Einer ihrer Romane, Burger’s Daughter (1979), war in ihrem Heimatland kurze Zeit verboten. Ein Rezensent schrieb in der Zeitschrift Time über A World of Strangers (1958; dt. Ein Fremdling unter Fremden), ihren zweiten Roman, zitiert in Current Biography (Jahrbuch 1959), Gordimer» sagt nicht nur die Wahrheit über ihre Landsleute, sondern sagt sie so gekonnt, dass sie gleichzeitig der Stachel im Fleische wie auch die beste Autorin des Landes geworden ist«.

Sicherlich hat ihre bewusste Opposition — ebenso wie die Opposition anderer südafrikanischer Autoren und Denker — bei der Abschaffung der Apartheid eine Rolle gespielt.

Obgleich Gordimer nicht einmal annähernd als Autorin von Kriminalliteratur gelten kann, darf die schmerzlich reale Geschichte mit dem Titel» Liebende in Stadt und Land«, in der sich Gordimers Sorge über die Politik ihres Landes widerspiegelt und sich dabei mit einigen grundlegenden Wahrheiten über Rassismus auseinander setzt, durchaus zu dieser Kategorie gerechnet werden.

I

Dr. Franz-Josef von Leinsdorf ist ein Geologe, der völlig in seine Arbeit vertieft ist, der ganz in seinem Beruf aufgeht, wie man so sagt — Jahr um Jahr widmet er sich nur seiner Arbeit, die ihn abkapselt von den Landschaften, den Städten und den Menschen, wo immer er sich gerade aufhält, ob nun in Peru, Neuseeland oder den Vereinigten Staaten. So war er immer schon; seine Mutter zu Hause in Österreich könnte es bestätigen. Schon damals sah sie den hübschen kleinen Jungen stets nur im Profil: Immer war er seinen Steinen und Felsproben zugewandt. Seine wenigen Freizeitvergnügungen haben sich seitdem kaum wesentlich geändert. Gelegentlich ein Skiurlaub, Musik hören, Gedichte lesen — Rainer Maria Rilke hatte einst in der Jagdhütte übernachtet, die seine Großmutter in den Wäldern der Steiermark hatte, und auf diese Weise war er schon als Junge sehr früh mit den Gedichten Rilkes in Berührung gekommen.

Eine Gesteinsschicht nach der anderen, von einem Land ins nächste, wo immer seine Arbeit ihn hinführen mochte — und mittlerweile war er schon fast sieben Jahre in Südafrika. Es mangelte hierzulande an Fachkräften, und so kam es zu seiner Einstellung. Die politischen Verhältnisse in den Ländern, in denen er arbeitet, interessieren ihn nicht. Neben seinem allgemeinen Engagement für seine Arbeit galt seine ganze private Vorliebe der Erforschung unterirdischer Wasserläufe, doch die Bergbaugesellschaft, die ihn als übergeordneten, nicht aber als leitenden Fachmann eingestellt hat, ist nur am Aufspüren von Bodenschätzen interessiert. Und so war er oft draußen im Feld — das hierzulande Veld genannt wird — auf der Suche nach neuen Gold-, Kupfer-, Platin- und Uranvorkommen.

Sein Zuhause hat er hier — bei diesem Job, in diesem Land, in dieser Stadt — in einer Zweizimmerwohnung in einem Apartmentblock in den Vororten, mit einer Grünanlage und einem Supermarkt gleich gegenüber, in dem er seine Einkäufe erledigt. Er ist nicht verheiratet — noch nicht. So würden jedenfalls seine Kollegen sagen, die Tippsen und Sekretärinnen in der Hauptgeschäftsstelle der Bergbaugesellschaft. Männer wie auch Frauen würden ihn als gut aussehenden Mann bezeichnen, der etwas Fremdländisches an sich hat; und während seine untere Gesichtshälfte einen dunklen Schatten zeigt und älter wirkt (sein schmaler Mund, die Lippen leicht gekrümmt, und selbst wenn er frisch rasiert ist, sieht man die Stoppeln um Mund und Kinn herum, wie feine Schrotkörner liegen sie in die Haut eingebettet), scheint die obere Hälfte dagegen jünger, mit tief liegenden Augen (manche würden sie grau nennen, andere schwarz), dichten Wimpern und Brauen. Ein rätselhafter, abwesender Blick, dem man seine Konzentration, seine durchschimmernde Nachdenklichkeit leicht als Feuer und Sehnsucht auslegen konnte. Das ist es, was die Frauen in der Firma meinen, wenn sie von ihm behaupten, er sei nicht unattraktiv. Und obgleich dieser Blick viel versprechend scheint, hat er noch nie eine von ihnen eingeladen, mit ihm auszugehen.

Man nimmt allgemein an, dass er wahrscheinlich zu Hause in Europa ein Mädchen hat; dass er bereits einer aus seinen Kreisen versprochen ist, die man dort, wo er herkommt, für ihn ausgewählt hat. Viele dieser gebildeten Europäer haben keineswegs die Absicht, hier sesshaft zu werden; sie können sich weder für die Überbleibsel weißer Kolonialherrschaft noch für ein idealistisches Engagement für Schwarzafrika begeistern.

Einen Vorteil zumindest bietet das Leben in halb- oder unterentwickelten Ländern: Die Apartments sind bewirtschaftet. Alles, was Dr. von Leinsdorf selbst tun muss, ist Lebensmittel einkaufen und sich selbst ein Abendessen kochen, wenn er nicht ins Restaurant will.

Und dazu braucht er bloß nachmittags, wenn er von der Arbeit heimkommt, auf dem Weg zwischen Auto und Wohnung kurz auf einen Sprung in den Supermarkt gegenüber. Er fährt mit dem Einkaufswagen an den Regalen entlang, und hier findet er alles aufgereiht, was er zum täglichen Leben braucht, Päckchen und Konserven, Tuben und Flaschen, folienverpacktes Fleisch, Käse, Obst und Gemüse. An der Kasse, wo die Kunden sich sammeln und der Reihe nach anstellen müssen, stehen Regale mit allerlei kleinen Dingen, die man noch in letzter Minute kauft. Während die farbige Kassiererin die Preise in die Kasse tippt, nimmt er hier noch Zigaretten mit, ein Päckchen Salznüsse oder einen Nougatriegel. Oder Rasierklingen, wenn ihm gerade einfällt, dass sein Vorrat zu Hause zur Neige geht. An einem Abend im Winter sah er, dass der Karton mit seiner bevorzugten Klingenmarke leer im Regal stand, und er machte die Kassiererin darauf aufmerksam. Normalerweise sind diese jungen farbigen Mädchen nicht allzu hilfsbereit, sie nehmen das Geld entgegen, und die Art und Weise, wie sie die Tasten ihrer Registrierkasse drücken und mit dem Starrsinn des Halbgebildeten die Zeit totschlagen, demonstriert die Grenzen jeglicher Verantwortung dem Kunden gegenüber — doch diese hier warf einen kurzen, aufgeweckten Blick über das Rasierklingen-Sortiment, entschuldigte sich, dass sie ihren Platz an der Kasse nicht verlassen dürfe, und sagte, sie werde sich darum kümmern, dass das Regal» bis zum nächsten Mal «nachgefüllt wäre. Ein oder zwei Tage später sah sie ihn bedeutungsvoll an, als er an die Reihe kam und vor ihre Kasse trat —»Ich hab nachgefragt, aber es sind keine mehr am Lager. Sie können keine kriegen.

Ich hab mich extra erkundigt. «Er bedankte sich.

Die ganze nächste Woche war er mit dem Schürftrupp unterwegs. Freitags kam er kurz vor Einbruch der Dämmerung in die Stadt zurück, und er war gerade auf dem Weg vom Auto zur Wohnung, voll bepackt mit Aktentasche, Koffer und Reisetaschen, als ihm jemand schüchtern in den Weg trat. Er wollte sich im Gedränge des Bürgersteigs vorbeidrücken, ohne richtig hinzuschauen, da sprach sie ihn an:»Wir haben die Klingen jetzt wieder vorrätig. Ich habe Sie diese Woche nicht im Laden gesehen, aber ich hab Ihnen welche beiseite gelegt, bis Sie wiederkommen. Nun …« Jetzt erkannte er sie wieder. Er hatte sie nie zuvor aufrecht stehen sehen, und sie hatte einen Mantel an. Sie war recht klein und zierlich, für eine von ihnen. Der Mantel war ihr zu eng, doch hinten lugte kein dicker Hintern hervor. Die Kälte verlieh ihren Wangen eine warme, aprikosenfarbene Tönung; sie hatte ein sehr kleines, fein ausgeprägtes Gesicht, ihre Haut war glatt, von der gedämpften Seidenfarbe eines bestimmten gelben Holzes. Dieses krause Haar, aber zurückgekämmt zu einem kleinen Knoten, den sie unter einen der billigen Wollchignons gezwängt hatte, wie er sie zwischen den Rasierklingen im Regal des Supermarktes hatte hängen sehen. Er bedankte sich, sagte, er sei in Eile, käme gerade von einer Reise zurück — und hob zum Beweis die Lasten, die er mit sich trug.»Oh, wie schade. «Sie begriff, dass er alle Hände voll hatte.

«Aber wenn Sie wollen, kann ich schnell rein laufen und sie Ihnen holen. Wenn Sie wollen.« Er merkte sofort, dass sie nichts weiter wollte, als zurücklaufen in den Supermarkt, die Klingen kaufen und sie ihm hier heraus auf den Bürgersteig bringen, wo er gerade stand. Und es schien aus dieser Überzeugung heraus zu kommen, als er in dem freundlichen, aber bestimmenden Ton, den man gegenüber einem zuvorkommenden Untergebenen anschlägt, zu ihr sagte:

«Ich wohne dort drüben — im Atlantis — dem flachen Gebäude. Könnten Sie sie mir vorbeibringen — Nummer 718, siebter Stock …« Sie war nie zuvor in einem dieser großen, flachen Gebäude gewesen, die rings um den Supermarkt herum standen. Sie wohnte eine Bus- und Bahnfahrt entfernt im Westen der Stadt, doch diesseits der schwarzen Bezirke, in einem Viertel für Leute ihrer Hautfarbe. Am Eingang zum Atlantis war ein Teich mit echten Farnen, nicht aus Plastik, und es gab sogar einen kleinen Wasserfall, der, von einer elektrischen Pumpe betrieben, über ein paar Felsbrocken plätscherte. Sie wartete nicht auf den Lastenaufzug, sondern nahm den Lift, der für Weiße bestimmt war, und eine weiße Frau mit einem dieser fetten Köter an der Leine trat ebenfalls mit in den Aufzug, ohne Notiz von ihr zu nehmen. Die Korridore, die zu den Apartments führten, waren hübsch verglast; es zog nicht.

Er fragte sich, ob er ihr für ihre Mühe ein 20-Cent-Stück geben sollte -1 °Cents waren sonst das angemessene Trinkgeld bei einem Schwarzen; aber sie sagte:»O nein, bitte, hier …«, während sie vor seiner offenen Wohnungstür stand und ihm mit einer linkischen Handbewegung das Wechselgeld in die Hand drückte. Sie lächelte zum ersten Mal, wie sie nun würdevoll ein Trinkgeld zurückwies. Er wusste nie genau, wie er diese Leute hierzulande behandeln sollte; man wusste nie, was sie erwarteten. Trotz ihrer peinlichen Zurückweisung des Geldstücks blieb sie stehen, in aller Bescheidenheit, die Fäuste tief in den Taschen des billigen Mantels vergraben, den sie zum Schutz vor der Kälte trug, aus der sie kam; die dünnen Beine hatte sie zusammengepresst: Knie an Knie, Fessel an Fessel.»Darf ich Ihnen einen Kaffee oder sonst was anbieten?« Er konnte sie schlecht mit in sein Arbeits- und Wohnzimmer nehmen und sie zu einem Drink einladen.

Sie folgte ihm in die Küche, doch als er sah, wie sie den einzigen Stuhl hervorzog, um ihren Kaffee am Küchentisch zu trinken, sagte er:»Nein — kommen Sie doch hier herein …«, und er ging voran ins große Zimmer, wo er ganz alleine lebte zwischen all seinen Büchern und Manuskripten, seinen Ordnern mit wissenschaftlicher Korrespondenz (und den Zigarrenkisten voller Briefmarken, die er von den Umschlägen gelöst hatte), seiner Plattensammlung und den Mineralien- und Gesteinsproben.

Ihr machte es keine große Mühe; sie ersparte ihm den Gang zum Supermarkt und brachte ihm zwei- oder dreimal in der Woche seine Lebensmittel. Er brauchte bloß eine Liste und den Schlüssel unter die Fußmatte zu legen, und die holte sie in ihrer Mittagspause ab und brachte ihm dann nach Feierabend die Einkäufe in die Wohnung.

Manchmal war er zu Hause, manchmal nicht. Er kaufte eine Schachtel Pralinen und stellte sie ihr hin, mit einer kleinen Notiz; und dies fand sie offenbar ein akzeptables Zeichen seines Dankes.

Sie ließ ihre Augen über alles wandern, was es in seiner Wohnung zu sehen gab, doch mit der Haltung ihres Körpers versuchte sie das Gefühl zu vertuschen, hier fremd, gar fehl am Platz zu sein, indem sie so still wie möglich dasaß, reglos auf dem ihr angebotenen Stuhl verharrte wie der abgelegte Mantel eines Besuchers, der genau so liegen bleibt, bis ihn sein Besitzer wieder aufnimmt, wenn ergeht.»Sie sammeln?« «Nun, das sind Gesteinsproben — die brauche ich für meine Arbeit.« «Mein Bruder hat auch gesammelt. Miniaturen. Mit Brandy und Whisky drin. Von überall her, aus allen möglichen Ländern.« Als sie ihm das zweite Mal zuschaute, wie er die Kaffeebohnen mahlte für die Tasse Kaffee, die er ihr angeboten hatte, sagte sie:»Machen Sie das immer so?

Jedes Mal, wenn Sie Kaffee machen?« «Ja, sicher. Ist er Ihnen denn nicht recht so? Ist er vielleicht zu stark?« «Oh, es ist nur so, dass mir das völlig neu ist. Wir kaufen ihn immer fertig — in einer Flasche, wissen Sie, und man schüttet dann ein bisschen davon in die Milch oder ins Wasser.« Er lachte, erklärte:»Das ist kein Kaffee, das ist künstliches Aroma. In dem Land, wo ich herkomme, trinkt man nur richtigen Kaffee, von frisch gemahlenen Bohnen — riechen Sie, wie gut das duftet, wenn man die mahlt?« Der Hausmeister hielt sie an und fragte, was sie denn hier im Hause wolle? Voll beladen mit Einkäufen, die Zeugnis genug waren, gab sie zur Antwort, sie arbeite in Nummer 718, oben im siebten Stock. Der Hausmeister verbot ihr nicht, den Lift für Weiße zu benutzen; schließlich war sie keine Schwarze; in ihrer Familie waren alle ziemlich hellhäutig.

Auf einer seiner Einkaufslisten war ein grauer Hosenknopf aufgeführt. Während sie den Einkaufskorb vom Supermarkt auspackte, sagte sie:»Geben Sie mir doch grad mal schnell die Hose«, und dann nahm sie auf dem Sofa Platz, das immer voller Krümel war von seinem Pfeifentabak. Hin und her ging die Nadel durch die vier Löcher des Knopfes, und die geschickten, sicheren Bewegungen ihrer rechten Hand, mit der sie ihn annähte, hatten all die Gewandtheit, die ihre Sprache vermissen ließ. Wenn sie lächelte, sah man vorn die kleine Lücke zwischen ihren Schneidezähnen, die ihm nicht sonderlich gefiel; doch wenn man ihr Gesicht so im Halbprofil sah, die Augen niedergeschlagen, den Blick auf ihre Arbeit konzentriert, die weichen Lippen fast geschlossen, tat das nichts zur Sache. Er schaute ihr zu, wie sie nähte, sagte:

«Du bist ein braves Mädchen«, und berührte sie.

Spätnachmittags brachte sie stets wieder das Bett in Ordnung, nachdem sie es verlassen hatten, zog sich an, und dann fuhr sie nach Hause. Eine Woche später gab es einen Tag, an dem aus dem späten Nachmittag schließlich Abend wurde, und sie lagen noch immer zusammen im Bett.

«Kannst du nicht über Nacht bleiben?« «Meine Mutter«, sagte sie.

«Ruf sie an. Überlege dir eine Ausrede. «Er war fremd hier. Seit fünf Jahren war er bereits in diesem Land, aber er wusste nicht, dass die Leute dort, wo sie wohnte, normalerweise kein Telefon im Hause habe. Sie stand auf, um in ihre Kleider zu schlüpfen. Es widerstrebte ihm, diesen zarten Körper in die kalte Nacht hinausgehen zu lassen, und immer wieder versuchten seine Hände, sie davon abzuhalten, ohne dass er etwas sagte.

Bevor sie dann in den Mantel schlüpfte, als ihr Körper längst unter den Kleidern verschwunden war, sprach er.

«Aber du musst irgendeine Möglichkeit finden.« «Oh, meine Mutter!«Auf ihrem Gesicht spiegelten sich eine Angst und eine Leere, die er sich nicht erklären konnte.

Er war nicht ganz davon überzeugt, dass die Frau ihre Tochter für eine reine, unbefleckte Jungfrau hielt …

«Warum?« Das Mädchen sagte:»Sie wird sich Sorgen machen. Sie wird Angst haben, dass man uns erwischt.« «Dann erzähle ihr nichts davon. Sage ihr einfach, ich hätte dich eingestellt. «In diesem Lande, in dem er hier arbeitete, gab es normalerweise unterm Dach Zimmer für die Bediensteten der Mieter.

Sie sagte:»Das habe ich bereits dem Hausmeister erzählt.« Sie mahlte jedes Mal frischen Kaffee, wenn er nachts bei seiner Arbeit eine Tasse wollte. Sie wagte nie etwas zu kochen, bevor sie ihm nicht still zugeschaut hatte, wie er es machte, und so lernte sie dann genau die kleinen Mahlzeiten zuzubereiten, die er gern mochte. Sie nahm seine Steinbrocken in die Hand, und als Erstes bewunderte sie ihre Farben —»Oh, das gäbe einen schönen Ring oder eine Kette. «Dann zeigte er ihr die Linien, die Struktur jedes einzelnen Stücks, und erklärte, was es für ein Stein war und wie er sich in den langen Erdenjahren gebildet hatte. Er nannte das Mineral, das er enthielt, und seinen Verwendungszweck. Er arbeitete an seinen Manuskripten, er schrieb und schrieb, jeden Abend, und so war es nicht weiter schlimm, wenn sie nie zusammen ausgehen konnten. Sonntags stieg sie unten in der Garage im Keller zu ihm ins Auto, und sie fuhren hinaus aufs Land, zum Picknick am Megaliesberg, wo nie ein Mensch zu sehen war. Er las oder stocherte zwischen den Felsen herum; sie kletterten zusammen hinauf zu den kleinen Bergseen. Er brachte ihr das Schwimmen bei. Sie war noch nie am Meer gewesen. Sie quiekte und kreischte und ließ dabei ihre Zahnlücke sehen, ganz wie sie es wohl tat — so dachte er bei sich —, wenn sie unter ihresgleichen war.

Gelegentlich kam er einer Einladung zum Dinner im Hause eines Firmenkollegen nach; sie blieb in der Wohnung, nähte und hörte Radio, und wenn er nach Hause kam, fand er ihren warmen Körper im Bett; sie war bereits eingeschlafen. Ohne ein Wort drang er in sie ein, und sie hieß ihn stumm willkommen. Einmal legte er seine Abendgarderobe an, zu einem Dinner im Konsulat seines Heimatlandes; sie schaute ihm zu, wie er ein oder zwei Haare von der Schulter des dunklen Jacketts bürstete, das ihm so gut stand, und sie sah einen großen Saal mit lauter Kronleuchtern vor sich, und die Leute tanzten irgendeinen Tanz aus einem Kostümfilm, würdevoll, einander an den Händen führend. Sie nahm an, dass er — auf ihrem Platz im Auto — eine Partnerin abholte für diesen Abend. Sie küssten sich nie, wenn einer von ihnen aus der Wohnung ging; und als er nach Zigaretten und Schlüsseln griff, hielt er plötzlich inne und sagte:»Du sollst nicht immer so einsam sein. «Und fügte hinzu:»Warum besuchst du eigentlich nicht mal deine Familie, wenn ich hin und wieder abends weg muss?« Er hatte ihr erzählt, dass er nach Weihnachten nach Hause zu seiner Mutter zurückkehren würde, zurück zu den Wäldern und Bergen seiner Heimat, gar nicht weit von der italienischen Grenze — er zeigte es ihr auf der Karte.

Sie hatte ihm nicht erzählt, dass ihre Mutter, die nur die eine Art Doktor kannte, annahm, er sei Arzt, und sie hatte ihr daraufhin auch von den Kindern des Arztes erzählt und von seiner Frau, die eine wirklich nette Dame war, froh darüber, dass sie jemanden hatte, der ihr sowohl in der Arztpraxis wie in der Wohnung zur Hand ging.

Sie äußerte ihr Erstaunen darüber, wie er nach einem arbeitsreichen Tag in der Firma noch bis Mitternacht oder später zu Hause am Schreibtisch sitzen konnte. Wenn sie von ihrer Registrierkasse im Supermarkt nach Hause kam, war sie so müde, dass sie nach dem gemeinsamen Abendbrot kaum noch die Augen offen halten konnte. In Worten, die sie verstand, erklärte er ihr, dass ihre Arbeit eintönig war und kaum wirklich ihre Intelligenz forderte, dass sie nur geringer geistiger und körperlicher Anstrengungen bedurfte, und ihr daher ein Erfolgserlebnis fehlte — wohingegen seine Arbeit auch zugleich das war, was ihn selbst am meisten interessierte, dass sie seine geistigen Fähigkeiten bis an die Grenzen ausschöpfte, all seine Konzentration erforderte und ihn immer wieder mit neuen aufregenden Problemstellungen konfrontierte, und ihn dann ebenso mit Freude und Genugtuung erfüllte, wenn ein Problem gelöst war. Später, als er seine Aufzeichnungen beiseite legte, fragte er in die Stille hinein:»Hast du schon mal was anderes gearbeitet?«

«Vorher habe ich in einer Kleiderfabrik gearbeitet«, antwortete sie,»Sportbeau-Hemden, kennst du die? Aber im Supermarkt zahlen sie besser.« Natürlich. Er war, ganz gleich in welchem Lande er sich aufhielt, ein gewissenhafter Zeitungsleser, und so war ihm nicht entgangen, dass dem Einzelhandel hierzulande erst vor kurzem genehmigt worden war, als Ladenpersonal auch Farbige einzustellen; somit war der Platz an einer Registrierkasse durchaus als Fortschritt zu werten. Und vielleicht konnte ein Mädchen wie sie, bei dem weiterhin anhaltenden Mangel an angelernten weißen Arbeitskräften, durchaus ein paar Stufen höher aufrücken in der Angestelltenkarriere. Er brachte ihr bei, wie man Schreibmaschine schreibt. Er war sich darüber im Klaren, dass ihr Englisch nicht das beste war, auch wenn es sich in seinen Ohren — als Ausländer — nicht allzu schlimm anhörte und sie nicht gleich abklassifizierte, wie es das in den Ohren von jemand seines Bildungsniveaus tun mochte, dessen Muttersprache Englisch war. Er korrigierte ihre grammatikalischen Fehler, doch entgingen ihm die weniger auffälligen, weil sein eigenes Englisch selbst oft exotisch genug war — und sie fuhr fort, auch weiterhin das Pronomen» es «zu benutzen, wo eigentlich der Plural «sie «hingehörte. Weil er selbst Ausländer war (wenn auch ein sehr kluger, wie sie merkte), war sie beim Tippen weniger gehemmt, wie sie es sonst bei ihren Rechtschreibfehlern gewesen wäre. Während sie so an der Schreibmaschine saß, stellte sie sich vor, wie sie ihm eines Tages seine Manuskripte abtippen würde, wie sie ihm dann seinen Kaffee so machte, wie er ihn gern hatte, und ihn in ihren Körper aufnahm, ohne ein Wort zu sagen, und wie sie (wenn auch nur sonntags, wenn niemand auf der Straße war) in seinem Auto neben ihm saß wie eine richtige Ehefrau.

An einem Sommerabend kurz vor Weihnachten — er hatte bereits eine Uhr für sie gekauft, ein etwas auffälliges, doch gutes Stück, von dem er annahm, dass es ihr gefiel – ertönte ein lautes Klopfen an der Tür, das sie aus dem Badezimmer lockte und ihn an seinem Schreibtisch hochfahren ließ.

Es kam nie vor, dass sie abends jemand besuchte; er hatte keine Freunde, die ihm nahe genug standen, um unangemeldet vorbeizukommen. Es war ein anmaßendes Klopfen, ohne Pause, und es klang ganz so, als würde es nicht eher aufhören, bis man die Tür öffnete.

Sie stand in der offenen Badezimmertür und starrte ihn über den Durchgang zum Wohnzimmer hinweg an; hinter dem großen Badetuch schauten ihre nackten Schultern und Füße hervor. Kein Wort, nicht einmal ein Flüstern kam über ihre Lippen. Unter dem lauten, anhaltenden Hämmern an der Tür schien die ganze Wohnung zu erzittern.

Schließlich machte er eine Bewegung, als wolle er zur Tür gehen, aber nun rannte sie auf ihn zu und packte ihn mit festem Griff an beiden Armen. Sie schüttelte wild mit dem Kopf, ihre Lippen teilten sich, doch die Zähne hatte sie fest aufeinander gebissen, sie sagte kein Wort. Sie zog ihn ins Schlafzimmer, schnappte sich flugs ein paar Kleidungsstücke von der frischen Wäsche, die auf dem Bett ausgebreitet war, und stieg in den Wandschrank, drückte ihm den Schlüssel in die Hand. Obwohl er spürte, wie seine Arme und Waden kalt und gefühllos waren vor Schreck, war er doch entsetzt und fassungslos, ja angewidert von dem Anblick, wie sie sich da hinter seinem Mantel und seinen Anzügen zusammenkauerte; es war abscheulich und lächerlich zugleich. Komm raus! flüsterte er. Nein, komm raus da! Sie zischte: Wohin? Wo soll ich denn hin?

Egal! Aber komm raus da!

Er streckte die Hand aus, um nach ihr zu greifen. In die Enge getrieben, sagte sie mit einem grauenvollen, gehetzten Flüstern, wobei man ihre Zahnlücke sehen konnte: Ich springe aus dem Fenster.

Sie presste ihm den Schlüssel in die Hand, als sei es ein Messergriff. Er schlug ihr die Tür vor der Nase zu, schloss den Schrank ab und ließ den Schlüssel zu dem Kleingeld in seiner Hosentasche fallen.

Er nahm die Sperrkette ab, mit der die Wohnungstür gesichert war. Er drehte den kantigen Knopf des Yale-Schlosses herum. Die drei Polizeibeamten, zwei von ihnen in Zivil, standen ohne alle Eile da, obwohl sie bereits ein paar Minuten lang an die Tür gehämmert hatten. Der große Dunkle mit dem raffinierten Schnurrbart streckte eine Hand aus, an der er einen geflochtenen goldenen Ring trug, und hielt ihm irgendeinen Ausweis hin.

Dr. von Leinsdorf spürte, wie allmählich wieder das Blut in seinen Armen und Beinen zirkulierte, und er sagte mit ruhiger Stimme:»Worum geht es?« Der Sergeant sagte, sie wüssten, dass sich eine Farbige in der Wohnung aufhielte. Sie seien über alles im Bilde.

«Ich beobachte diese Wohnung jetzt schon seit drei Wochen, ich weiß Bescheid.« «Ich bin alleine hier. «Dr. von Leinsdorf sagte es, ohne den Ton seiner Stimme zu heben.

«Ich weiß Bescheid, ich weiß genau, wer da ist.

Kommen Sie — « Und der Sergeant und seine beiden Begleiter gingen ins Wohnzimmer hinein, in die Küche, ins Badezimmer (hier nahm der Sergeant eine Flasche After Shave in die Hand, schien das französische Etikett zu studieren) und ins Schlafzimmer. Die beiden Zivilen schoben die frische Decke zurück, zogen die Laken ab und trugen sie zu dem Sergeanten, der sie unter der Lampe inspizierte. Sie unterhielten sich in Afrikaans, das der Doktor nicht verstand. Der Sergeant schaute persönlich unter das Bett, hob die langen Vorhänge am Fenster in die Höhe. Die Türen am Wandschrank waren ohne Griff; er merkte, dass sie abgeschlossen waren, und fragte erst in Afrikaans, wechselte dann höflicherweise zu Englisch.»Geben Sie uns den Schlüssel.« Dr. von Leinsdorf sagte:»Es tut mir Leid, aber ich habe ihn in meinem Büro liegen lassen — ich schließe morgens immer ab und nehme den Schlüssel mit ins Büro.« «Es hilft alles nichts, Mann, Sie geben mir besser den Schlüssel.« Er lächelte knapp, nicht übertrieben.»Er liegt auf meinem Schreibtisch im Büro.« Die beiden Zivilen holten einen Schraubenzieher hervor, und er schaute zu, wie sie ihn in den Schlitz zwischen den Schranktüren schoben, ihm einen kurzen, kräftigen, nicht allzu heftigen Ruck gaben. Er hörte, wie das Schloss nachgab.

Gewiss, sie war splitternackt gewesen, als sie an die Tür gehämmert hatten. Doch nun hatte sie ein Paar Jeans an und ein langärmeliges T-Shirt mit einem aufgenähten Schmetterling auf der einen Brust. Ihre Füße waren noch immer nackt; zwar war es ihr in dem dunklen Schrank gelungen, in die Kleider hineinzuschlüpfen, die sie hastig vom Bett gerafft hatte, doch sie war ohne Schuhe. Es war anzunehmen, dass sie hinter der Schranktür geweint hatte (man sah fleckige Spuren auf ihren Wangen), doch nun war ihre Miene düster, sie atmete schwer; ihr Bauchfell zuckte unkontrolliert, unter dem Stoff des T-Shirts hoben sich ihre Brüste ab. Es sah aus, als sei sie wütend; vielleicht kam es auch bloß daher, dass sie unter Sauerstoffmangel litt, weil sie halb erstickt war in dem engen Schrank. Sie schaute Dr. von Leinsdorf nicht an.

Auf die Fragen des Sergeants gab sie keine Antwort.

Sie wurden zum Polizeirevier gebracht, wo man sie sofort trennte und nacheinander zur Untersuchung durch den Amtsarzt führte. Man nahm dem Mann die Unterwäsche ab und untersuchte sie, wie zuvor schon die Bettlaken, auf Spermaspuren. Bei der Entkleidung des Mädchens entdeckte man, dass sie unter ihren Jeans eine Männerunterhose trug, auf deren ordentlich eingenähtem Wäscheschild sein Name stand; in der Eile hatte sie die falsche Unterwäsche mit in ihr Versteck genommen.

Jetzt weinte sie, als sie in einer Männerunterhose vor dem Amtsarzt stand.

Er sah höflich darüber hinweg. Er reichte Unterhose, Jeans und T-Shirt zur Tür hinaus und gab ihr ein Zeichen, auf den hohen, weißen Tisch zu steigen, wo er dann ihre Schenkel auseinander schob und sie auf Beinstützen legte; und dort, wo der andere so behutsam und voller Wärme eingedrungen war, steckte er ein kaltes, hartes Instrument hinein, das sich immer weiter öffnete. Ihre Schenkel und die Knie zitterten unkontrolliert, während der Arzt in sie hineinschaute und sie tief innen drin mit weiteren harten Instrumenten berührte, an denen vorne kleine Wattebäusche dran waren.

Als sie von der Untersuchung zurück ins Vernehmungszimmer kam, war Dr. von Leinsdorf nicht zu sehen; sie mussten ihn woanders hingeführt haben. Den Rest der Nacht verbrachte sie in einer Zelle, wie er wahrscheinlich auch; doch früh am nächsten Morgen wurde sie entlassen und von einem weißen Mann zum Hause ihrer Mutter gebracht, der ihr erklärte, er sei der Sekretär des Rechtsanwaltes, den Dr. von Leinsdorf für sie engagiert habe. Dr. von Leinsdorf, sagte der Sekretär, habe man ebenfalls an diesem Morgen gegen Kaution freigelassen. Er sagte nichts davon, wann oder ob sie ihn jemals wieder sehen würde.

Als sie und der Mann vor Gericht standen, angeklagt wegen Verstoßes gegen das Sittlichkeitsgesetz, begangen in einer Johannesburger Wohnung am — . Dezember 19-, wurde dem Gericht eine Aussage des Mädchens

übergeben, die es bei der polizeilichen Vernehmung gemacht hatte. Ich wohnte mit dem weißen Mann zusammen in seiner Wohnung. Er hatte ab und zu Geschlechtsverkehr mit mir. Er gab mir Tabletten zum Einnehmen, damit ich nicht schwanger wurde.

Als sie von den Sonntagsblättern interviewt wurde, sagte das Mädchen:»Es tut mir Leid für all den Kummer, den es meiner Mutter brachte. «Sie sagte, dass sie eines von neun Kindern einer Waschfrau sei. Sie hatte nach der dritten Klasse die Schule verlassen, weil zu Hause kein Geld übrig war für Turnsachen oder einen Schulblazer. Sie hatte in einer Fabrik als Maschinennäherin gearbeitet und als Kassiererin in einem Supermarkt. Dr. von Leinsdorf hatte ihr beigebracht, seine Manuskripte abzutippen.

Dr.

Franz-Josef von Leinsdorf, der als Enkel einer Baronin beschrieben wurde, ein kultivierter Mann, dessen Arbeitsfeld die internationale mineralogische Forschung war, sagte, dass er zwar soziale Rangunterschiede zwischen Menschen akzeptiere, doch sei er der Meinung, dass diese nicht gesetzlich verankert werden dürften.

«Sogar in meiner Heimat ist es schwer für einen Menschen aus der Oberschicht, jemanden aus der Unterschicht zu heiraten.« Die beiden Angeklagten machten keine Aussagen.

Weder grüßten sie sich, noch sprachen sie vor Gericht miteinander. Die Verteidigung führte an, dass die Beweisgründe, die der Sergeant für ihr Zusammenleben vorbrachte, nur auf Gerüchten basierten (Die Frau mit dem Dackel? Der Hausmeister?). Sie wurden beide freigesprochen, weil der Staatsanwalt nicht nachweisen konnte, dass am Abend des — . Dezember 19- ein Geschlechtsverkehr stattgefunden hatte.

Die Sonntagsblätter zitierten die Mutter des Mädchens, von der auch ein Bild abgedruckt wurde:»Ich werde nie wieder zulassen, dass meine Tochter als Dienstmädchen für einen weißen Mann arbeitet.«

II

Solange sie noch klein sind, spielen die Farmkinder immer zusammen, doch wenn die weißen Kinder erst einmal weg ins Internat gehen, spielen sie schon bald nicht mehr miteinander, auch nicht in den Ferien. Zwar bekommen auch die schwarzen Kinder eine Art Schulunterricht, doch bleiben sie Jahr um Jahr weiter hinter den Leistungen der weißen Kinder zurück. All das kindliche Vokabular, das Erforschen der abenteuerlichen Möglichkeiten, die Dam, Koppies, Mealie Lands und Veld den Kindern bieten — es kommt die Zeit, da lassen die weißen Kinder all das hinter sich und vertauschen es mit dem Vokabular des Internats und den Möglichkeiten der Schulwettkämpfe und der Art Abenteuer, die man im Kino sieht. Das geschieht dann passenderweise gerade im Alter von 12 oder 13, so dass die schwarzen Kinder, neben den körperlichen Veränderungen, die alle von ihnen durchmachen, auch gleich schon beim Eintritt ins jugendliche Alter ohne viel Aufhebens zu der Erwachsenen-Anrede überwechseln und ihre alten Schulkameraden nun mit Missus oder Baasie titulieren — was soviel heißt wie kleiner Herr.

Das Verhängnisvolle war, dass Paulus Eysendyck gar nicht zu bemerken schien, dass Thebedi, die man stets an den abgelegten Kleidern seiner Schwestern erkannte, jetzt einfach nur eines von vielen Farmkindern unten im Kral war. Als er in den ersten Weihnachtsferien nach Hause kam, brachte er Thebedi eine bemalte Schatulle mit, die er in der Schule im Werkunterricht gebastelt hatte. Er musste sie ihr heimlich geben, weil er nichts hatte für all die anderen Kinder im Kral. Und bevor er wieder zurückkehrte ins Internat, gab sie ihm ein Armband, das sie aus dünnem Messingdraht und den grauweißen Rizinusbohnen gemacht hatte, die ihr Vater anbaute. (Als sie noch zusammen spielten, war sie es gewesen, die ihm gezeigt hatte, wie man aus Ton kleine Zugochsen formt für ihre Spielzeuggespanne.) Unter den Jungen war es sehr beliebt, auch in den Platteland-Städten wie jener, wo er im Internat war, neben der Armbanduhr noch Armbänder aus Elefantenhaar und ähnlichem zu tragen; seines wurde allgemein bewundert, und seine Freunde baten ihn darum, auch ihnen solch ein Armband zu besorgen. Er sagte, die Eingeborenen auf der Farm seines Vaters würden sie machen, und er wolle es versuchen.

Als er fünfzehn war und einsachtzig groß, als er mit den Mädchen von dem Pensionat in der gleichen Stadt auf den Schulfesten herumzog und bereits gelernt hatte, wie man neckt und flirtet und auch ganz ungeniert herumschmust mit diesen Mädels, deren Väter ebenso wohlhabende Farmer waren wie der seine; als er bei einer Hochzeitsfeier auf einer Nachbarfarm, zu der ihn seine Eltern mitgenommen hatten, sogar auch schon eine kennen gelernt hatte, die ihn in einem verschlossenen Lagerraum das mit ihr tun ließ, was die Leute immer machen, wenn sie sich lieben — als er nun schon so weit von seiner Kindheit entfernt war, brachte er dennoch aus einem Laden in der Stadt für das schwarze Mädchen Thebedi einen roten Plastikgürtel und ein Paar goldene Ohrreifen mit. Ihrem Vater erzählte sie, die Missus hätte sie ihr zur Belohnung für eine Arbeit geschenkt — es stimmte, dass man sie bisweilen zur Aushilfe ins Farmhaus holte. Den Mädchen erzählte sie, sie hätte einen Schatz; weit, weit weg auf einer anderen Farm, und sie kicherten und neckten und bewunderten sie. In dem Kral gab es einen Jungen namens Njabulo, der sagte, er wünschte, er hätte das Geld, um ihr einen Gürtel und Ohrringe zu kaufen.

Als der Sohn des Farmers die Ferien über zu Hause war, wanderte sie weitab vom Kral, fern ihrer Gefährten dahin.

Auch er ging stets allein spazieren. Sie hatten sich nicht verabredet, es war ein Verlangen, dem jeder aus eigenen Stücken folgte. Schon von weitem sah er, dass sie es war.

Und sie wusste, dass sein Hund nie bellte, wenn sie sich näherte. Unten an dem ausgetrockneten Flussbett, dort wo die Kinder eines großen Tages vor fünf oder sechs Jahren einen Leguan gefangen hatten — eine Kreatur, die auf ideale Weise die Größe und den Schrecken eines Krokodils mit der Harmlosigkeit einer Eidechse in sich vereinte —, ließen sie sich Seite an Seite auf der sandigen Uferböschung nieder. Er erzählte ihr davon, was er auswärts erlebt hatte: von der Schule und vor allem von den Strafen, die es dort setzte, wobei er ebenso die Schwere der Strafen übertrieb wie seine Gleichgültigkeit ihnen gegenüber. Er erzählte ihr von der Stadt Middleburg, in der sie nie gewesen war. Sie hatte ihm selbst nichts zu erzählen, doch wie jeder gute Zuhörer spornte sie ihn mit Fragen an. Während er sprach, zerrte und drehte er an den Wurzeln des weißen Stinkbaumes und der Kapweiden, die rundum aus der ausgewaschenen Erde ragten. Hier unten war für die Kinder schon immer ein beliebter Platz zum Spielen gewesen, im Gewirr der alten, ameisenzerfressenen Bäume, die halb umgestürzt zwischen den gesunden hingen, im wilden Asparagus, der um die Stämme wucherte, mit einem Feigenkaktus hier und da, der sich saftlos am Leben hielt bis zur nächsten Regenzeit, borstig und verschrumpelt wie das Gesicht eines alten Mannes. Während sie ihm lauschte, stocherte sie mit einem spitzen Stock immer wieder in der trockenen Haut eines Feigenkaktus. Oft musste sie lachen bei dem, was er ihr erzählte, und manchmal ließ sie ihr Gesicht auf die Knie sinken, ließ die kühle, schattige Erde zu ihren Füßen teilhaben an ihrem Vergnügen. Wenn er auf der Farm war, zog sie immer ihre einzigen Schuhe an — weiße Sandalen, gegen den Farmstaub dick mit weißer Schuhcreme eingeschmiert —, doch hier am Flussbett hatte sie die ausgezogen und beiseite gelegt.

An einem Nachmittag im Sommer, als es heiß war und dort Wasser floss, watete sie hinein, wie sie es einst als Kinder getan hatten, ihr Kleid hatte sie sittsam hochgerafft und in die Hose gesteckt. Die Schulmädchen, mit denen er immer an den Stauseen und an den Teichen der Nachbarfarmen schwimmen ging, trugen Bikinis, doch nie hatte ihn der Anblick ihrer Bäuche und Schenkel, die im Sonnenlicht glitzerten, das fühlen lassen, was er jetzt fühlte, als das Mädchen die Uferböschung heraufkam und sich neben ihn setzte; und die Wassertropfen, die von ihren dunklen Beinen perlten, waren die einzigen Lichtpunkte hier in diesem düsteren, schattigen Winkel, wo es nach Erde roch. Sie hatten keinerlei Angst voreinander, hatten einander schon immer gekannt; und er tat mit ihr das, was er damals in dem Lagerraum bei dem Hochzeitsfest gemacht hatte, und dieses Mal war es so schön, so schön, er war ganz überrascht … auch sie war überrascht — er sah es auf ihrem Gesicht, das eins war mit dem Schatten, in diesen großen dunklen Augen, die wie weiches Wasser glänzten und ihn aufmerksam anblickten: so wie einst, als sie miteinander über ihre kleinen Ochsengespanne aus Ton gebeugt saßen, wie damals, als er ihr davon erzählte, wie er immer übers Wochenende in der Schule nachsitzen musste.

Im Laufe dieser Sommerferien gingen sie noch oft hinunter zum Flussbett. Sie trafen sich, kurz bevor die Dämmerung hereinbrach, was sehr schnell geht in dieser Gegend, und wenn es dann dunkel war, kehrte jeder wieder nach Hause zurück — sie zur Hütte ihrer Mutter, er zum Farmhaus —, gerade rechtzeitig zum Abendbrot. Er erzählte ihr nichts mehr über die Schule oder die Stadt. Sie fragte ihn nicht mehr danach. Er sagte ihr jedes Mal, wann sie sich wieder treffen würden. Ein- oder zweimal blieben sie bis zum frühen Morgen; das Muhen der Kühe, die zur Weide getrieben wurden, drang herüber zu ihnen, wo sie lagen, und das wortlose Erkennen dieses Klanges, das ein jeder dem anderen an den Augen ablesen konnte, trieb die eng aneinander Geschmiegten auseinander.

In der Schule war er allgemein beliebt. Er spielte erst in der zweiten, dann in der ersten Fußballmannschaft. Es hieß, die Schulsprecherin der Mädchenschule sei in ihn verknallt; er mochte sie nicht besonders, aber es gab da eine hübsche Blondine, die ihr langes Haar zu einer Art Knoten hochgesteckt trug, mit einer schwarzen Schleife drum herum, und mit ihr zusammen ging er immer ins Kino, wenn die Jungen und Mädchen Samstagnachmittags schulfrei hatten. Schon als Zehnjähriger war er auf der Farm mit Traktoren und Ähnlichem gefahren, und als er achtzehn war, machte er dann seinen Führerschein, und im letzten Schuljahr führte er in den Ferien die Nachbarstöchter aus zum Tanz oder in das Autokino, das gerade zwanzig Kilometer von der Farm entfernt aufgemacht hatte. Seine Schwestern waren bereits alle verheiratet, und wenn seine Eltern übers Wochenende die jungen Ehefrauen und die Enkelkinder besuchten, überließen sie die Farm so lange seiner Obhut.

Wenn Thebedi Samstagnachmittags sah, wie der Farmer mit seiner Frau davonfuhr, den Kofferraum des Mercedes voll beladen mit frisch geschlachtetem Geflügel und mit Gemüse aus dem Garten, dessen Pflege zur Arbeit ihres Vaters gehörte, dann wusste sie, dass sie nicht zum Flussbett, sondern zu dem Farmhaus kommen musste. Es war ein altes Gebäude, mit dicken Mauern, und innen war es düster und kühl. Die Küche war stets voller Leben, sie war der Mittelpunkt, mit ihren Dienstboten, Speisevorräten, bettelnden Katzen und Hunden, überkochenden Töpfen, frischer Wäsche, die vor dem Bügeln in der Wärme aufgehängt wurde, und der großen Kühltruhe, die die Missus hatte aus der Stadt kommen lassen, mit einem gehäkelten Deckchen obenauf und einer Vase mit Schwertlilien aus Plastik. Das Esszimmer aber, in dem der schwere Tisch mit den klobigen Beinen stand, hinter dessen Tür stets der alte, satte Geruch nach Suppe und Tomatensoße hing, war verschlossen. Im Wohnzimmer waren die Vorhänge vorgezogen, der Fernseher stand still in seiner Ecke. Die Tür zum Elternschlafzimmer war abgeschlossen, und in den Zimmern, wo früher die Töchter geschlafen hatten, waren die Betten mit Plastiktüchern abgedeckt. Dort, in einem von diesen, verbrachten sie und der Farmersohn oft die ganze Nacht — fast, denn sie musste fort, bevor die Dienstboten, die sie ja kannten, bei Tagesanbruch ins Haus kamen. Er hatte Angst, dass man sie oder Spuren von ihr entdeckte, wenn er sie mit in sein eigenes Schlafzimmer nahm, obwohl sie dort schon oft hineingeschaut hatte, wenn sie im Farmhaus aushalf, und sie kannte sie gut, die Reihe der silbernen Pokale, die er in der Schule gewonnen hatte.

Als sie achtzehn war und der Sohn des Farmers neunzehn, als er gerade seinem Vater auf der Farm aushalf, bevor er aufs College ging, um Veterinärmedizin zu studieren, hielt der junge Njabulo bei ihrem Vater um ihre Hand an. Die Eltern Njabulos trafen sich mit den ihren, und man einigte sich über die Summe Geldes, die er anstelle der Kühe zu zahlen hatte, welche man nach altem Brauch den Eltern der zukünftigen Braut geben musste.

Kühe konnte er keine bieten; er war Arbeiter auf der Eysendyck-Farm wie ihr Vater. Ein aufgeweckter Junge; der alte Eysendyck hatte ihm das Mauern beigebracht und setzte ihn bei Bauarbeiten ein, wenn es hier und dort auf der Farm etwas auszubessern gab. Sie erzählte dem Farmersohn nichts davon, dass ihre Eltern sie verheiraten wollten. Und sie sagte ihm auch nicht, dass sie ein Baby erwartete, bevor er zum ersten Semester ans College fuhr.

Zwei Monate nach ihrer Hochzeit mit Njabulo brachte sie eine Tochter zur Welt. Dies war keine Schande; bei ihrem Volk ist es Brauch, dass sich der junge Bräutigam vor der Hochzeit vergewissert, ob seine Auserwählte auch nicht unfruchtbar ist, und so hatte Njabulo damals mit ihr geschlafen. Aber das Kind hatte eine ziemlich helle Haut, die auch nicht gleich nachdunkelte, wie es sonst bei afrikanischen Babys meist der Fall ist. Schon bei seiner Geburt hatte es diesen glatten, feinen Flaum auf dem Kopf, der jenem ähnelte, den die Flugsamen eines bestimmten Unkrauts trugen, das draußen auf dem Felde wuchs. Als es seine kleinen Augen aufmachte, waren sie grau, mit gelben Flecken. Njabulos Haut hatte die matte, dunkle Farbe von Kaffeesatz, die schon immer schwarz genannt wurde; dieselbe Farbe wie auch Thebedis Beine, auf der das herabperlende Wasser bläulich schimmerte wie Austernmuscheln, wie ihr Gesicht, in dem die schwarzen Augen dominierten, mit ihrem hellen Weiß, ihrem aufgeweckten Blick.

Njabulo beklagte sich nicht. Er ging zu dem indischen Laden und kaufte für Thebedis Baby von dem Lohn, den er als Farmarbeiter bekam, eine Klarsichtpackung mit einer rosa Plastikbadewanne, sechs Windeln, ein Kärtchen Sicherheitsnadeln, ein Strickjäckchen, Mütze und Stiefelchen, ein Kleid und eine Dose Johnson’s Babypuder.

Als es zwei Wochen alt war, kam Paulus Eysendyck über die Ferien vom Veterinärcollege nach Hause. In der Küche seiner Mutter, der vertrauten Umgebung seiner Kindheit, trank er ein Glas frische, noch warme Milch, und er hörte, wie sie mit der alten Dienstmagd darüber sprach, wo man jetzt wohl eine neue Aushilfe finden konnte, nachdem Thebedi ein Baby bekommen hatte. Das erste Mal, seit er ein kleiner Junge war, ging er bis in den Kral hinein. Es war elf Uhr morgens, die Männer waren bei der Arbeit auf dem Feld. Er schaute sich suchend um; die Frauen wandten sich ab, keine von ihnen wollte nach dem Weg zu Thebedis Haus gefragt werden. Da erschien Thebedi, langsam kam sie aus der Hütte heraus, die Njabulo nach der Art des weißen Mannes erbaut hatte, mit einem Ofenrohr als Abzug und einem richtigen Glasfenster, das so gerade eingesetzt war, wie das bei einer Wand aus ungebrannten Lehmziegeln eben ging. Sie grüßte ihn mit aneinander gelegten Händen und einer symbolischen Geste, die den respektvollen Knicks andeutete, mit der sie sonst seinem Vater oder seiner Mutter gegenübertrat. Er zog den Kopf ein und trat durch den niedrigen Eingang in die Hütte. Er sagte:»Ich will es sehen. Zeig es mir.« Sie hatte das Bündel vom Rücken genommen, bevor sie hinausging ans Tageslicht, ihm gegenübertrat. Sie zwängte sich zwischen das eiserne Bettgestell, auf dem Njabulos karierte Decken lagen, und den kleinen Holztisch, auf dem die rosa Plastikbadewanne zwischen dem Essen und den Kochtöpfen stand, und hob das kleine Bündel aus dem behaglich ausgeschlagenen Pappkarton, in dem es lag. Das Kind schlief; sie entblößte sein verschlossenes, bleiches, plumpes kleines Gesicht, an dessen Mundwinkel eine Speichelblase hing; und die dünnen rosa Händchen begannen sich zu regen. Sie nahm die Wollmütze ab, und das glatte, feine Haar flog wie elektrisiert hoch, hier und da konnte man eine blonde Strähne sehen. Er sagte nichts.

Sie schaute ihn an wie damals, als sie noch klein waren und die Kinder beim Spielen das Getreide zertrampelt oder sonst etwas angestellt hatten, und er dann als Sohn des Farmers, der einzige Weiße unter ihnen, beim Farmer ein gutes Wort für sie einlegen musste. Sie weckte das schlafende Gesicht, indem sie es sanft mit dem Finger an der Backe kraulte, und ganz langsam öffneten sich die kleinen Augen, sahen nichts, schliefen noch, erwachten und wurden größer, blickten sie an, graue Augen mit gelben Flecken, ganz wie seine nussbraunen Augen.

Einen Moment lang war sein Gesicht verzerrt vor Wut und Selbstmitleid, kämpfte er mit den Tränen. Sie brachte es nicht fertig, die Hand nach ihm auszustrecken. Er sagte:

«Du bist noch nicht damit in der Nähe des Hauses gewesen?« Sie schüttelte den Kopf.

«Wirklich nicht?« Wieder schüttelte sie den Kopf.

«Nimm es nicht mit nach draußen. Bleib damit hier im Haus. Kannst du es denn nicht irgendwohin bringen. Du musst es jemandem geben …« Sie ging mit ihm zur Tür.

Er sagte:»Ich werde sehen, was ich mache. Ich weiß es noch nicht. «Und dann sagte er:»Ich könnte mich umbringen.« Ihre Augen begannen zu glänzen, füllten sich mit Tränen. Einen Augenblick lang überkam sie beide ein Gefühl wie damals, als sie zusammen unten am Flussbett waren.

Er ging hinaus.

Zwei Tage später, als sein Vater und seine Mutter den Tag über weggefahren waren, tauchte er wieder auf. Die Frauen waren auf den Feldern beim Unkrautjäten, eine Gelegenheitsarbeit, der sie den Sommer über nachgingen; nur die ganz Alten blieben zurück, sie hockten vor den Hütten auf dem Boden, in der prallen Sonne, umgeben von Fliegen. Thebedi bat ihn nicht herein. Dem Kind ging es nicht gut; es litt an Durchfall. Er fragte, wo seine Nahrung sei. Sie sagte:»Es bekommt die Milch von mir. «Er ging in Njabulos Haus hinein, wo das Kind lag; sie folgte ihm nicht, blieb vor der Hütte stehen und schaute, ohne es recht wahrzunehmen, einem alten Weib zu, das wirr im Kopf war und mit sich selbst sprach und mit den Hühnern, die keine Notiz von ihm nahmen.

Sie glaubte, ein leises Grunzen aus der Hütte zu vernehmen, wie es kleine Kinder von sich geben, wenn sie satt sind oder tief schlafen. Wie lange es dauerte, wusste sie nicht, doch nach einer Weile kam er wieder heraus und stapfte davon, ganz wie sein Vater, und verschwand in Richtung des Farmhauses.

In dieser Nacht wurde das Baby nicht gefüttert, und obwohl sie Njabulo immer wieder versicherte, es schliefe, sah er am nächsten Morgen, dass es tot war. Er tröstete sie mit Worten, streichelte sie. Sie weinte nicht, saß nur da und starrte zur Tür. Ihre Hände waren kalt wie tote Hühnerkrallen, als er sie berührte.

Njabulo begrub das Baby dort, wo auch die Farmarbeiter immer bestattet wurden, auf dem Platz draußen im Feld, den der Farmer ihnen überlassen hatte. Einige der Grabhügel waren ohne jede Markierung der Witterung überlassen, andere hatte man mit Steinen bedeckt, und bei manchen lagen umgestürzte Holzkreuze. Er wollte ein Kreuz machen, doch bevor er damit fertig war, kam die Polizei, öffnete das Grab und nahm das tote Baby mit: Jemand — einer der Farmarbeiter? Ihre Frauen? — hatte gemeldet, dass das Baby fast weiß war, kräftig und gesund, und dass es nach einem Besuch des jungen Farmers ganz plötzlich gestorben war. Die pathologische Untersuchung wies auf Darmverletzungen hin, die nicht unbedingt auf eine natürliche Todesursache schließen ließen.

Zum ersten Mal fuhr Thebedi in die Stadt, in der Paulus zur Schule gegangen war, um ihre Aussage bei der Voruntersuchung zu machen, mit der die Mordanklage gegen ihn vorbereitet wurde. Sie weinte hysterisch im Zeugenstand, sagte ja, ja (die goldenen Ohrreifen pendelten hin und her), sie habe gesehen, wie der Angeklagte eine Flüssigkeit in den Mund des Babys geschüttet habe. Sie sagte, er habe ihr gedroht, sie zu erschießen, wenn sie jemandem davon erzählte.

Über ein Jahr verging, bis in der gleichen Stadt das Gerichtsverfahren eröffnet wurde. Als sie den Gerichtssaal betrat, hatte sie ein neugeborenes Baby auf dem Rücken.

Sie trug goldene Ohrreifen; sie gab sich gefasst, sagte, dass sie nicht gesehen habe, was der weiße Mann im Hause tat.

Paulus Eysendyck sagte aus, dass er zwar die Hütte aufgesucht, jedoch nicht das Kind vergiftet habe.

Die Verteidigung bestritt nicht, dass zwischen dem Angeklagten und dem Mädchen ein Liebesverhältnis bestanden hatte, oder dass es zum Geschlechtsverkehr gekommen war, warf aber ein, dass es keinen Beweis dafür gab, dass der Angeklagte der Vater des Kindes sei.

Der Richter teilte dem Angeklagten mit, dass ein schwerer Verdacht gegen ihn vorläge, aber dass es nicht genügend Beweise dafür gäbe, dass er das Verbrechen begangen habe. Die Aussage des Mädchens konnte das Gericht nicht anerkennen, denn es war offensichtlich, dass sie entweder in der Verhandlung oder bei der Voruntersuchung einen Meineid geleistet hatte. Das Gericht kam zu der Überlegung, dass sie womöglich als Komplizin zu betrachten war; doch auch hierfür gab es nicht genügend Beweise.

Der Richter lobte das ehrenhafte Verhalten des Ehemannes (der mit der braungelb karierten Golfmütze im Gerichtssaal saß, die er nur sonntags trug), der seine Frau nicht verstoßen habe und» von seinem kargen Einkommen sogar Kleidung kaufte für das unglückliche Kind«.

Das Urteil für den Angeklagten lautete» nicht schuldig«.

Der junge weiße Mann wies die Glückwünsche der Presse und des Publikums zurück und verließ den Gerichtssaal, wobei er zum Schütze vor den Fotografen den Regenmantel seiner Mutter vors Gesicht hielt. Sein Vater sagte vor der Presse:»Ich werde versuchen, so gut ich kann weiterzumachen, um meinen Ruf hier im Distrikt zu behalten.« Die Sonntagszeitungen, die jede ihren Namen wieder anders schrieben, zitierten das schwarze Mädchen — mit Foto — in ihrer eigenen Sprache:»Es war eine Sache aus unserer Kindheit, wir sehen uns heute nicht mehr.«

(Deutsch von Walter Hartmann)

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