Totschlag von JOYCE CAROL OATES

In John Gares Theaterstück Booms and Neglect diskutieren zwei hochneurotische Charaktere das Thema zu wenig beachtete Autoren. Als der eine den Namen Joyce Carol Oates vorbringt, will der andere (etwas umschrieben) wissen, wie sie denn zu wenig beachtet sein kann, wo sie doch pro Woche ein Buch schreibt? Seit Erscheinen ihres ersten Romans By the North Gate (1963) ist Joyce Carol Oates (*1938) unter den großen amerikanischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern die produktivste. Unablässig, in einem von Qualität und Umfang her bemerkenswerten Strom produziert sie Romane, Kurzgeschichten, Rezensionen, Essays und Theaterstücke. Außergewöhnlich produktive Autoren laufen oft Gefahr, nicht genügend ernst genommen zu werden — wenn man so schnell schreiben kann, wie gut kann das Geschriebene dann sein? Oates konnte diese Falle jedoch im Großen und Ganzen umgehen, und selbst ihre zunehmende Identifikation mit der Kriminalliteratur hat — zu einer Zeit, da sich immer mehr Belletristikautoren zu diesem Gebiet hingezogen fühlen — ihren Ruf als ernst zu nehmende Schriftstellerin nicht beeinträchtigt.

Zahlreiche Werke von Oates enthalten zumindest einige Krimi-Elemente, von Them (1970; dt. Jene), für das sie den National Book Award erhielt, über die fiktive Darstellung des Edward-Kennedy-Unglücks von Chappaquiddick mit dem Titel Black Water (1992; dt. Schwarzes Wasser) und den vom Fall Jeffrey Dahmer inspirierten Serienmörderroman Zombie (1995; dt. Zombie) bis hin zu Blonde (2000; dt. Blond), ihrer umstrittenen, dickleibigen Romanbiografie über Marilyn Monroe. Das Element der Verbrechensaufdeckung tritt mit den Ermittlungen von Amateurdetektiv Xavier Kilgarvan im Roman The Mysteries of Winterthurn (1984) deutlich hervor, dem, erklärt die Autorin in einem Nachwort zur 1985 erschienenen Taschenbuchausgabe,»dritten in einem Quintett experimenteller Romane, die sich in der spezifischen Form dieses Genres mit dem Amerika des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts befassen«. Wieso sollte eine Verfasserin ernsthafter Literatur wie Oates sich dazu entscheiden, in so» ausgesprochen einengenden Strukturen «zu arbeiten?

Weil» uns die vom ›Genre‹ auferlegte formale Disziplin unweigerlich zu einer radikalen Neubetrachtung der Welt und der Kunst des literarischen Schreibens zwingt«. Oates, die in einem verwandten Genre unter anderem mit dem Bram Stoker Award der Horror Writers of America ausgezeichnet wurde, etablierte sich als Kriminalautorin erst mit Lives of the Twins (1987; dt. Der Andere; der britische Titel lautet: Kindred Passions), das unter dem Pseudonym Rosamund Smith erschien. Ursprünglich als Geheimnis gedacht, wurde Smiths Identität beinahe umgehend aufgedeckt, und spätere Romane nannten dann als Verfasserin Joyce Carol Oates (in Großschrift), als Rosamund Smith schreibend (in kleinerer Schrift).

Zu den wesentlichen Eigenschaften der bemerkenswert vielseitigen Oates gehört auch ihr tiefes Verständnis für die zahlreichen Nöte von Jugendlichen, was in» Totschlag«, zusammen mit Oates lebhaft beschreibendem Stil und der unkonventionellen Bearbeitung einer typischen Situation des Kriminalromans, eindrucksvoll belegt wird.

Er schwor Folgendes: Er war nach elf Uhr abends in das Haus an der East End Avenue zurückgekommen, hatte die Haustür offen gefunden und seine Mutter in einer Tintenlache auf den Hartholzdielen am Fuße der Treppe.

Offensichtlich war sie die steile Treppe hinuntergefallen und hatte sich, ihrem verdrehten Oberkörper nach zu urteilen, das Genick gebrochen. Außerdem war ihr Hinterkopf eingedrückt, sie war erschlagen worden, mit einem ihrer eigenen Golfschläger, dem Zweiereisen, aber offensichtlich hatte er das im ersten Augenblick nicht gesehen.

Tintenlache? — na ja, das Blut hatte im Halbdunkel der Halle eben schwarz ausgesehen. Seine Augen spielten ihm zuweilen einen Streich, wenn er zu intensiv gelernt, zu wenig geschlafen hatte. Ein optischer Tick. Das heißt, er sah etwas, mehr oder weniger, was durchaus da war, aber der Verstand nahm es als etwas ganz anderes wahr. Als hätte man einen gelegentlichen Aussetzer im neurologischen Programm.

Im Falle von Derek Peck junior, der sich vor dem gekrümmten, leblosen Körper seiner Mutter sah, war es ein offensichtliches Symptom seines Schocks. Ein Trauma, die innere Taubheit, die für den Ausschluss des Unmittelbaren sorgt — des Schmerzes, des Unsagbaren, des Unkennbaren. Zuletzt hatte er seine Mutter — im selben dotterblumengelben wattierten Hausmantel, der ihr das Aussehen eines überdimensionalen Osterspielzeugs verlieh — früh am Morgen gesehen, bevor er zur Schule gegangen war. Es war den ganzen Tag über nicht zu Hause gewesen. Und dieser urplötzliche Übergang — von der Differentialrechnung zu der Leiche am Boden, von den angstbefrachteten Scherzen seiner Freunde aus dem Mathe-Club (der harte Kern traf sich wochentags, spät, um sich auf die Aufnahmeprüfung fürs College vorzubereiten) zu der tiefen, schrecklichen Stille im Haus, die ihm, schon als er die merkwürdigerweise unverschlossene Tür aufgestoßen hatte, feindselig vorgekommen war, eine Stille, in der das Grauen schier mit Händen zu greifen war.

Er beugte sich über die Leiche und starrte sie fassungslos an.

«Mutter? Mutter! « Als wäre er es gewesen, der etwas angestellt hatte und nun zu bestrafen war.

Er bekam keine Luft mehr. Er hyperventilierte! Sein Herz klopfte wie wild, dass er schier das Bewusstsein verlor. Viel zu verwirrt, um zu denken: Vielleicht sind sie noch da? Oben! In seiner Benommenheit schien ihm selbst der animalische Selbsterhaltungstrieb abzugehen.

Ja, und irgendwie fühlte er sich schuldig. Sie hatte ihm diesen Schuldreflex eingebläut. Was auch immer im Haus nicht stimmte, die Ursache lag wahrscheinlich bei ihm.

Vom dreizehnten Lebensjahr an (als sein Vater, Derek senior, sich von seiner Mutter, Lucille, hatte scheiden lassen, was einer Scheidung von ihm, Derek junior, gleichgekommen war) hatte seine Mutter von ihm erwartet, der zweite Erwachsene im Haushalt zu sein. Und so schoss er hoch auf, wurde schlaksig, nervös, als wollte er diese Erwartung erfüllen, und als seine sandfarbene Körperbehaarung zu sprießen begann, stellte sich um seine Augen eine fieberhafte Verbissenheit ein. Dreiundfünfzig Prozent von Dereks Klassenkameraden, Jungen und Mädchen, an der Mayhew Academy, stammten aus «geschiedenen Familien«, und die meisten waren sich einig, das Schlimmste daran war, lernen zu müssen, sich wie ein Erwachsener zu benehmen, obwohl man, ein Erwachsener zweiter Klasse, praktisch seiner bürgerlichen Ehrenrechte verlustig gegangen war. Das war nicht leicht, auch nicht für einen ausgebufften Stoiker wie Derek Peck mit seinem IQ von — wie hoch gleich wieder? — 158, und das, obwohl er erst fünfzehn — mittlerweile waren es siebzehn — Jahre alt war. Und so war das ohnehin schon prekäre Selbstgefühl des Halbwüchsigen ernsthaft in Schräglage geraten, nicht nur hinsichtlich seines Körpergefühls (seine Mutter hatte zugelassen, dass er schon als Kleinkind übergewichtig wurde, was einem, wie es hieß, unwiderruflich in die Urzellen des Gehirns gebrannt war), nein, wichtiger noch hinsichtlich seiner Stellung im Leben. Behandelte sie ihn im einen Augenblick wie ein Kind und nannte ihn ihr» Baby«, ihren «kleinen Jungen«, so tat sie im nächsten Augenblick beleidigt, ja vorwurfsvoll, und beschuldigte ihn, es mangele ihm ihr gegenüber, wie seinem Vater, an Gefühl für seine moralische Pflicht.

Diese» moralische Pflicht «war eine ganz gewaltige Last. Er spürte sie, kaum, dass er morgens aufwachte, verflucht noch mal. Scheiße, er spürte das Gewicht der Welt, noch bevor er die Beine aus dem Bett nahm.

Als er jetzt so über ihr kauerte, zitternd, gebeutelt wie von einem eisigen Wind, flüsterte er:»Mommy? Kannst du nicht aufwachen? Mommy, du bist doch nicht …«Er sperrte sich gegen das Wort» tot«, weil es Lucille verletzt und aufgebracht hätte — wie» alt«. Nicht, dass sie eitel gewesen wäre, oberflächlich, unsicher, nein, ganz im Gegenteil, Lucille Peck war nichts dergleichen, eine Frau mit Würde, sagten andere Frauen bewundernd von ihr, Frauen, die nicht in ihrer Haut hätten stecken mögen, und Männer, die nicht mit ihr verheiratet hätten sein wollen.

Mommy, du bist doch nicht alt! Was Derek natürlich nie laut gesagt hätte. Obwohl er es sich möglicherweise selbst immer wieder gesagt hatte dieses vergangene Jahr, als er ihr blasses, grobknochiges, tapferes Gesicht im harten Sonnenlicht sah, wenn sie morgens zusammen die Treppe hinuntergingen, oder in jener geradezu unheimlichen Haltung in der Küche, wo sich das Licht der eingelassenen Deckenlampen auf ihrem Gesicht als grausamer senkrechter Schatten traf — als hätte sie Blutergüsse in den Augenhöhlen und den weichen Falten ihrer fleischigen Backenpartien. Zwei Sommer zuvor, als er zwei Wochen am Lake Placid gewesen und sie ihn am Kennedy Airport abholen gekommen war, so erpicht darauf, ihn zu sehen, hatte er sie angestarrt, entsetzt über die harten Falten, die ihren Mund in Klammern setzten wie bei einem Hecht. Ihr Lächeln war zu glücklich gewesen, und er hatte Mitleid mit ihr gehabt, und selbst dabei hatte er sich schuldig gefühlt. Man hat doch kein Mitleid mit seiner Mutter, du Arsch!

Wäre er doch gleich nach der Schule nach Hause gegangen. So gegen vier. Stattdessen eine flüchtige Mitteilung auf dem Anrufbeantworter bei seinem Freund Andy auf der anderen Seite des Parks: Mutter? Sorry, ich werd’s wohl zum Abendessen nicht schaffen, okay? Der Mathe-Club. Pauken. Differenzialrechnung. Warte bitte nicht auf mich, ja? Wie erleichtert war er gewesen, dass sie nicht mitten in seiner Mitteilung rangegangen war.

Hatte sie bei seinem Anruf noch gelebt? Oder war sie schon … tot?

Wann hast du deine Mutter das letzte Mal lebend gesehen, Derek? hatte man ihn gefragt, und er hatte improvisieren müssen, denn gesehen hatte er sie genau genommen gar nicht. Kein Augenkontakt.

Und was hatte er gesagt? Ein hektischer Schulmorgen, ein Donnerstag. Nichts Besonderes. Keine Vorahnung!

Kalt und windig, ein greller Wintertag, und er hatte es kaum erwarten können, aus dem Haus zu kommen, hatte sich eine Diät-Coke aus dem Kühlschrank geholt, so kalt, dass sie an den Zähnen wehtat. Kaum, dass er ihn wahrgenommen hatte, den tadelnden Blick seiner Mutter in der Küche, in ihrem weiten dotterblumengelben Steppmantel, als er ging, im Rückwärtsgang, lächelnd:

«Bye, Mom!« Natürlich war sie verletzt gewesen — ihr einziger Sohn ging ihr aus dem Weg. Sie war eine einsame Frau gewesen, mitsamt ihrem Stolz. Und das trotz der Aktivitäten, die ihr so viel bedeuteten: der Frauen-Kunst-und Kulturverein, die Freiwillige Familienberatung an der East Side, Das HealthStyle Fitness Center, im Sommer Tennis und Golf in East Hampton, das Abonnement für das Lincoln Center. Und ihre Freundinnen, zumeist geschiedene Frauen mittleren Alters, Mütter wie sie mit Kindern an der High School oder am College. Lucille war einsam, ja, aber war das seine Schuld? Als hätte er im letzten Jahr an der Vorbereitungsschule nicht deshalb so fanatisch auf seine Noten gesehen, weil er besessen war von dem Gedanken, frühstmöglich nach Harvard, Yale, Brown oder Berkeley zu kommen, sondern um seiner Mutter morgens, zu jener Tageszeit, in der man so ungeschützt und empfindlich ist, nicht in die Augen zu sehen.

Aber, Gott, wie sehr hatte er sie geliebt! Wirklich. Er hatte vorgehabt, alles wieder gutzumachen, sie zum Champagner-Brunch ins Stanhope einzuladen, mit einer der besten Aufnahmeprüfungen überhaupt, um dann mit ihr ins Museum gleich gegenüber zu gehen, auf Entdeckungsreise, Mutter und Sohn, wie schon seit Jahren nicht mehr.

Wie reglos sie dalag. Er wagte nicht, sie zu berühren. Er atmete unregelmäßig und kurz. Das tintenschwarze Etwas unter ihrem Kopf war in die Risse im Boden gesickert, geronnen. Ihr linker Arm war wie zu einer erbosten Bitte gestreckt, der Ärmel voll roter Flecken, die Hand mit der Innenseite nach oben, die Finger zu einer zornigen Klaue gekrümmt. Ihm hätte auffallen können, dass ihre Uhr, eine Movado, fehlte, ihre Ringe, außer Großmutters altem Opal in der geriffelten Goldfassung — hatte den der Dieb, die Diebe, nicht von den geschwollenen Fingern gebracht?

Ihm hätte auffallen können, dass ihre Augen asymmetrisch verdreht waren, die Iris des rechten fast nicht mehr zu sehen, während die des linken wie ein betrunkener Halbmond aussah. Ihm hätte auffallen können, dass ihr Hinterkopf weich und matschig war wie eine Melone, aber es gibt eben Dinge, die man an der eigenen Mutter schon aus Takt und Feingefühl übersah. Mutters Haar jedoch — es war das einzig Gute, so hatte sie gesagt, was ihr geblieben war. Ein blasses Silberbraun, etwas grob, eine natürliche Farbe wie die von Wheaties. Die Mütter seiner Klassenkameraden hofften alle, jung und bezaubernd zu wirken mit ihrem gebleichten oder gefärbten Haar, aber nicht so Lucille Peck, sie war dafür nicht der Typ. Von ihr erwartete man rote Wangen auch ohne Make-up, und an guten Tagen hatte sie sie.

Zu dieser späten Stunde hätte Lucilles Haar bereits wieder trocken sein sollen, nachdem sie, wie Derek sich erinnerte, doch schon vor Stunden geduscht hatte; das Bad oben war voller Dampf. Die Spiegel. Er bekam kaum noch Luft! Hatte sie Karten für irgendein Konzert oder Ballett im Lincoln Center gehabt? Lucille und eine Freundin?

Derek wusste es nicht. Oder wenn er es gewusst hatte, dann hatte er es wieder vergessen. Wie das mit dem Golfschläger, dem Zweiereisen. In welchem Schrank?

Oben oder unten? Die Schubladen von Lucilles Spiegelkommode im Schlafzimmer waren durchwühlt, Dereks neuer Macintosh vom Schreibtisch genommen und vor der Tür zu Boden geworfen, als hätten … ja was? Sie hatten es sich anders überlegt. Lieber nach schnellem Bargeld für Drogen gesucht. Das war das Motiv!

Was hat Popel denn jetzt wieder vor? Was geht denn mit dem Popelmann ab?

Schließlich berührte er sie. Tastete nach der großen Ader im Hals — Schlagader? — Halsschlagader? Sie hätte pulsieren sollen, tat es aber nicht. Und ihre Haut so klamm, so kalt. Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt.

Verflucht noch mal, war das denn möglich — Lucille war tot? Und ihm würde man die Schuld dafür geben?

Dieser Popel, Mann! Das ist vielleicht ’n irrer Typ.

Seine Nasenflügel bebten; Tränen traten ihm in die Augen. Er war in Panik; er musste Hilfe holen. Es wurde Zeit! Aber die Zeit war ihm ja doch wohl nicht aufgefallen, oder? 11 Uhr 48. Er trug eine elegante Omega mit schwarzem Zifferblatt, die er sich von seinem eigenen Geld gekauft hatte, aber der Zeit wäre er sich wohl nicht bewusst. Inzwischen hätte er doch schon die Polizei gerufen. Nur, dass er verwirrt dachte, man hätte wohl das Telefon rausgerissen? (Hatte man es herausgerissen?) Oder dass einer von ihnen, einer von den Mördern seiner Mutter, neben dem Telefon in der finsteren Küche stand?

Darauf wartete, auch ihn umzubringen?

Er geriet in Panik; er drehte durch. Er lief zurück zur Haustür und stolperte schreiend auf die Straße, wo ein Taxi das Tempo drosselte, um ein älteres Paar aussteigen zu lassen, Nachbarn von dem Sandsteinhaus nebenan. Das Paar und der Fahrer starrten dem kreidebleichen, von Schmerz gezeichneten Jungen im offenen Dufflecoat entgegen, der schreiend auf die Straße gelaufen kam.

«Hilfe! Helft uns! Man hat meine Mutter ermordet!« FRAU VON DER EAST SIDE ERMORDET MOTIV VERMUTLICH RAUB Eine Spätausgabe der New York Times vom Freitag brachte den» Golfschläger-Mord «an Lucille Peck – Marina Dyer hatte sie noch als Lucy Siddons gekannt – gleich auf der ersten Seite des Metro-Teils. Beim Überfliegen der Seite richtete Marinas flinker Blick sich sofort auf das Gesicht (mittleres Alter, fleischig, aber nicht zu verkennen) ihrer alten Klassenkameradin am Finch.

«Lucy! Nein!« Man wusste auf Anhieb, dass es sich um das Foto einer Toten handelte, aufgrund der Position in der oberen Mitte — die Huldigung an eine Privatperson ohne offensichtliche politische oder kulturelle Bedeutung und noch nicht einmal schön. Für Times-Leser lag der Nachrichtenwert in der Adresse des Opfers, die unweit der des Bürgermeisters gelegen war. Zwischen den Zeilen hieß das: Selbst hier, unter den abgesondert lebenden Reichen, ist ein so brutales Schicksal möglich.

Unter Schock, aber durchaus mit professionellem Interesse — Marina Dyer war Strafverteidigerin — las sie den Artikel, der auf einer der inneren Seiten fortgesetzt wurde, aber in seiner Kürze letztlich enttäuschend war. Es hörte sich so vertraut an, dass es wie eine Ballade klang: eine von uns (weiß, mittleren Alters, unbescholten und unbewaffnet) überrascht und brutal ermordet, und das im eigenen heiligen Heim; mit dem Golfschläger als Mordwaffe hatte sich der Mörder ein Instrument der privilegierten Klasse geschnappt. Der Eindringling, die Eindringlinge, so die Polizei, suchte nach dem schnellen Dollar für Drogen. Es war ein skrupelloses, grausames Verbrechen, ein» unsinniges «Verbrechen, einer von einer ganzen Reihe von ungeklärten Einbrüchen an der East Side seit letztem September, wenn auch der erste mit einem Mord. Lucille Pecks Sohn, ein Teenager noch, war nach Hause gekommen, hatte die Haustür offen vorgefunden und seine Mutter tot; das war gegen elf Uhr abends; zu diesem Zeitpunkt war sie schätzungsweise bereits fünf Stunden tot. Die Nachbarn sagten, sie hätten aus dem Haus der Pecks nichts Ungewöhnliches gehört, einige sprachen jedoch von» verdächtigen «Fremden in der Gegend. Die Polizei» ermittelte«.

Arme Lucy!

Wie Marina sah, war ihre ehemalige Klassenkameradin vierundvierzig Jahre alt, ein Jahr (wenn auch wahrscheinlich kein ganzes) älter als Marina selbst; außerdem war sie seit 1991 geschieden, von Derek Peck, der leitender Angestellter bei einer Versicherung und jetzt in Boston zu Hause war; sie hinterließ ein einziges Kind, Derek Peck junior, eine Schwester und zwei Brüder. Was für ein Ende für Lucy Siddons, die in Marinas Erinnerung das blühende Leben gewesen war: Lucy, nicht aufzuhalten, unermüdlich, warmherzig; Lucy, die am Finch College gleich zweimal Präsidentin des Jahrgangs 1970 und dann eine engagierte Ehemalige gewesen war: Lucy, die von allen Mädchen bewundert, wenn nicht gar vergöttert wurde; Lucy, die immer so nett zu der schüchternen, stotternden und schielenden Marina Dyer gewesen war.

Obwohl sie beide all die Jahre über in Manhattan gewohnt hatten, Marina in der 76. Straße West, unweit vom Central Park, war es fünf Jahre her, seit sie Lucy gesehen hatte, auf dem zwanzigjährigen Klassentreffen; und dass sie sich das letzte Mal ausführlich und ernsthaft unterhalten hatten, das war noch länger her. Oder vielleicht hatten sie das ja überhaupt nie getan.

Es war der Sohn, dachte Marina beim Falten der Zeitung. Der Gedanke war nicht ganz ernst gemeint, aber er entsprach ihrer beruflich bedingten Skepsis.

Popelmann! Is’ ja oberaffentittengeil!

Wo kam er her? Aus dem heißen, flüssigen Kern des Universums. Im Augenblick des Urknalls. Vor dem nichts war, und nach dem alles war: kosmisches Sperma. Alle empfindungsfähigen Wesen stammten aus ein und derselben Quelle, und diese war ausgestorben, längst nicht mehr da.

Je mehr man über Ursprünge nachdenkt, desto weniger ist einem klar. Er hatte Wittgenstein gelesen — Wovon man nicht sprechen kann, davon muss man schweigen. (Ein fotokopierter Handzettel für das Seminar über Kommunikative Kunst, dessen Leiter ein cooler junger Typ mit einem Doktor aus Princeton war.) Trotzdem glaubte er sich an die Umstände seiner Geburt zu erinnern: 1978, die letzte Dezemberwoche, seine Eltern hatten Urlaub auf Barbados gemacht. Er war um fünf Wochen zu früh dran gewesen und konnte von Glück sagen, diesen «Unfall «auf Barbados überlebt zu haben, und dennoch sah er in seinen Träumen ein kobaltblaues Meer, Reihen von Palmen, deren Borke sich schälte wie Schorf; tropische Vögel in knallbuntem Gefieder; schwer hing ein dicker, weißer Mond am Himmel — wie Mutters großer Bauch; Haifischflossen durchschnitten die Wellen wie in dem Death-Raiders-Videospiel, nach dem er im ersten High-School-Jahr süchtig geworden war. Von Hurrikans durchtobte Nächte brachten ihn um den Schlaf.

Stimmenlärm wie von ertrinkenden Seelen brach sich krachend am Strand.

Er stand auf Metallica, Urge Overkill, Soul Asylum.

Seine Helden waren die Heavy-Metal-Punks, die es nie in die Top Ten gebracht hatten, und wenn doch, waren sie schnell wieder verschwunden. Er bewunderte Loser, die sich mit einem Goldenen Schuss wegpusteten, als wäre das Leben ein Scherz — ein letztes» Ihr könnt mich mal!« an die Welt. Aber er war unschuldig, um Himmels willen; nichts von alledem, was man ihm da vorwarf, hatte er seiner Mutter getan! Es war einfach zu abgefahren, verfluchte Kacke noch mal: Man hatte ihn, Derek Peck junior, verhaftet und würde ihm den Prozess machen für ein Verbrechen an seiner eigenen Mutter! Er hatte sie doch geliebt! Ein Verbrechen, das Tiere begangen hatten (deren Hautfarbe er sich schon denken konnte), die auch ihm den Schädel eingeschlagen hätten — wie man ein Ei aufklopft –

, wäre er fünf Stunden früher zur Tür hereingekommen.

Sie hatte nicht die Absicht, sich zu verlieben, schon gar nicht in einen Mandanten, dazu war sie nicht der Typ, und trotzdem, Folgendes war passiert: ein Blick auf ihn, in seine merkwürdigen lohfarbenen Augen, die flehend zu ihr aufblickten: Hilf mir! Rette mich! Schon war es geschehen.

Derek Peck junior war ein Botticelli-Engel, teilweise verwischt und von Eric Fischl plump übermalt. Sein volles, mit Festiger versteiftes ungewaschenes Haar wellte sich in zwei symmetrischen Flügeln zu einem Rahmen für das elegante, knochige Gesicht mit dem spitzen Kinn.

Seine Gliedmaßen waren lang wie die eines Affen und zuckten nervös. Seine Schultern waren schmal und hoch, seine Brust merklich konkav. Er hätte genauso gut vierzehn sein können wie fünfundzwanzig. Er stammte aus einer Generation, die für Marina Dyer wie eine andere Spezies war. Unter dem Armani-Sakko, das die Farbe von Metallspänen hatte, trug er ein T-Shirt mit» Soul Asylum« vorne drauf, die Schurwollhose — Nadelstreifen, von Ralph Lauren — hatte Flecken am Hosenstall; die Füße steckten in Nikes, Größe zwölf. Zornige blaue Venen pochten in seinen Schläfen. Er sei eine geschniegelte kleine Koksnase, die aus irgendeinem Grund noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen war, hatte der Anwalt Derek Peck seniors Marina wissen lassen, der es ihr, auf ihr diskretes Drängen hin, ermöglicht hatte, sich dem Jungen als Verteidigerin anzudienen. Vermutlich ein psychopathischer Muttermörder, der nicht nur völlig unschuldig zu sein behauptete, sondern auch noch selbst daran glaubte. Er verströmte den komplexen Geruch von ungewaschener Haut und Chemie. Erstere schien erhitzt; sie hatte Farbe und Textur von gedünstetem Hafermehl.

Seine Nasenlöcher waren rot gerändert wie ein beginnender Brand und seine Augen von einem hellen Gelbgrün, wie entflammbares Acetylen. Man tat gut daran, an diese Augen kein Streichholz zu halten, besser daran, keinen allzu tiefen Blick in sie zu tun.

Als Derek Peck Marina Dyer den Jungen vorstellte, starrte er sie hungrig an. Trotzdem stand er nicht auf wie die anderen Männer im Raum. Er beugte sich sitzend vor, so dass die Sehnen in seinem Hals herausstanden, und dass er sich anstrengte zu sehen, zu denken, das sah man auf seinem jungen Gesicht. Sein Handschlag war zunächst ungeschickt, dann mit einem Mal kräftig und sicher wie der eines Mannes; er tat ihr weh. Ohne zu lächeln schüttelte der Junge sich das Haar aus den Augen, wie ein Pferd, das den schönen Kopf zurückwarf, und ein Schmerz durchfuhr Marina Dyer wie ein elektrischer Schlag. Schon lange hatte sie dergleichen nicht mehr gespürt.

Mit ihrer leisen Altstimme, die nichts preisgab, sagte sie:

«Hallo, Derek.« Mitte der achtziger Jahre, einer Ära voller Skandalprozesse mit viel Prominenz, hatte Marina Dyer sich einen Namen als» brillante «Strafverteidigerin gemacht, und das sowohl durch Brillanz als auch harte Arbeit und dadurch, nicht dem Typ zu entsprechen, den man in ihr sah. Eine kühne Bühnendramatik lag in der Art, wie sie in einem von Männern dominierten Gerichtssaal auftrat. Zunächst schon mal der verblüffende Umstand ihrer Größe: Sie war eine kleine, zierliche Frau, zurückhaltend, scheinbar schüchtern, eine Frau, die leicht zu übersehen war, obwohl es nicht eben ein Vorteil war, sie zu übersehen. Sie war tadellos gepflegt, aber dezent, was ihr den Anschein einer erhabenen Gleichgültigkeit gegenüber der Mode, einen Hauch von Zeitlosigkeit gab.

Das sperlingsfarbene Haar trug sie hochgesteckt, wie eine Ballerina; am liebsten waren ihr Chanel-Kostüme aus weicher Kaschmirwolle in gedeckten Erntefarben, Jacketts, die ihrem schmalen Körper etwas Volumen verliehen, die Röcke stets tugendhaft bis auf der Mitte der Waden. Schuhe, Handtaschen, Aktenköfferchen waren aus exquisitem italienischem Leder, teuer, aber unauffällig.

Wenn etwas davon Abnutzungserscheinungen zu zeigen begann, ersetzte Marina es mit einem identischen Stück aus demselben Geschäft in der Madison Avenue. Das etwas schief stehende linke Auge, das so mancher durchaus charmant gefunden hatte, war längst chirurgisch korrigiert. Ihr Blick war jetzt direkt und äußerst konzentriert. Ihre Augen waren dunkelbraun, glänzend, immer leicht feucht, und zuweilen war darin ein gewisser Fanatismus zu sehen, wenn auch ausschließlich professioneller Natur, ein Fanatismus im Dienste ihrer Mandanten, für die sie mit legendärem Eifer eintrat.

Kleine Frau, die sie war, gewann Marina in öffentlichen Arenen an Größe und Autorität. In einem Gerichtssaal bekam ihre normalerweise dünne, unauffällige Stimme Volumen und Timbre. Ihre Leidenschaft schien proportional zu der Aufgabe zu wachsen, einen Mandanten einer vernünftigen Jury als» nicht schuldig «zu präsentieren, und es kam vor (die bewundernden Kollegen hatten ihre Witze dafür), dass ihr schmuckloses, asketisches Gesicht in ihrer Ekstase das Leuchten von Berninis St. Teresa annahm. Ihre Mandanten waren Märtyrer, ihre Ankläger Inquisitoren. Marina Dyers Fälle hatten eine spirituelle Intensität, die Geschworene hinterher nicht zu erklären vermochten, wenn man ihr Urteil in Zweifel zog. Sie hätten dabei sein, sie hören müssen, um das zu verstehen.

Marinas erster Fall mit großer Presse war die erfolgreiche Verteidigung eines Bundeskongressabgeordneten aus Manhattan gewesen, dem man schwere Erpressung und Zeugenbeeinflussung vorwarf; ihr zweiter war die erfolgreiche, wenn auch umstrittene Verteidigung eines schwarzen Performancekünstlers, den man der Vergewaltigung und Körperverletzung an einer drogensüchtigen Anhängerin bezichtigte, die ungeladen in seiner Suite im Four Seasons aufgetaucht war. Dann war da ein ebenso prominenter wie fotogener Börsenmakler aus der Wall Street, der der Veruntreuung, des Betrugs und der Verdunkelung angeklagt war; dann die Journalistin, der man einen Mordversuch zur Last legte, nachdem sie ihren verheirateten Liebhaber angeschossen hatte; daneben hatte es weniger bekannte, aber dennoch verdienstvolle Fälle gegeben, von denen jeder für sich eine Herausforderung gewesen war. Marinas Mandanten wurden zwar nicht durch die Bank freigesprochen, aber ihre Strafen galten – wenn man bedenkt, dass sie wahrscheinlich schuldig waren — als relativ mild. Zuweilen landeten sie noch nicht mal im Gefängnis, sondern in einem Reha-Zentrum; sie bezahlten Bußgelder, taten sozialen Dienst. So sehr Marina Dyer Publicity scheute, sie profitierte davon – nach jedem Sieg stieg ihr Honorar. Dennoch war sie weder habgierig, noch schien sie von Ehrgeiz geplagt. Ihr Leben war ihre Arbeit und ihre Arbeit ihr Leben. Natürlich hatte sie einige Niederlagen einstecken müssen, am Anfang ihrer Laufbahn, als sie zuweilen, gegen eine geringe Gebühr, unschuldige oder praktisch schuldlose Leute verteidigt hatte. Bei Unschuldigen riskiert man Emotionen, Zusammenbrüche, Stottern im Zeugenstand.

Man riskiert Zorn und Verzweiflung. Bei guten Lügnern wusste man, auf ihre Vorstellung ist Verlass.

Psychopathen sind am Besten: Sie lügen wie gedruckt, aber glauben daran.

Marinas Sondierungsgespräch mit Derek Peck junior dauerte mehrere Stunden: Es war eine Strapaze und intensiv. Wenn sie ihn nahm, wäre dies ihr erster Mordprozess; dieser siebzehnjährige Junge ihr erster des Mordes bezichtigter Mandant. Nie hatte sie, in einem derart intimen Raum, mit einem Mandanten wie Derek Peck gesprochen. Nie hatte sie lange stille Momente in Augen wie die seinen gesehen. Die Vehemenz, mit der er seine Unschuld beteuerte, war überzeugend. Der Zorn, dass jemand an seiner Unschuld zweifeln könnte, zog einen in seinen Bann. Hatte dieser Junge getötet? Auf diese Art und Weise das Gesetz»übertreten«, das Gesetz, das praktisch Marina Dyers Leben war, hatte er dagegen verstoßen, als hätte das nicht mehr Konsequenzen, als wenn einer eine Papiertüte zerknüllte und auf die Straße warf? Lucille Pecks Schädel war buchstäblich zerschmettert — schätzungsweise zwanzig Hiebe mit dem Golfschläger, wenn nicht mehr. Ihr nackter, weicher, schlaffer Körper unter dem Bademantel war mit Fäusten traktiert worden, zerschunden, voller Blut; ihre Genitalien wütend zerfleischt. Ein unsägliches Verbrechen, ein Verbrechen wider jedes Tabu. Ein Verbrechen für die Sumpfblätter, ein Kitzel selbst noch aus zweiter und dritter Hand.

In ihrem neuen pflaumenblauen Kostüm von Chanel, die Wolle so dunkel, dass es einem schwarz wie ein Nonnenhabit vorkam, mit ihrem Chignon, der ihrem Profil etwas Scharfes gab, etwas von einem Wolf oder einem Avedon-Porträt, blickte Marina Dyer auf den Jungen, der Lucy Siddons’ Sohn war, hinab. Er erregte sie mehr, als sie sich eingestehen wollte. Ich bin unangreifbar, dachte sie, keiner kommt an mich ran. Es war die perfekte Rache.

Lucy Siddons. Meine beste Freundin; wie gern hatte ich sie gehabt. Ich hatte ihr eine Geburtstagskarte und ein rotes Seidenkopftuch ins Schließfach getan, und es hatte Tage gedauert, bevor ihr einfiel, sich zu bedanken, obwohl es ein herzliches Dankeschön mit einem aufrichtigen Lächeln gewesen war. Lucy Siddons, die so beliebt gewesen war, so zwanglos unter den versnobten Mädchen am Finch, die alle so sein wollten wie sie. Trotz der unreinen Haut, der vorstehenden Zähne, der massiven Schenkel und dem Watschelgang einer Ente, mit dem man sie, ganz freundschaftlich, aufzog. Das Geheimnis bestand darin, dass Lucy Persönlichkeit hatte. Jene mysteriöse Unbekannte, die man sich nicht einfach zulegen kann, wenn sie einem abgeht. In dem Augenblick, in dem man über sie nachdenken muss, erreicht man sie nie. Und Lucy war gut, warmherzig. Eine praktizierende Christin aus einer wohlhabenden Manhattaner Episkopalen-Familie, die berühmt für ihre Wohltätigkeit war. Sie hatte Marina Dyer in der Caféteria Zeichen gemacht, sich zu ihr und ihren Freundinnen zu setzen, während Letzteren das Lächeln gefror; in der Turnstunde hatte sie die kleine Marina Dyer unter dem Stöhnen der anderen in ihr Basketballteam geholt. Aber Lucy war gut, so gut. Wie Kleingeld verteilte sie Barmherzigkeit und Mitleid an die Ausgestoßenen unter den Mädchen am Finch.

Habe ich Lucy Siddons während dieser drei Jahre meines Lebens geliebt? Ja, ich habe Lucy Siddons geliebt wie seither niemanden mehr. Aber es war eine reine, keusche Liebe. Zumal sie ganz und gar einseitig war.

Seine Kaution betrug 350000 Dollar; sein besorgter Vater hatte bezahlt. Seit dem überwältigenden Wahlsieg der Republikaner hatte es den Anschein, als würde im Staat New York die Todesstrafe wieder eingeführt, aber gegenwärtig gab es keine Anklage auf vorsätzlichen Mord; selbst die brutalsten Verbrechen, geplant oder nicht, liefen lediglich auf Totschlag hinaus. Wie der Mord an Lucille Peck, um den Lokalzeitungen, Magazine, Fernsehen und Radio bedauerlicherweise einen solchen Wirbel machten, dass Marina Dyer sich langsam fragte, ob ihrem Mandanten in New York überhaupt ein fairer Prozess gemacht werden konnte. Derek war verletzt, fassungslos:»Hören Sie, wieso sollte ich sie umbringen wollen, ich habe sie doch geliebt!«, winselte er mit Kinderstimme und steckte sich dabei eine weitere Zigarette aus einem zerdrückten Päckchen Camel an.» Ich war der Einzige auf der ganzen gottbeschissenen Welt, der sie geliebt bat! «Jedes Mal, wenn Derek sich mit Marina traf, kam es zu dieser Erklärung oder einer Variante davon. Seine Augen blitzten vor Tränen der Empörung und moralischer Entrüstung. Fremde waren in sein Haus eingedrungen und hatten seine Mutter umgebracht, und ihm warf man es vor! War das zu fassen? Sein Leben und das seines Vaters in der Luft zerrissen, verwüstet, als hätte darin ein Tornado getobt! Derek weinte vor Zorn und öffnete sich Marina, als hätte er sich das Brustbein aufgerissen und ihr das Schlagen seines tobenden Herzens gezeigt.

Es waren schrecklich ergreifende Augenblicke, nach denen Marina noch stundenlang fertig war.

Marina fiel jedoch auf, dass Derek Lucille Peck nie «meine Mutter «oder» Mutter «nannte, sondern immer nur «sie«. Als sie ihm gegenüber zufällig erwähnte, dass sie Lucille vor Jahren auf der Schule gekannt hatte, schien der Junge das nicht zu hören. Er hatte die Stirn gerunzelt und kratzte sich am Hals. Marina hakte sacht nach:»Lucille war eine herausragende Persönlichkeit am Finch College.

Eine liebe Freundin. «Aber noch immer schien es, als hörte Derek sie nicht.

Lucy Siddoris’ Sohn, der praktisch nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihr hatte. Die funkelnden Augen, das kantige Gesicht, der harte, wie gemeißelte Mund. Sie konnte seine Sexualität geradezu riechen wie ungewaschenes Haar, schmuddlige T-Shirts und Jeans.

Und soweit Marina sehen konnte, ging ihm auch jede Ähnlichkeit mit Derek Peck senior ab.

Im 1970er Jahrbuch des Finch College gab es zahlreiche Fotos von Lucy Siddons und den anderen populären Mädchen des Jahrgangs, die Liste der Aktivitäten unter ihren lächelnden Gesichtern beeindruckend lang; die Legende unter Marina Dyers einzigem Foto war kurz.

Natürlich hatte sie auf der Bestenliste gestanden, aber beliebt war sie trotz aller Anstrengungen nie gewesen. Ich warte den rechten Augenblick ab, hatte sie sich getröstet.

Ich kann warten.

Und so war es denn ganz wie in den Märchen gekommen, in denen es um Belohnung und Strafe ging.

Rasch und ausdruckslos sagte Derek Peck seine Geschichte auf, sein Alibi, wie er es den Behörden schon unzählige Male gesagt hatte. Seine Stimme hörte sich an wie die eines Computers. Genaue Uhrzeiten, Adressen, die Namen von Freunden, die» jeden Eid darauf schwören werden, dass ich jeden Augenblick bei ihnen war«; die genaue Route, die sein Taxi genommen hatte, durch den Central Park, auf seinem Rückweg in die East End Avenue; sein Entsetzen, als er am Fuße der Treppe in der Halle» die Leiche «sah. Fasziniert hörte Marina zu. Sie wollte nicht glauben, dass es sich um eine im Kokainrausch erfundene Geschichte handelte, die unauslöschlich in das Reptilienhirn des Jungen eingebrannt war. Unerschütterlich. Sie wollte nur nicht so recht zu einigen peinlichen Details aus dem Ermittlungsbericht der Polizei passen: Dereks mit Lucille Pecks Blut gesprenkelte Socken, die man in einem Wäscheschacht fand; Dereks zusammengeknüllte Unterwäsche auf dem Boden des Bads, noch feucht von einer Dusche, die er um sieben Uhr morgens genommen haben wollte, während sieben Uhr abends wohl glaubwürdiger war — bevor er sich Gel in die Haare geschmiert und sich auf Edelpunk getrimmt hatte, um mit einigen seiner Heavy-Metal-Kumpane um die Häuser zu ziehen. Und die Schmierer von Lucy Pecks Blut auf den Fliesen von Dereks Dusche, die er gar nicht bemerkt und somit auch nicht abgewischt hatte. Und dann die Nachricht auf Lucilles Anrufbeantworter, in der er sagte, dass er zum Abendessen nicht zu Hause sein würde, die seiner Behauptung nach von zirka vier Uhr nachmittags stammte, aber möglicherweise erst um zehn Uhr abends aus einem Club in Soho gekommen war.

Diese und andere Widersprüche machten ihm weniger Sorgen, als dass sie ihn aufbrachten, als handelte es sich dabei um Lücken in einer Erklärung des Universums, für die er doch wohl kaum verantwortlich zu machen war. Er war der kindlichen Überzeugung, dass sich dabei alles seinen Wünschen zu fügen hätte, wenn er nur darauf bestand. Wenn er es wirklich glaubte — wie konnte es dann nicht so sein? Natürlich, so Marina Dyers Erklärung, bestand die Möglichkeit, dass der tatsächliche Mörder Lucille Pecks Dereks Socken bewusst mit Blut beschmiert und dann in den Wäscheschacht geworfen hatte, um ihn zu belasten; dass der oder die Mörder sich die Zeit genommen hatten, in Dereks Dusche zu duschen, und Dereks feuchte, zusammengeknüllte Unterwäsche hatten liegen lassen. Und dann gab es keinen absoluten und unerschütterlichen Beweis dafür, dass der Anrufbeantworter Anrufe immer genau in der präzisen chronologischen Reihenfolge ihres Eingangs aufzeichnete, nicht hundertprozentig — wie wollte man das beweisen?

(Es waren an ihrem Todestag fünf Anrufe auf Lucilles Band, über den Tag verteilt, Dereks zuletzt.) Der Staatsanwalt, der in seinem Fall die Anklage vertrat, behauptete, Derek Pecks Motiv für den Mord an seiner Mutter liege wohl auf der Hand: Geld. Sein Taschengeld von monatlich 500 Dollar hatte für seine Ausgaben offensichtlich schlicht nicht genügt. Mrs. Peck hatte ihrem Sohn im Januar die Kreditkarte sperren lassen, nachdem eine Rechnung von über 6000 Dollar zusammengekommen war; Verwandte berichteten von «Spannungen «zwischen Mutter und Sohn; einige von Dereks Klassenkameraden sprachen von Gerüchten über Schulden bei Dealern und Dereks Angst, dafür ermordet zu werden. Und dann hatte sich Derek zu seinem achtzehnten Geburtstag, wie er seinen Freunden erzählt hatte, einen Jeep Wrangler gewünscht. Wenn er seine Mutter tötete, dann konnte er damit rechnen, so um die vier Millionen Dollar zu erben, und dann waren da noch eine Lebensversicherung über 100000 Dollar, bei der er der Begünstigte war, ein hübsches vierstöckiges Reihenhaus im East End mit einem Wert von gut zweieinhalb Millionen, ein Anwesen in East Hampton sowie wertvoller Sachbesitz.

In den fünf Tagen zwischen Lucille Pecks Tod und seiner Verhaftung hatte Derek über zweitausend Dollar Schulden gemacht — er hatte sich in einen manischen Kaufwahn gestürzt, den er nachträglich seinem Kummer zuschrieb. Auch war Derek alles andere als der Musterschüler, als der er sich ausgab: Die Mayhew Academy hatte ihn im Januar für zwei Wochen ausgeschlossen, wegen» ständiger Störungen«, und es war kein Geheimnis, dass er und ein anderer Junge in der neunten Klasse bei einer Reihe von Intelligenztests betrogen hatten. Im Augenblick versagte er in sämtlichen Fächern außer einem Seminar in postmoderner Ästhetik, in dem man, unter der Leitung einer in Princeton ausgebildeten Lehrkraft, akribisch Filme und Comics – Superman, Batman, Dracula und Star-Trek — zerlegte. Es gab einen Mathe-Club, deren Sitzungen Derek sporadisch beiwohnte, aber nicht so an dem Abend, an dem seine Mutter ums Leben gekommen war.

Wieso sollten seine Klassenkameraden lügen, was ihn anging? — Derek war betroffen, gekränkt. Sein bester Freund, Andy, wandte sich gegen ihn!

Marina musste die Reaktion ihres jungen Mandanten auf den belastenden Bericht der Polizei bewundern: Er stritt durch die Bank alles ab. Seine lodernden Augen füllten sich mit heißen Tränen der Unschuld, der Fassungslosigkeit. Die Anklagevertretung war der Feind, und der Fall des Feindes war lediglich fingiert, um ihm einen ungelösten Mord in die Schuhe zu schieben, weil er ein Kind und damit verletzlich war. Na schön, er stand auf Heavy Metal, auch mit diversen Drogen hatte er experimentiert — wer nicht, Herrgott noch mal? Er hatte seine Mutter nicht umgebracht, und er wusste auch nicht, wer es war!

Marina versuchte Distanz zu wahren, objektiv zu bleiben. Sie war sich sicher, niemand, Derek eingeschlossen, kannte ihre Gefühle in Bezug auf ihn. Ihr Verhalten war einwandfrei, professionell, und daran würde sich auch nichts ändern. Trotzdem dachte sie, geradezu mit Besessenheit, ständig an ihn; er war zum Mittelpunkt ihrer Gefühlswelt geworden, als ginge sie irgendwie schwanger mit ihm, seinem gepeinigten, zornigen Geist.

Hilf mir! Rette mich! Vergessen waren die raffinierten Umwege, mit denen sie Derek Peck seniors Anwalt ihren Namen zur Kenntnis gebracht hatte; mittlerweile glaubte sie, Peck junior hätte sie von sich aus gewählt.

Höchstwahrscheinlich hatte Lucille ihm von ihr erzählt: von ihrer alten Klassenkameradin und engen Freundin Marina Dyer, die mittlerweile eine prominente Strafverteidigerin war. Und vielleicht hatte er ja irgendwo ihr Foto gesehen. Es musste einfach mehr als nur ein Zufall sein. Sie wusste es!

Sie reichte ihre Anträge ein; sie befragte Lucille Pecks Verwandtschaft, Nachbarn, Freunde; mit Hilfe zweier Assistenten begann sie einen voluminösen Fall aufzubauen; sie schwelgte in der Aufregung im Vorfeld des Prozesses, durch den sie ihren in Bedrängnis geratenen Mandanten führen würde wie eine Kriegerin, wie Johanna von Orleans. Man würde sie in der Presse zerfleischen; Märtyrer würden sie sein. Und dennoch, das stand für sie fest, würden sie triumphieren.

War Derek schuldig? Und wessen, falls dem so war?

Wenn er sich wirklich nicht an seine Tat erinnerte, war er dann schuldig? Marina dachte: Wenn ich ihn in den Zeugenstand rufe, wenn er sich dem Gericht so präsentiert wie mir … wie sollte die Jury sich gegen ihn wehren?

Es waren seit Lucille Pecks Tod fünf Wochen vergangen, dann sechs, mittlerweile waren es zehn, und schon ging das Interesse daran, wie an jedem anderen Todesfall auch, rapide zurück. Man hatte den Prozessbeginn auf den Spätsommer gelegt, und so stand er am Horizont, aufreizend, verlockend wie die Premiere eines Stückes, das man eben noch probt. Marina hatte natürlich im Namen ihres Mandanten auf nicht schuldig plädiert; der hatte sich geweigert, eine andere Möglichkeit auch nur in Betracht zu ziehen. Schließlich war er unschuldig, wie sollte er sich da einer geringeren Straftat – Totschlag, egal welchen Grades — für schuldig erklären?

In Manhattaner Juristenkreisen war man der Ansicht, Marina Dyer begehe einen ungeheuren Fehler, mit diesem Fall vor Gericht zu gehen, aber sie weigerte sich, eine Alternative auch nur zu diskutieren; sie war da nicht weniger eisern als ihr Mandant; auf Verhandlungen ließ sie sich gar nicht erst ein. Der Kern ihrer Verteidigung wäre eine systematische Widerlegung des Falles, den die Staatsanwaltschaft aufgebaut hatte, eine Entkräftung sämtlicher so genannter Beweise, der Reihe nach; leidenschaftliche Beteuerungen von Derek Pecks absoluter Unschuld, im Zeugenstand würde Derek zum Star; der Vorwurf polizeilicher Fehler und Inkompetenz, was die Ermittlung des oder der tatsächlichen Täter anging, die bereits in andere Häuser an der East Side eingebrochen waren; die Hoffnung, die Sympathie der Geschworenen zu gewinnen. Schließlich hatte Marina schon vor langer Zeit gelernt, was für ein tiefer, tiefer Brunnen die Sympathie einer Jury war. Man wollte ja nicht gleich so weit gehen, sie amerikanische Durchschnittstrottel zu nennen, aber sie waren auf merkwürdige, ja fast magische Weise beeinflussbar, zuweilen auf geradezu kindliche Art. Es waren» gute Leutchen«— anständig, großzügig, nachsichtig, freundlich, nicht missbilligend oder gar grausam. Sie suchten immer nach Gründen, jemanden freisprechen zu können, ganz besonders in Manhattan, wo der Ruf der Polizei angekratzt war, und ein guter Strafverteidiger lieferte ihnen die. Und einen jungen, attraktiven und jetzt mutterlosen Jungen wie Derek Peck junior des Totschlags schuldig zu sprechen, das wollten sie nun mit Sicherheit nicht.

Geschworene sind leicht zu verwirren, und Marina Dyers großes Talent bestand darin, dies zum Vorteil ihrer Mandanten zu tun. Eine der großen Schwächen des Menschen ist es, gut sein zu wollen, auch wenn es der Gerechtigkeit zuwiderläuft.

«Hey, Sie glauben mir nicht, was?« Eine brennende Zigarette zwischen den Fingern, hielt er inne in seinem zwanghaften Auf und Ab in ihrem Büro.

Argwöhnisch sah er sie an.

Marina blickte auf, erschrocken, Derek mit seinem scharfen Zitrusgeruch so nahe neben ihrem Schreibtisch stehen zu sehen. Sie hatte sich Notizen gemacht, obwohl ein Recorder mitlief.»Derek, was ich glaube, spielt keine Rolle. Ich spreche für dich als dein Anwalt. Deine bestmögliche — « Gereizt sagte er:»Nein! Sie müssen mir glauben — ich hab sie nicht umgebracht! « Es war ein peinlicher Augenblick, ein Augenblick äußerster Spannung, der zahlreiche Möglichkeiten barg.

Marina Dyer und der Sohn einer alten, mittlerweile verstorbenen Freundin, Lucy Siddons, an einem gewittrigen Spätnachmittag allein in ihrem Büro; nur das laufende Tonbandgerät war als Zeuge dabei. Marina hatte Grund zur Annahme, dass der Junge trank — diese langen Tage vor dem Prozess. Er lebte, zusammen mit seinem Vater, in dem Haus im East End gegen Kaution auf freiem Fuß, aber nicht» frei«. Er hatte sie großzügig wissen lassen, dass er — absolut! — drogenfrei sei. Er folgte ihren Anweisungen, ihrem Rat. Aber glaubte sie ihm?

Marina sagte, wiederum mit Bedacht, und hielt dem funkelnden Blick des Jungen dabei stand:»Natürlich glaube ich dir, Derek«, als sei es die natürlichste Sache der Welt und er naiv, daran zu zweifeln.»Jetzt setz dich bitte, damit wir weitermachen können. Du hast eben von der Scheidung deiner Eltern erzählt …« «Wenn Sie mir nämlich nicht glauben«, sagte Derek und schob die Unterlippe vor, bis sie die rote Fleischigkeit einer geschälten Tomate annahm,»such ich mir einen Anwalt, der mir verflucht noch mal glaubt! « «Ich glaube dir ja. Und jetzt setz dich bitte.« «Sie glauben mir? Sie glauben mir …?« «Derek, was habe ich denn gerade gesagt! Und jetzt setz dich.« Der Junge ragte über ihr auf, starrte sie an. Einen Augenblick lang war ihm seine Angst anzusehen. Dann tastete er sich zurück zu seinem Stuhl. Sein junges, angegriffenes Gesicht war tiefrot, als er sie anstarrte, die Augen lohfarben und grün, voll Bewunderung, voll Verlangen.

Fass mich nicht an! murmelte Marina, auf einer Woge von Gefühlen schwimmend, im Schlaf. Ich könnte es nicht ertragen.

Marina Dyer. Fremde starrten sie in der Öffentlichkeit an.

Steckten die Köpfe zusammen, wiesen auf sie. Ihr Name – und jetzt auch ihr Gesicht, mit dem Segen der Medien war sie zur Ikone geworden. In Restaurants, in Hotelhallen, bei Anwaltstreffen. Im New Yorker Ballett zum Beispiel, das sie mit einem Freund besuchte, da es eine Aufführung jenes Ensembles gewesen war, für das Lucille Peck am Abend ihres Todes Karten gehabt hatte. Ist das die Anwältin? Die, die …? Des jungen, der seine Mutter mit dem Golfschläger erschlagen hat? Peck?

Sie wurden beide berühmt.

Sein Spitzname, sein Name in den Downtown-Clubs – im Fez, im Duke’s, im Mandible — war» Popel«. Was ihm erst gestunken hatte, bis er entschied, dass er eher liebevoll als höhnisch gemeint war. Ein hübscher weißer Junge aus Uptown, der musste sich nun mal rannehmen lassen. Musste sich Respekt kaufen, Autorität. Es war ein schwieriges Publikum, und das zu beeindrucken, das kostete was — Geld sicher, aber es war nicht alles. Es gehörte eine gewisse Haltung dazu. Hey, Popel, Mann, bist ja echt ’n abgefahrener Typ! Aber jetzt waren sie wirklich beeindruckt. Er hat seinen Hausdrachen platt gemacht? Wahnsinn! Dieser Popel, Mann, ein echt abgefahrener Typ!

Er träumte noch nicht mal davon. Auch nicht von Mutter, die einfach weg war, als wäre sie verreist. Nur, dass sie nicht anrief, um zu sehen, wie’s ihm ging. Er konnte sie nicht mehr enttäuschen, damit war Schluss.

Überhaupt träumte er nie von Gewalt, das war nicht sein Ding. Er glaubte an den Passivismus. Es gab da diesen großen indischen Führer, einen Heiligen namens Gandhi.

Der lehrte das, ethisch und so, Passivismus, und hatte damit über das rassistische britische Imperium triumphiert.

Der Film war freilich zu lang.

Er schlief nicht mehr nachts, sondern zu den merkwürdigsten Zeiten am Tag. Nachts guckte er fern, spielte am Computer» Myst«, sein Lieblingsspiel, in das er sich stundenlang vertiefen konnte. Gewalttätige Spiele mied er, sein Magen spielte da noch nicht mit.

Außerdem mied er die Differenzialrechnung, sogar den Gedanken daran — diese Verräter! Er hatte den Abschluss nicht gemacht, der Jahrgang ’95 machte ohne ihn weiter – die Arschlöcher. Seine Freunde waren nie da, wenn er anrief. Selbst Mädchen, die verrückt nach ihm gewesen waren, keines war da. Keines rief ihn zurück. Ihn, Derek Peck! Den Popelmann! Es war, als hätte man ihm einen Mikrochip eingepflanzt, ins Gehirn, so dass es zu pathologischen Reaktionen kam, wie zum Beispiel zwei Tage nicht schlafen zu können. Um dann einfach zusammenzuklappen, wie tot. Viele Stunden später wachte er wieder auf, das Herz am Hämmern, mit trockenem Mund, quer auf seinem zerwühlten Bett, den Kopf über der Kante; die Doc Martens, seine Kampfstiefel, an den Füßen, trat er hinter sich, als halte ihn jemand an den Knöcheln gepackt, dabei hielt er, mit beiden Händen, eine unsichtbare Stange? Eine Baseballkeule? Einen Schläger?

Und dann schlug er damit im Schlaf zu, und seine Muskeln zuckten dabei, bis er Krämpfe bekam, und die Venen schwollen, bis es ihm schier den Kopf zerriss.

Schlug und schlug und schlug … bis es ihm in der Hose, in seinem Slip von Calvin Klein kam.

Wenn er ausging, trug er eine dunkle, eine sehr dunkle Brille, selbst in der Nacht. Sein langes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, die METS-Kappe umgedreht auf dem Kopf. Für den Prozess würde er sich die Haare schneiden lassen, aber fürs Erste noch nicht, das wäre ja, als gäbe er auf, als kapitulierte er, oder nicht? In der Pizzeria an der Ecke, einem Restaurant an der Second Avenue, in das er rasch mal alleine ging, gab er Autogramme auf Servietten — einigen kichernden Mädchen, einmal einem Vater und seinem vielleicht achtjährigen Sohn, wieder ein andermal zwei alten Frauen um die vierzig oder fünfzig, die ihn anstarrten, als wäre er der Son of Sam. Klar doch, okay! Er unterschrieb mit «Derek Peck jr. «und setzte das Datum darunter. Seine Unterschrift: ein extravagantes Gekrakel in roter Tinte.

Vielen Dank! Und er wusste, sie sahen ihm nach, als er ging, ganz aus dem Häuschen. Ihr einziger Kontakt mit dem Ruhm.

Sein alter Herr und vor allem seine Anwältin würden ihm die Hölle heiß machen, wenn sie das gewusst hätten, aber sie brauchten schließlich nicht alles zu wissen.

Schließlich war er gegen Kaution raus, verflucht noch mal, oder nicht?

Im Gefolge einer Liebesaffäre Anfang dreißig, der letzten solchen Affäre in ihrem Leben, hatte Marina Dyer eine anstrengende» Exkursion «auf die Galapagosinseln unternommen, eine jener Verzweiflungsreisen, die wir an entscheidenden Wendepunkten unseres Lebens so tun, weil wir uns einreden, die Erfahrung würde unsere emotionale Wunde ausbrennen, das daraus resultierende Elend als Banalität erscheinen lassen, die zu vernachlässigen war. Die Reise war tatsächlich anstrengend gewesen und hatte so manche Gefühlswunde verätzt. Auf den berüchtigten Galapagosinseln in der Weite des Pazifik, westlich von Ecuador, kaum zehn Meilen südlich des Äquators, war Marina zu einigen Schlüsseln gelangt, was ihr Leben anging: Zum Einen hatte sie beschlossen, sich nicht umzubringen. Wozu sich selbst umbringen, wo die Natur doch so scharf darauf war, einem das abzunehmen und einen zu verschlingen? Die Inseln waren der schiere Fels, unfruchtbar, sturmumtost.

Von Reptilien und Riesenschildkröten bewohnt.

Vegetation gab es kaum. Die kreischenden Meeresvögel wollten einen wie verdammte Seelen anmuten, wäre es nicht schlicht unmöglich, dort an Seelen zu glauben. In keiner Welt außer einer gefallenen sind solche Inseln möglich, hatte Herman Melville über die Galapagosinseln geschrieben und sie die Encantades, die verzauberten Inseln, genannt.

Als sie von ihrem einwöchigen Ausflug in die Hölle, wie sie die Inseln liebevoll nannte, zurückkehrte, konnte man beobachten, dass Marina Dyer sich leidenschaftlicher, zielstrebiger denn je in ihren Beruf stürzte. Der Anwaltsberuf würde ihr Leben sein, und sie hatte ganz und gar die Absicht, ihr Leben zu einem messbaren und unverkennbaren Erfolg zu machen. Alles, was die Anwaltspraxis nicht von ihrem» Leben «verschlang, hatte keine Bedeutung. Und natürlich war das Gesetz nur ein Spiel: Es hatte herzlich wenig zu tun mit Gerechtigkeit oder Moral,»recht «oder» unrecht «oder» gesundem« Menschenverstand. Aber das Gesetz war nun einmal das einzige Spiel, in dem Marina Dyer ernsthaft mitspielen konnte. Das einzige Spiel, in dem Marina Dyer auch mal ein Sieg vergönnt war.

Marina hatte ihren Schwager zu Besuch, der sie nie gemocht hatte, aber bis jetzt immer herzlich und respektvoll gewesen war. Er starrte sie an, als sehe er sie zum ersten Mal.»Wie zum Teufel kannst du diesen verderbten kleinen Saukerl verteidigen? Wie kannst du das moralisch verantworten? Er hat seine Mutter umgebracht, Herrgott noch mal!«Für Marina kam dieser unerwartete Angriff wie ein Schlag ins Gesicht. Andere, die mit im Raum waren, einschließlich ihrer Schwester, sahen zu, entsetzt. Marina sprach vorsichtig und versuchte dabei die Kontrolle über ihre Stimme nicht zu verlieren.»Aber Ben, du glaubst doch nicht etwa, dass nur die offensichtlich

›Unschuldigen‹ einen Anwalt verdienen, oder?«Es war eine Antwort, die sie schon oft gegeben hatte, auf eine solche Frage; die Antwort, wie sie einem jeder Anwalt gab, vernünftig und überzeugend.

«Natürlich nicht. Aber Leute wie die gehen einfach zu weit.« «Zu weit? Leute wie ich?« «Du weißt, was ich meine. Stell dich nicht dumm.« «Tu ich doch nicht. Ich weiß nicht, was du meinst.« Ihr Schwager war von Natur aus ein höflicher Mensch, wie fest seine Überzeugungen auch immer sein mochten.

Aber wie grob wandte er sich jetzt von ihr ab, und das mit wegwerfender Geste. Marina, entsetzt, rief ihm nach:

«Ben, ich weiß nicht, was du meinst. Derek ist unschuldig, da bin ich sicher. Der Fall gegen ihn besteht nur aus Indizien. Die Medien …«Ihre flehentliche Stimme verlor sich; er hatte das Zimmer verlassen. Nie im Leben war sie so tief verletzt gewesen, so verwirrt. Ihr eigener Schwager!

So was von intolerant. Dieser selbstgerechte Mistkerl!

Ihr Lebtag wollte Marina diesen Mann nicht mehr sehen.

Marina? Nicht weinen.

Die meinen das doch nicht so, Marina. Denk dir nichts dabei, bitte!

Wie oft hatte sie sich nach der Erniedrigung im Sportunterricht auf der Toilette des Umkleideraums versteckt! Noch nicht mal Lucy, als Mannschaftskapitän, wollte sie haben — so viel war klar. Marina Dyer und die anderen Mädchen, die letzte Wahl waren, die eine oder andere Dicke, kurzsichtige, tollpatschige, asthmatische Mädchen, die sich nicht zu bewegen wussten, man verteilte sie lachend auf das rote und das goldene Team.

Der Versuch, donnernden Hufen und brutalen Körpern auszuweichen. Schreie, gellendes Gelächter.

Schwingende, rudernde Arme, muskulöse Schenkel. Wie hart der glänzende Boden war, wenn man fiel! Die großen unter den Mädchen (eine davon Lucy Siddons mit ihrem wild funkelnden Blick) überrannten sie einfach, wenn sie nicht auswich; für sie existierte sie nicht. Und Marina von der Sportlehrerin absurderweise auch noch in der Verteidigung eingesetzt. Du musst spielen, Marina. Du musst es versuchen. Sei nicht albern. Ist doch nur ein Spiel. Ist doch alles nur Spiel. Los, raus da, zu deinem Team! Aber wenn der Ball direkt auf sie zukam, traf er sie gegen die Brust, prallte ihr aus den Händen direkt in die einer anderen. Wenn der Ball auf ihren Kopf zuflog, war sie unfähig, sich zu ducken, hilflos, wie gelähmt stand sie da. Die Brille flog. Ihr Schrei der eines Kindes.

Lächerlich. Alles so lächerlich. Aber es war ihr Leben.

Lucy, die warmherzige Lucy, der sie dann Leid tat, holte sie aus der Toilette, in der sie sich eingeschlossen hatte, unter wütendem Schluchzen, ein blutiges Papiertaschentuch gegen die Nase gedrückt. Marina?

Wein doch nicht. Die meinen das doch nicht so, sie mögen dich, mach wieder mit, was hast du denn? Die gute Lucy hatte sie am meisten gehasst.

Am Nachmittag des Freitags vor dem Montag, für den der Prozessbeginn angesetzt war, kam es zum Zusammenbruch von Derek Peck junior in Marina Dyers Büro.

Marina hatte schon gewusst, dass etwas nicht stimmte, so wie der Junge nach Alkohol stank. Er war mit seinem Vater gekommen, hatte ihm aber gesagt, er möchte doch draußen warten; außerdem bestand er darauf, dass Marinas Anwaltsgehilfin den Raum verließ.

Er begann zu weinen und stammelte los. Zu Marinas Erstaunen ging er auf ihrem burgunderfarbenen Teppich hart in die Knie und schlug dann die Stirn gegen die Kante der Glasplatte auf ihrem Tisch. Er lachte; er weinte. Sagte dann mit vor Qualen schier erstickender Stimme, wie Leid es ihm tat, den letzten Geburtstag seiner Mutter vergessen zu haben, schließlich hatte er nicht wissen können, dass es ihr letzter war, und wie weh er ihr damit getan hatte, als hätte er ihn aus Trotz vergessen, und das stimmte doch nicht, Herrgott, er hatte sie doch geliebt! Der einzige Mensch in diesem gottbeschissenen Universum, der sie geliebt hatte! Und dann, an Thanksgiving, diese schreckliche Szene — sie hatte sich mit der Verwandtschaft zerstritten, so dass er und sie allein waren, und trotzdem hatte sie es sich nicht nehmen lassen, für zwei Leute ein komplettes Festmahl zu arrangieren; er hatte ihr gesagt, das sei doch verrückt, aber sie hatte darauf bestanden, unmöglich sie von etwas abzuhalten, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, und er hatte gewusst, es würde Ärger geben, sie hatte am Morgen schon in der Küche zu trinken begonnen, während er oben war, in seinem Zimmer, und zu Musik aus dem Walkman Dope rauchte, weil er wusste, er könnte nicht fliehen. Und sie machte noch nicht einmal einen Truthahn für sie beide, der hätte mindestens zehn Kilo haben müssen, da sonst das Fleisch zu trocken geriet, sagte sie, also hatte sie zwei Enten gekauft, ja, zwei tote Enten aus einer Wild- und Geflügelhandlung in der Lexington, Ecke 66., und das wäre ja noch gegangen, hätte sie nicht Rotwein getrunken, sie hatte so hysterisch gelacht und telefoniert und die aufwändige Füllung zubereitet, die sie jedes Jahr machte, wilder Reis, Pilze, Oliven, dazu Süßkartoffeln, Pflaumensoße und Schokoladen-Tapiokapudding, der angeblich eine seiner Lieblingsnachspeisen war, schon von klein auf, obwohl er allein schon seinen Geruch zum Kotzen fand. Er hielt sich aus allem raus, blieb oben, bis sie ihn schließlich gegen vier Uhr nachmittags rief, da war er hinuntergegangen und hatte genau gewusst, das Ganze würde ihn total runterziehen, obwohl es noch schlimmer kam, weil sie schwankte, so betrunken war sie, die Augen verschmiert, und dann aßen sie im Esszimmer unter dem Kronleuchter, mit all dem feinen Tischzeug aus irischem Leinen, Großmutters altem Porzellan und dem Tafelsilber dazu, und dann hatte sie darauf bestanden, dass er die Enten tranchierte! Er hatte sich zu drücken versucht, aber sie ließ ihn — Herrgott! Und was passiert? Er stößt der Ente das Messer in die Brust, und es kommt Blut heraus, spritzt heraus, echtes Blut! Und innen ist alles ein großer, klebriger Klumpen Blut, also läuft er würgend hinaus, so einen Schrecken hatte ihm das eingejagt, immerhin war er völlig stoned, da verträgt man so was nicht, und als er auf die Straße lief, hätte ihn beinahe ein Auto erwischt, während sie hinter ihm dreinschrie: Derek, komm zurück! Derek, komm zurück, lass mich nicht allein! Aber er hatte sich verdrückt und war anderthalb Tage nicht wiedergekommen.

Und selbst danach trank sie immer mehr und laberte irres Zeug, wie dass er ihr Baby sei, sie spüre ihn in ihrem Bauch treten, erschauern, unter dem Herzen, sie hatte mit ihm gesprochen, monatelang, in ihrem Bauch, bevor er geboren war, sie legte sich dazu aufs Bett und streichelte ihn, seinen Kopf, durch ihre Haut, und sie unterhielten sich miteinander, sagte sie, noch nie sei sie einem anderen Wesen so nahe gewesen, und ihm war das peinlich, er wusste nicht, was er sagen sollte, außer, dass er sich nicht mehr daran erinnerte, war schließlich schon lange her, und sie sagte darauf, nein, nein, und ob du dich erinnerst, in deinem Herzen, in deinem Herzen bist du immer noch mein Baby, du erinnerst dich schon, worauf er sauer wurde und sagte: Hör auf zu spinnen, so ein Quatsch, ich erinnere mich nicht! Es gab nur eine Möglichkeit, damit sie aufhörte, ihn zu lieben, das wurde ihm langsam klar, aber er hatte es nicht gewollt, er hatte gebeten, in eine Schule in Boston oder Gott weiß wo gehen, bei seinem Papa wohnen zu dürfen, aber da drehte sie durch, nein, nein, nein, kam nicht in Frage, dass er wegging, nie würde sie das erlauben, sie versuchte ihn festzuhalten, in die Arme zu ziehen und zu küssen, so dass er sich einsperren und praktisch die Tür verbarrikadieren musste, und sie hatte auf ihn gewartet, halbnackt, so getan, als käme sie aus dem Bad, als hätte sie gerade geduscht, und drückte ihn an sich, und an jenem Abend, da musste er einfach durchgedreht sein, irgendwas in seinem Kopf war geknackst, und er hatte nach dem Zweier-Eisen gegriffen, sie hatte noch nicht mal Zeit gehabt zu schreien, so schnell war es gegangen, so gnädig, er war hinterrücks auf sie zugerannt, sie hat ihn noch nicht mal richtig gesehen …»Es war die einzige Möglichkeit, endlich Schluss zu machen mit ihrer Liebe zu mir.« Marina starrte dem Jungen in das schmerzverzerrte, tränenüberströmte Gesicht. Schleim lief ihm aus der Nase, in erschreckender Menge. Was hatte er da gesagt? Er hatte gesagt … Was?

Aber selbst jetzt blieb ein Teil von Marinas Verstand distanziert, berechnend. Sie war von Dereks Beichte schockiert, aber war sie überrascht? Ein Anwalt ist nie überrascht.

Rasch sagte sie:»Deine Mutter Lucille war eine starke, dominante Frau. Ich weiß das, ich kannte sie. Als Mädchen, vor fünfundzwanzig Jahren, kam sie in ein Zimmer gestürzt und saugte sofort allen Sauerstoff auf.

Sie kam in einen Raum, und man hätte meinen können, ein Wind hätte alle Fenster gesprengt!«Marina wusste kaum, was sie sagte, nur dass ihr die Worte aus dem Mund fielen; ein Strahlen umspielte ihr Gesicht wie Flammen.»Lucille hat dich erstickt. Sie war keine normale Mutter. Was du mir da erzählst, bestätigt mich nur in meinem Verdacht.

Ich habe schon andere Opfer psychischen Inzests gesehen, ich kenne mich aus! Sie hat dich hypnotisiert, du hast um dein Leben gekämpft. Du hast dein eigenes Leben verteidigt. «Derek kniete noch auf dem Teppich und starrte Marina ausdruckslos an. Feste kleine Blutperlen hatten sich auf seiner geröteten Stirn gebildet, Kringel seines fettigen Haars fielen ihm in die Augen. Seine Energie war verbraucht. Er sah Marina jetzt an wie ein Tier, das keine Worte, sondern nur Geräusche von seinem Frauchen hört; gewisse Kadenzen, Rhythmen und deren Trost. Marina sagte nachdrücklich:»An jenem Abend hast du die Kontrolle verloren. Was immer passiert ist, Derek, das warst nicht du. Du bist das Opfer. Sie hat dich so weit getrieben! Und auch dein Vater hat seine Pflichten dir gegenüber vernachlässigt, er hat dich bei ihr gelassen, mit ihr allein gelassen hat er dich, im Alter von dreizehn Jahren. Dreizehn! Das hast du all die Monate nicht wahrhaben wollen. Das ist das Geheimnis, das du nicht anerkennen wolltest. Du hattest doch gar keine eigenen Gedanken, nicht wahr? Jahrelang nicht? Ihre Gedanken waren die deinen, mit ihrer Stimme. «Derek nickte stumm. Marina hatte ein Papiertuch aus dem polierten Leder-Behälter auf ihrem Schreibtisch genommen und tupfte ihm damit zärtlich übers Gesicht. Er hob ihr das Gesicht entgegen, schloss die Augen dabei. Als wäre diese plötzliche Nähe, diese Intimität ihnen nicht neu, sondern irgendwie seit langem vertraut. Marina sah den Jungen im Gerichtssaal, ihren Derek: ein neuer Mensch — das Gesicht frisch geschrubbt, das Haar sauber geschnitten, vor Gesundheit strotzend; erhobenen Hauptes, völlig unverstellt, ohne Falsch.» E s war die einzige Möglichkeit, endlich Schluss zu machen mit ihrer Liebe zu mir. «Er trug einen marineblauen Blazer mit dem eleganten, aber dezenten Monogramm der Mayhew Academy. Ein weißes Hemd, eine blaugestreifte Krawatte. Die Hände in einer Geste buddhistischer Ruhe gefaltet. Ein Junge, unreif für sein Alter. Emotional beeinflussbar. Nicht schuldig wegen vorübergehender Unzurechnungsfähigkeit. Es war eine transzendente Vision, und Marina wusste, sie würde sie erkennen, und allen, die Derek Peck junior anstarrten und seine Aussage hörten, würde das klar.

Derek lehnte sich gegen Marina, die über ihn gebeugt stand, er hatte sein nasses, heißes Gesicht an ihren Beinen versteckt, als sie ihn, um ihn zu trösten, hielt. Was für eine ranzige Wärme ging doch von ihm aus, und dazu wirkte er wie ein verschrecktes Tier, was für eine Not. Er schluchzte und stammelte kaum verständlich:»… rette mich! Lass nicht zu, dass man mir was tut. Bekomme ich Immunität, wenn ich alles gestehe? Wenn ich sage, was passiert ist, wenn ich die Wahrheit sage …« Marina nahm ihn in die Arme, die Finger in seinem Nacken. Sie sagte:»Natürlich rette ich dich, Derek.

Deshalb bist du doch zu mir gekommen, nicht wahr?«

(Deutsch von Bernhard Schmid)

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