Wolfgang Hohlbein Indiana Jones und das Schwert des Dschingis Khan

Ein namenloser Fluß an der russisch-mongolischen Grenze

Auf einen Ort zu stoßen, dessen Name auf keiner Karte verzeichnet war, das war an sich nichts Außergewöhnliches.

Schon gar nicht hier, in einem Winkel der Welt, von dem die allermeisten Menschen kaum wußten, daß er existierte; geschweige denn, wo er lag und wie es dort aussah.

Auch auf eine kleine Ansiedlung zu treffen, die man in den schon etwas detaillierteren Karten, die die Bewohner dieses Landes selbst von ihrer Heimat angefertigt hatten, vergebens suchte, wäre allerhöchstens ein bißchen überraschend gewesen. Ein bißchen, aber nicht sehr.

Und selbst ein Dorf, dessen Position und Name in den schon sehr viel genaueren militärischen Kartenwerken der Gegend fehlte, wäre noch vorstellbar gewesen; wenn auch schon schwerer. Selbst hier, am unbestrittenen Ende der zivilisierten Welt (und vielleicht schon ein bißchen dahinter), pflegte das Militär prinzipiell alles zu wissen, was es zu wissen gab — und nach Möglichkeit auch noch ein bißchen mehr. Trotzdem … es war denkbar.

Aber auf eine ganze Zeltstadt zu stoßen, die noch vor achtundvierzig Stunden schlicht und einfach nicht dagewesen war, das erschütterte Michail bis in die tiefsten Tiefen seiner Kosakenseele. So tief, daß er seit nunmehr gut zwei Minuten reglos im aufgeklappten Turmluk des T32 stand, auf die Ansammlung kunterbunter Zelte im Tal unter sich herabstarrte und weder den eisigen Wind registrierte, der wie mit dünnen gläsernen Klingen in sein Gesicht schnitt und sich mittlerweile anschickte, seinen sorgsam gestutzten Vollbart mit Eis zu verkrusten, noch die immer nervöseren Blicke, die das halbe Dutzend Panzerinfanteristen in seiner Begleitung abwechselnd ihm und der Kette pelzvermummter Gestalten zuwarf, die sich langsam den Hang hinauf und auf den Panzer zubewegten.

Er glaubte es einfach nicht.

Er glaubte es nicht, weil es nicht sein konnte, und es konnte nicht sein, weil es nicht sein durfte. Basta.

Unverschämterweise streckte die Wirklichkeit in Gestalt besagter Zelte und Männer seiner unerschütterlichen Überzeugung weiter beharrlich die Zunge heraus, und so tat Michail schließlich das, was er schon vor anderthalb Minuten hätte tun sollen — er ließ mit einem verwirrten Seufzer zuerst den Feldstecher und dann sich selbst zurück in das Turmluk des Panzers sinken. Natürlich stieß er sich prompt den Hinterkopf bei dieser Aktion, und er ließ auch jetzt den gleichen, unflätigen Fluch hören wie jedes Mal, wenn das passierte.

Michail haßte diesen Panzer. Da er Kosak mit Leib und Seele war, verachtete er prinzipiell, was nicht vier Beine, einen Schweif, eine Mähne und Nüstern hatte, aber diesem speziellen Panzer galt sein ganz besonderer Haß. Seit er dieses rasselnde, schnaufende, klirrende, stinkende Ding vor einem halben Jahr zum ersten Mal gesehen hatte, haßte er es, und er war überzeugt davon, daß dieser Haß auf Gegenseitigkeit beruhte, denn es verging kein Tag, an dem er sich nicht mindestens einmal daran stieß, schnitt, prellte, klemmte oder die Finger verbrannte. Michail wußte, daß seine Männer bereits hinter vorgehaltener Hand Wetten abschlossen, auf welche Weise er sich wohl das nächste Mal verletzen würde, wenn er das staubgraue Ungeheuer auch nur von der Seite ansah. Wer immer behauptet hatte, Maschinen hätten keine Seele, hatte entweder nicht alle Tassen im Schrank oder er log. Zumindest dieser T32 hatte eine Seele. Und sie war schwärzer als die des Teufels.

Nun konnte man nicht unbedingt behaupten, daß Michail unvoreingenommen gewesen wäre, was dieses Fahrzeug anging. Oder sein Kommando. Oder die Umstände seiner Versetzung hierher überhaupt. Von diesem Land ganz abgesehen.

Schon Michails Urgroßvater war Kosak gewesen. Wie sein Großvater. Und sein Vater auch.

Michail war es nicht.

Das hatte verschiedene Gründe, hauptsächlich aber den, daß die Bolschewiken einen Preis auf die Köpfe von Männern wie ihn ausgesetzt hatten, so daß es Michail schon früh ratsam erschienen war, sowohl seinen Namen als auch gewisse Details in seiner Geburtsurkunde und seinen übrigen Papieren zu ändern. Zum anderen gehörte Michail unglücklicherweise zu jenen Menschen, die prinzipiell den Sand bildeten, der das Räderwerk jeder großen Organisation zum Knirschen brachte. Die Rote Armee war eine immens große Organisation, und wenn sie auch im Grunde nicht viel mehr tat, als sich selbst zu verwalten, so gab es doch eine Menge Zehen, auf die man treten konnte. Michail war auf ihnen allen nach Kräften herumgehopst — mit dem Ergebnis, daß er sich schneller am Ende der Welt wiedergefunden hatte, als er seinen eigenen Namen buchstabieren konnte. Einzig der Umstand, daß er neben allem anderen auch noch ein Kriegsheld war, dessen Taten nicht einmal der Oberste Sowjet in Moskau ohne weiteres ignorieren konnte, hatte ihn davor bewahrt, als einfacher Soldat statt als Offizier hier zu landen und den Rest seiner Tage damit zu verbringen, Latrinen zu säubern. Aber das war auch schon alles.

«Genosse Kommandant?«

Michail fuhr aus seinen düsteren Überlegungen auf und blickte an seinen Knien vorbei hinab ins Gesicht des Bordkanoniers, der eingezwängt wie in einer Sardinenbüchse unter ihm hockte. Sein Gesicht war rot vor Kälte. Das war eine weitere Gemeinheit, mit der dieser Panzer aufzuwarten wußte. Egal ob er stand oder fuhr, es war in seinem Inneren immer ein bißchen kälter als draußen. Natürlich nur im Winter. Im Sommer war es stets heißer.»Ja?«grunzte er.

Der Mann deutete mit einer Kopfbewegung auf den kaum fingerbreiten Sehschlitz vor sich.»Ich glaube, sie kommen näher. «Seine Stimme klang fast ängstlich.

Michail seufzte erneut und sehr tief, schob Kopf und Schultern aber wieder aus dem Turmluk heraus, wobei er sorgsam darauf achtete, sich diesmal nicht den Hinterkopf anzuschlagen. Es gelang ihm, aber dafür prellte er sich das rechte Knie.

Die Gestalten waren tatsächlich nähergekommen, nahe genug, daß er sie jetzt auch ohne Feldstecher erkennen konnte.

Michail spürte, daß ihre sonderbare Kleidung ihm eigentlich etwas sagen sollte. Zu diesem vagen Gefühl kam seine stärker werdende Beunruhigung.

Spürte etwas in ihm vielleicht eine Gefahr, die von den Männern in den langen, buntbestickten Wollmänteln ausging?

Einen Moment dachte er ganz ernsthaft über diese Frage nach, verneinte sie aber dann. Es waren vierzig, vielleicht sogar fünfzig, aber sie waren nicht — und wenn, dann allenfalls mit Messern, Speeren und lächerlich! — lederbezogenen Schilden — bewaffnet, während er selbst fünf mit Maschinenpistolen und Karabinern ausgerüstete Infanteristen draußen und zwei weitere Männer hier drinnen hatte. Außerdem saß er sicher hinter zweieinhalb Zentimetern bestem russischem Stahl und gebot über eine 7,5 cm-Kanone und zwei doppelläufige Maschinengewehre.

Nein — was ihn beunruhigte, das war nicht die Gefahr, die von diesen Männern ausging. Es war die Tatsache, daß sie hier waren.

Wenn er sich diese Zeltstadt dort unten ansah, dann mußte der Stamm aus mindestens zweihundert Nomaden bestehen — und wie zum Teufel hatten es zweihundert Menschen geschafft, mit Sack und Pack hierherzukommen, ohne daß er es gemerkt hatte? Und — viel interessanter — was wollten sie hier?

Wenn man dieses Zeltlager genauer in Augenschein nahm und seine Phantasie auch nur ein kleines bißchen spielen ließ, dann fiel einem sehr schnell zweierlei auf: erstens, daß es nicht den Eindruck machte, in aller Hast und nur für ein paar Tage errichtet worden zu sein. Und zweitens, daß es durchaus auf Zuwachs gebaut war. Was um alles in der Welt hatte dieses Gesindel vor? Sich hier häuslich niederzulassen oder vielleicht gleich einen eigenen Staat auszurufen? Nun, Michail würde sowohl gegen das eine als auch gegen das andere etwas unternehmen.

Ganz besonders gegen das eine. Oh ja, er würde noch etwas tun, sobald sie zurück in der Garnison waren: nämlich dem verantwortlichen Offizier, der hier vor zwei Tagen angeblich keine Menschenseele angetroffen hatte, so kräftig in den Arsch treten, daß er den Geschmack seiner Stiefelspitzen auf der Zunge spürte.

«Ich glaube, Sie haben recht, Fjodor«, antwortete Michail schließlich. Diese Antwort war erstens überflüssig und erfolgte zweitens mit gehöriger Verspätung. Beides waren seine Untergebenen von ihm gewohnt. Seine Vorgesetzten auch.

Fjodor schwieg eine ganze Weile. Dann, und in einem Ton, der fast ängstlich darauf bedacht war, auch nicht die Spur von Kritik am offenkundigen Zögern seines Vorgesetzten mitklingen zu lassen:»Vielleicht … sollte man etwas tun? Mit ihnen reden … vielleicht.«

«Vielleicht«, pflichtete ihm Michail bei. -Vielleicht- war eines seiner Lieblingsworte. Es ließ so viele schöne Möglichkeiten offen. Unter anderem die, gar nichts zu tun.

Aus eng zusammengekniffenen Augen — die Sonne spendete zwar kaum Wärme, aber ihr Licht war geradezu stechend — blickte er auf die Ansammlung gleichermaßen alberner wie bedrohlicher Gestalten hinab, die sich seinem Panzer und den fünf Rotarmisten mittlerweile bis auf gut hundert Meter genähert hatten. Nicht nahe genug, um den Ausdruck auf ihren Gesichtern wirklich zu erkennen. Trotzdem war da etwas …

Verschlagenes? Unsinn!

«Was sind das für welche?«murmelte er.»Tungusen? Kirgisen?«Er blickte zwischen seinen gespreizten Beinen hindurch in Fjodors hochgerecktes, breites Mongolengesicht. Dann wußte er es.

«Mongolen«, sagte er. Er gab sich keine Mühe, die Verachtung, die in seiner Stimme dabei mitschwang, irgendwie zu unterdrücken. Was nichts mit dem Volk der Mongolen oder gar Fjodor persönlich zu tun hatte. Wie gesagt — Michail war Kosak mit Leib und Seele, und ein waschechter Kosak verachtete nun einmal jeden, der kein Kosak war. Zumindest Michail tat das.

«Sie sind doch Mongole«, begann Michail.

Fjodor räusperte sich.»Nun ja. Mein Großvater mütterlicherseits — «

«Also sprechen Sie auch ihre Sprache«, führte Michail den Gedanken mit messerscharfer Logik zu Ende.»Gehen Sie hinaus und reden Sie mit ihnen. Fragen Sie die Burschen, was sie hier zu suchen haben.«

Fjodor wand sich wie der berühmte Fisch an der Angel.»Vielleicht wäre das keine so gute Idee«, sagte er vorsichtig.

Michails linke Augenbraue verschwand unter dem Rand seiner Kosakenmütze, die er — völlig unberührt von sämtlichen Bekleidungsvorschriften der Roten Armee — zu seiner Uniform trug. Wenigstens hier draußen, wo es niemand sah.»Das war kein freundschaftlicher Rat, Genosse«, sagte er.»Das war ein Befehl!«

«Ich weiß, ich weiß«, sagte Fjodor hastig.»Ich dachte nur … es wäre vielleicht besser, wenn der Panzer einsatzfähig bliebe.

Nur für den Fall der Fälle«, fügte er mit einem verlegenen Lächeln hinzu.

Michail starrte ihn an, aber dann nickte er. Schon weil der Umstand, daß Fjodor den Panzer verließ, zwangsläufig auch bedeutete, daß er aus dem Turmluk heraus- und wieder hineinklettern mußte. Im Zweifelsfalle vier neue, schmerzhafte Schrammen oder Beulen. Er entschied sich dagegen.

Die Clownparade war wieder nähergekommen. Noch achtzig Meter, schätzte Michail. Das reichte. Mit einem Ruck warf er sich in die Brust, bildete mit den Händen einen Trichter vor dem Mund und schrie mit vollem Stimmaufwand:»Wer seid ihr? Was sucht ihr hier?«

Er bekam keine Antwort. Gute zehn Sekunden vergingen, und die Meute hatte sich auf vielleicht siebzig Meter genähert, bis Michail sich eingestand, daß die Männer weder ihm noch seiner Uniform oder dem roten Stern auf beiden Seiten seines Panzers genügend Respekt zollten, um zu antworten. Oder auch nur stehenzubleiben. Allmählich wurde Michail doch ein wenig mulmig zumute …

Mit herrischer Geste wies er auf den Panzerinfanteristen, der das Pech hatte, dem T32 am nächsten zu stehen.»Sie da! Gehen Sie hin und fragen Sie, wer die sind!«

Der Mann setzte sich zögernd in Bewegung. In seinem langen, rotbraunen Mantel sah er kaum weniger lächerlich aus als die Gestalten vor ihm, dachte Michail. Und zugleich irgendwie … verloren?

«Das gefällt mir nicht«, sagte Fjodor unter ihm.»Vielleicht sollten wir besser den Motor anlassen?«

«Red keinen Unsinn, Genosse«, knurrte Michail verächtlich.»Das sind doch nur ein paar harmlose Herumtreiber.«

Der Rotarmist hatte die buntgekleidete Schar erreicht und blieb stehen, aber er kam nicht einmal dazu, den Mund zu öffnen, denn einer der Männer zog kommentarlos ein Schwert unter dem Mantel hervor und schlug ihm den Kopf ab. Das alles ging so schnell und fast undramatisch, daß Michail geschlagene fünf Sekunden einfach in seinem Panzerluk stand und aus fassungslos aufgerissenen Augen auf den Kopf mit der pelzgefütterten Mütze starrte, der eine blutige Spur durch den Schnee zog, während er wie ein Ball den Hügel hinunterrollte.

Dann schien alles gleichzeitig zu geschehen; rasend schnell, als hätte jemand die Wirklichkeit ein paarmal gefaltet, damit die Dinge schneller als eigentlich möglich ablaufen konnten: Der enthauptete Körper des Panzerinfanteristen neigte sich steif wie ein Brett und nach einer absurden Verzögerung zur Seite und fiel in den Schnee. In den Händen der gut fünfzig Gestalten, die plötzlich wie ein Mann losrannten und dabei ein markerschütterndes Geheul und Gebrüll anstimmten, erschienen plötzlich jene Schwerter und Krummsäbel, die sie unter ihren langen Mänteln verborgen hatten. Michails verbliebene vier Panzerinfanteristen zerrten ihre Gewehre von den Schultern; zwei von ihnen legten sofort auf die Heranstürmenden an; die beiden anderen suchten hastig Deckung hinter dem T32.

Das alles geschah in ungefähr einer Sekunde.

In der zweiten ließ sich Michail in den Turm hineinfallen, knallte die gepanzerte Luke über sich zu (wobei er sich kräftig die Finger der linken Hand quetschte) und brüllte so laut er konnte: »Laß diesen verdammten Motor an!«

Während der Fahrer unter ihnen ebenso verzweifelt wie vergeblich versuchte, den schweren Dieselmotor des Panzers zu starten, versuchte Michail sich an Fjodor vorbeizuquet-schen, um mit ihm den Platz hinter der Kanone zu tauschen; gleichzeitig tat er sein Bestes, hinter eines der beiden schweren Maschinengewehre zu gelangen und ebenso gleichzeitig einen Blick durch die Sehschlitze nach draußen zu werfen. Zwei dieser drei Unternehmungen schlugen fehl; der Platz im Turm des T32 war einfach nicht ausreichend, um Michail nach unten und Fjodor zugleich nach oben zu lassen, so daß für eine Sekunde ein hoffnungsloses Geschiebe und Gedränge entstand.

Im Verschluß des Maschinengewehres klemmte er sich den gleichen Finger noch einmal, den er sich eben erst im Turmluk des Panzers gequetscht hatte, aber zumindest klappte es mit dem Blick nach draußen.

Er war bloß nicht sehr glücklich darüber.

Die Angreifer hatten sich dem Panzer mittlerweile auf knapp zwanzig Meter genähert. Ein erster Speer flog in hohem Bogen heran und prallte klappernd von den Panzerplatten ab, und genau in diesem Moment — endlich! — kamen seine Leute auf die Idee, das Feuer zu eröffnen. Im Inneren des Panzers klangen die Schüsse der schweren Armeekarabiner sonderbar gedämpft und leise, aber Michail sah das orangerote Mündungsfeuer, und den Bruchteil einer Sekunde danach stürzten zwei Gestalten leblos in den Schnee.

Der Rest stürmte ungerührt weiter. Sie schrien irgend etwas, aber Michail verstand es nicht. Er verschwendete auch keine Zeit darauf, es verstehen zu wollen, sondern kämpfte fluchend mit dem Verschluß des MG.»Was ist mit diesem ScheißMotor?!«brüllte er.

Er bekam keine Antwort, aber wenigstens gelang es ihm endlich, seinen Daumen aus dem Verschluß des MG heraus-und den Ladestreifen hineinzubekommen. Die Angreifer waren am Ziel. Ein Hagel von Speeren, Pfeilen und geschleuderten Äxten prasselte auf den Panzer und wohl auch Michails Leute herab, denn er hörte einen gurgelnden Schrei; im eingeschränkten Sichtfeld des Sehschlitzes sah er eine schlaffe Hand, die ein Gewehr fallen ließ. Die drei anderen Soldaten schossen verzweifelt weiter, und fast jede Kugel traf — die Angreifer jedoch stürmten unbeeindruckt näher.

Direkt in die erste Salve aus Michails MG hinein.

Auf eine Distanz von jetzt kaum noch fünf Metern war die Wirkung verheerend. Fünf oder sechs Männer wurden scheinbar zugleich von den Füßen gerissen und fielen reglos in den Schnee, der Rest spritzte in alle Richtungen auseinander. Michails MG folgte ihnen unbarmherzig. Er erwischte zwei, drei weitere Gestalten, dann war der Ladestreifen verschossen.

Michails Fluch ging im Dröhnen des anspringenden Motors unter. Der Panzer stieß eine gewaltige Qualmwolke aus und rollte los, und hinter ihm stürzte einer der beiden Rotarmisten, die sich gegen seine Flanke gelehnt hatten, mit einem überraschten Keuchen in den Schnee. Michail bemerkte es nicht einmal. Er war voll und ganz damit beschäftigt, einen neuen Munitionsgurt in das MG zu stopfen und Fjodor anzuschreien, der tatenlos über ihm im Turm des Panzers hockte.»Idiot!

Warum schießt du nicht?«

«Aber worauf denn?«fragte Fjodor.»Sie sind viel zu nahe!«

Michail warf einen Blick nach draußen und sah ein, daß Fjodor recht hatte. Diese Verrückten waren mittlerweile sogar zu nahe für sein MG — was ihn allerdings nicht daran hinderte, Fjodor lauthals weiter zu verfluchen und mit einer erstaunlichen Vielzahl von Beschimpfungen zu bedenken.

Langsam gewann der Panzer an Tempo. Das Gewehrfeuer draußen hatte aufgehört, und Michail fürchtete zu Recht, daß er den Grund dafür kannte. Trotz seiner MG-Salve mußten noch mindestens zwanzig oder dreißig dieser Verrückten den Panzer erreicht haben; seine Männer hatten nicht die Spur einer Chance.

Na gut, dachte Michail grimmig. Fünf von uns. Fünfzig von euch, wenn ich mit euch fertig bin. Mindestens.

«Schneller!«brüllte er den Fahrer an.»Fahr ins Dorf! Wir radieren sie aus!«

Der Motor brüllte auf, und Fjodor nahm Michails Worte zum Anlaß, seine Kanone abzufeuern. Die Granate schlug einen guten Kilometer hinter der Zeltstadt ein und ließ eine zwanzig Meter hohe Staub- und Trümmerfontäne in die Luft steigen.

«Idiot!«brüllte Michail. Gleichzeitig sah er sich wild um, sofern der winzige Sehschlitz dies zuließ. Wo waren sie?!

Zumindest einer von ihnen war ganz in seiner Nähe, aber das merkte Michail erst, als ein halber Meter rasiermesserscharf geschliffener Stahl durch die Sichtluke hereinfuhr und eine dünne, teuflisch brennende Linie in seinem Gesicht hinterließ.

Michail kreischte, warf sich zurück und schlug ganz instinktiv mit dem Unterarm nach der Klinge. Der dicke Wintermantel bewahrte ihn vor einer weiteren Verletzung. Er hörte einen Schrei, die Klinge verschwand aus dem Sehschlitz, und plötzlich war ein Schatten vor ihm. Michail drückte ab, und er nahm den Finger erst vom Abzug, als er spürte, wie etwas unter die Ketten des Panzers geriet, das härter als Schnee, aber weicher als Felsen war.

Sie waren auf dem Panzer! dachte Michail entsetzt. Der T32 raste in einem Höllentempo den Hügel hinab, aber ein paar dieser Halbaffen mußten ihn geentert haben wie ein vorbeisegelndes Schiff. Großer Gott, vielleicht waren sie gerade dabei, das Turmluk aufzubrechen oder irgendwie Benzin hineinzu-kippen — in seinen Panzer!

Michails heiliger Zorn über diese Unverschämtheit ließ ihn für einen Moment seine Angst vergessen. Wütend zerrte er an dem entsprechenden Hebel und ließ den Turm hochschwenken. Etwas prallte mit einem dumpfen Laut gegen den Lauf der Kanone und stürzte in den Schnee (und wie Michail inständig hoffte, unter die Ketten) herab, einen zweiten Angreifer erwischte er mit einem kurzen Feuerstoß des MG. Als er auf den dritten zielen wollte, schwang sich der Bursche wie ein Zirkusartist am Kanonenrohr in die Höhe und verschwand aus dem Rechteck, durch das Michail die Außenwelt wahrnehmen konnte.

Michail tat das, womit er den Großteil der letzten fünf Minuten verbracht hatte. Er fluchte lauthals, ließ das MG fahren und drängte sich an Fjodor vorbei zum Turmluk hinauf. Über ihm polterte etwas. Michail riß das Turmluk auf, duckte sich und gab gleichzeitig einen Feuerstoß aus seiner Kalaschnikow ab.

Ein Schrei ertönte, einen Herzschlag später von einem dumpfen Aufprall gefolgt. Mit einem triumphierenden Grinsen richtete sich Michail auf — und brüllte vor Schmerz, als geschliffener Stahl tief in seine Schulter drang. Er spürte, wie sein linkes Schlüsselbein brach.

Die Klinge wurde zurückgezogen, und ein neuer, noch schlimmerer Schmerz ließ rote Lichtblitze vor Michails Augen tanzen. Instinktiv packte er die MP mit beiden Händen, riß sie hoch über den Kopf und fing den nächsten Schwerthieb mit der Waffe ab.

Die Erschütterung riß ihm die MP aus den Händen. Sein linker Arm war plötzlich ohne Kraft und sank nutzlos herab. Warmes Blut tränkte seinen Mantel und lief an seinem Rücken herab. Trotz der Schmerzen stemmte er sich mit einem Schrei vollends aus dem Turmluk heraus, packte den Angreifer, der gerade zu einem weiteren Hieb ausholte, mit der unverletzten Rechten und entrang ihm das Schwert. Todesangst und Wut verliehen ihm übermenschliche Kräfte. Er riß den Burschen in die Höhe, rammte ihm das Knie in den Leib und versetzte ihm einen Stoß, der ihn vom Turm herunter auf das Heck des Panzers stürzen ließ. Sofort versuchte er sich wieder aufzurappeln, aber Michail ließ ihm keine Chance: Ehe der Schmerz in seiner Schulter übermächtig werden und ihm die Sinne rauben konnte, zog er die Pistole unter dem Mantel hervor und erschoß ihn.

An die nächsten zehn Sekunden erinnerte er sich nicht mehr.

Als er wieder halbwegs klar denken konnte, hatte der Panzer den Fuß des Hügels erreicht. Fjodor mußte einen weiteren Schuß abgegeben haben, denn zwei der bunten Zelte waren verschwunden und ein halbes Dutzend anderer stand in Flammen.

Aber irgend etwas stimmte nicht.

Es dauerte eine Weile, bis die Erkenntnis in Michails schmerzvernebeltes Bewußtsein vordrang, aber dann begriff er es: Nichts in diesem Dorf rührte sich. Die Zelte brannten lichterloh. Trümmer und glühende Granatsplitter hatten ein Dutzend weitere Behausungen durchlöchert. Es hätte Dutzende, wenn nicht Hunderte Verletzter geben müssen, Schreie, Flüchtende …

Nichts.

Das Dorf war leer.

Es war leer, weil sie … gewollt hatten, daß Michail den Panzer hier herunterbrachte!

«Idiot!«murmelte Michail. Diesmal galt das Wort ihm selbst. Mit zusammengebissenen Zähnen stemmte er sich in die Höhe und blickte sich um.

Und dann sah er sie.

Die Männer, die den Angriff auf seinen Panzer überlebt hatten (es waren weit mehr, als Michail befürchtet hatte!), waren auf halber Höhe des Hügels stehengeblieben, aber über ihnen, zweihundertfünfzig, vielleicht dreihundert Meter entfernt …

Michail zweifelte einige Sekunden lang ernsthaft an seinem Verstand.

Auf der Kuppe des Hügels waren Reiter erschienen. Hunderte, zwei-, drei-, vielleicht vierhundert pelzvermummte Gestalten, die auf kleinen, struppigen Ponys hockten, Gestalten mit Schilden und Speeren und spitzen, pelzverbrämten Hüten.

Und es waren nicht irgendwelche Reiter.

Das waren … Hunnen! dachte Michail ungläubig. Unmöglich! dachte er. Un-mög-lich! Er phantasierte! Es konnte keine andere Erklärung geben. Er lag im Lazarett und phantasierte sich das alles zusammen!

Eine der Gestalten oben auf dem Hügel hob plötzlich den Arm, und ein halbes Dutzend Reiter glitt aus den Sätteln. Michail wußte nicht warum, und er wollte es plötzlich auch gar nicht mehr wissen.

So rasch es seine Schulter zuließ, glitt er in den Turm zurück und zog das Luk mit der unverletzten Hand über sich zu. Ein Blick in Fjodors schreckensbleiches Gesicht verriet ihm, daß dieser die Reiter ebenfalls gesehen hatte. Dann wurde Fjodor noch ein bißchen blasser, und er riß erschrocken die Augen auf.

«Ihre Schulter!«keuchte er.»Sie sind ja verletzt!«

«Ein Kratzer«, preßte Michail zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Rasch ließ er sich an Fjodor vorbei wieder auf seinen Platz hinter dem MG sinken und brüllte den Fahrer an:»Umdrehen! Los, wenden!«Gleichzeitig ließ er den Turm so herumschwenken, daß er den Hügel im Auge behalten konnte.

Leider nicht die Reiter, dazu war der Winkel zu ungünstig.

Aber es verging nicht einmal eine Minute, da wußte Michail, was die Männer getan hatten, die aus den Sätteln gestiegen waren.

Der Panzer hatte eine schwerfällige halbe Drehung vollendet, bei der er ein weiteres halbes Dutzend Zelte dem Erdboden gleichgemacht hatte, als etwas in einer gewaltigen Wolke aus Pulverschnee den Hügel hinabgerollt kam.

Es war ein Baumstamm.

Er war anscheinend unterwegs abgelenkt worden, denn er verfehlte den Panzer um fast dreißig Meter und riß eine breite Spur der Zerstörung in das brennende Zeltdorf. Aber es war nur der erste einer ganzen Lawine von Baumstämmen, die polternd und dröhnend den Hang hinuntergerast kam.

«Schneller!« brüllte Michail. »Gib Gas! Schneller!« Er war der Panik nahe — nicht ganz zu Unrecht, wie er eine Sekunde später begriff, als das erste der tödlichen Geschosse den Panzer traf. Ein ungeheurer Aufprall ließ den T32 erbeben. Michails Zähne schlugen heftig aufeinander. Sein Mund füllte sich mit Blut. Hochspritzender Schnee nahm ihm die Sicht. Er schrie vor Schmerz und Angst, spuckte abgebrochene Zähne aus und versuchte sich irgendwo festzuklammern, und im gleichen Moment traf ein zweiter, ungleich härterer Schlag den Panzer.

Michail spürte, wie die Ketten auf der linken Seite den Kontakt zum Boden verloren und durchdrehten. Für einen entsetzlichen Moment war er fest davon überzeugt, daß der Panzer umkippen würde, dann fiel er mit einem dritten, noch härteren Schlag zurück, und irgendwie brachte der Fahrer sogar das Kunststück fertig, ihn vollends zu drehen und ein kleines Stück den Hang hinaufrollen zu lassen.

Gerade im richtigen Moment, um Michail erkennen zu lassen, wie sich eine zweite Lawine den Hang hinunter in Bewegung setzte.

Diesmal bestand sie nicht aus Bäumen, sondern aus Reitern, die Schwerter, Speere und Bögen schwangen. Ein gellender Schrei aus Hunderten und Aberhunderten von Kehlen drang an Michails Ohr. Diesmal verstand er, was sie schrien. Es war nur ein einziges Wort. Immer und immer wieder:

«Temujin! Temujin! Temujin!«

«Großer Gott«, flüsterte Michail.»Was …«Und plötzlich schrie er: »Fjodor! Schieß doch, verdammter Idiot!«

Fjodor feuerte nicht. Die Kanone über Michail blieb stumm, und als er den Kopf in den Nacken warf und nach oben blickte, sah er auch, warum das so war: Fjodor hing reglos und mit blutüberströmtem Gesicht in seinem Sitz. Er hatte sich an seiner eigenen Kanone den Schädel eingeschlagen.

«Fahr«, murmelte Michail.»Los!«

Der Panzer setzte sich in Bewegung, aber er kam nur ein paar Meter weit, ehe die beschädigte Kette auf der linken Seite vollends riß. Das Fahrzeug begann sich auf der Stelle zu drehen und kam zur Ruhe, als der Fahrer die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen einsah und den Motor abschaltete. Michail ließ den Turm ein kleines Stück herumschwenken, um die heranstürmende Reiterhorde im Auge zu behalten. Sie hatten die Hälfte des Hügels hinter sich gebracht und schrien noch immer ihren schrillen, monotonen Schlachtruf:»Temujin! Temujin! Temujin!«

«Was tun wir, Genosse?«fragte der Fahrer. Die Ruhe in seiner Stimme überraschte Michail im ersten Moment, bis ihm klar wurde, daß auch er ganz plötzlich keine Angst mehr hatte, sondern eine fast heitere Gelassenheit verspürte.

Er könnte hinauf in den Turm steigen und versuchen, die Kanone selbst abzufeuern, überlegte er. Oder sein MG leerschießen, um wenigstens noch ein paar von ihnen mitzunehmen.

Aber er tat nichts von alledem. Er saß einfach da, blickte den heranstürmenden Reitern entgegen und lauschte ihren gellenden, fast schon hysterischen Schreien. Warum tun sie das! dachte er. Laut und sehr ruhig sagte er:»Ich fürchte, diese Geschichte nimmt kein gutes Ende, Genosse.«

Er seufzte, schmiegte die Hände um das MG und zog sie wieder zurück, ohne dem Abzug auch nur nahe zu kommen, seufzte noch einmal und fügte nur für sich und in Gedanken hinzu: Ich hätte bei den Kosaken bleiben sollen, wie mir mein Vater geraten hat.

Er sollte recht behalten.

Mit beidem.

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