Hongkong

Siebenundzwanzig Tage später gingen sie im Hafen von Hongkong von Bord, und Indiana opferte den Rest seiner ohnehin knapp bemessenen Barschaft, um einen Zollbeamten zu bestechen, damit er sie überhaupt an Land ließ.

Sie hatten sich tatsächlich ausgiebig darüber gestritten, ob seine Idee wirklich so gut gewesen war, und selbst Indiana waren nach und nach gewisse Zweifel gekommen. Der Frachter hatte auch nicht annähernd die Knotenzahl gebracht, von der der Kapitän gesprochen hatte, als er mit Indiana um die Passage feilschte; sie waren in zwei leichte und einen wirklich schweren Sturm geraten, und zu allem Überfluß hatten sie sage und schreibe drei Anläufe gebraucht, um Hongkong überhaupt zu erreichen. Ihr Schiff hatte zweimal kurz zuvor den Kurs geändert und war wieder aufs offene Meer hinausgefahren. Der Krieg, der von Europa ausgehend allmählich die ganze Welt in Brand zu setzen schien, warf auch hier seine Schatten voraus: Die japanischen Angriffe auf die Mandschurei machten die tückischen Gewässer noch gefährlicher. Strömungen und Piraten waren kein wirkliches Problem, aber um einen japanischen Zerstörerverband machte der Kapitän lieber einen großen Bogen; wofür Indiana durchaus Verständnis hatte.

Etwas weniger Verständnis hatte er dafür, daß Tamaras Verhältnis zu ihm merklich abkühlte, je länger die Fahrt dauerte.

Sie hatten es zwar schließlich aufgegeben, darüber zu diskutieren, ob seine Idee nun besonders genial oder ganz besonders dumm gewesen war, aber das schwarze Neglige bekam Indiana nur ein einziges Mal zu Gesicht; als Tamara es gewaschen und zum Trocknen in ihrer Kabine aufgehängt hatte.

Und das Pech blieb ihnen treu. Die angespannte politische Lage, der Krieg und vor allem die allgegenwärtige Angst vor einer japanischen Invasion machten es noch schwieriger als sonst, ein Hotelzimmer zu bekommen. Sie hatten das zehnte Hotel hintereinander abgeklappert, ehe Indiana sich eingestand, daß sie nur noch die Wahl zwischen zwei Extremen hatten: billigen Absteigen und Nobelherbergen, die seinen Etat auch dann überstiegen hätten, wäre er nicht zufällig pleite gewesen. Aus Rücksicht auf Tamara entschied er sich für die zweite Alternative. Sie würden ohnehin nur einen oder zwei Tage bleiben und dann Weiterreisen.

Spät am Nachmittag erreichten sie das EXCELSIOR, eines der drei vornehmsten und teuersten Hotels der Stadt. Indianas Optimismus erhielt einen ersten Dämpfer, als er die Anzahl von Automobilen und Rikschas sah, die die Straße davor bevölkerten. Und einen zweiten, weitaus heftigeren, als sie die Halle betraten.

Von Eleganz oder gar vornehmer Stille war hier nichts zu spüren. Hunderte von Menschen drängten sich in der großen Halle mit den Marmorsäulen und den Kristallüstern unter der Decke, und der Lärmpegel übertraf den des Londoner Hauptbahnhofs zur Hauptverkehrszeit. Vor der Empfangstheke drängte sich eine bunt zusammengewürfelte Menge von Leuten, die ganz offensichtlich alle dasselbe wollten wie Tamara und er: ein Zimmer. Einige schrien hysterisch, andere wedelten mit Geldscheinen, aber Indiana sah aus der Entfernung, daß die Antwort des Personals immer aus dem gleichen, bedauernden Kopfschütteln bestand. Er sparte sich die Mühe, sich in das Gedränge zu stürzen und sich blaue Flecke und wundgetretene Zehen einzuhandeln. Er wußte es auch so: daß auch in diesem Hotel kein Zimmer mehr frei war.

«Eine großartige Idee, Dr. Jones«, sagte Tamara spöttisch.

«Aber irgendwie paßt sie zu dem bisherigen Verlauf der Reise.«

Sie seufzte.»Das kommt davon, wenn man sich mit Amateuren einläßt.«

Indiana widersprach nicht einmal. So ganz unrecht hatte Tamara ja nicht. Es war weiß Gott nicht das erste Mal, daß er unfreiwillig in die Mühlen verfeindeter Geheimdienste und Agentenringe geriet, aber bisher waren solcherlei Dinge eher unerfreuliche Begleiterscheinungen seiner Arbeit gewesen. Jetzt hatte er zum ersten Mal versucht, aktiv in dem komplizierten Spiel von Betrug und Täuschung mitzuwirken — und mußte feststellen, daß er sich auf spiegelglattes Parkett begeben hatte.

«Ich dachte, du hättest Freunde in Hongkong?«fuhr Tamara fort, als Indiana nichts sagte.

«Das dachte ich auch«, murmelte Indy. Er hatte auf dem Weg hierher viermal telefoniert. Zweimal hatte er niemanden erreicht, und die beiden anderen Male hatte er feststellen müssen, daß alte Bekanntschaften nicht immer gute Bekanntschaften sein mußten.

«Ein einziger Anruf reicht, und wir haben ein Zimmer, Geld und einen fahrbaren Untersatz«, sagte Tamara.»Du weißt das.«

Ihr Vorschlag war nicht unbedingt dazu angetan, Indianas ohnehin angeschlagene Laune zu verbessern. Sie hatten über dieses Thema weiß Gott oft genug geredet. Trotzdem sagte er:»Und mit ein bißchen Pech wissen deine Freunde im gleichen Moment, wo wir sind. Und dann wäre das ganze Versteckspiel sinnlos gewesen.«

Tamara murmelte etwas, das sich wie: Das war es sowieso anhörte, aber Indiana verzichtete vorsichtshalber darauf, noch einmal nachzufragen. Zumal er spürte, daß er selbst dicht davor war, aufzugeben und auf Tamaras Vorschlag einzugehen, bei der sowjetischen Botschaft um Hilfe nachzufragen.

Er ergriff Tamara am Arm, um mit ihr die Halle wieder zu verlassen, als er glaubte, seinen Namen zu hören.

«Dr. Jones!«

Stirnrunzelnd blieb er stehen und sah sich um, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich noch, als jemand zum zweiten Mal seinen Namen rief und er den Mann eine Sekunde später sah. Er war sehr klein — kaum größer und auch nicht nennenswert breitschultriger als Tamara —, trug einen maßgeschneiderten Anzug und bewegte sich mit geradezu unheimlicher Eleganz durch die dichtgedrängte Menschenmenge in der Halle; wie es schien, ohne auch nur ein einziges Mal irgendwo anzustoßen.

Er war Japaner oder Chinese, hatte lackschwarzes, glänzendes Haar und ein Gesicht, das nur schwer auf sein Alter schließen ließ. Er mußte irgendwo zwischen dreißig und fünfzig sein.

Der Mann rief ein drittes Mal Indianas Namen, hob die Hand und kam mit raschen, aber keineswegs hastigen Schritten näher. Tamara warf Indiana einen fragenden Blick zu, den er mit einem Achselzucken beantwortete. Der Fremde war ihm völlig unbekannt. Ein leises Gefühl von Mißtrauen stieg in ihm hoch.

Trotzdem lächelte er dem Dunkelhaarigen freundlich entgegen, als dieser bis auf zwei Schritte herangekommen war und stehenblieb.

«Dr. Jones? Verzeihen Sie, wenn ich Sie so überfalle — aber Sie sind doch Dr. Indiana Jones, nicht wahr?«

Indiana nickte.»Das ist richtig. Kennen wir uns?«

Der Fremde schüttelte den Kopf, deutete eine Verbeugung an und lächelte ein undurchschaubares asiatisches Lächeln.

«Bitte verzeihen Sie meine Unhöflichkeit«, sagte er noch einmal.»Mein Name ist Moto. Toshiro Moto. Wir sind uns bisher leider noch nicht persönlich begegnet, aber ich habe schon viel von Ihnen gehört.«

«So?«sagte Indiana mißtrauisch.

Motos Lächeln blieb undurchschaubar.»Wir sind in gewisser Hinsicht Kollegen«, sagte er.»Auch mein Hobby ist Archäologie und das Wissen um versunkene Völker und Kulturen. Allerdings betreibe ich es nur als Passion, so weit meine Zeit dazu reicht.«

«Aha«, sagte Indiana. Er sah Moto scharf an. Sein Mißtrauen nahm zu, auch wenn es eigentlich keinen konkreten Grund dafür gab.

«Als ich Ihren Hut und die berühmte Peitsche sah«, fuhr Moto mit einer Geste auf beides fort,»da dachte ich mir, daß es sich eigentlich nur um den berühmten Dr. Jones handeln kann.

Und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, Sie einmal persönlich kennenzulernen. Sie sind beruflich in Hongkong?«

«Privat«, antwortete Indiana automatisch.»Rein privat.«

Moto sah ihn forschend an und taxierte Tamara mit einem raschen, schon beinahe anzüglichen Blick; für einen Japaner ein eigentlich sehr untypisches Benehmen, fand Indiana.

«Ich verstehe«, sagte Moto.

«Das glaube ich kaum«, antwortete Indiana eine Spur schärfer als angebracht. Er legte Tamara demonstrativ den Arm um die Schulter.»Darf ich vorstellen — Mrs. Tamara Jones. Meine Frau.«

Tamara beherrschte sich meisterhaft, während Moto sich keine Mühe gab, seine Überraschung zu verbergen.»Ihre …

Frau?«sagte er.»Ich wußte nicht, daß Sie verheiratet sind, Dr. Jones.«

«Kaum jemand weiß das«, antwortete Indiana.»Wir sind es auch erst seit zwei Wochen.«

«Oh, jetzt verstehe ich. «Moto warf Tamara einen entschuldigenden Blick zu und seufzte.»Dann ist das so etwas wie Ihre Hochzeitsreise, nehme ich an.«

«So ungefähr«, bestätigte Indiana. Sein Mißtrauen hatte sich etwas gelegt, aber allmählich begann ihm Moto einfach auf die Nerven zu gehen. Was wollte dieser Kerl von ihm?

«Ich fürchte, Sie haben sich einen sehr unglücklichen Zeitpunkt dafür ausgewählt, Dr. Jones«, fuhr der Japaner fort.

«Hongkong ist im Moment nicht der richtige Ort, um den — wie nennt ihr Amerikaner es doch gleich? — Honeymoon zu feiern.«

«Das ist mir auch schon aufgefallen«, sagte Indiana mit einem wehleidigen Blick auf die Menschenmenge in der Halle. Er seufzte ebenfalls.»Aus diesem Grund muß ich mich auch leider von Ihnen verabschieden, Mr. Moto. Wir — «

«Aber das kommt überhaupt nicht in Frage«, unterbrach ihn Moto.»Sehen Sie, Dr. Jones, in Hongkong ist seit Wochen — wie man in Ihrem Land sagt — der Teufel los. Das liegt an gewissen … unerfreulichen Entwicklungen der weltpolitischen Lage, wenn Sie verstehen, was ich meine. Und das wird sich sicher kaum bis morgen ändern. Ich fürchte, Sie werden in der ganzen Stadt kein Hotelzimmer bekommen. Zumindest keines, das Ihnen und Ihrer entzückenden jungen Gattin zuzumuten wäre.«

Er lächelte wieder.»Erweisen Sie mir die Ehre, meine bescheidene Hilfe anzunehmen, Dr. Jones. Ich kenne eine Anzahl Leute in der Stadt, die möglicherweise in der Lage sind, Ihnen und Ihrer Gattin ein angemessenes Quartier zur Verfügung zu stellen.«

Indiana wollte instinktiv ablehnen, aber dann zögerte er.

Moto war vermutlich nur ein aufdringlicher Trottel, aber sowohl er als auch Tamara waren mit ihren Nerven so ziemlich am Ende.»Wir möchten Ihnen keine Umstände machen — «, begann er, aber Moto unterbrach ihn mit ganz und gar unasiatischer Unhöflichkeit.

«Unsinn!«sagte er.»Ich war hier mit einem Bekannten verabredet, aber wie ich die Sache sehe, wird er wohl ohnehin nicht mehr kommen. Mein Diener wird sich um die Angelegenheit kümmern. Kommen Sie, meine Liebe. «Plötzlich wieder ganz und gar der höfliche Asiat, bot er Tamara seinen Arm und führte sie galant auf die Straße zurück. Wie aus dem Nichts erschien plötzlich eine schwere deutsche Limousine am Straßenrand. Moto öffnete die hintere Tür, half Tamara beim Einsteigen und sah Indiana fragend an.»Ihr Gepäck ist noch im Hotel, vermute ich?«

«Wir … reisen mit kleinem Gepäck«, antwortete Indiana ausweichend.

Moto lächelte wissend, sagte aber nichts mehr, sondern trat einen Schritt zurück, damit Indiana Tamara folgen konnte.

«Was sollte dieser Unsinn, mich als deine Frau vorzustellen?«zischte Tamara, während Indiana auf die ledergepolsterte Sitzbank neben ihr rutschte. Sie sprach leise und fast ohne die Lippen zu bewegen, aber ihre Augen blitzten, und ihre Stimme bebte vor Zorn.

Indiana lächelte zurück. Ebenso leise wie sie, aber in eindeutig amüsiertem Ton antwortete er:»Wieso regst du dich so auf?

Ich wollte nur deine Ehre retten, Liebling. Hast du seine anzüglichen Blicke nicht bemerkt?«

«Und ob«, grollte Tamara.»Allerdings waren es eher auszügliche Blicke.«

«Genau deshalb habe ich dich als Mrs. Indiana Jones vorgestellt«, sagte Indiana.

Tamara wollte antworten, aber sie kam nicht dazu. Mr. Moto hatte den Wagenschlag hinter Indiana geschlossen und war um den Daimler-Benz herumgegangen, um vorn neben dem Fahrer Platz zu nehmen. Er war ein wenig ungeschickt dabei, vielleicht auch abgelenkt durch Tamaras Anblick; auf jeden Fall rempelte er versehentlich einen Passanten an, der mit gesenktem Blick und vorgebeugten Schultern herangestürmt kam. Es war wirklich nur ein Versehen, das sah Indiana ganz deutlich.

Moto taumelte gegen den Kotflügel, allerdings wohl mehr vor Schrecken, und der andere blieb einfach stehen. Aber als Indiana in sein Gesicht sah, wußte er sofort, was Sache war.

«Das gibt Ärger!«sagte er. Mit einer hastigen Bewegung glitt er über den Sitz, riß die Tür auf und sprang aus dem Wagen; gerade in dem Moment, in dem der Bursche Moto bei den Aufschlägen seines maßgeschneiderten Anzuges packte und mit einem Ruck in die Höhe zerrte.

«Verdammtes Schlitzauge!«knurrte er.»Suchst du vielleicht Streit?«

Moto hätte nicht einmal antworten können, wenn er gewollt hätte, denn der andere hatte ihn so gepackt, daß sich ihre Gesichter auf gleicher Höhe befanden; mit dem Ergebnis, daß Motos Füße hilflos fünfzehn Zentimeter über dem Boden strampelten. Moto ächzte und hatte die Handgelenke des Mannes gepackt, aber ebensogut hätte er versuchen können, einen Baum mit bloßen Händen auszureißen. Der Kerl war dreißig Zentimeter größer als er und mußte fast doppelt soviel wiegen. Und nicht nur das.

Das Gesicht des Kerls sprach Bände. Zu sagen, daß es brutal war, wäre untertrieben gewesen. Es war ein typisches Schlägergesicht; breit und voller Narben und mit einer Nase, die mindestens schon ein Dutzend Mal gebrochen gewesen sein mußte.

Kerle wie er fanden immer einen Grund, Streit anzufangen, dachte Indiana.

«Was ist los?«fauchte der Bursche, als Moto — verständlicherweise — nur mit einem Röcheln antwortete.»Hast du die Hosen voll, gelber Scheißer?«

«Ich glaube, das reicht«, sagte Indiana ruhig.

Der Schläger wandte ruckartig den Kopf, starrte Indiana an — und ließ Moto so abrupt los, daß er hilflos zurück- und erneut gegen den Wagen taumelte. Seine Augen funkelten tückisch, während er sich mit wiegenden Schritten auf Indiana zubewegte, in dem er anscheinend das lohnendere Opfer entdeckt zu haben glaubte.»Was mischst du dich denn ein, Blödmann?«knurrte er.

«Es liegt mir fern, mich irgendwo einzumischen«, sagte Indiana in aller Höflichkeit.»Aber ich habe den Zwischenfall zufällig beobachtet, und ich kann Ihnen versichern, daß Mr. Moto Sie bestimmt nicht absichtlich angerempelt hat.«

«So?«knurrte der Bursche und kam einen weiteren Schritt auf Indiana zu. Indiana sah sich rasch um. Der Zwischenfall war nicht unbemerkt geblieben. Einige Passanten waren stehengeblieben und blickten aufmerksam in ihre Richtung.

«Was bist du denn für einer?«fragte der Große lauernd.»So ‘n elender Japsenfreund, wie?«

Allmählich wurde es Indiana doch ein wenig mulmig zumute.

Der Bursche war auch ein gutes Stück größer als er — und er machte nicht den Eindruck, als ließe er sich durch ein paar freundliche Worte beruhigen. Indiana behielt vor allem seine Hände im Auge. Sie waren nicht mehr zu Fäusten geballt, sondern leicht geöffnet, aber angespannt; zum Zupacken bereit.

«Bitte, Sir!«sagte er.»Ich wollte lediglich — «

Den Kerl interessierte nicht, was Indiana sagen wollte. Er schlug ohne Vorwarnung zu. Und sehr viel schneller als Indiana erwartet hatte. Hätte er die Pranken des Burschen nicht genau beobachtet, dann hätte ihn der erste Fausthieb sofort ins Land der Träume befördert. So zertrümmerte er nur die Seitenscheibe des Wagens, als Indiana sich im allerletzten Moment duckte und zugleich konterte.

Das Klirren der zerberstenden Scheibe mischte sich mit dem überraschten Keuchen des Burschen, als Indiana ihm die Faust unter das Kinn schlug.

Das Ergebnis entsprach nicht ganz Indys Absicht. Der Kerl wankte zurück und heulte vor Schmerz, aber das lag wohl eher daran, daß er sich die Hand an der Scheibe zerschnitten hatte. In seinen Augen loderte die pure Mordlust.

Plötzlich wußte Indiana, daß er sich auf keinen langen Faustkampf mit diesem Kerl einlassen durfte. Blitzschnell setzte er nach, boxte ihm zwei-, dreimal hintereinander in den Leib und setzte einen zweiten Hieb auf seine Kinnspitze.

Der Schläger wankte, schüttelte benommen den Kopf — und packte so blitzschnell zu, daß Indiana gar nicht wußte, wie ihm geschah, ehe er sich auch schon in der gleichen Lage befand wie Moto wenige Augenblicke zuvor: hilflos in den Fäusten des Burschen zappelnd und die Füße ein gutes Stück vom Boden entfernt.

Der Kerl hatte einen Griff wie ein Schraubstock. Indiana hörte, wie hinter ihm die Wagentür aufflog, als Tamara ihm zu Hilfe eilen wollte, und gleichzeitig wußte er, daß sie zu spät kommen würde. Wenn der Bursche auch nur ein einziges Mal mit seinen gewaltigen Pranken zuschlug, würde er in einem Krankenhausbett aufwachen; wenn überhaupt.

Erstaunlicherweise verzichtete er darauf, sondern schüttelte Indiana nur wild hin und her, wobei er ihn mit Nettigkeiten wie ›Schlitzaugenfreund‹ und ›Nudelfresser‹ titulierte.

Indiana hatte weitaus weniger Hemmungen als er und nutzte die Chance, die er hatte. Mit aller Kraft riß er das rechte Knie in die Höhe.

Der Kerl ächzte vor Schmerz. Seine Augen wurden groß und rund, während er Indiana losließ. Sein Unterkiefer klappte herunter.

Indiana klappte ihn mit einem aufwärts geführten Kinnhaken wieder hoch, sprang blitzartig zur Seite, als der Kerl sich krümmte, packte ihn an beiden Schultern und riß ihn ruckartig nach vorn. Das Gesicht des Burschen knallte gegen den Kotflügel des Wagens und hinterließ eine Beule, als er halb bewußtlos zur Seite kippte.

Indiana sprang einen Schritt zurück. Mißtrauisch und mit erhobenen Fäusten musterte er den Kerl einige Sekunden lang, ehe er sicher war, daß zumindest im Moment keine Gefahr mehr von ihm ausging.

Was nun nicht hieß, daß alles in Ordnung gewesen wäre. O nein, ganz und gar nicht.

Sein Blick begegnete dem Tamaras, als er endlich aufsah, aber er sah noch mehr: nämlich Moto, der mit schreckensbleichem Gesicht hinter der jungen Russin stand und fassungslos abwechselnd ihn und den stöhnenden Mann auf dem Boden ansah — und die Gesichter der Menschenmenge, die sich rings um sie und den Wagen gebildet hatte.

Die allerwenigsten davon sahen freundlich aus.

Einige blickten sogar ausgesprochen unfreundlich.

«Ich glaube, wir verschwinden besser von hier«, sagte Tamara, der dieser Umstand ebenfalls nicht entgangen war. Indiana nickte knapp, bückte sich noch einmal und zog den Schläger ein gutes Stück vom Wagen fort, damit sie ihn nicht überfuhren, ehe er hinter Tamara und Moto als letzter in den Mercedes stieg.

Irritiert und mit wachsender Beunruhigung sah er sich um.

Die Menschenmenge war weiter gewachsen, und einige waren bereits näher gekommen. Der Wagen war an drei Seiten umringt, und einige Männer machten bereits Anstalten, auf die Straße zu treten, um den Kreis zu schließen. Indiana konnte die Feindseligkeit der Menschen beinahe riechen.

«Was geht hier vor?«fragte er verwirrt.

Moto sagte ein paar rasche Worte auf japanisch zu seinem Fahrer, ehe er sich zu Indiana umwandte. Der Daimler rollte langsam los — sehr langsam, um niemanden zu überfahren, denn die Menge machte ihnen nur widerwillig Platz. Hände streckten sich nach dem Wagen aus, und böse Gesichter starrten zu ihnen herein. Jemand schlug sogar mit der Faust auf das Wagendach.

«Die politische Lage, Dr. Jones«, sagte Moto betrübt.»Im Moment hat sich eine gewisse Feindseligkeit meinem Volk gegenüber in Hongkong ausgebreitet, fürchte ich. «Er seufzte.

«Ich bin Ihnen zu tiefstem Dank verpflichtet, Dr. Jones. Ich weiß nicht, wie die Sache ohne Ihr Eingreifen ausgegangen wäre.«

«Schon gut«, antwortete Indiana, während er seine schmerzende Faust massierte. Es hatte nicht viel gefehlt, dachte er, und die Sache wäre auch mit seinem Eingreifen schlecht ausgegangen. So ganz verstand er im nachhinein selbst nicht, wieso es ihm so leichtgefallen war, mit diesem Riesenkerl fertig zu werden. Wahrscheinlich hatte er einfach nur Glück gehabt.

«Nein, es ist nicht gut«, widersprach Moto mit großem Ernst.»Ich stehe in Ihrer Schuld, Dr. Jones. Vielleicht gestatten Sie mir, als geringstes Zeichen meiner Dankbarkeit, Ihr Problem zu lösen, was die Unterkunft angeht. Sie und Ihre reizende Gattin sind selbstverständlich für die Dauer Ihres Aufenthaltes in Hongkong meine Gäste. «Er hob rasch die Hand, als Indiana widersprechen wollte.»Ich werde eine Ablehnung nicht akzeptieren, Dr. Jones.«

Indiana schwieg. Hundertprozentig traute er Moto noch immer nicht. Aber er wußte auch, wie überaus sensibel gerade Japaner in Fragen der Ehre waren. Außerdem war sein Angebot durchaus verlockend. Und es handelte sich ja wahrscheinlich nur um eine Nacht; allerhöchstens zwei.

Bevor Moto aus lauter Angst, daß er sein Angebot ablehnte, Seppuko begehen konnte, nickte er und drehte sich im Sitz herum. Der Wagen war schneller geworden und hatte sich mittlerweile gute hundertfünfzig Meter vom Hotel entfernt. Indiana erschrak, als er sah, wie groß die Menschenmenge vor dem EXCELSIOR mittlerweile geworden war. Immerhin machte der Pulk keine Anstalten, sie zu verfolgen.

Er war plötzlich nicht mehr sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, Mr. Motos Gastfreundschaft anzunehmen.

Ganz und gar nicht.

Was Moto als ›bescheidenes Heim‹ bezeichnet hatte, entpuppte sich als ein palastähnlicher Komplex von Gebäuden japanischer Architektur, der auf einem Felsplateau hoch über den Dächern Hongkongs lag und sich hinter einer gut drei Meter hohen, stacheldrahtgekrönten Mauer verbarg. Indiana kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als der Wagen durch das elektrisch geöffnete Tor rollte und sich einem Gebäude näherte, das inmitten eines riesigen Parks lag. Und sein Mißtrauen, das schon fast eingeschlafen war, flammte schlagartig mit solcher Heftigkeit auf, daß es beinahe weh tat. Der Park war keineswegs verlassen. Überall patrouillierten Wachen, die zwar keine Uniformen trugen, aber eindeutig das Gehabe und die Aufmerksamkeit von Soldaten hatten.

Moto lächelte, als er Indianas Gesichtsausdruck bemerkte.

«Ich bitte Sie, lassen Sie sich von den Wachen nicht irritieren«, sagte er.»Sie sind nur zu unserem Schutz hier. Und natürlich zu Ihrem, solange Sie meine Gäste sind.«

«So«, sagte Indiana einsilbig, während er sein Augenmerk auf das Gebäude mit dem ausladenden Dach richtete. Es hatte tatsächlich die Größe eines Palastes, aber beim zweiten Hinsehen kam es ihm eigentlich mehr wie eine Festung vor.

«Sagten Sie nicht etwas von einem ›bescheidenen Heim‹, Mr. Moto?«fragte er höflich, aber doch mit unüberhörbarem Mißtrauen in der Stimme.»Unter der sprichwörtlichen asiatischen Bescheidenheit habe ich mir eigentlich etwas anderes vorgestellt.«

«Sie haben recht, Dr. Jones«, antwortete Moto.»Leider gehört mir dieses Anwesen nicht. Auch ich bin hier nur Gast, wenn auch einer, dessen Gastgeber es schon vor einem Monat vorgezogen hat, Hongkong zu verlassen. «Sein Lächeln wurde etwas breiter.»Ich gebe zu, absichtlich ein wenig untertrieben zu haben. Ich konnte der Verlockung nicht widerstehen, Ihnen eine kleine Überraschung zu bereiten.«

«Das ist Ihnen gelungen«, sagte Tamara.

Ein deutlicher Ausdruck von Bestürzung erschien auf Motos Gesicht.»Sie nehmen mir diesen kleinen Scherz doch nicht übel, Mrs. Jones?«fragte er.»Ich wäre untröstlich, wenn ich Sie verärgert hätte.«

«Keinswegs«, antwortete Tamara, allerdings in wenig freundlichem Ton. Und noch ein wenig schärfer fügte sie hinzu:»Was sollen all die Soldaten?«

«Soldaten?«

Tamaras Gesicht verdüsterte sich.»Halten Sie mich nicht für dümmer, als ich bin, Mr. Moto. Die Männer dort draußen sind keine Gärtner!«

Motos Gesicht schien vor Trauer zu zerfließen.»Sie haben mich schon wieder ertappt, fürchte ich. Es sind tatsächlich Soldaten. Aber der Zwischenfall von vorhin hat Ihnen gezeigt, wie gefährlich das Leben für einen Sohn Nippons momentan in dieser Stadt ist.«

«Weiß die britische Verwaltung von der Anwesenheit dieser kleinen Armee?«fragte Indiana.

«Offiziell nicht«, antwortete Moto.

Indiana beließ es dabei, zumal der Wagen mittlerweile das Hauptgebäude erreicht hatte und anhielt. Sie stiegen aus, während eine ganze Heerschar von japanischem Dienstpersonal erschien. Sein Blick streifte die zerschlagene Seitenscheibe und den eingedrückten Kotflügel des Mercedes.

«Das mit dem Wagen tut mir leid.«

Moto winkte ab.»Das macht nichts, Dr. Jones. Zumal — «er lachte leise,»— er mir ebensowenig gehört wie dieses Haus.«

Indiana sah ihn einen Moment stirnrunzelnd an, raffte sich aber dann doch zu einem Lächeln auf, auch wenn es wenig überzeugend wirkte.

«Wem gehört dieses Haus?«fragte Tamara, während sie die Treppe zu der portalgroßen Tür hinaufgingen.»Dem Tenno?«

Moto machte eine vage Geste.»Früher war es im Besitz der Kaiserlichen Familie«, sagte er.»Aber seit sich die Dinge … geändert haben, dient es der Unterbringung von Diplomaten und anderen Gästen. Im Moment steht es allerdings jeder Person japanischer Herkunft offen; und deren Freunden natürlich. Als eine Art … Fluchtburg, verstehen Sie?«

Nein, Indiana verstand eigentlich nicht. Nicht wirklich. Und es fiel ihm immer schwerer, Moto zu glauben. Er hatte das sichere Gefühl, daß der schlanke Japaner nicht das war, was er zu sein vorgab. Aber er konnte es nicht in Worte fassen. Noch nicht.

Moto machte eine wedelnde Geste, die irgendwie nicht zu ihm paßte.»Aber lassen wir doch dieses unerfreuliche Thema«, sagte er.»Meine Diener werden Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ich schlage vor, Sie und Ihre Gattin ruhen sich ein wenig von den Anstrengungen des Tages aus, und wir treffen uns in einer Stunde zum Abendessen. «Er sah Tamara an, blinzelte ihr zu und verbesserte sich:»Oder sagen wir — in zwei Stunden.«

Tamara spießte ihn mit Blicken regelrecht auf. Aber dann zog sie es vor, zu schweigen.

Im Laufe des Abends änderte Indiana seine Meinung über Toshiro Moto mehrere Male, und am Ende kam er zu dem Schluß, daß Moto wahrscheinlich nichts anderes als ein Trottel, ein Angeber und ein schrecklicher Dummkopf in Personalunion war; noch dazu die gewaltigste Nervensäge, der er jemals begegnet war.

Das Abendessen zog sich über Stunden hin, und Moto wurde nicht müde, Indiana abwechselnd mit Fragen zu löchern und mit dem zu belästigen, was er für sein eigenes archäologisches Wissen hielt. Seine Behauptung, die Archäologie nur als Hobby zu betreiben, war so ziemlich das einzige, was Indiana ihm uneingeschränkt abnahm — was Moto zum besten gab, war zum größten Teil unausgegorenes Halbwissen, das er sich in irgendwelchen obskuren Magazinen angelesen haben mochte und das jeder Student Indianas schon nach dem ersten Semester hätte widerlegen können. Es fiel Indiana immer schwerer, weiter gute Miene zu diesem albernen Spiel zu machen und Moto nicht zu sagen, was er wirklich von ihm hielt.

Es ging auf Mittemacht zu, bis Moto sie endlich entließ und ein schweigsamer japanischer Diener sie zurück auf ihr Zimmer geleitete. Indiana war nicht mehr ganz sicher auf den Beinen. Der Tag war anstrengend gewesen, und sowohl Tamara als auch er hatten entschieden mehr Sake getrunken, als eigentlich gut war. Mehr taumelnd als gehend erreichten sie aneinandergelehnt das großzügige Zimmer, das Moto ihnen zugewiesen hatte: eine ganze Suite, die wahrscheinlich einer durchschnittlichen Familie unten in der Stadt bequem als — große — Wohnung hätte dienen können. Es gab einen Schlafraum mit einem japanischen Futon, auf den sich Tamara mit einem albernen, halb betrunkenen Kichern sinken ließ. Indiana selbst hatte sich einen Schlafplatz im Wohnraum auserkoren; es gab zwar nur dieses eine Bett, aber Indiana Jones war es gewohnt, auf unbequemeren Unterlagen als einer Bastmatte zu schlafen, wenn es sein mußte.

Als er Tamaras Hand loslassen wollte, hielt sie ihn fest.»Wohin so eilig, Dr. Jones?«fragte sie kichernd.»Wollen Sie nicht Ihren ehelichen Pflichten nachkommen und über Ihr frisch angetrautes Eheweib wachen, bis es eingeschlafen ist?«

Nichts, was Indiana lieber getan hätte. Trotzdem zögerte er.

«Bist du … ganz sicher, daß du das willst?«fragte er.»Ich meine … du hast getrunken. Wir sind beide nicht mehr ganz nüchtern …«

«Eben!«kicherte Tamara.»Dann macht es doppelt soviel Spaß. «Sie zog Indiana mit einem Ruck zu sich herab und hielt ihn mit erstaunlicher Kraft fest. Indiana versuchte, sich mit sanfter Gewalt aus ihrem Griff zu befreien, aber es gelang ihm nicht.

«Du könntest mir morgen früh ziemlich böse sein«, sagte er.

«Vielleicht«, antwortete Tamara und biß ihn spielerisch ins Ohr.»Aber dieses Risiko sollte ich Ihnen doch wohl wert sein, Dr. Jones, oder? Außerdem bekommt man nichts im Leben geschenkt. «Sie küßte ihn stürmisch, dann legte sie die Hände auf seine Brust und schob ihn ein Stück von sich fort.

«Meine Mappe«, sagte sie, wieder ein wenig ernster.»Sie liegt noch im Nebenzimmer. Sei so lieb und hol sie, ja?«

«Glaubst du, daß das jetzt wichtig ist?«fragte Indiana.

«Ich fühle mich sicherer, wenn ich sie in Sichtweite habe«, antwortete Tamara. Dann blinzelte sie ihm verschwörerisch zu.»Außerdem könntest du bei dieser Gelegenheit das entzückende schwarze Nichts mitbringen, das du in San Francisco gekauft hast.«

«Brauchst du das jetzt?«fragte Indiana.

«Unbedingt«, antwortete Tamara ernst.»Du könntest mir helfen, es anzuziehen. Irgend etwas mache ich nämlich immer falsch damit.«

«Ich eile!«versprach Indiana, machte sich aus ihrer Umarmung los und setzte zum Spurt an, um direkt in etwas von der Härte und dem Gewicht des Felsens von Gibraltar hineinzulaufen, kaum daß er halb durch die Tür war.

Der Schlag raubte Indiana nicht das Bewußtsein, aber für Sekunden nahm er von seiner Umgebung nichts mehr wahr außer einem ungeheuren Dröhnen und Klingeln direkt hinter seiner Stirn und einem betäubenden Schmerz, der ihn über die Klippe einer schwarzen Bewußtlosigkeit zu treiben drohte. Hilflos sank er auf die Knie, kippte nach vorn und schlug mit der Stirn auf dem Boden auf. Wie von weit, weit her hörte er Lärm, ein dumpfes Poltern und Krachen — und dann einen schrillen, spitzen Schrei, der ihn jäh in die Wirklichkeit zurückriß!

«Tamara!«

Mit einem einzigen Satz war Indiana auf den Füßen, sah einen Schatten vor sich und schlug zu, ohne nachzudenken. Er traf. Ein gedämpfter Schrei antwortete aus der Dunkelheit auf seinen Hieb, dann hörte er das dumpfe Poltern eines zu Boden stürzenden Körpers, ohne weiter darauf zu achten, denn genau in diesem Moment hörte er Tamara erneut diesen schrillen, schrecklichen Schrei ausstoßen.

Als er auf die Tür zuspringen wollte, kam ihm diese entgegengeflogen; zusammen mit dem größten Teil der Wand aus Balsaholz und Papier, in die sie eingebettet war. Und mit einem dunkelhaarigen Burschen in einem schwarzen Pyjama, der wie eine Kanonenkugel hindurchgeflogen kam.

Indiana wich dem lebenden Wurfgeschoß mit einer raschen Bewegung aus und blieb abermals wie angewurzelt stehen, als sein Blick durch die zertrümmerte Wand ins Schlafzimmer fiel.

Tamara war nicht allein. Außer dem Burschen, der Indiana entgegengeflogen gekommen war, wurde sie von gleich zwei weiteren Gestalten in Schwarz attackiert.

Aber es sah eigentlich nicht so aus, als brauchte sie Hilfe …

Einer der beiden versuchte, in ihren Rücken zu gelangen, aber Tamara schien plötzlich auch Augen im Hinterkopf zu haben, denn sie stieß blitzartig den Ellbogen zurück, und der Kerl hatte die nächste Minute genug damit zu tun, das Atmen neu zu lernen.

Der andere versuchte, den Moment auszunutzen, und attak-kierte Tamara direkt von vorn, aber auch seine Attacke war nicht besonders erfolgreich. Tamara tauchte mit einer fast spielerisch anmutenden Bewegung unter seinem Fausthieb hindurch, steppte einen halben Schritt zurück und sprang dann fast ansatzlos in die Höhe. Wieder hörte Indiana diesen spitzen, abgehackten Schrei, und plötzlich zuckte ihr linker Fuß hoch und landete mit furchtbarer Wucht im Nacken des Angreifers.

Indiana konnte hören, wie sein Genick brach.

Tamara drehte sich in der Luft, noch bevor ihre Füße wieder den Boden berührten, und versetzte dem zweiten Mann einen Handkantenschlag gegen den Hals, der ihn wie einen nassen Sack zu Boden stürzen ließ. Das ganze hatte kaum eine Sekunde gedauert.

Eine weitere Sekunde vergeudete Indiana damit, einfach dazustehen und Tamara anzustarren. Dann breitete sich ein Ausdruck plötzlichen Erschreckens auf Tamaras Gesicht aus, während sie auf einen Punkt irgendwo hinter ihm starrte. Er begriff, daß es keineswegs vorbei war, und fuhr herum.

So wie die Sache aussah, fing es eigentlich erst richtig an.

Die Tür war aufgeflogen, und ein gutes halbes Dutzend weiterer Gestalten in schwarzen Pyjamas stürmte herein. Sie waren allesamt klein und schmalschultrig, aber dafür waren die Messer und Macheten, die sie schwangen, um so größer.

Indiana sprang mit einem Fluch zurück, sah sich wild nach seiner Peitsche um und begriff, daß er nicht an sie herankommen würde. Fast in der gleichen Sekunde sprang er mit einem entsetzten Keuchen zurück, um einem niedersausenden Schwert auszuweichen, prallte gegen die Wand und fand sich auf dem Rücken liegend draußen auf dem Flur wieder, ehe ihm wieder einfiel, daß die Wände auch in japanischen Palästen im Grunde aus nichts anderem als Papier bestanden.

Zwei der Angreifer setzten ihm nach, während sich der Rest auf Tamara zu konzentrieren schien. Vier oder fünf Bewaffnete — das erschien Indiana selbst für sie ein bißchen viel.

Er zog die Knie an den Körper, stieß sie einem der Burschen in den Leib und nutzte den Schwung der gleichen Bewegung, um sich zur Seite zu rollen, als der zweite mit einem kurzstieli-gen Beil nach ihm hackte. Die Klinge fetzte dicht neben seinem Gesicht Holzsplitter aus dem Boden. Indiana versuchte danach zu greifen, schnitt sich kräftig in die Finger und zog die Hand mit einem Fluch wieder zurück. Aus dem Zimmer hinter ihm erklang wieder Tamaras Schrei und ein doppeltes, schweres Klatschen, das ihm sagte, daß Tamara noch am Leben war, einer ihrer Gegner aber möglicherweise nicht mehr.

Er hatte wenig Zeit, sich darüber zu freuen. Der Bursche zerrte die Axt aus dem Holz und holte zu einem neuen Hieb aus, und Indiana rollte hastig zur Seite, als die Axt ein zweites Mal dort in das Holz fuhr, wo eben noch sein Gesicht gewesen war. Ungeschickt trat er nach den Beinen des Burschen, verfehlte ihn und entging um Haaresbreite einem dritten Axthieb, ehe es ihm endlich gelang, wieder auf die Füße zu kommen. Ungefähr im gleichen Moment, in dem sich auch der zweite Angreifer wieder hochrappelte und mit gezücktem Messer auf ihn losging.

Seine Lage war alles andere als rosig. Er traute sich zwar durchaus zu, mit den beiden Burschen fertigzuwerden, und der Lärm aus dem Raum hinter ihm verriet, daß Tamara zumindest noch am Leben war und sich wehrte — aber irgendwo in unmittelbarer Nähe mußte es ein Nest von diesen Burschen geben: Am Ende des Ganges tauchte schon wieder ein ganzes Rudel der Pyjamaträger auf.

Indianas Gedanken überschlugen sich, während er Schritt für Schritt vor den beiden Angreifern zurückwich.

Ganz automatisch hatte er die Männer bisher für Japaner gehalten — aber das stimmte nicht. Die etwas runden Gesichter, der um eine Spur stämmigere Wuchs … Chinesen! jetzt verstand Indiana überhaupt nichts mehr. Nicht, daß es ihn erstaunte, das Haus eines Japaners von einem chinesischen Kommando gestürmt zu sehen — aber wieso griffen sie sie an, eine Russin und einen Amerikaner, die zumindest potentiell ihre Verbündeten waren?

Indiana mußte einem Axthieb ausweichen, der nicht nur die Wand hinter ihm aufschlitzte, sondern auch den Chinesen haltlos vorwärtsstolpern ließ, denn er war offensichtlich auch nicht an derartig instabile Wände gewöhnt. Indiana beförderte ihn mit einem kräftigen Ellbogenstoß ganz hindurch, wandte sich dem zweiten zu und versuchte, ihm das Messer zu entringen. Es gelang ihm nicht ganz. Der Bursche zappelte wie wild in seinem Griff — und erschlaffte dann ganz plötzlich. Reglos sank er in Indianas Armen zusammen. Aus seinem Nacken ragte der Griff des Messers, das einer der anderen Kerle nach Indiana geschleudert hatte.

Indiana packte den Toten, warf ihn den heranstürmenden Chinesen entgegen und gewann kostbare Sekunden, in denen sich der Gang vor ihm in ein Durcheinander aus ineinander verschlungenen Gliedern, Leibern und allen möglichen Hiebund Stichwaffen verwandelte. Er nutzte sie, um dem benommenen Chinesen neben sich die Axt zu entringen (die er ihm eine Viertelsekunde später mit der flachen Seite vor die Schläfe schlug, um ihn endgültig ins Land der Träume zu befördern) und sich hastig wieder aufzurichten.

Drei der Chinesen hatten das leider mittlerweile auch getan.

Auf ihren Gesichtern war im Moment nicht sehr viel von der sprichwörtlichen asiatischen Freundlichkeit zu sehen.

Indiana packte die Axt fester und überschlug seine Chancen, mit dem Leben und möglichst noch unverletzt davonzukommen. Sie standen nicht sehr gut.

Trotzdem wehrte er sich wacker. Einige Augenblicke lang schaffte er es sogar, das halbe Dutzend Pyjamaträger mit wuchtigen Axthieben in die leere Luft vor sich herzutreiben, aber dann kam es, wie es kommen mußte: Einer der Burschen gelangte hinter seinen Rücken und versetzte ihm einen furchtbaren Hieb in den Nacken. Indiana sah nur noch bunte Sterne. Er fiel auf die Knie. Sein Mund füllte sich mit Blut. Die Axt entglitt seinen plötzlich kraftlosen Fingern. Wie durch einen Vorhang aus blutgetränkter Watte sah er eine Gestalt über sich aufragen, die ein kurzes Schwert schwang.

Der tödliche Hieb kam nicht.

Alles Blut wich mit einem Mal aus dem Gesicht des Chinesen; dafür erschien eine Menge davon auf seinem Hals. Er stürzte und drehte sich dabei halb um die eigene Achse, so daß Indiana den fünf zackigen Shuriken sehen konnte, der sich in seinen Nacken gegraben hatte.

Daß Indiana die nächsten Sekunden überlebte, lag wohl einzig und allein daran, daß die Chinesen schlagartig jedes Interesse an ihm verloren und sich den neu aufgetauchten Gegnern zuwandten. Indiana konnte sie nicht richtig erkennen, denn er kämpfte noch immer mit aller Kraft darum, nicht das Bewußtsein zu verlieren, aber auf dem schmalen Gang vor ihm schien eine regelrechte Schlacht zu entbrennen. Er hörte Schreie, Schläge, das dumpfe Aufschlagen von stürzenden Körpern und den schrecklichen Laut von Stahl, der durch Stoff und Fleisch schnitt. Offensichtlich waren Motos Soldaten endlich auf der Bildfläche erschienen.

Aber wo war Tamara geblieben? Mühsam stemmte er sich auf die Füße und warf einen Blick auf das Chaos vor sich, als er ihren Schrei hörte.

Diesmal war es kein Kampfschrei, sondern ein Laut, in dem sich Schmerz und maßloses Entsetzen mischten.

Indiana machte sich nicht die Mühe, eine Tür zu suchen. Er sprang direkt durch die Wand.

Was er sah, als er in einem Hagel von Papierfetzen und dünnen Holzsplittern in Tamaras Schlafzimmer stolperte, ließ ihn vor Schmerz und Wut aufschreien.

Tamara mußte sich tapfer gewehrt haben. Vier oder fünf reglose Gestalten lagen auf dem Boden, aber die anderen hatten sie geschafft. Zwei von ihnen hatten Tamara gepackt, die bewußtlos — oder tot?! — sein mußte, und schleppten sie aus dem Zimmer. Die beiden anderen gingen sofort auf Indiana los.

Die Angst um Tamara verlieh ihm schier übermenschliche Kräfte. Indiana schleuderte den ersten Angreifer einfach beiseite, warf sich mit hoch erhobenen Fäusten auf den zweiten und ließ pfeifend die Luft aus, als dieser ihm etwas Hartes, Stumpfes in den Leib rammte.

Seine Kräfte versagten endgültig. Seine Knie wurden weich.

Er brach zusammen und spürte, daß er dem Griff der Bewußtlosigkeit diesmal nicht mehr widerstehen konnte.

Aber den Bruchteil einer Sekunde, bevor ihm endgültig die Sinne schwanden, sah er etwas, von dem er nicht sicher war, ob es sich nicht schon um ein Bild aus einem Alptraum handelte, der auf der anderen Seite der Ohnmacht auf ihn wartete: Ein blutbesudelter, brüllender Dämon sprang durch die vollends zerberstende Papierwand herein, in jeder Hand ein blitzendes Schwert schwingend.

Bevor die beiden Klingen den Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, enthaupteten, verlor Indiana endgültig die Besinnung.

Er spürte, daß er nicht sonderlich lange bewußtlos gewesen sein konnte. Und wenn das letzte, was er gesehen hatte, tatsächlich der Anfang eines Alptraumes gewesen war, so schien dieser Alp auch jetzt noch anzuhalten, denn der Dämon war noch immer da: Er hockte neben ihm und starrte aus Augen wie glühenden Kohlen auf Indiana herab.

Dann erwachte er endgültig, und aus dem Dämon wurde ein japanischer Samurai-Krieger, der mit untergeschlagenen Beinen neben ihm saß, und aus den lodernden Dämonenaugen ein Paar ganz normaler Augen, in denen sich der rote Schein eines Feuers widerspiegelte.

Und die aus dem Gesicht Toshiro Motos auf ihn herabsahen.

Jedenfalls nahm Indiana an, daß es sich um Mr. Moto handelte.

Ganz sicher war er nicht.

Mit dem leicht vertrottelt wirkenden Hobby-Archäologen war eine schier unglaubliche Veränderung vor sich gegangen.

Den maßgeschneiderten Anzug hatte er mit einem weit geschnittenen, über und über mit kunstvollen Stickereien verzierten Kimono vertauscht. Sein vorher streng zurückgekämmtes Haar hing jetzt offen bis auf die Schultern herab, nur von einem schmalen weißen Stirnband zusammengehalten. Über seinen Knien lagen zwei unterschiedlich lange Schwerter.

Seine Hände, der Kimono und sein Gesicht waren mit eingetrocknetem Blut besudelt, das nicht sein eigenes war. Moto war nicht einfach nur gekleidet wie ein Samurai, begriff Indiana plötzlich. Die leicht dümmliche Angebervisage, die immer zu einem anzüglichen Grinsen bereit schien, hatte sich in das Antlitz eines Kriegers verwandelt.

Indiana setzte sich auf.»Tamara«, murmelte er.»Was ist mit Tamara?«

«Sie haben sie mitgenommen«, antwortete Moto. Selbst seine Stimme hatte sich verändert. Sie klang jetzt hart, befehlsgewohnt, um mehrere Nuancen tiefer und zugleich auch … aristokratischer?» Aber keine Sorge. Sie werden ihr nichts tun. Noch nicht.«

Indiana sah ihn zweifelnd an, aber in seinem Kopf überschlugen sich zu viele Gefühle und Ängste, als daß er in der Lage gewesen wäre, wirklich über Motos Antwort nachzudenken. Mit klopfendem Herzen richtete er sich auf, zählte allein hier sechs Tote und trat unsicher durch die zertrümmerte Trennwand auf den Gang hinaus.

Indiana Jones war ganz gewiß nicht zart besaitet. Er hatte im Laufe seines Lebens Dinge gesehen, deren bloßer Anblick anderen im wahrsten Sinne des Wortes graue Haare beschert hätte.

Aber was er jetzt erblickte, das ließ ihn vor Entsetzen aufstöhnen.

Der Flur glich einem Schlachthaus.

Er zählte drei, fünf, sieben … neun Leichen, vielleicht auch nur acht oder doch zehn, ganz sicher war er da nicht, denn einige waren regelrecht zerstückelt; hier Inventur zu machen, würde eine ziemliche Puzzle-Arbeit bedeuten.

Indiana schluckte ein paarmal, ohne dadurch den bitteren Gallegeschmack auf seiner Zunge loszuwerden. Dann wandte er sich zitternd um und ging zu Moto zurück. Der Samurai saß in unveränderter Position auf dem Boden und sah ihn mit unbewegter Miene an. Er mußte nicht fragen, um zu wissen, daß Moto dieses Gemetzel allein angerichtet hatte, nur mit seinen Händen und Füßen und den beiden Schwertern, die er über den Knien liegen hatte.

«Warum … haben Sie das getan?«murmelte er. Es fiel ihm schwer zu reden. Sein Mund war trocken, und seine Zunge schien sich zu weigern, seinen Befehlen zu gehorchen.

«Wäre es Ihnen lieber, selbst dort zu liegen, Dr. Jones?«fragte Moto mit unbewegtem Gesicht.

«Sie hätten nicht alle umbringen müssen«, murmelte Indiana.»Sie hätten …«

«Ich verstehe Ihre Erregung, Dr. Jones«, unterbrach ihn Moto.»Aber sie ist unbegründet. Diese Männer waren gedungene Mörder, die es nicht besser verdient haben. Abschaum.«

Für einen Moment haßte Indiana ihn beinahe für diese Worte. Aber er war immer noch viel zu durcheinander und erschrocken, um irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Hilflos sagte er:»Wir hätten sie wenigstens verhören können, um herauszufinden, wohin sie Tamara gebracht haben.«

«Das ist nicht nötig«, antwortete Moto ruhig.»Ich weiß es.«

«Sie …«Indianas Unterkiefer klappte verblüfft herunter.

«Sie … wissen, wer diese …«Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht. Zum ersten Mal, seit Indiana das Bewußtsein wiedererlangt hatte, hatte er ein eindeutiges, klares Gefühl: Ein unbändiger Zorn auf Moto stieg in ihm hoch, daß er seinem Gegenüber am liebsten an die Kehle gegangen wäre.

«Sie wissen, wer diese Männer sind?«wiederholte er leise und mit mühsam beherrschter Stimme.»Dann wußten Sie wahrscheinlich auch, was passieren würde, wie?«

«Reden Sie keinen Unsinn, Dr. Jones«, antwortete Moto ohne jede Spur von Mitgefühl.

Und es war genau diese Kälte, die Indiana endgültig zur Explosion brachte. Mit einer blitzartigen Bewegung packte er Moto an der Brust seines kimonoähnlichen Kleidungsstückes und riß ihn auf die Füße. Moto wehrte sich nicht. Er zuckte nicht einmal mit der berühmten Wimper; auch nicht, als Indiana ihn wie wild zu schütteln begann und ihn anschrie:»Lügen Sie mich nicht auch noch an, Sie Dreckskerl! Sie haben genau gewußt, was hier passieren wird! Wahrscheinlich haben Sie Tamara und mich nur als Lockvögel benutzt!«

Moto antwortete nicht darauf. Sein Gesicht blieb wie Stein.

Er machte auch keine Anstalten, sich irgendwie zu wehren, als Indiana ihn immer heftiger schüttelte. Aber plötzlich erschien eine so kalte, unausgesprochene Drohung in seinem Blick, daß Indiana ihn von selbst losließ.

«Ich führe Ihr Verhalten auf Ihre Erregung zurück, Dr. Jones«, sagte er. Beinahe im Plauderton fügte er hinzu:»Wäre das nicht so, wären Sie jetzt tot.«

Indiana glaubte ihm. Selten hatte er sich in einem Mann derartig getäuscht wie in Toshiro Moto. Und ebenso selten war er jemandem begegnet, dem ein Menschenleben so wenig galt wie diesem Samurai. Er schluckte ein paarmal, suchte sekundenlang vergeblich nach einer passenden Erwiderung und trat schließlich wortlos an Moto vorbei, um den Boden zwischen den Toten mit Blicken abzusuchen.

Moto ließ ihn eine Zeitlang gewähren, dann sagte er:»Wenn Sie nach Miss Jaglovas Aktenmappe suchen, verschwenden Sie Ihre Zeit, Dr. Jones. Ich fürchte, sie haben sie ebenso mitgenommen wie Ihre angebliche Ehegattin.«

Indiana starrte ihn böse an.»Sie sind gut informiert, Moto.«

«Ich bemühe mich«, antwortete Moto ruhig.

Indiana spürte, wie ihn schon wieder der Zorn packte.»Ich nehme an, daß wir hier sind, ist auch kein Zufall. Diesen Burschen vor dem Hotel — den haben Sie bestellt.«

«Selbstverständlich«, antwortete Moto.»Aber ich darf Ihnen noch einmal versichern, daß es nicht in meiner Absicht lag, Sie oder Miss Jaglova in Gefahr zu bringen. Was geschehen ist, tut mir aufrichtig leid.«

«Das reicht mir nicht, Moto«, sagte Indiana.»Tamara und ich haben uns auf Ihren Schutz verlassen. Wo war Ihre Privatarmee vor einer halben Stunde?«

Zum ersten Mal war es ihm gelungen, Motos stoische Ruhe zu erschüttern. Das Gesicht des Samurai zuckte. Etwas in seinem Blick änderte sich. Indiana spürte, daß er auf dem richtigen Weg war. Nach all den schrecklichen Ereignissen der letzten Minuten hatte er fast vergessen, daß er nicht nur einem Japaner gegenüberstand, sondern dem Vertreter einer uralten, traditionsbewußten Kaste, der Begriffe wie Ehre und Vertrauen über alles gingen.

«Die Verantwortlichen werden bestraft werden, das versichere ich Ihnen«, sagte Moto.

Aber Indiana ließ nicht locker.»Das reicht mir nicht!«wiederholte er.»Wir waren Ihre Gäste, Mr. Moto — oder wie immer Sie heißen mögen! Ich wurde niedergeschlagen und ausgeraubt und Tamara entführt, vielleicht getötet. Ist es das, was Sie unter Gastfreundschaft verstehen?«

Seine Worte trafen Moto wie Messerstiche. Der Japaner sah aus, als litte er körperliche Schmerzen, und wahrscheinlich machte er in diesem Moment tatsächlich die Hölle durch. Ein Europäer hätte Indiana wahrscheinlich nur irritiert oder höchstens betroffen angesehen — aber Moto war kein Europäer, sondern Japaner, ein Samurai noch dazu, den die Regeln des Bushido verpflichteten, die Sicherheit seiner Gäste über die eigene zu stellen. Der Verlust des Gesichtes führte bei Japanern nur allzu oft dazu, daß sie kurz darauf auch das Leben verloren; von eigener Hand.

«Ich versichere Ihnen, Dr. Jones, daß ich alles Erdenkliche tun werde, um Miss Jaglova gesund und wohlbehalten zurückzubringen.«

«Auch auf die Gefahr hin, Sie zu beleidigen«, sagte Indiana kalt und mit einer Geste auf das verwüstete Zimmer,»habe ich kein allzu großes Vertrauen mehr in das, was Sie alles Erdenkliche nennen. Sie werden Tamara zurückholen, aber nicht allein.

Ich werde Sie begleiten.«

«Das ist unmöglich«, sagte Moto, wurde aber sofort wieder von Indiana unterbrochen.

«Das ist es nicht. Ich bestehe darauf — und darauf, daß Sie mir endlich reinen Wein einschenken!«

«Sie verstehen nicht, Dr. Jones«, sagte Moto fast gequält.»Es geht nicht um eine Frage der Ehre oder irgend jemandes persönliche Sicherheit, sondern um eine politische Angelegenheit, deren Tragweite Sie sich kaum vorstellen können. Ich bitte Sie, bringen Sie mich nicht in eine ausweglose Situation, die Ihnen keinerlei Nutzen brächte.«

Indiana verstand, was Moto meinte. Und er verstand auch, daß er im Begriff war, zu weit zu gehen. Wenn er Moto richtig einschätzte, dann würde er vielleicht Harakiri begehen, um seine Ehre wiederherzustellen, sich aber ganz gewiß nicht von Indiana moralisch erpressen lassen. Besser, er schaltete einen Gang zurück.

«Sie haben behauptet, viel von mir gehört zu haben«, sagte er.»Wenn das die Wahrheit war, dann sollten Sie auch wissen, daß ich mich nicht um Politik schere.«

Moto sah ihn unentschlossen an. In seinem Blick war noch immer dieser fast gequälte Ausdruck.

«Sie sind auch hinter dem Schwert her, nicht wahr?«sagte Indiana.

Moto reagierte nicht. Aber sein Schweigen war Antwort genug.

«Und die Chinesen ebenfalls.«

Diesmal nickte Moto.

Indiana seufzte. Wie es schien, war Tamaras und sein Geheimnis wohl eines der meistbekannten Geheimnisse der Welt.

«Und das alles wegen eines alten Schwertes?«fragte Indiana zweifelnd.»Nur wegen einer Legende?«

«Es sind schon Kriege geführt worden«, sagte Moto,»aus ähnlichen Gründen. Außerdem ist es nicht nur ein altes Schwert. Sie kennen die Prophezeiungen, die sich um diese Waffe ranken?«

«Wer es findet, der soll das Mongolenreich zu neuer Herrschaft und Größe erwecken.«

«Nicht nur das Mongolenreich«, verbesserte ihn Moto.

«Ganz Asien. Die Legende sagt, daß es erst dieses Schwert war, das Dschingis Khan und danach seinen Söhnen die Macht gab, ein Reich zu gründen, das ganz Asien und halb Europa umfaßte.«

«Und Sie glauben den Humbug?«fragte Indiana.

«Was ich glaube oder nicht, spielt keine Rolle«, antwortete Moto ernst.»Die Menschen draußen im Land glauben es, und das ist wichtig. Ob die Legende nun wahr oder nur ein Märchen ist — wer dieses Schwert besitzt, der wird alle asiatischen Völker auf seiner Seite haben.«

«Und das sollte natürlich der Tenno sein«, sagte Indiana spöttisch.

«Wäre Ihnen Stalin lieber?«fragte Moto ernst.

«Immerhin ist er unser Verbündeter.«

«Ja. Noch«, antwortete Moto.»Aber wie lange? Bis Deutschland besiegt ist, und vielleicht noch ein paar Jahre danach? Bestimmt nicht länger. Dieser Mann ist kaum weniger verrückt als Hitler. Und beinahe noch machthungriger.«

«Aber, aber!«sagte Indiana spöttisch.»Wie reden Sie denn von Ihren Verbündeten, Mr. Moto?«

Moto machte eine fast zornige Geste.»Ich versuche nur, Ihnen klar zu machen, daß es sich hier um eine rein asiatische Angelegenheit handelt. Selbst wenn ich wollte, ich dürfte Sie gar nicht mitnehmen.«

«Sie haben keine andere Wahl, Moto«, sagte Indiana.»Sie behaupten zu wissen, wo Tamara ist? Ich glaube Ihnen sogar.

Aber was, wenn es Ihnen nicht gelingt, Tamara zu befreien oder wenn sie doch getötet wird?«

Moto schwieg. Aber er tat es auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die Indiana klarmachte, daß er sich auf dem richtigen Weg befand.

«Sie wissen nicht, wo das Schwert ist«, behauptete er.»Sie haben nicht einmal eine Ahnung! Wüßten Sie es, dann hätten Sie sich kaum solche Mühe gegeben, uns hierherzulocken. Aber dummerweise haben sie nicht nur Tamara mitgenommen, sondern auch all ihre Aufzeichnungen.«

Moto blickte ihn finster an.»Und?«

«Ich hatte Zeit genug, sie mir anzusehen«, antwortete Indiana und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe.»Es ist hier drin. Vielleicht nicht ganz so viel wie Tamara wußte, aber ich fürchte, ich bin im Moment der einzige, der Ihnen weiterhelfen kann.«

Beinahe eine ganze Minute lang schwieg Moto. Er starrte ihn an, aber sein Blick schien geradewegs durch Indiana hindurchzugehen. Dann fragte er:»Also? Was verlangen Sie?«

«Daß wir zusammenarbeiten«, sagte Indiana.»Bis wir Tamara gefunden haben, und auch danach. Wir werden das Schwert gemeinsam suchen.«

Moto lachte.»Sie sind verrückt, Jones! Sie glauben nicht im Ernst, daß ich Ihnen das Schwert des Dschingis Khan aushändigen würde? Einem Amerikaner!« Das letzte Wort sprach er aus wie eine Beschimpfung, und vielleicht war es das für ihn sogar.

Indiana zuckte unbeeindruckt mit den Schultern.»Warum nicht? Ich habe keine besonders hohe Meinung von Ihnen, ehrlich gesagt. Aber Sie sind ein Samurai, und ich weiß, daß Ihnen Ehre und Fairneß über alles gehen. Betrachten Sie es als fairen Wettstreit zwischen Ihnen und mir — oder wenn Sie wollen, auch zwischen Nippon und Amerika.«

«Das wäre kein fairer Kampf«, sagte Moto abfällig.

Indiana lächelte. Dann streckte er Moto die Hand entgegen.

«Der bessere Mann soll gewinnen.«

Sekundenlang zögerte Moto. Dann griff er zögernd nach Indianas Hand und drückte sie. Indiana spürte, wie ungewohnt ihm diese westliche Sitte war. Und wieviel Überwindung es ihn kostete.

«Und nun«, sagte er,»beantworten Sie mir ein paar Fragen.«

«Was wollen Sie wissen?«

Indiana deutete auf die Toten.»Wer sind diese Männer, und wo haben sie Tamara hingebracht?«

Moto seufzte.»Ich bin nicht ganz sicher«, sagte er.»Wer sie sind, weiß ich. Sie gehören zu General Dzo-Lin. Er ist ein Anhänger Tschiang Kai-Tscheks. Ein tapferer Mann, der unseren Truppen in den Bergen im Norden seit Monaten erbittert Widerstand leistet. Ich nehme an, daß die Männer Miss Jaglova in sein Hauptquartier bringen werden.«

«Warum stehen wir dann noch hier herum?«fragte Indiana.

«Wir — «

Moto unterbrach ihn mit einer Geste.»Ich sagte, ich nehme an, Dr. Jones«, sagte er.»Nicht, ich weiß. Ich lasse bereits entsprechende Nachforschungen anstellen. Allerdings sind mir hier in Hongkong weitestgehend die Hände gebunden. Ich fürchte, ich werde mich auf den Weg in die nördliche Mandschurei machen müssen. Es wird ohnehin Zeit, daß jemand diesem Fanatiker Dzo-Lin das Handwerk legt.«

«Wir«, verbesserte ihn Indiana.»Wir werden uns auf den Weg machen, Moto.«

«Wie stellen Sie sich das vor?«fragte Moto.»In China herrscht Krieg! Ich kann nicht einen Amerikaner mitbringen! Man würde Sie sofort als Spion verhaften und erschießen. Und mich dazu!«

«Dann müssen wir uns etwas einfallen lassen, Mr. Moto«, sagte Indiana.

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