San Francisco. Am nächsten Morgen

Es gab tatsächlich kaum etwas auf der Welt, was Indiana Jones so sehr haßte wie Schlangen, obwohl ihre Größe oder Gefährlichkeit eine eher untergeordnete Rolle spielten. Es war die gleiche, irrationale Art von Furcht, die andere dazu brachte, beim Anblick einer Spinne hysterisch loszuschreien oder dem einer Maus auf den nächsten Tisch zu flüchten. Er konnte einfach nichts dagegen tun.

Um so entsetzter war er gewesen, als er feststellte, daß Paul Nancy natürlich nicht zu Hause gelassen hatte; allerdings nicht sonderlich überrascht. Paul Webber liebte Schlangen ebensosehr wie Indiana sie verabscheute. Er ging praktisch keinen Schritt ohne eines dieser Tiere aus dem Haus. Wenn er nicht gleich mehrere mitnahm.

Als sie nach einer gut dreiviertelstündigen Odyssee quer durch die Stadt endlich am Hafen ankamen und Indiana die vertrauten Umrisse der» Flying Fish «am Ende des Piers entdeckte, hielt seine Erleichterung gerade solange an, bis er feststellte, daß sich außer Tamara, ihm selbst und Paul noch ein vierter Passagier an Bord aufhielt; eben Nancy. Alle Vorhaltungen, alles Bitten und Flehen hatten nichts genutzt. Paul hatte entschieden darauf bestanden, sein schuppiges Kuscheltier mitzunehmen; und Indiana im übrigen beschieden, sich nicht so zimperlich anzustellen — schließlich sei Nancy nicht einmal giftig.

Tamara hatte sich auch nicht gerade als Verbündete erwiesen. Im Gegenteil. Die junge Russin hatte sich schon nach wenigen Augenblicken mit Nancy angefreundet, und diese ihrerseits strafte den weitverbreiteten Irrtum Lügen, daß Reptilien dumm und zu keinerlei Gefühlen fähig seien. Sie verbrachte fast den gesamten Flug nach San Francisco zusammengerollt auf Tamaras Schoß und ließ sich genüßlich Kopf und Rücken kraulen, wobei sie Indiana von Zeit zu Zeit einen ebenso verschlagenen wie gehässigen Blick zuwarf.

Irgendwie überstand er den Flug, auch wenn er sicher war, dafür mit wochenlangen Alpträumen bezahlen zu müssen. Mit dem ersten Licht des Tages wasserte die ›Flying Fish‹ im Hafen von San Francisco, und Indiana und Tamara stiegen aus. In Anbetracht des unliebsamen Reisebegleiters fiel Indianas Abschied von Paul etwas frostig aus, aber Tamara machte das mehr als wett, indem sie ihm zum Abschied einen Kuß gab und ihm überschwenglich versicherte, wie reizend Nancy doch sei.

Paul strahlte wie ein Honigkuchenpferd, und Tamara verzichtete überraschenderweise darauf, auch der Schlange einen Abschiedskuß zu geben.

Sie suchten sich ein Taxi und ließen sich von dem Fahrer in ein nahe gelegenes Hotel bringen, wo sie sich erst einmal bis in den Nachmittag hinein ausschliefen.

Als Tamara erwachte, war sie allein. Eine Notiz sagte ihr, daß Indiana in der Hotelbar auf sie wartete. Sie duschte ausgiebig, zog sich an und fand ihn tatsächlich an einem der kleinen Tische über einer Tasse Kaffee und einem über und über bekritzelten Zettel brütend dasitzen. Auf dem Stuhl neben ihm befand sich eine gewaltige Papiertüte. Er sah müde aus.

Er war es auch. Und sehr besorgt. Anders als Tamara hatte er nur wenige Stunden geschlafen (und natürlich hatte er Alpträume gehabt, in denen Schlangen eine Rolle spielten), ehe er das Hotel verlassen hatte, um ein paar Besorgungen zu erledigen. Später hatte er ein Telefongespräch geführt. Das, was er dabei erfahren hatte, gefiel ihm ganz und gar nicht.

Seine Gedanken mußten ziemlich deutlich auf seinem Gesicht abzulesen sein, und Tamara hielt sich nicht lange mit einer Begrüßung auf, sondern sah ihn einige Augenblicke lang durchdringend an, ehe sie sich setzte und mit schräggehaltenem Kopf fragte:»Was ist los?«

Indiana zuckte mit den Schultern und lächelte wenig überzeugend.»Nichts. Ich bin müde. «Dann begriff er, wie wenig überzeugend diese Worte klangen, und setzte neu an.»Ich war in der Stadt. Ich habe uns ein wenig Geld besorgt und mich am Hafen nach einem Schiff erkundigt, das nach Osten fährt.«

«Hast du eines gefunden?«

«Nun … ja«, sagte Indiana ausweichend.»Dann habe ich noch mit Marcus telefoniert. In Washington ist die Hölle los.«

Er sah Tamara auf eine schwer zu deutende Weise an.»Kannst du eine schlechte Nachricht vertragen?«

Tamara sah ihn aufmerksam an. Sie wirkte sehr ernst.»Sicher.«

«Sverlowsk …«begann Indiana.»Dein Onkel. Es gab … ein zweites Attentat.«

«Ist er tot?«fragte Tamara erschrocken.

Indiana verneinte.»Schwer verletzt. Die Ärzte wissen noch nicht, ob er durchkommt. Außer ihm gab es vier weitere Opfer.

Sie sind alle tot. «Er schob Tamara den Zettel zu, der vor ihm auf dem Tisch lag.»Sagen dir diese Namen etwas?«

Tamara überflog das Blatt hastig und wurde noch ein wenig bleicher.»Ja«, sagte sie leise.»Das sind … alle, die wußten, weshalb ich wirklich hier bin.«

«Ganz sicher? Es fehlt keiner?«

«Keiner«, bestätigte Tamara.

Indiana machte ein Gesicht, als hätte er mit genau dieser Antwort gerechnet. Er seufzte.»Du weißt, was das bedeutet? Wer immer hinter diesen Attentaten steckt, schreckt nicht einmal davor zurück, seine eigenen Leute umzubringen. «Er deutete auf den Zettel.»Der Name des Verräters muß mit daraufstehen. Aber ihr könnt euch die Mühe sparen, nach ihm zu suchen.«

«Sie meinen es wirklich ernst«, sagte Tamara.

«Ja«, murmelte Indiana.»Und das ist noch nicht einmal alles.«

«Was ist denn … noch?«fragte Tamara stockend.

«Kannst du dir das nicht denken?«fragte Indiana.»Ganz Washington steht Kopf, Tamara! Deine Leute, weil sie nicht wissen, ob du noch am Leben bist und was mit den Unterlagen in deiner Tasche ist, und meine, weil sie allmählich begreifen, daß ich mich auf mehr eingelassen habe als auf eine ›archäolo-gische Expedition‹. «Er verdrehte die Augen.»CIA, FBI, Army und jeder einzelne Polizist dieses Landes suchen mich.«

«Aber warum denn?«

«Das fragst du noch?«Indiana fuhr zusammen, als er bemerkte, daß er vielleicht ein bißchen zu laut gesprochen hatte.

Mehrere andere Gäste drehten die Köpfe und warfen ihm neugierige oder auch mißbilligende Blicke zu. Mit gedämpfter Stimme, aber immer noch hörbar erregt, fuhr er fort.

«Die Geschichte von Dschingis Khans Schwert hat sich herumgesprochen. Und unsere Regierung kann auch zwei und zwei zusammenzählen. Wenn auch nur die Hälfte von dem eintritt, was du befürchtest, dann kann das den Lauf der Geschichte verändern.«

«Jetzt bitte ich dich aber — «begann Tamara.

Indy unterbrach sie mit einer Handbewegung.»Nein. Ich bitte dich. Und zwar darum, mich nicht länger wie einen Idioten zu behandeln.«

«So?«fragte Tamara ruhig. Sie sah ihn nicht an.

«Ein Mongolenaufstand kann das Ende der Sowjetunion bedeuten«, sagte Indiana.

«Jetzt übertreibst du«, sagte Tamara. Es klang lahm.»Es sind nur ein paar Hundert oder bestenfalls — «

«Es sind unter Umständen etliche zehntausend zu allem entschlossene Fanatiker«, unterbrach Indiana sie erneut.»Und ihr könnt nicht viel gegen sie tun. Nicht, solange ein gewisser Herr mit einem Charlie-Chaplin-Bärtchen eure Soldaten rund um die Uhr beschäftigt. Was wollt ihr tun? Im Osten einen Volksaufstand niederschlagen, während Hitler ungehindert in Moskau einmarschiert? Davon abgesehen — die Nazis werden weder Mühen noch Kosten scheuen, um deine Hunnenreiter mit allem auszurüsten, was sie brauchen, um eine richtige Armee zu werden.«

Tamara schwieg.

«Ich muß dir, glaube ich, nicht erzählen, was Marcus mir noch gesagt hat«, fuhr Indiana fort.»Nämlich, daß seit gestern abend auffällig viele Männer in schwarzen Ledermänteln in der Nähe eurer Botschaft gesehen wurden. Auch wenn es dir nicht paßt, Schätzchen — du und ich sind im Moment so ziemlich die meistbegehrten Personen auf diesem Kontinent. Und wir sind auch hier nicht mehr lange sicher.«

«Hast du deinem Freund verraten, wo wir sind?«

«Nein. Aber das FBI ist nicht blöd. Sie werden nur ein paar Stunden brauchen, bis sie auf Paul kommen. Und er wird ihnen früher oder später verraten, wohin er uns gebracht hat.«

«Dann sollten wir keine Zeit verlieren und möglichst schnell an Bord eines Schiffes gehen — «

«— um wohin zu fahren?«fragte Indiana.»Selbst wenn wir an Bord eines Schiffes kommen, wird uns in jedem russischen Hafen eine ganze Armee von sowjetischen, amerikanischen und deutschen Geheimdienstleuten erwarten. Und wahrscheinlich auch noch ein paar mordlüsterne Hunnen mit langen Messern oder Gewehren. «Plötzlich lachte er.»Weißt du, wie unsere Soldaten die Nazis nennen?«

Tamara schüttelte den Kopf.

«Hunnen«, sagte Indiana.»Das paßt, nicht?«

«Ich … ich verstehe deine Verbitterung ja«, sagte Tamara mit reglosem Gesicht.»Aber auf der anderen Seite: Was hätte es geändert, wenn du das alles vorher gewußt hättest? Hättest du dann ›nein‹ gesagt?«

«Nein«, antwortete Indiana.»Aber wir hätten vielleicht alles ein bißchen besser planen können. Verdammt, Tamara, hat bei euch wirklich keiner begriffen, wie ernst die Situation ist?«

«Ich fürchte nein«, gestand Tamara.»Ehrlich gesagt: Bis gestern abend war mir selbst nicht ganz klar, in welcher Gefahr wir uns befinden.«

«Jetzt weißt du es«, grollte Indiana.»Du …«Er schluckte den Rest des Satzes herunter, blickte sekundenlang an Tamara vorbei ins Leere und gab sich dann einen sichtbaren Ruck.

«Entschuldige bitte«, sagte er.»Ich glaube, ich habe ein bißchen die Beherrschung verloren. Tut mir leid.«

Tamara nickte stumm. Indiana wußte, daß er sie verletzt hatte. Er war ungerecht — immerhin stand für Tamara eine Menge mehr auf dem Spiel als für ihn. Das Schlimmste, was ihm passieren konnte, war ein unangenehmes Gespräch mit dem FBI oder einem hohen Regierungsbeamten. Für Tamara ging es ums nackte Überleben. Und der Großteil seines Zorns galt wohl auch ihm selbst. Er war zu diesem Abenteuer gekommen wie die berühmte Jungfrau zum Kind. Aber es war nicht Tamaras Schuld. Auch wenn dieses Unternehmen noch so dilettantisch vorbereitet gewesen war — hätte er sich die Mühe gemacht, auch nur fünf Minuten in Ruhe über das nachzudenken, was Tamara ihm erzählt hatte, dann hätte er erkennen müssen, worauf er sich da eingelassen hatte.

«Entschuldige«, sagte er noch einmal.

Tamara antwortete auch jetzt nicht; aber nach einer Sekunde bewegte sich ihre Hand über den Tisch und berührte Indianas Finger. Nur ganz kurz, aber sehr warm. Indiana lächelte dankbar, dann richtete er sich ein wenig auf, ergriff die Papiertüte neben sich und reichte sie Tamara.

«Was ist das?«fragte sie neugierig.

«Kleider«, antwortete Indiana.»Ein paar Blusen, Hosen, ein Rock …«Er zuckte mit den Schultern.»Ich hoffe, sie passen dir. Ich mußte die Größe schätzen, weißt du? Aber in den Sachen, die du anhast, kannst du nicht weiter herumlaufen.«

«Warum nicht?«Tamara sah demonstrativ an sich herab.

«Was hast du dagegen? Sie sind sehr hübsch.«

«Du siehst phantastisch darin aus«, gestand Indiana.»Aber du fällst auch auf wie ein bunter Hund.«

Tamara sah ihn verwirrt an, aber dann siegte doch die Frau in ihr: Sie öffnete die Papiertüte — und unterdrückte sichtlich im letzten Moment einen überraschten Ausruf, als sie das spitzenbesetzte Neglige erblickte, das ganz obenauf lag.»Das ist ja … herrlich«, sagte sie stockend.

Indiana runzelte die Stirn, beugte sich vor — und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, als er in die Tüte blickte.

Diese verdammte Verkäuferin! dachte er. Er hatte ihr extra gesagt, dieses Teil ganz unten in die Tüte zu legen.

«Und du meinst, damit falle ich weniger auf?«fragte Tamara grinsend.

«Du mußt es ja nicht unbedingt … hier tragen«, stotterte Indiana. Er räusperte sich.»Geh bitte nach oben und zieh dich um. Und laß dir nicht mehr zu viel Zeit.«

Tamara ignorierte seine Worte. Sie hatte begonnen, den Inhalt der Papiertüte auf dem kleinen Tischchen vor sich auszubreiten — wobei sie das Neglige, das tatsächlich nur aus Spitzen mit sehr viel Nichts dazwischen bestand, so hingelegt hatte, daß jedermann es sehen konnte. Indiana spürte, wie er noch röter wurde. Er mußte nicht aufblicken, um zu wissen, daß ihn mittlerweile die ganze Bar anstarrte. Er konnte das anzügliche Grinsen spüren, das sich auf einem Dutzend Gesichtern ausgebreitet hatte.

«Das ist ja herrlich!«sagte Tamara, während sie mit leuchtenden Augen die Schätze betrachtete, die vor ihr lagen. Indiana verstand ihre Begeisterung im ersten Augenblick nicht ganz; er hatte zwar auf einen gewissen Chic geachtet, im großen und ganzen jedoch eher praktische Kleidung gekauft. Aber dann kam ihm in den Sinn, daß Tamara wahrscheinlich seit zehn Jahren nichts als Uniformen getragen hatte.»Das muß ja ein Vermögen gekostet haben!«

«Ein halbes«, schränkte Indiana ein. Grinsend fügte er hinzu:»Keine Sorge — du wirst alles auf der Spesenabrechnung wiederfinden.«

«Das auch?«Tamara deutete auf das Negligé. Ihre Augen glitzerten spöttisch.

Indiana zog es vor, die Frage zu ignorieren.»Du solltest dich wirklich ein bißchen beeilen«, sagte er.»Unser Schiff geht in zwei Stunden. Und wir müssen uns noch irgendwie am Zoll vorbeischmuggeln.«

«Was für ein Schiff?«fragte Tamara.»Hast du mir nicht gerade erklärt, daß sie in jedem Hafen auf uns warten werden?«

«In jedem russischen Hafen«, korrigierte Indiana.»Deshalb fahren wir ja auch nach Hongkong.«

«Hongkong?«ächzte Tamara.»Aber das dauert doch Wochen!«

«Zwanzig Tage, um genau zu sein«, sagte Indiana.»Ich habe eine Kabine auf einem Teefrachter für uns gechartert. So haben wir eine echte Chance, sicher anzukommen. Von Hongkong aus kannst du versuchen, Kontakt mit deinen Leuten aufzunehmen. Außerdem habe ich Freunde dort. «Er schnitt Tamara mit einer Handbewegung das Wort ab, ehe sie überhaupt etwas erwidern konnte.

«Und jetzt beeil dich bitte. Wir haben anschließend drei Wochen Zeit, um uns zu streiten, ob meine Idee gut war oder nicht.«

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