Er erwachte auf einer schaukelnden Liege. Ein lange vermißtes Gefühl von Wärme und Weichheit umgab ihn, und er hörte Stimmen, die von weit her zu kommen schienen und in einer Sprache sprachen, die er nicht verstand. Dann erschien ein weißer, verschwommener Fleck über ihm und wurde ganz langsam zu Tamaras Gesicht. Sie wirkte bleich, und die überstandenen Anstrengungen hatten tiefe Spuren in ihren Zügen hinterlassen. Aber sie lächelte, und die Erleichterung in ihren Augen war nicht gespielt.
«Was … ist passiert?«murmelte er. Das Sprechen fiel ihm schwer. Er fühlte sich sehr schwach, und er fühlte, daß viel Zeit vergangen war.
Tamara schüttelte den Kopf und legte den Zeigefinger an die Lippen.»Es ist alles in Ordnung«, sagte sie.»Streng’ dich nicht an.«
Indiana wollte antworten, doch in diesem Moment wurde er mitsamt seiner schaukelnden Unterlage in die Höhe gehoben, und plötzlich bestand der Himmel über ihm nicht mehr aus Wolken und Nebel, sondern aus dem unverkleideten Wellblech eines Transportflugzeuges. Mühsam wandte er den Kopf und warf einen Blick durch die Tür zurück. Die Maschine war auf dem gleichen Eisfeld gelandet, auf dem Moto und seine Soldaten die letzte Nacht verbracht hatten.
«Lobsang hat sich getäuscht«, flüsterte er.
Tamara blickte fragend, und Indiana erklärte:»Man kann doch mit einem Flugzeug hier landen.«
Tamaras Lächeln wirkte irgendwie traurig. Sie sagte nichts, sondern wandte sich ebenfalls zur Tür, und nach einigen Augenblicken erschien eine schmale, kahlköpfige Gestalt am Ende des Eisfeldes. Während die Motoren des Flugzeuges angelassen wurden und allmählich auf Touren kamen, hob Lobsang die Hand und winkte ihnen zum Abschied zu, und trotz seiner Schwäche zog Indiana den Arm unter seiner Decke hervor und erwiderte die Geste, bis Tamara aufstand und die Tür schloß.
Als sie sich wieder neben ihn setzte, spürte Indiana, daß mit seinem rechten Bein etwas nicht stimmte. Er versuchte es zu bewegen, aber es ging nicht, und als er mit der Hand danach tastete, fühlte er etwas Hartes. Mit mühsamen kleinen Bewegungen schob er die Decke zur Seite und sah, daß das Bein dick bandagiert und mit einer groben, aber sehr geschickt angelegten Schiene versehen war.
«Was ist mit meinem Bein?«fragte er. Er konnte sich nicht erinnern, verletzt worden zu sein. Aber im Grunde konnte er sich an sehr wenig von dem erinnern, was in Shambala geschehen war. Es war, als gäbe es da etwas, das verhinderte, daß er sich zu genau erinnerte. Und er war plötzlich beinahe sicher, daß es gar nicht lange dauern würde, bis er sein Erlebnis hier auf dem Dach der Welt und selbst das Wissen um die Existenz dieses Klosters einfach vergessen hatte. Die Vorstellung erfüllte ihn mit Bedauern, zugleich aber auch mit dem sicheren Gefühl, daß es richtig war.
«Es ist alles in Ordnung«, sagte Tamara und streichelte liebevoll seine Wange.»Du hast noch einmal Glück gehabt.«
«Glück gehabt?«Indiana schloß die Augen. Er spürte, wie sich wieder Schwäche und Schlaf wie eine warme Decke über ihn senkten.»Was ist…«
Er sprach den Satz nicht einmal zu Ende, sondern schlief wieder ein.
Er erwachte erst am nächsten Tag und in einem anderen Flugzeug. Er lag noch immer auf einer Liege, war aber nicht mehr mit einem blutigen Fellmantel zugedeckt, und neben Tamara, die an seinem Bett Wache hielt, als hätte sie sich die ganze Zeit nicht von dort weggerührt, saß ein breitschultriger junger Mann mit kurzgeschnittenem Haar und der schmucklosen Uniform der Roten Armee.
Indiana richtete sich auf die Ellbogen hoch, sah sich um und entdeckte eine Anzahl kyrillischer Schriftzeichen auf den Kisten und Kartons, die den größten Teil des Frachtraums füllten.
«Wo bin ich?«fragte er.
«In einem Flugzeug der Roten Armee«, antwortete Tamara.
Sie lächelte, als Indiana fragend die Stirn runzelte.»Du hast ziemlich lange und ziemlich tief geschlafen, Indy«, sagte sie.
«Aber keine Sorge — jetzt ist alles in Ordnung. Wir sind auf dem Weg nach Moskau.«
«Moskau?«Indiana richtete sich erschrocken ganz auf und verzog das Gesicht, als ein scharfer Schmerz durch sein rechtes Bein fuhr. Automatisch sah er an sich herab und bemerkte, daß der Verband und die Schiene noch immer an ihrem Platz waren, obwohl man ihn mittlerweile gewaschen und in neue Kleider gehüllt hatte. Er wollte eine entsprechende Frage stellen, fing aber einen warnenden Blick von Tamara auf und schluckte sie im letzten Moment herunter.
«Moskau?«fragte er noch einmal.
«Keine Sorge«, sagte Tamara.»Wir machen dort nur eine Zwischenlandung. Du kannst auf der Stelle weiterfliegen — wenn du das möchtest. «Sie lächelte, überzeugte sich mit einem raschen Blick davon, daß der Soldat neben ihr in eine andere Richtung sah, und blinzelte Indiana vielsagend zu.»Ich bin allerdings auch befugt, Dr. Jones«, sagte sie,»Ihnen die Gastfreundschaft der Sowjetunion anzubieten, solange Sie möchten. Vielleicht bleibst du eine Weile bei uns? Ich bin sicher, Moskau wird dir gefallen.«
Indiana war so verwirrt, daß er im ersten Moment nicht darauf antwortete. Dann sah er Tamara an, runzelte abermals die Stirn und sagte noch einmal:»Moskau?«
Sie seufzte, zuckte mit den Achseln und lachte plötzlich.
«Überleg es dir«, sagte sie.»Du hast Zeit, dich zu entscheiden, bis wir landen. Und auch noch eine Weile danach. Es gibt ein paar Leute im Kreml, die dem berühmten Dr. Jones unbedingt die Hand schütteln und ihm persönlich danken wollen. Du wirst keine politischen Verwicklungen heraufbeschwören, indem du Sie vor den Kopf stößt, oder?«Aber ihre Augen glitzerten bei diesen Worten spöttisch, und nach einigen Augenblicken stimmte Indiana einfach in ihr Lächeln ein.
Wenn nur sein rechtes Bein nicht so verflucht weh getan hätte!
«Was, zum Teufel, ist eigentlich passiert?«fragte er.»Ich kann mein Bein kaum noch fühlen.«
«Lobsangs Brüder haben es wahrscheinlich etwas zu gut gemeint«, sagte Tamara. Sie beugte sich vor, streckte die Hand nach dem Verband aus und zog sie wieder zurück. Sie zögerte eine Sekunde, dann wandte sie sich an den Mann neben sich und sagte ein paar Worte auf russisch zu ihm, woraufhin er sich erhob und mit raschen Schritten nach vorn ging und in der Pilotenkanzel verschwand.
Indiana wollte eine Frage stellen, aber Tamara schüttelte rasch den Kopf, löste eine Ecke seines Verbandes und bedeutete ihm mit einer stummen Geste hinzusehen.
Indiana sog überrascht die Luft ein. Was er für eine drei Nummern zu groß geratene Schiene gehalten hatte, war in Wirklichkeit die grifflose Klinge eines uralten, zerschrammten Schwertes, die in mehrere Lagen Stoff gewickelt worden war. Indiana riß verblüfft Mund und Augen auf, wagte es aber nicht, etwas zu sagen, und Tamara befestigte das Stück Stoff rasch wieder, so daß es das schimmernde Metall verbarg.
«Aber wieso …?«murmelte Indiana.
«Wir konnten es doch nicht im Eis zurücklassen«, antwortete Tamara. Ihr Blick war sehr ernst, nur in ihren Augen war schon wieder eine ganz sanfte Spur von Spott, als sie fortfuhr:
«Tibetische Klöster sind auch kein sicherer Ort mehr. Wir müssen ein besseres Versteck dafür finden.«
Indiana war schlichtweg sprachlos. Aber nur ein paar Momente lang. Dann begann er zu grinsen, und nachdem er Tamara von seiner Idee erzählt hatte, fiel auch sie in sein Grinsen ein.
Vier Tage später, nachdem Indiana Jones eine Unzahl von Händen geschüttelt, eine Unzahl von Bruderküssen ausgetauscht und sich eine Unzahl von Lobeshymnen angehört hatte, nachdem er zum vermutlich zweihundertsten Mal die gleiche, abenteuerliche Geschichte von seiner und Tamaras Flucht und dem Kampf gegen Motos Soldaten und Dzo-Lins Rebellenarmee erzählt hatte — eine Geschichte, bei der sie bis auf zwei Punkte streng bei der Wahrheit geblieben waren (diese beiden Punkte waren die genaue Lage Shambalas und die Tatsache, daß sowohl er als auch Tamara überzeugend versicherten, Dschingis Khans Schwert wäre letzten Endes doch nicht mehr als eine Legende gewesen), war der Moment des Abschieds gekommen.
Tamara hatte es übernommen, ihn mit ihrem Privatwagen zum Flugplatz zu fahren, wo eine eigens für ihn gecharterte Maschine bereitstand, um ihn nach Paris zu bringen, wo er das Flugzeug nach New York besteigen würde, und niemand hatte etwas dagegen gehabt, dem berühmten Dr. Indiana Jones noch einen letzten Wunsch zu erfüllen: nämlich den im Entstehen begriffenen Flügel des Moskauer Museums zu besichtigen, von dem ihm Sverlowsk auf der Cocktail-Party in Washington erzählt hatte.
Was er zu Gesicht bekam, beeindruckte ihn wirklich. Die Halle war noch nicht offiziell eröffnet, und ein Drittel der Ausstellungsstücke befand sich noch in Kisten und wartete darauf, ausgepackt und irgendwo in der endlosen Reihe aus Glasvitrinen und Schränken aufgestellt zu werden. Indiana heuchelte großes Interesse und ließ sich beinahe eine Stunde lang von seinen Führern quer durch die vollgestopften Gänge und Hallen schleifen, bis er glaubte, der Höflichkeit Genüge getan zu haben. Als sie sich wieder auf den Ausgang zu bewegten, blieb er wie durch Zufall noch einmal stehen und betrachtete ein schmales, hoch oben an der Wand aufgehängtes Schwert ohne Griff.
Indiana lächelte, legte Tamara den Arm um die Taille und drückte sie sanft an sich. Sie verloren kein Wort über das, was da vor ihnen an der Wand hing, aber wahrscheinlich dachten sie in diesem Moment beide dasselbe: nämlich daß, wenn es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit des Schicksals gab, diese Macht einen gewissen Sinn für Humor haben mußte. Gab es einen besseren Ort, um dieses Schwert für alle Zeiten aufzubewahren?
Sie verließen die Halle, aber bevor sie es taten, blieb Indiana noch einmal stehen, sah zu dem Schwert empor und las das kleine, handgeschriebene Schild darunter, das in Kyrillisch und Englisch verkündete:
«Schwert. Mongolisch. Vermutlich 11. Jahrhundert. Fundort unbekannt.«