Im ewigen Eis. Am nächsten Morgen

Trotz allem schlief er so schnell ein, daß er sich am nächsten Morgen nicht einmal mehr daran erinnerte, wie Lobsang einen Platz zum Übernachten für sie gefunden hatte. Und er schlief erstaunlich gut; zumindest angesichts der Tatsache, daß er auf einem Bett aus Eis übernachtete.

Als er die Augen aufschlug, fand er sich in einer verzauberten, märchenhaften Welt wieder, die so fremdartig war, daß er sich im ersten Moment ganz ernsthaft fragte, ob er wirklich schon wach war oder vielleicht noch träumte.

Es war hell geworden, genau wie Lobsang gesagt hatte, aber es war ein sonderbares mildes, weiches Licht, das aus keiner bestimmten Quelle zu kommen schien, und es dauerte einen Moment, bis Indiana klar wurde, daß es das Eis selbst war, das leuchtete. Offenbar befand sich die Höhle nicht sehr tief unter dem Boden, so daß das Licht der Sonne bis hier hinabdrang. Bizarre Eisgewächse und Skulpturen hingen von der Decke oder wuchsen aus dem Boden, und etwas wie leuchtender Staub trieb in dünnen Schwaden durch die Luft und reflektierte das Licht, als wären Myriaden winziger Sterne in der Höhle verteilt. Von irgendwoher drang das Geräusch tropfenden Wassers an sein Ohr, aber selbst dieser Laut wurde von der verwirrenden Akustik dieser unterirdischen Märchenwelt verändert, klang fremd und wie sphärisch schwebend.

Dann hörte Indiana ein Geräusch, das ihm jäh klar machte, daß dies kein Traum war: Lobsangs Schnarchen.

Gähnend setzte er sich auf, wandte müde den Kopf und sah verwirrt auf den Tibeter herab, der sich neben ihm zusammengerollt hatte. Lobsang hatte sich wieder in sein Yeti-Kostüm gehüllt, um sich vor der schneidenden Kälte zu schützen. Indiana fand das etwas unpraktisch, aber er begriff gleichzeitig, warum er so gut geschlafen hatte: Das gefärbte Lamafell hatte nicht nur den Tibeter, sondern auch ihn gewärmt, und zwar ausgezeichnet. Und Lobsangs Yetis gepolsterte Schulter hatte auch ein ausgezeichnetes Kopfkissen abgegeben.

Indiana gähnte herzhaft, streckte die Hand aus und rüttelte Lobsang unsanft an der Schulter.

«He!«sagte Indiana.»Steh’ schon auf, alter Junge! Wir müssen die Welt retten!«

Lobsang schnarchte noch einen Moment weiter, dann drehte er schwerfällig den Kopf und blinzelte Indiana an. Gleichzeitig versuchte er mit einer ungeschickten, verschlafenen Bewegung Indianas Hand beiseitezuschieben.

«Nichts da!«sagte Indiana aufgeräumt.»Du kannst ausschlafen, wenn das hier vorbei ist. «Sehr viel ernster fügte er hinzu:»Nun komm’ schon. Wir haben viel zu viel Zeit verloren. Wenn Moto und seine Männer die Nacht über durchmarschiert sind, dann werden sie Shambala bald erreichen.«

Lobsang sah ihn noch einen Moment lang unentschlossen aus seinen nachgemachten Yeti-Augen an, aber dann schien er wohl einzusehen, daß Indiana recht hatte, denn er grunzte eine unverständliche Antwort und erhob sich unwillig. Seine Bewegungen waren die eines Mannes, der viel zu früh aus einem viel zu kurzen Schlaf geweckt worden war.

«Wie weit ist es bis Shambala?«fragte Indiana, während er sich mit den Händen gegen Schenkel und Oberarme schlug, um sich selbst ein wenig Wärme zu verschaffen.»Ich meine: Führen diese Gänge ganz bis dorthin, oder besteht die Gefahr, daß wir noch einmal aus dem Labyrinth müssen und auf Moto und seine Männer stoßen?«

Lobsang antwortete nicht, sondern schlurfte gebückt zu einer kleinen Pfütze aus Schmelzwasser, aus der er geräuschvoll zu trinken begann. Indiana betrachtete ihn stirnrunzelnd.

«Redest du nicht mehr mit jedem?«fragte er.

Offenbar war es so. Lobsang stillte geräuschvoll seinen Durst, dann richtete er sich wieder in eine halb gebückte Stellung auf, sah Indiana noch einmal aus seinen trüben roten Glasaugen an — und schlurfte mit hängenden Schultern davon.

«He!«rief Indiana.»Was hast du — «Er brach ab, grinste und wartete, bis Lobsang außer Sichtweite war.»Wenn du irgendwo Papier findest, laß mir etwas davon übrig!«rief er ihm aufgeräumt nach.

«Papier?«fragte Lobsangs Stimme.»Wozu denn, Dr. Jones?«

Hinter ihm.

«Zum — «Indiana keuchte, fuhr herum und starrte den Tibeter an, der kaum zwei Schritte hinter ihm aufgetaucht war und ihn verständnislos ansah.

«Lobsang!«murmelte er erschüttert.»Wo … wo kommst du denn … her?«

Lobsang deutete hinter sich.»Ich habe ein wenig den Weg erkundet, Dr. Jones«, sagte er.»Ich denke, ich werde den Weg nach Shambala finden. Die Beschreibung, die ich erhielt, war sehr präzise.«

«Den … Weg … erkundet?«murmelte Indiana stockend.

«Das heißt, du … du warst gar nicht … hier?«

«Ich war nicht sehr lange fort«, verteidigte sich Lobsang.»Allerhöchstens zehn Minuten.«

Indiana fuhr mit einem erstickten Laut herum und starrte in die Richtung, in der die zottige weiße Gestalt verschwunden war. Sein Herz sprang mit einem Satz bis in seinen Hals hinauf und hämmerte dort mit ungefähr dreihundert Schlägen in der Minute weiter.

«Was haben Sie, Dr. Jones?«fragte Lobsang besorgt.»Sie sind kreidebleich. Ist Ihnen nicht gut?«

«Nichts«, sagte Indiana.»Es ist … nichts. «Er zwang sich zu einem Lächeln, stand auf und drehte sich nach einem letzten, sehr langen Blick in den Eisstollen vollends zu Lobsang um.

«Es ist alles in Ordnung«, sagte er noch einmal.»Du hast den Weg gefunden, sagst du? Wie weit ist es noch?«

Lobsang warf einen langen, sehr mißtrauischen Blick in den Gang hinter Indy, ehe er antwortete.»Es ist noch ein gutes Stück, fürchte ich. Aber wir sind im Vorteil, denn wir können unter dem Berg hindurch gehen. Für Motos Männer wird der Weg um einiges beschwerlicher.«

«Dann sollten wir keine Zeit verlieren«, sagte Indiana nervös, ergriff den total perplexen Lobsang bei der Schulter und schob ihn fast gewaltsam vor sich her, bis Lobsangs Schritte sich den seinen angeglichen hatten. Der Tibeter sah sehr verwirrt aus. Aber er ging mit keinem Wort auf Indianas sonderbares Benehmen ein.

Indiana verlangsamte seine Schritte erst wieder, als sie sich ein gutes Stück von der Stelle entfernt hatten, wo er aufgewacht war. Lobsang setzte ein paarmal dazu an, ihn nun doch nach dem Grund seiner plötzlichen Eile zu fragen, aber es gelang Indiana jedes Mal, ihm geschickt auszuweichen.

Es war schwer, in dieser unwirklichen Welt aus Eis und erstarrter Kälte die Zeit zu bestimmen, aber Indiana schätzte, daß sie mindestens zwei Stunden unterwegs waren. Die Intensität des Lichtes schwankte stark. Ein paarmal bewegten sie sich durch fast vollkommene Finsternis, aber mehrmals wurde das Eis über ihren Köpfen auch so dünn, daß sie die Sonne wie einen blaßgelben Fleck mit verwaschenen Rändern darüber erkennen konnten. Zwei- oder dreimal verließen sie das Eislabyrinth auch ganz, ehe sie wieder in einen Tunnel oder eine Höhle eindrangen. Offensichtlich war diese unterirdische Welt nur zu einem kleinen Teil — wenn überhaupt — künstlich geschaffen worden.

Lobsang bestand darauf, daß sie eine Rast einlegten, und Indys Protest war eigentlich auch nur ein lahmer Einwand, auch wenn jede Sekunde darüber entscheiden konnte, ob sie oder Moto Shambala zuerst erreichten. Die märchenhafte Schönheit dieser verborgenen unterirdischen Welt täuschte auf den ersten Blick darüber hinweg, wie schwer das Vorwärtskommen in ihr manchmal war. Ganze Strecken mußten sie kletternd oder kriechend zurücklegen. Dieser Weg war vielleicht kürzer als der, den Moto und seine Leute gingen, aber ganz bestimmt nicht leichter.

Sie marschierten eine weitere Stunde, dann betraten sie eine gewaltige, kuppelförmige Höhle, deren Boden hüfttief mit Wasser bedeckt war, aber es war so kristallklar, daß Indiana dies im allerersten Moment nicht einmal bemerkte. Hätte Lobsang nicht warnend die Hand gehoben und er gleichzeitig den eisigen Hauch gespürt, der ihm von der Wasseroberfläche entgegenschlug, dann wäre er vielleicht einfach hineingelaufen.

Ein wenig ratlos sah er sich um. Die Eiskuppel war riesig, aber auch wieder nicht so groß, daß er sie nicht hätte völlig überblicken können. Der Zugang, durch den sie gekommen waren, war der einzige. Sie waren in einer Sackgasse. Vielleicht hatte er Lobsangs Ortskenntnis doch ein wenig überschätzt.

«Und jetzt?«fragte er.

Lobsang lächelte sein übliches, nichtssagend-freundliches Lächeln und deutete nach oben. Die Decke war an dieser Stelle so dünn, daß sie das Sonnenlicht wie eine Kuppel aus milchigem Kristall hindurch ließ. Der winzige, strahlend helle Fleck in ihrem Zentrum war Indiana bis jetzt noch gar nicht aufgefallen; geschweige denn das dünne Tau, das fast bis zur Wasseroberfläche hinabreichte und an dessen Ende ein Eimer hing.

«Shambala, Dr. Jones«, sagte Lobsang.»Wir befinden uns direkt darunter. Dieser See ist das Trinkwasserreservoir des Klosters. «Seine Stimme wurde leiser, und die unheimliche Akustik des unterirdischen Eisdomes verlieh ihr einen nachhallenden Klang, der seine Worte zu einem düsteren Omen machte.

«Ich würde jetzt gern sagen, daß Sie der erste weiße Mann sind, der dies zu sehen bekommt, Dr. Jones, aber ich bin nicht mehr sicher, daß das wirklich die Wahrheit wäre.«

Indy sah, mit welch großem Schmerz Lobsang diese Worte erfüllten, aber es fiel ihm im Moment schwer, die Gefühle des Tibeters nachzuvollziehen. Ihn selbst erfüllte ein ganz anderes Gefühl — nämlich das blanke Entsetzen. Er ahnte, auf welchem Weg Lobsang ihn in das verbotene Kloster bringen wollte. Es war nicht besonders schwer zu erraten.

«Ich nehme nicht an, daß es hier irgendwo einen gut getarnten Aufzug gibt?«fragte er mit einem raschen, nervösen Lächeln.

Lobsang blieb ernst.»Wir werden am Brunnenseil hinaufklettern müssen«, sagte er.»Ist das ein Problem für Sie, Dr. Jones?«

«Das Klettern nicht«, antwortete Indiana. Ohne ein weiteres Wort ging er neben Lobsang in die Hocke und tauchte die linke Hand ins Wasser, um sie so schnell wieder zurückzuziehen, daß selbst Lobsang überrascht zusammenfuhr.

Das Wasser war nicht eisig, es war mörderisch kalt. Seine Hand pochte vor Schmerz. Er war sicher, daß seine Finger einfach abbrechen würden, wenn er versuchte, sie zu bewegen.

«Unmöglich«, sagte er überzeugt.

«Was ist unmöglich, Dr. Jones?«fragte Lobsang, während sich Indiana aufrichtete und behutsam seine Hand zu massieren begann.

«Das Seil«, antwortete Indiana.»Wir kommen nicht hin.«

«Das Wasser ist nicht sehr tief«, sagte Lobsang.

«Aber es ist sehr kalt«, antwortete Indiana.»Zu kalt, Lobsang. Wir sind in zwei Minuten tot, wenn wir dort hineinwaten.«

Lobsang sah sehr enttäuscht aus, aber er mußte wohl auch begreifen, daß Indiana recht hatte, denn er widersprach nicht.

Indiana sah sich suchend in der großen Höhle um. Nichts. Die Wände waren so glatt, als wären sie sorgfältig poliert worden, und dasselbe galt für die Decke. Um dort hinaufzuklettern und den Brunnenschacht zu erreichen, hätte man Saugnäpfe an Händen und Füßen haben müssen. Aber sie konnten auch nicht zurück. Wenn sie überhaupt noch eine Chance hatten, Moto und seinen Soldaten zuvorzukommen, dann mußten sie sie jetzt ergreifen.

Indy sah keine große Chance, löste aber trotzdem die Peitsche vom Gürtel, schwang sie zwei-, dreimal prüfend und ließ das Ende dann nach dem Brunnenseil fliegen. Das Ergebnis hatte er vorausgesehen: Die Peitschenschnur war mindestens zwanzig Meter zu kurz.

«Wenn wir vielleicht nur dieses kleine Stück …«, schlug Lobsang zögernd vor, aber Indiana schüttelte den Kopf.

«Das wäre Selbstmord, Lobsang«, sagte er sanft.»Glaub mir.

Das Wasser würde uns in einer Minute lähmen und in zwei töten.«

«Das ist durchaus möglich, Dr. Jones«, sagte Lobsang. Er lächelte traurig, legte die Fingerspitzen aufeinander und schloß die Augen. Ein dünnes, an- und abschwellendes Summen kam über seine Lippen und wurde zu einem monotonen Summen.

«Ommm mana pat — «

«Tu das nicht, Lobsang«, sagte Indiana.»Das ist Selbstmord!«

«Ommm …«, bestätigte Lobsang, drehte sich mit noch immer geschlossenen Augen herum und ging hoch aufgerichtet und sehr langsam in das eiskalte Wasser hinein.

Gebannt und mit klopfendem Herzen sah Indiana zu, wie der Tibeter in den See hineinschritt. Er rechnete jeden Augenblick damit, daß er einfach zusammenbrechen und im Wasser versinken würde, aber Lobsang schien die mörderische Kälte nicht zu spüren. Ganz langsam näherte er sich dem Brunnenseil, ergriff es und drehte sich um. Indiana beobachtete voller Unglauben, wie er langsam, aber ohne zu zögern und mit fast geschmeidigen Bewegungen zurückkam. Eine Aura eisiger Kälte umgab ihn, als er zurückkam und ihm das Seil reichte.

«Wie … hast du das gemacht?«fragte Indiana fassungslos.

Lobsangs Lippen zitterten. Er wollte etwas sagen, aber er brachte kein Wort hervor. Seine Augenbrauen waren weiß, und auf seiner Haut glitzerte Eis. Sein Gewand knisterte wie trockenes Holz.

Indiana nahm ihm das Seil aus der Hand, löste den Eimer von seinem Ende und rollte es weiter ab, bis er auf Widerstand stieß.

Er ergriff das Seil, zog noch einmal prüfend daran und warf Lobsang einen gleichermaßen auffordernden wie besorgten Blick zu.»Geht es noch?«

Lobsang antwortete auch jetzt nicht, aber seine Lippen zitterten heftiger. Ein qualvoller Ausdruck stand in seinen Augen, obgleich sich in seinem Gesicht kein Muskel rührte.

Indiana tat das einzige, was ihm übrig blieb. Er wertete Lobsangs Schweigen als Zustimmung.»Half dich an mir fest!«sagte er.»Ich versuche, uns beide nach oben zu bringen. Ich hoffe nur, meine Kraft reicht.«

Er konnte die Kälte von Lobsangs Händen und Armen durch seine Kleider hindurch spüren, als der Tibeter seine Hüften umschlang und sich mit erstaunlicher Kraft an ihm festklammerte.

Entschlossen stieß er sich ab, zog die Knie an den Leib und begann Hand über Hand am Brunnenseil in die Höhe zu klettern, noch während sie zur Mitte des Sees hinausglitten. Trotzdem versanken seine — und auch Lobsangs — Beine bis über die Knie im Wasser, während das Seil hin- und herpendelte, bis es schließlich direkt unter dem Brunnenschacht zur Ruhe kam.

Die Kälte tat weh. Indiana stöhnte auf, als der Schmerz wie ein elektrischer Schlag durch seinen Körper pulsierte und ihn zu lähmen drohte. Und trotzdem war es wahrscheinlich gerade das, was ihn rettete, denn der grausame Schmerz machte ihm unbarmherzig klar, welches Schicksal ihn erwartete, wenn er das Seil auch nur für eine Sekunde losließ.

Trotzdem begriff er hinterher selbst nicht, woher er die Kraft genommen hatte, den Brunnenrand zu erreichen. Lobsangs Gewicht zerrte wie eine Tonnenlast an ihm. Das Seil schnitt tief in seine Finger, und von den Knien abwärts waren seine Beine starr und taub vor Kälte.

Wie lange sie brauchten, wußte er nicht. Er wußte auch nicht, wie lange er hinterher zitternd und stöhnend vor Kälte neben dem Brunnenschacht gelegen und mit der drohenden Bewußtlosigkeit gerungen hatte.

Es war die sanfte, doch kraftvolle Berührung von Lobsangs Händen, die ihn schließlich wieder ins Bewußtsein zurückbrachte. Der Tibeter kniete neben ihm. Seine Hände massierten abwechselnd Indianas Brust, Gesicht und Hals, und was immer er tat, es war sehr unangenehm, brachte aber gleichzeitig das Leben in Indianas Körper zurück. Indy stöhnte, versuchte den Kopf zu heben und schaffte es schließlich beim dritten Anlauf.

«Wie fühlen Sie sich, Dr. Jones?«fragte Lobsang. Sein Gesicht war grau.»Glauben Sie, daß Sie sich bewegen können?«

Das einzige, was Indiana allen Ernstes glaubte, war, daß seine Arme und Beine einfach durchbrechen mußten, wenn er auch nur versuchte, sich innerhalb der nächsten zwei Stunden zu bewegen. Trotzdem zwang er sich zur Andeutung eines Nickens, stemmte sich mit zusammengebissenen Zähnen in die Höhe und kam schließlich — wenn auch nur mit Lobsangs Hilfe — auf die Füße. Seine Zähne klapperten heftig, und alles drehte sich für einen Moment um ihn. Er wankte, griff haltsuchend um sich und wurde abermals von Lobsang aufgefangen.

«Bitte versuchen Sie es, Dr. Jones«, sagte der Tibeter eindringlich.»Es ist wichtig. Ich fürchte, wir sind nicht mehr rechtzeitig gekommen.«

Die Worte erfüllten Indiana mit einem Schrecken, den er sich im ersten Moment selbst nicht erklären konnte. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Die Kälte lähmte alles, selbst den Fluß seiner Gedanken, aber er spürte trotzdem, wie eindringlich Lobsangs Worte gemeint waren.

Mit aller Gewalt zwang er sich, die Augen offenzuhalten und sich umzusehen. Und was er erblickte, das erfüllte ihn mit einer Mischung aus Staunen, ungläubiger Bewunderung — und Entsetzen.

Sie hatten Shambala gefunden, aber es war anders, ganz anders, als Indiana erwartet hatte. Er hatte viele Wunder gesehen, Dinge, die die meisten anderen als schlichtweg unmöglich bezeichnet hätten. Aber niemals etwas wie das hier.

Shambala bestand völlig aus Eis. Der Brunnen, aus dem sie herausgestiegen waren, lag im Zentrum eines kleinen, sechsek-kigen Innenhofs, der von Wänden aus sorgsam bearbeitetem, spiegelglattem Eis eingeschlossen war. Zahlreiche Türen und Fenster befanden sich in diesen Wänden, und die meisten waren von großen Statuen flankiert, die Götter und Dämonen, Drachen und andere Fabelwesen darstellten. Hoch über ihren Köpfen erhob sich das Pagodendach des gewaltigsten Tempelgebäudes, das Indiana jemals gesehen hatte, und auch dieses Dach bestand völlig aus kristallklarem, geschnitztem Eis.

Aber es gab etwas, das den Eindruck, in ein Märchenland verschlagen worden zu sein, nachhaltig störte.

Vor einer der Türen lag ein toter Lama-Priester. Das Eis unter seinem Körper hatte sich rot gefärbt, und die Wand, neben der er zusammengebrochen war, wies eine Anzahl häßlicher, gezackter Löcher auf. In den Schatten hinter der Tür waren die Umrisse eines zweiten reglosen Körpers zu entdecken, und über die Schwelle tropfte ein dünnes, rotes Rinnsal, das sich mit der Blutlache unter dem toten Lama vereinigte.

«Wir sind zu spät gekommen«, flüsterte Lobsang. Aller Schrecken, alles Entsetzen und alle Furcht der Welt schwangen in seinen Worten mit.

Indiana wandte langsam den Kopf und sah den Tibeter an.

Lobsangs Gesicht hatte nun vollends jede Farbe verloren. Seine Lippen zitterten, und seine Hände waren zu Fäusten geballt.

Tränen schimmerten in seinen Augen.»Vielleicht … sind wir noch nicht ganz zu spät«, murmelte Indiana.»Vielleicht können wir sie noch irgendwie aufhalten.«

Lobsang antwortete nicht. Er sah ihn einfach nur voller Trauer an, und nach einer Sekunde senkte Indiana den Blick und sah zu Boden.

In diesem Moment hörten sie in weiter Entfernung das helle, abgehackte Rattern eines Maschinengewehrs. Indiana sah mit einem Ruck auf, und auch Lobsang fuhr zusammen. Ein keuchender, halb erstickter Laut kam über seine Lippen. Seine Augen weiteten sich.

«Die … die Heilige Halle!«flüsterte er.»Sie … sie müssen in der Heiligen Halle sein, die niemals entweiht werden darf!«

Plötzlich fuhr er herum, stieß einen krächzenden Schrei aus und rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf eine der Türen zu, so schnell, daß Indiana Mühe hatte, ihm zu folgen.

Sie drangen ins Innere des Tempels ein, das sich als ein wahres Labyrinth von Gängen, Treppen und winzigen, zum größten Teil fensterlosen Kammern entpuppte. Indiana warf im Laufen einen Blick durch eine der Türen und stellte fest, daß offenbar auch hier drinnen alles aus Eis bestand, soweit dies überhaupt möglich war. Mit Ausnahme von Stühlen und niedrigen, mit Bastmatten bedeckten Betten gab es nichts, was nicht aus Eis geschnitzt war. Er fragte sich, wer dieses unglaubliche Gebäude errichtet hatte.

Auch hier fanden sie Tote — zum größten Teil tibetische Mönche, die in die gleichen einfachen Gewänder wie Lobsang gehüllt waren, aber auch Männer in den Fellmänteln und — mützen der Hunnen, die Moto und ihn am Abend zuvor angegriffen hatten. Dazu — allerdings nur einige wenige — japanische Soldaten sowie eine Anzahl anderer Asiaten, die keine Uniform, wohl aber moderne Waffen trugen. Indiana begriff erst nach einer Weile, daß nicht nur Moto und seine Männer, sondern vor ihnen offensichtlich auch schon General Dzo-Lin Shambala erreicht hatte.

Und mit ihm wahrscheinlich Tamara!

Es gab keine Zeit zu verlieren! Er griff rascher aus, holte zu Lobsang auf und stürmte neben ihm eine schmale, aus dem Eis herausgeschlagene Treppe hinauf, die in engen Windungen nach oben führte. Das Rattern des Maschinengewehrs war nicht mehr zu hören, aber dafür hörten sie jetzt immer öfter vereinzelte Schüsse, das Bersten von Eis und das Heulen von Querschlägern, und manchmal schrille, abgehackte Schmer-zens- und Kampfschreie.

Die Treppe wurde immer schmaler. Nach einigen Augenblik-ken fiel Indiana zwei Stufen hinter den Tibeter zurück, und schließlich bückte sich sein Führer durch einen niedrigen Durchgang und blieb so abrupt stehen, daß Indiana fast in ihn hineingerannt wäre.

«Was ist?!«fragte er unwillig.»Wo ist die Heilige Halle, die — «

Lobsang unterbrach ihn mit einer herrischen Handbewegung und deutete hinter sich; gleichzeitig bedeutete er ihm mit einer Geste der anderen Hand, still zu sein. Indiana gehorchte.

Beinahe auf Zehenspitzen ging er an Lobsang vorbei und blickte durch die Öffnung, auf die der Tibeter gedeutet hatte, auf eine unglaubliche Szene herab.

Unter ihm — sicherlich zehn oder fünfzehn Meter unter ihm — lag eine gewaltige, asymmetrisch geformte Halle aus Eis.

Schmale, hohe Fenster in einer der Wände gewährten ihm einen Blick auf ein phantastisches Panorama, in dem sich die Gipfel des Himalaya unter einer Wolkendecke ausbreiteten, die zum Greifen nahe schien. Aber das helle Sonnenlicht, das durch diese Fenster hereinströmte, enthüllte ihm auch einen Anblick schieren Grauens. Die Halle war voller Toter. Auf dem blank polierten Eis des Bodens saßen einige von Lobsangs Brüdern, die Hände vor den Gesichtern gefaltet und die Augen geschlossen, und beteten lautlos, aber eine fast ebenso große Zahl von ihnen lag tot oder sterbend da, und zwischen ihnen entdeckte er die Leichen von japanischen und chinesischen Soldaten, die sich in der Heiligen Halle einen gnadenlosen Kampf geliefert haben mußten. Der Boden war zerfurcht von MG- und Gewehrkugeln, zerbrochenen Schwertern und Bajonetten; Speerspitzen ragten aus dem Eis, und hier und da konnte er die reglosen Körper mongolischer Krieger erkennen. Offensichtlich hatte am Ende jeder gegen jeden gekämpft.

Und der Kampf war noch nicht vorbei. Ein einzelner Mann in einer schmucklosen, schwarzen Uniform hockte hinter einem Altar aus Eis und gab aus einem auf einem Dreibein ruhenden Maschinengewehr kurze, gezielte Feuerstöße auf eine Anzahl Gestalten ab, die sich zwischen den mannsdicken Eissäulen auf der anderen Seite der Eishalle verschanzt hatten. Die Japaner erwiderten das Feuer, trafen aber ebenso wenig wie der Chinese. Indiana vermutete, daß es General Dzo-Lin persönlich war, den er sah.

Dann blieb sein Blick an etwas anderem hängen, das seine Aufmerksamkeit für Momente völlig in Anspruch nahm: An zwei dünnen, silbernen Ketten hing ein schmuckloses Schwert über dem Altar. Ein eigenartiger Glanz schien von der Klinge auszugehen, eine Art leuchtende Aura, die den zerschrammten Stahl umgab. Aber es war kein gutes Licht. Indiana konnte das Gefühl nicht anders in Worte fassen — dieser Schein war irgendwie … böse.

«Das Schwert!«flüsterte Lobsang neben ihm.»Es frißt wieder Menschen!«

Indiana fuhr verblüfft herum. Lobsangs Augen hatten sich vor Entsetzen geweitet; auch sein Blick hing an der schmucklosen Klinge und dem kalten Schein, der sie umgab.»Es frißt wieder Menschen, Dr. Jones«, flüsterte er erneut.»Wir müssen es vernichten!«

Es gab kaum etwas, das Indiana in diesem Moment lieber getan hätte — nur daß er nicht wußte wie.

Er sah wieder in die Halle hinab und bemerkte, daß einige der Ninja-Soldaten sich Dzo-Lin und seinem Maschinengewehr genähert hatten. Der Chinese schoß auf sie, aber die Angreifer fanden hinter den Eissäulen ausreichend Deckung, und Dzo-Lin mußte am Ende seiner Kräfte oder ebenfalls verletzt sein, denn er hatte alle Mühe, das Maschinengewehr zu halten.

Dann entdeckte Indiana etwas, das ihn erneut mit einem Gefühl eisigen Entsetzens erfüllte.

Hinter Dzo-Lin hockte eine zweite, schmale Gestalt. Tamara! Sie saß hoch aufgerichtet und fast ohne Deckung da, ihr Gesicht war starr. Sie schien zu meditieren — oder die Chinesen hatten sie unter Drogen gesetzt, um von ihr zu erfahren, was sie wissen wollten.

Indianas Blick irrte verzweifelt durch die Halle. Der Raum, in dem Lobsang und er sich befanden, war nichts anderes als der Kopf einer gewaltigen, zwölf oder fünfzehn Meter hohen Buddha-Statue, die wie alles hier völlig aus Eis bestand. Es gab eine Anzahl ähnlicher, ebenso gewaltiger Statuen, die die Wände flankierten und zugleich wohl die Funktion von Trägern hatten, und zwischen ihnen hingen schmale, blutrote Gebetsfahnen von der Decke.

Indiana überlegte nicht lange. Es konnte nur noch Augenblik-ke dauern, bis Motos Soldaten Dzo-Lin erreicht hatten.

Und selbst wenn Tamara in dem entstehenden Handgemenge nicht verletzt wurde, würde der Japaner sie hinterher töten lassen.

Er bedeutete Lobsang mit einem Blick, an seinem Platz zu bleiben, zwängte sich durch die Öffnung — die nichts anderes als eines der beiden Augen des Riesenbuddhas darstellte — und sprang mit einem entschlossenen Satz ins Leere. Seine weit vorgestreckten Hände bekamen eine der Gebetsfahnen zu fassen. Den Schwung seines Absprungs ausnutzend, schwang sich Indiana zu einer zweiten Fahne, von dort aus zu einer dritten — und auf den Altar zu!

Dzo-Lin bemerkte den neu aufgetauchten Gegner im letzten Moment und versuchte, sein Maschinengewehr in die Höhe zu reißen, aber das Gewicht der Waffe schien seine Kräfte zu übersteigen. Eine MG-Salve verfehlte Indiana um mehrere Meter und riß Eissplitter aus den Wänden, und die Ninjas nutzten die Gelegenheit, ihre Deckung zu verlassen und auf den Altar zuzurennen.

Indiana erreichte das Schwert, riß es aus den Schlaufen der Kette, schwang zurück … und in diesem Moment riß die Gebetsfahne.

Indiana stürzte, landete unsanft zwischen den Mönchen und duckte sich, als Dzo-Lin mit einem Wutschrei das Maschinengewehr hochriß und beinahe ziellos durch die Halle schoß.

Zwei, drei von Lobsangs Brüdern sackten getroffen und lautlos nach vorn, und auch einer von Motos Soldaten wurde zu Boden gewirbelt und blieb in einer Blutlache liegen. Die anderen stürzten weiter — drei oder vier auf Dzo-Lin zu, der das Maschinengewehr fallenließ und ein Schwert zog, um sich seiner Haut zu wehren, zwei oder drei weitere aber auch in Indianas Richtung. Ein Schuß krachte und verfehlte ihn nur um Haaresbreite, dann zerfetzte eine MP-Salve das Eis unmittelbar vor seinen Füßen, und Indiana wirbelte herum und rannte mit weit ausgreifenden Schritten und im Zickzack auf den nächstliegenden Ausgang zu.

Und blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihm stand Moto.

Der Japaner trug jetzt wieder die blütenweiße Uniform, in der er ihn schon in Schenjang gesehen hatte. Bis auf einen schmalen weißen Streifen um die Stirn hatte er sämtliche Verbände abgelegt, und er trug auch keine Maschinenpistole mehr, sondern die schimmernde Klinge seines Samurai-Schwerts in der Rechten.

«Dr. Jones!«sagte er ruhig.»Welche Überraschung. Ich habe nicht damit gerechnet, Sie noch einmal wiederzusehen.«

«Dieselbe Hoffnung hatte ich auch«, antwortete Indiana nervös. Er sah rasch über die Schulter zurück. Die Soldaten waren ihm gefolgt, allerdings in zwei, drei Schritten Entfernung stehengeblieben. Was sie nicht daran hinderte, ihre Gewehre auf Indianas Kopf und Rücken gerichtet zu halten.

Moto bemerkte seinen Blick und lächelte.»Keine Sorge, Dr. Jones«, sagte er.»Sie werden Ihnen nichts tun. «Er hob die Hand, machte eine rasche, komplizierte Geste und sagte einige Worte auf japanisch, und Indiana konnte hören, wie die Männer hinter ihm die Waffen senkten und sich ein paar Schritte weit zurückzogen.

Auch Moto machte einige Schritte — auf ihn zu. Und er hob dabei sein Samurai-Schwert. Langsam, mit einer fast zeremoniellen Bewegung und einer angedeuteten Verbeugung, bei der er Indiana jedoch keine Sekunde aus den Augen ließ, legte er beide Hände um den langen Griff des Katana und berührte mit der flachen Seite seine Stirn.

«Erinnern Sie sich, was wir verabredet hatten, Dr. Jones?«fragte er.»Der bessere Mann soll das Schwert bekommen.«

Und damit stürzte er auf Indiana los.

Seine Bewegung war so schnell und gleitend, daß Indy sie nicht einmal wirklich sah. Er wußte, daß er keine Chance hatte. Nicht gegen diesen Mann. Schließlich war er Doktor der Archäologie und kein Samurai, der die Schwertkunst in einem Alter erlernt hatte, in dem andere noch mit ihren Teddybären spielten. Trotzdem riß er ganz instinktiv die Klinge hoch und versuchte, Motos Hieb zu parieren.

Und es gelang ihm.

Dschingis Khans Schwert prallte mit solcher Gewalt gegen Motos Katana, daß der Samurai mit einem überraschten Keuchen zurücktaumelte und nur mit Mühe sein Gleichgewicht hielt. Ungläubig starrte er Indiana an, dann das Schwert in dessen Hand, und auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck fassungsloser, vollständiger Verblüffung breit.

Aber nur für eine Sekunde. Dann verzerrten sich seine Züge vor Wut. Er schwang die tödliche Klinge hoch über dem Kopf und griff ein zweites Mal an.

Es war nicht Indiana Jones, der Dschingis Khans Schwert führte — es war die Klinge, die ihn mit sich riß. Ein Gefühl unglaublicher Stärke durchflutete Indy, während er nach vorn sprang, das Schwert in einem eleganten, blitzartigen Bogen nach oben und zur Seite riß — und Motos Katana mit solcher Gewalt traf, daß der als unzerbrechlich geltende Samurai-Stahl mit einem gewaltigen Klirren zersplitterte.

Diesmal ging Moto wirklich zu Boden. Er taumelte rückwärts, fiel ungeschickt nach hinten und blieb fast eine Sekunde reglos liegen. Wieder glitt sein Blick über Indianas Gesicht, und endlich schien er zu begreifen, daß es nicht Indianas Kraft war, die er spürte, sondern eine ältere, unendlich stärkere Gewalt.

Und auch Indiana spürte diese Kraft, ein Pulsieren von Energie, das ihn durchfloß und das auf eine völlig andere Art ebenso unangenehm und böse war wie das kalte Leuchten, das das Schwert über dem Altar umgeben hatte. Er fühlte sich unverwundbar, und tief in seinem Inneren spürte er, daß er es auch war, solange er dieses Schwert in der Hand hielt, aber er spürte auch die Gier der verzauberten Waffe, ihr dunkles, pochendes Herz, das nach Blut und Tod schrie und allmählich Macht über seine Gedanken zu gewinnen begann.

Moto kam mit einer kräftigen Bewegung wieder auf die Füße, bückte sich zu einem toten Soldaten herab und hielt plötzlich wieder ein Schwert in der Hand. Mit einem Wutschrei attak-kierte er Indiana erneut, und er hatte aus seinem ersten Zusammenstoß gelernt. Er versuchte nicht mehr, ihn mit bloßer Kraft zu überrennen und ihm das Schwert aus der Hand zu schlagen, sondern wich der blitzenden Klinge aus und suchte nach einer Lücke in Indianas Deckung. Dschingis Khans Schwert zuckte immer wieder im letzten Moment herab und schlug Motos Waffe beiseite, und auch diese Klinge zerbrach unter dem vierten oder fünften Treffer des Mongolenschwertes. Moto sprang mit einem Wutschrei zurück, bückte sich nach einer anderen Waffe und winkte gleichzeitig seinen Soldaten.

Die Ninjas griffen Indiana aus drei oder vier Richtungen gleichzeitig an. Ein Messer flog auf ihn zu und fiel klirrend zu Boden, als Dschingis Khans Schwert es in der Luft traf, und einer der Ninjas stieß sich ab und zielte mit einem Karate-Tritt nach Indianas Kopf. Eine Sekunde später stürzte er schreiend zu Boden und umklammerte den Stumpf seines linken Beines.

Und etwas Fürchterliches durchflutete Indiana Jones. Es war wie ein elektrischer Schlag, der aber nicht schmerzte, nicht zerstörte, sondern ihn mit einem berauschenden Gefühl von Macht und Unverwundbarkeit erfüllte. Das Schwert hatte Blut geschmeckt, und plötzlich glaubte er noch einmal Lobsangs Worte zu hören:»Das Schwert frißt wieder Menschen, Dr. Jones.«

Als Moto und die Ninjas erneut heranstürmten, verschaffte sich Indiana mit einem kraftvollen Hieb Luft, wirbelte herum und rannte davon, so schnell er konnte. Das Schwert in seiner rechten Hand zuckte, als versuche es, ihn zurückzuhalten, aber noch war er stärker als die verlockende Macht, die aus dem Griff in seine Hand floß und seine Seele zu vergiften begann. Er wußte nur nicht, wie lange noch.

«Bleiben Sie stehen, Sie Feigling!«schrie Moto hinter ihm her.»Das Schwert! Geben Sie mir das Schwert!«

Indiana griff nur noch schneller aus. Blindlings stürmte er den Gang hinab, eine Treppe hinunter und durch eine weitere Halle, deren Boden voller Blut und den Einschlägen von Gewehrkugeln war. Moto und seine Ninja-Soldaten waren dicht hinter ihm.

Indiana rannte blindlings nach rechts und sah sich einem weiteren Ninja gegenüber, der wie aus dem Boden gewachsen vor ihm auftauchte. Doch bevor er auch nur Gelegenheit fand, Schrecken zu verspüren, zuckte das Schwert in seiner Hand wie von selbst hoch und streckte den Japaner nieder. Ohne auch nur im Schritt innezuhalten, setzte Indiana über den zusammenbrechenden Ninja hinweg, warf sich durch eine weitere Tür — und fand sich plötzlich auf einer schmalen, an drei Seiten nur von einem hüfthohen Geländer aus Eis umgebenen Terrasse wieder. Hinter dem Eisgeländer ging es Hunderte von Metern senkrecht in die Tiefe, über der ein Meer aus grauem, wattigem Nebel lag und alles verhüllte.

Indiana drehte sich verzweifelt um. Moto und vier seiner Ninja-Krieger waren hinter ihm aus der Tür gestürmt und stehengeblieben, und auf Motos Gesicht breitete sich ein häßliches, triumphierendes Lachen aus. Er trug wieder ein Schwert, hielt es aber nun in der linken Hand. In der rechten lag eine Maschinenpistole, deren Lauf auf Indianas Brust gerichtet war.

«Sie waren sehr tapfer, Dr. Jones«, sagte er.»Aber ein tapferer Mann sollte auch wissen, wann er verloren hat. Geben Sie mir das Schwert!«

Indiana schüttelte den Kopf, wich einen Schritt zurück und spürte, wie er gegen das Geländer stieß. Moto machte einen weiteren Schritt in seine Richtung und blieb abrupt stehen, als Indiana den Arm ausstreckte und Dschingis Khans Schwert über den Abgrund hielt.

«Halt!«sagte Indiana, leise, aber in einem sehr entschlossenen Ton.»Noch einen Schritt, und ich werfe es hinunter.«

Motos Reaktion war anders als er erwartet hatte. Er kam nicht näher, aber er wirkte nicht erschrocken oder gar besorgt, sondern lachte nur noch breiter.»Das kannst du gar nicht, Amerikaner«, sagte er.»Versuch es. Laß es los. Wirf es in die Tiefe, und ich schenke dir das Leben.«

Indiana starrte ihn eine Sekunde lang ungläubig an — und ließ das Schwert los.

Wenigstens versuchte er es.

Es ging nicht. Seine Finger weigerten sich, sich zu öffnen. Die gleiche, unvorstellbare Kraft, die ihn befähigt hatte, Motos furchtbaren Schlägen standzuhalten und sich gegen seine Soldaten zu wehren, hinderte ihn jetzt daran, das Schwert loszulassen und es für alle Zeiten zu vernichten.

Der Japaner kam ganz langsam näher.»Sehen Sie, Dr. Jones?«sagte Moto mit einem neuerlichen häßlichen Lachen.»Es gibt eben Dinge, die nicht einmal der berühmte Dr. Indiana Jones weiß. Es gibt nur einen Weg, sich von diesem Schwert zu trennen.«

«Und … welcher ist das?«fragte Indiana stockend, obwohl er das unangenehme Gefühl hatte, die Antwort auf diese Frage sehr genau zu kennen.

«Du kannst dich nur von ihm trennen, indem du stirbst«, sagte Moto.»Und dabei helfen wir dir jetzt.«

Er trat zurück und machte eine befehlende Geste, und einer seiner Soldaten hob sein Gewehr und legte auf Indiana an. Ein Schuß krachte. Der Ninja taumelte, ließ seine Waffe fallen und sank wie in Zeitlupe auf die Knie. Auf seiner Brust breitete sich ein roter, rasch größer werdender Fleck aus.

Moto und die drei anderen Ninjas fuhren im gleichen Moment herum — und erstarrten, als sie die blutüberströmte Gestalt erblickten, die in der Tür hinter ihnen erschienen war.

Es war Dzo-Lin. Seine schwarze Uniform hing in Fetzen, und er blutete aus einem Dutzend Wunden, so daß es Indiana wie ein Wunder vorkam, daß er überhaupt noch die Kraft hatte, sich auf den Beinen zu halten. Ein irrer Ausdruck hatte sich auf seinem Gesicht ausgebreitet. Rotgefärbter Speichel lief über seine Lippen. Trotzdem trug er das schwere Maschinengewehr, mit dem er sich in der Heiligen Halle verteidigt hatte, jetzt nur in einem Arm. Mit der anderen Hand umklammerte er Tamara, die sich ebenso verzweifelt wie ergebnislos aus seinem Griff zu winden versuchte.

«Keiner rührt sich!«schrie er. Er schwenkte das Maschinengewehr, um seine Worte zu unterstreichen, und weder Moto noch seine drei Soldaten wagten auch nur zu atmen.

«Amerikaner!«sagte Dzo-Lin.»Wirf das Schwert zu mir!«

Indiana reagierte nicht. Er hätte die Klinge nicht einmal dann losgelassen, wenn er es gekonnt hätte, denn er wußte, daß dies sein Todesurteil gewesen wäre. Und auch das Tamaras.

«Das Schwert!«sagte Dzo-Lin noch einmal, und das Maschinengewehr richtete sich jetzt auf Indy.»Gib es mir, oder ich hole es mir!«

Tamara bäumte sich mit verzweifelter Kraft im Griff des Chinesen auf, aber es gelang ihr nicht, sich loszureißen. Verzweifelt sah sie Indiana an.»Spring, Indy!«schrie sie.»Rette die Welt vor diesen Ungeheuern! Spring und nimm das Schwert mit!«

Und Indiana Jones tat etwas, das ihn selbst am meisten überraschte. Mit einer einzigen schnellen Bewegung schwang er sich auf die Brüstung des schmalen Eisgeländers und breitete die Arme aus.

Dzo-Lin, Moto und die drei Ninja-Soldaten erstarrten zur Reglosigkeit.

«Das wagen Sie nicht!«flüsterte Moto.»Dazu haben Sie nicht genug Mut!«

«Probieren Sie es aus«, sagte Indiana. Der Wind zerrte an ihm, als wolle er ihn mit unsichtbaren Händen in die Tiefe reißen, und er spürte, wie seine Kräfte zu schwinden begannen.

Vielleicht hatte Tamara recht. Vielleicht war sein Tod der einzige Weg, den von Zehn-, wenn nicht Hunderttausenden anderer Menschen zu verhindern. Vielleicht mußte er sein Leben geben, um den Blutdurst dieses Schwertes zu stillen, ehe seine uralte böse Macht vollends wieder erwachte und ganz Asien in einem Ozean von Blut ertränkte.

«Dr. Jones!«

Indiana sah mit einem Ruck auf und gewahrte eine winzige, in ein schmuckloses, graubraunes Gewand gehüllte Gestalt auf einem schmalen Balkon hoch über seinem Kopf. Lobsang!

«Dr. Jones!«schrie der Tibeter.»Geben Sie es allen!«

Und Indiana begriff. Von einer Sekunde auf die andere erwachte er aus seinem Bann und warf das Schwert direkt neben dem Abgrund senkrecht in die Luft, so hoch er konnte.

Die Bewegung kostete ihn endgültig das Gleichgewicht. Den Abgrund im Rücken, ruderte er wild mit den Armen, dann gelang es ihm, sich zurückzuwerfen. Er stürzte schwer auf das Eis des Balkons, und im gleichen Augenblick rannten Moto und der Chinese los, um sich des Schwerts zu bemächtigen. Gleichzeitig ging auch Tamara zu Boden, griff aber noch in derselben Bewegung nach dem Maschinengewehr, das Dzo-Lin achtlos fallengelassen hatte.

Noch während Indiana auf dem Boden aufschlug, sah er, wie Moto mit beiden Händen das Schwert ergriff und sich herumwarf — und im gleichen Augenblick prallte Dzo-Lin von hinten gegen ihn.

Für eine Sekunde war es, als bliebe die Zeit stehen. Moto, Dzo-Lin und auch die verzauberte Klinge schienen reglos, wie von einer unsichtbaren Hand gehalten, direkt über dem Nichts zu schweben, und noch einmal glaubte Indiana dieses kalte, durch und durch böse Licht zu sehen, das die Klinge ausstrahlte.

Dann zerbrach der Bann. Motos Schrei steigerte sich in unvorstellbare Höhen. Er kippte nach hinten und zur Seite, ließ das Schwert los und versuchte verzweifelt, die Balkonbrüstung zu ergreifen. Seine Hände fanden Halt an dem Eis, aber im gleichen Sekundenbruchteil stürzte Dzo-Lin hinter ihm in die Tiefe, klammerte sich seinerseits an Moto fest — und dieser doppelte Ruck war zuviel. Das Eis zerbrach wie dünnes Glas, und Moto und General Dzo-Lin verschwanden lautlos in dem grauen Nebel, aus dem sich Shambalas eisige Wände erhoben.

Irgend etwas fiel klappernd neben Indiana Jones auf den Boden, und mit seinem letzten klaren Gedanken registrierte er noch, wie Tamara das schwere Maschinengewehr mit beiden Armen hochriß und den Abzug betätigte.

Dann wurde ihm endgültig schwarz vor Augen.

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