Auf den ersten Blick sah alles ganz harmlos aus — der verschwenderische Prunk des in festliches Licht getauchten Botschaftsgebäudes, die überschäumende, fast schon ein wenig aufgesetzt wirkende Fröhlichkeit der durcheinanderredenden, lachenden Menschen in ihren Abendkleidern und Fracks, das Glitzern von dicken Brillantkolliers auf ebenso dicken Frauenhälsen, das Klirren von Glas, dezente Musik, die im Raunen der Menschen fast unterzugehen schien, und die vornehme Eleganz prunkvoller Stilmöbel, die schön gewesen wären, hätte der Bewohner dieser Räumlichkeiten auch nur eine Spur von Geschmack besessen, hier aber ebenso protzig und fehl am Platz wirkten wie die kostbaren Antiquitäten. Dazu die livrierten Diener, die ihre überladenen Tabletts mit der Geschicklichkeit von Artisten durch die Menge jonglierten, ohne auch nur ein einziges Mal irgendwo anzustoßen oder gar ihre Last fallenzulassen …
Alles schien perfekt aufeinander abgestimmt, als wäre dieser Empfang gar kein wirklicher Empfang, dachte Indy, sondern eine Szene aus einem Hollywood-Film, in der ein übergenauer Regisseur des Guten ein wenig zuviel getan hatte. Diese Typen wirkten tatsächlich wie frisch aus dem Wachsfigurenkabinett entsprungen.
Indiana fragte sich, ob das Klischee der feinen Gesellschaft nun daher kam, daß diese Leute wirklich so waren — oder ob sie sich so benahmen, weil sie versuchten, möglichst genau dem Bild zu entsprechen, das man sich im allgemeinen von ihnen machte.
Nun ja — solche Überlegungen waren müßig und führten zu nichts; außer zu einer noch weiteren Verschlechterung seiner ohnehin angeschlagenen Laune. Und das war noch vorsichtig ausgedrückt …
Indiana angelte ein Champagnerglas vom Tablett eines vorbeihastenden Kellners und musterte die dichtgedrängte Menschenmenge, während er an seinem Glas nippte. Der Champagner schmeckte ein bißchen nach Rasierwasser, fand Indiana, versetzt mit einem Schuß Soda, damit es prickelte.
Einen Moment lang fragte er sich, ob all diese Typen hier eigentlich lebten, oder ob sie vielleicht tatsächlich nur Abziehbilder waren, auf magische Weise zu einer Art Pseudo-Leben erwacht. Da gab es kleine, dicke Männer mit halbmeterbreiten Schärpen, die trotzdem alle Mühe hatten, ihre Kugelbäuche zu bedecken, andere kleine fette Männer, die sich mit herausgeputzten Wasserstoffsuperoxyd-Schönheiten geziert hatten — hübsche Dinger, die Indiana vielleicht sogar gefallen hätten, hätten sie ein bißchen lebendiger ausgesehen. Dezent gekleidete Herren in maßgeschneiderten Cuts, die sich nach Kräften bemühten, durch ihre bloße Anwesenheit den Rest dieser Gesellschaft auszustechen …
Gott, wie er dieses Affentheater haßte.
Er fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut, aber das lag zu einem Gutteil daran, daß er anläßlich dieses Abends zumindest äußerlich in eine Haut geschlüpft war, die ihm noch nie gefallen hatte. Marcus hatte darauf bestanden, daß er einen Frack oder wenigstens einen schwarzen Zweireiher trug, und sie hatten sich nach einer gut zweistündigen Diskussion auf einen Kompromiß geeinigt, der die Form eines schlichten dunkelgrauen Anzuges und einer schlechtsitzenden Fliege hatte — mit dem Ergebnis, daß Indiana nicht nur diese Gesellschaft nicht gefiel, sondern er dieser Gesellschaft auch nicht. Die leicht pikierten Blicke waren ihm ebensowenig entgangen wie das Getuschel hinter vorgehaltenen Händen.
Aber das war nicht alles. Noch lange nicht.
Indiana hatte im Laufe seines manchmal etwas hektischen Lebens eine Art sechsten Sinn dafür entwickelt, wenn irgend etwas nicht so war, wie es scheinen wollte. Sein Unbehagen lag nicht allein an der steifen Garderobe oder der Tatsache, daß seine Kiefermuskulatur vom ständigen Zurückgrinsen allmählich wehzutun begann. Es lag auch nicht an den stämmigen — wenn auch freundlich dreinblickenden — Hünen, die auffallend unauffällig an den Türen standen und deren Jacketts sich in Achselhöhe verdächtig ausbeulten; dies war ein alltägliches Übel, wenn man in einer russischen Botschaft zu Gast war und in den Botschaften fast aller anderen Nationen auch. Paranoia gehörte heutzutage anscheinend zum guten Ton.
Allerdings mußte er zugeben, daß die Repräsentanten des einzigen wahren Arbeiter- und Bauernstaates dieser Welt ganz besondere Prachtexemplare der Gattung homo paranoikus waren. Die Erben des Zarenregimes mochten sich auf die Fahnen geschrieben haben, ihrem erwählten Volk das Paradies auf Erden zu bringen, aber in punkto Verfolgungswahn standen sie ihren Vorgängern wahrscheinlich in nichts nach.
Aber auch das war es nicht.
Etwas stimmte hier nicht.
Mit jeder Sekunde wurde er sich sicherer, daß ihn sein Gefühl nicht trog. Manchmal fing er eine Bewegung aus den Augenwinkeln auf, die ihm ein bißchen zu hektisch wirkte. Blicke, die rasch und verstohlen getauscht wurden, kleine, scheinbar unverfängliche Gesten … Und vor allem das Gefühl. Es lag wie eine unsichtbare elektrische Spannung in der Luft. Das Gefühl — nein, schon fast so etwas wie das sichere Wissen, daß etwas geschehen würde. Etwas, das auf einem normalen Empfang nicht geschah; nicht einmal in einer russischen Botschaft.
Indy schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Schluck aus dem langstieligen Champagnerglas. Hinter seiner Stirn klingelte eine kleine, schrille Alarmglocke, und er hatte noch nicht die geringste Ahnung, warum. Aber das Schrillen war eindeutig zu laut, um ignoriert zu werden. Indiana hatte ein Leben hinter sich, das abenteuerlicher war, als die meisten seiner Freunde auch nur ahnten. Und er hätte dieses Leben nicht lange überlebt, hätte er nicht frühzeitig gelernt, auf seinen sechsten Sinn für Gefahren zu hören.
Er stellte das Glas auf dem Tablett eines vorüberhuschenden Kellners ab und setzte sich in Bewegung. Er hatte vor, sich auf die Galerie zu begeben, um einen besseren Überblick über den Saal zu gewinnen. Doch schon am Fuße der breiten, mit einem Teppich aus rotem Samt bedeckten Treppenstufen scheiterte er an einer Gestalt, die ihn um zwei Kopflängen und eine Brustbreite übertraf und ein Gesicht hatte, das aussah, als hätte jemand vor nicht allzu langer Zeit versucht, es einer kosmetischen Operation zu unterziehen, dabei aber Skalpell und Schere mit Spitzhacke und Schaufel verwechselt. Vielleicht rasierte sich der Bursche auch mit Hammer und Meißel.
«Sehr traurig, aber nicht zutreten, bitte«, sagte der Hüne im Frack in gebrochenem Englisch und schenkte Indy ein Lächeln, das selbst einen Allan Quatermain in die Flucht geschlagen hätte. Indiana kannte die Art, auf die ihn diese Augen anblickten, nur zu gut. Kalt. Wach. Taxierend. Der Mann brauchte nur einen einzigen Blick, um sein Gegenüber abzuschätzen und in eine der beiden einzigen Kategorien einzuordnen, in denen sein erbsengroßes Gehirn zu denken imstande war: in mögliche Gegner und mögliche gefährliche Gegner.
Indiana Jones war nicht der Mann, der sich von Äußerlichkeiten wie schaufelgroßen Fäusten oder Muskelsträngen, die fast so dick waren wie seine eigenen Oberarme, einschüchtern ließ.
Er wollte gerade zu einer Entgegnung ansetzen, als er aus den Augenwinkeln heraus eine hinter ihm auftauchende Gestalt bemerkte. Gleichzeitig blitzte es in den Augen des Riesen auf; und es war ein Blick, den Indiana nur zu gut kannte! Er wirbelte herum und duckte sich leicht, auf einen Schlag oder einen anderen Angriff gefaßt.
Eine Zehntelsekunde später wäre er am liebsten in den Parkettboden versunken. Er spürte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich.
«Wenn ich Ihnen helfen kann, Doktor Jones — Sie sind doch Doktor Henry Jones Junior, richtig?«
«Oh, nennen Sie mich einfach Indiana«, stotterte Indy. Seine Art zu leben und vor allem seine diversen, nicht ungefährlichen Hobbys brachten es mit sich, daß er oft und reichlich Gelegenheit fand, in das berühmte Fettnäpfchen zu treten, manchmal mit beiden Füßen und so tief — wie Marcus einmal scherzhaft bemerkt hatte —, daß er gerade noch weit genug herausschaute, um Handzeichen zu geben. Gewöhnlich machte ihm das nichts aus. Situationen, bei denen andere vor lauter Peinlichkeit im Boden versunken wären, pflegte Indiana Jones mit einem Lächeln oder einer saloppen Bemerkung abzutun.
Normalerweise.
Irgendwie war diese Situation nicht normal.
Eine junge Frau stand vor ihm. Recht groß, ausgesprochen hübsch, mit langem, blonden! Haar, das sie allerdings hochgesteckt trug, was unpassend streng wirkte. Diesen Eindruck verstärkte noch die russische Uniform, mit der sie ihre aufregenden Körperformen verhüllt hatte. Ohne Zweifel, der hübscheste Soldat, der Indiana Jones je untergekommen war.
Sie sprach mit deutlich hörbarem, russischem Akzent, und wenn es überhaupt etwas an ihr gab, das noch aufregender war als ihr Engelsgesicht oder der Körper einer Venus von Moskau, dann war es ihre Stimme; tief, sinnlich und mit einem Unterton, der etwas in Indiana vibrieren ließ. Er hatte noch nie erlebt, daß ihn eine Frau so verwirrte wie diese Frau; einfach weil sie da war.
«Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle?«Sie deutete eine leichte, wenig feminine Verbeugung an, ließ Indy dabei aber keine Sekunde aus den Augen. Tief in ihrem Blick glaubte er ein Lächeln zu erkennen, das wärmer war als die berufsmäßige Freundlichkeit, die jeder hier zur Schau trug, und das nur ihm allein galt. Aber vielleicht redete er sich das nur ein. Bei einer Frau wie dieser hatte kein Mann eine Chance, der nicht mindestens das Aussehen eines Tyrone Power, den Intelligenzquotienten eines Albert Einstein und das Bankkonto eines Howard Hughes hatte. Dummerweise verfügte Indiana über keines dieser Attribute.
«Mein Name ist Tamara Jaglova, Kommissarin der Vereinigten Sowjet-Republiken. Ich habe Sie schon den ganzen Abend gesucht, Doktor Jones.«
Indy bemerkte sehr wohl, daß ihre gestelzte Sprache eindeutig nicht ihm, sondern dem grinsenden Muskelpaket vor der Treppe galt. So neigte auch er sich leicht vor, griff nach Tamaras Arm und hauchte einen perfekten Handkuß, der einen österreichischen K.u.K-Rittmeister vor Neid hätte erblassen lassen.
Die Gestalt, die dabei neben Tamara auftauchte, nahm er erst richtig zur Kenntnis, als er sich wieder aufrichtete.
Dabei war der Mann im Grunde nicht zu übersehen.
Er bot einen wahrhaft imposanten Anblick; und das nicht einmal wegen seiner Größe. Er war alles andere als ein Zwerg, überragte Indiana aber um kaum mehr als einen Zoll. Seine Schultern waren so breit, daß Indiana sich bequem dahinter hätte verstecken können, und über seinem Leib spannte sich eine blutrote Schärpe, die um zwei Nummern zu klein schien.
Aber nur sehr wenig von dem, was von innen gegen die Nähte seiner Jacke drückte und seine Schultern ausbeulte, war überflüssiges Fett. Er bewegte sich auf die nur plump scheinende Art eines wirklich starken Mannes. Seine Hände waren breit, mit kurzen Fingern und Schwielen, die verrieten, daß er nicht immer maßgeschneiderte Paradeuniformen getragen und sich auf gebohnertem Parkett bewegt hatte. Die Augen des Mannes waren eiskalt und schienen ihn mehr wie einen potentiellen Meuchelmörder denn wie einen Gast zu mustern. Trotzdem spürte Indiana keine Feindschaft. Vielleicht gehörte sein Gegenüber einfach zu jener Art von Menschen, die prinzipiell in jedem Menschen einen potentiellen Feind sahen.
«Sie werden den Botschafter kennen, Doktor Jones: Seine Exzellenz Graf Dimitri Sverlowsk.«
«Ich hatte bisher nicht das Vergnügen«, entgegnete Indiana, wobei er die Chancen abwog, dem Botschafter die Hand zum Gruß zu reichen, ohne Gefahr zu laufen, daß er sie ihm abriß. Er entschied sich dagegen.
Seine Exzellenz musterte ihn von oben bis unten, und was er sah, schien nicht unbedingt seine Gnade zu finden.»Ich hoffe, Sie amüsieren sich, Doktor Jones«, sagte er schließlich. Seine Stimme klang so hart, wie sein Gesicht aussah. Vielleicht gurgelte er jeden Morgen mit einem Glas Schwefelsäure, abgeschmeckt mit kleingebrochenen Rasierklingen.»Ich hörte schon von Ihren Erfolgen im Bereich der Archäologie. Mein Land ist sehr ergiebig, was Funde der Vergangenheit angeht.«
Er machte eine bedeutungsvolle Pause und fuhr dann eine Spur schärfer fort:»Man sagt, Sie wären so etwas wie der Spezialist auf der Welt, wenn es darum geht, verborgene Schätze zu finden?«
«Sagt man das?«Das Klingeln der Alarmglocke zwischen Indys Schläfen wurde zu einem schrillen Geheul. Sverlowsk stellte diese Frage nicht zufällig oder nur, um Konversation zu machen. Und er war kein besonders guter Schauspieler.
Sverlowsk nickte.»Ja. Böse Zungen behaupten sogar, Sie wären so eine Art moderner Grabräuber.«
Er lächelte ein Lächeln, bei dem es einer Kobra gegruselt hätte, und fuhr fort:»Aber das sind sicher nur die üblichen Verleumdungen, unter denen jeder zu leiden hat. Eine unschöne Begleiterscheinung, wenn man im Rampenlicht steht. Mit dem Erfolg kommen die Neider.«
Er angelte ein Glas vom Tablett eines vorübereilenden Kellners, leerte es in einem Zug und stellte es zurück, noch bevor der Lakai außer Reichweite gekommen war; und das alles, ohne Indiana auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen.
«Wie gesagt — auch meine Heimat ist reich an Schätzen aus unserer glorreichen Vergangenheit. Und manchmal bleiben diese Kunstschätze sogar in unseren Museen, Doktor Jones. Wo sie ohne Zweifel besser aufgehoben sind als im Westen, nicht wahr?«
Es kam so gut wie niemals vor, daß Indiana Jones verlegen wurde.»Ich stimme Ihnen zu, Herr Botschafter. Bei Gelegenheit würde ich mich freuen, das — Archäologische Museum- in Moskau zu besuchen. Wie ich hörte, wurde im letzten Monat ein neuer Flügel speziell für westliche Funde angebaut?«
Mit einer bedauernden Geste brach der Botschafter das eben erst begonnene Gespräch ab.
«Wenn Sie mich jetzt entschuldigen möchten — als Gastgeber warten einige Verpflichtungen auf mich. Doktor Jones …«
Sverlowsk drehte sich brüsk um und eilte gemessenen Schrittes davon. Aber Indiana entging keineswegs das leise, ärgerliche Zucken seiner Hände und die etwas zu wuchtigen Schritte.
Trotzdem wäre er nicht der Mann gewesen, der er war, hätte er sich nicht wenigstens äußerlich perfekt im Griff gehabt.
Schon nach wenigen Schritten riß er theatralisch die Arme hoch und steuerte auf einen dürren Mann zu, der soeben seinen Mantel ablegte und beim Anblick des Botschafters in höchste Verzückung zu geraten schien. Indiana hatte Mühe, nicht mit einem Seufzen die Augen zu verdrehen, und wandte sich wieder erfreulicheren Dingen zu, wie zum Beispiel dem Anblick von Tamara Jaglova. Er hatte erwartet, sie verärgert oder zumindest angespannt zu sehen. Immerhin hatte Indiana soeben nicht nur den Gastgeber dieses Abends, sondern auch ihren unmittelbaren Vorgesetzten beleidigt; und russische Offiziere waren dafür bekannt, Niederlagen auf dem Schlachtfeld durch ausgiebiges Herumtrampeln auf ihren Untergebenen wettzumachen. Aber in diesem Punkt unterschieden sie sich wahrscheinlich kaum von ihren Kollegen in allen anderen Armeen der Welt …
Tamara wirkte völlig gelöst, fast sogar ein wenig amüsiert.
Und auf ihren Lippen lag tatsächlich ein warmes Lächeln, das Indy mit dieser unerquicklichen Episode versöhnte, ihn aber auch gleichzeitig noch mehr verwirrte.
«Es tut mir leid«, sagte sie entschuldigend.»Der Botschafter ist ein Mann mit … nun, etwas verstaubten Ansichten. Archäologie ist für ihn ein Buch mit sieben Siegeln.«
«Warum spricht er dann darüber?«fragte Indiana.
Tamara lächelte noch fröhlicher.»Seit wann sprechen Politiker über Dinge, von denen sie etwas verstehen?«
«Beziehungsweise«, fügte Indiana hinzu,»wovon verstehen sie überhaupt etwas?«
Sie lachten beide, und Tamara warf Sverlowsk einen langen, kopfschüttelnden Blick nach, ehe sie mit einem angedeuteten Achselzucken fortfuhr.»Er ist sehr stolz auf unsere Vergangenheit.«
«Ich dachte, alles, was mit dem Zarenreich zusammenhängt, wäre prinzipiell schlecht«, sagte Indiana.
Das spöttische Glitzern in Tamaras Augen verstärkte sich.
«Natürlich«, antwortete sie gelassen.»Aber es waren ja auch nicht der Zarewitsch oder seine Familie, die all die großen Kunstwerke unserer Vergangenheit geschaffen haben. Es waren … wie sagt man bei Ihnen? Ach ja — kleine Leute. Ausgebeutete Arbeiter und unterdrückte Künstler. Ein Kunstwerk verliert nicht an Wert oder Qualität, nur weil ein Tyrann den Künstler dazu gepreßt hat, es zu erschaffen, nicht wahr?«
Indiana blinzelte. Er war nicht ganz sicher, ob er verstand, was Tamara meinte. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, daß sie mit ihm spielte. Aber wenn, dann war es ein Spiel, das ihm durchaus gefiel.
«Der Botschafter ist auf jeden Fall sehr stolz auf alles, was aus der Erde unseres großen Heimatlandes kommt«, fuhr Tamara fort.»Schätze, die den anderen Staaten mit stolzgeschwellter Brust vorgeführt werden wie …«
«— eine Truppenparade?«schlug Indiana vor. Die Worte rutschten ihm gegen seinen Willen heraus, aber Tamara schien kein bißchen beleidigt. Eine Sekunde lang blickte sie ihn irritiert an, dann lachte sie.
«Sie sind nicht dieser Meinung«, stellte Indiana fest.
«Aber nein. «Sie lachte wieder leise.»Ich fürchte, Sie haben durch diese … Staffage einen ganz falschen Eindruck von mir bekommen, Doktor Jones — «
«Indiana.«
«Indiana — gut. Dann für Sie aber auch Tamara. «Sie winkte einem der emsig herumeilenden Kellner und nahm zwei Gläser von dessen Tablett.»Trinken wir darauf.«
Sie stießen an. Indiana leerte sein Glas und versuchte dabei, nicht fortwährend Tamara anzustarren. Es kam selten vor, daß ihn eine Frau aus der Fassung brachte — aber Tamara war es gelungen. Er fragte sich, was mit ihm los war.
«Sie müssen wissen, daß wir Kollegen sind, Indiana«, fuhr Tamara fort, gerade als das Schweigen peinlich zu werden drohte.»In gewisser Weise jedenfalls. Ich habe Archäologie studiert. Aber da ich in offiziellem Auftrag hier bin …«Sie deutete auf ihre Uniform.»Ich kann Ihnen sagen, daß ich mich in dieser Kleidung nicht sehr wohl fühle«, raunte sie ihm zu.
Indiana schmunzelte.»Da geht es mir ähnlich.«
«Ihnen gefällt meine Uniform auch nicht?«fragte Tamara mit perfekt geschauspielerter Überraschung. Dann lächelte sie verschmitzt.»Ich hoffe, Sie verlangen jetzt nicht von mir, daß ich sie ausziehe, vor all diesen Leuten.«
Indiana starrte sie eine Sekunde lang perplex an, ehe er das spöttische Glitzern in ihren Augen bemerkte. Er empfand eine Mischung aus leichter Verärgerung und Zorn, als er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. Tamara hatte es tatsächlich fertiggebracht, ihn in Verlegenheit zu bringen. Und das kam nun wirklich selten vor. Er gab einen unechten Räusper von sich.»Sie machen mich neugierig, Tamara. Um was für einen Auftrag handelt es sich?«
Sie blickte sich kurz um und fixierte einen Punkt hinter Indys Rücken. Er drehte den Kopf und blickte geradewegs in das verheerend grinsende Gesicht des Muskelmannes am Fuße der Treppe. Der Kerl brachte es sogar fertig, drohend dreinzublik-ken, wenn er wirklich nett zu sein versuchte.
«Wechseln wir lieber die Räumlichkeiten«, wandte Tamara ein.»Die Sache ist zu bedeutend, als daß wir offen — «
Indiana nickte. Das hieß — er wollte es. Aber da war wieder dieses Gefühl drohender Gefahr, das ihn warnte. Irgend etwas geschah — jetzt!
«Kommen Sie, Tamara. «Er nahm sie bei der Schulter und drängte sie zum Ausgang, wobei er ihren verwirrten Blick ebenso ignorierte wie die instinktive Bewegung, mit der sie den Arm hob und seine Hand abzustreifen versuchte.»Fragen Sie nicht, vertrauen Sie mir einfach. Ich weiß selbst nicht genau, was — «
Weiter kam er nicht.
Vor dem Portal entstand Tumult. Jemand begann mit erhobener, befehlsgewohnter Stimme zu reden, um abrupt wieder zu verstummen. Dann tauchten Gestalten im Eingang auf. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet, und Indy glaubte Abzeichen auf den Westen zu erkennen, ohne sie identifizieren zu können.
Was er jedoch deutlich sah, das waren die Maschinenpistolen, die die Männer in den Händen hielten.
Indy reagierte blitzschnell. Zwei Schritte zur Linken war eine Tür. Er war mit einem Sprung dort, drückte die Klinke herunter. Unverschlossen — gut! Der Raum dahinter war dunkel.
Durch ein großes Panoramafenster konnte man in den Park hinausblicken, der sich an das Botschaftsgebäude anschloß.
Eine von Scheinwerfern beleuchtete steinerne Jagdgöttin erhob sich dort aus den Wasserkaskaden eines reichlich geschmacklosen Springbrunnens, dahinter bewegten sich Schatten, die alles oder nichts bedeuten konnten. Auch hier im Raum waren Schatten, aber Indiana identifizierte sie ganz instinktiv als ungefährlich. Alle seine Sinne liefen auf Hochtouren. Er dachte kaum noch, sondern reagierte rein intuitiv. Indy drängte Tamara in den Raum, schlüpfte selbst hinterher und schob die Tür hinter sich zu. Alles war so schnell gegangen, daß Tamara gar nicht richtig begriffen zu haben schien, was überhaupt geschah.
Sie riß sich von ihm los, machte aber nur einen halben Schritt, ehe sie wieder stehenblieb und sich verwirrt zu ihm herumdrehte.
«Indiana, was …?«
Indiana legte hastig den Finger auf die Lippen.»Still! Ich muß hören, was die Typen vorhaben. Öffnen Sie ein Fenster und halten Sie sich bereit. Möglich, daß wir schnell verschwinden müssen.«
«Aber — «
«Schhhht!«Indiana schob die Tür wieder einen Spalt auf und lugte hinaus.
In den wenigen Augenblicken, seit die Schwarzgekleideten den Saal betreten hatten, hatte sich die Abendgesellschaft in heilloses Chaos aufgelöst. Menschen schrien und rannten durcheinander, das Orchester hatte aufgehört zu spielen, und den Kellnern fielen nun doch die Gläser von ihren Tabletts. Alles lief in Panik durcheinander, mit Ausnahme einer dicken Frau, die offensichtlich so betrunken war, daß sie gar nicht mehr mitbekam, was geschah, denn sie bewegte sich schwankend am kalten Büffet entlang und versuchte, im hochgehaltenen Saum ihres Kleides von den Köstlichkeiten zu retten, was zu retten war. Der Anblick war so bizarr, daß Indiana eine geschlagene Sekunde darauf verschwendete, die Frau anzustarren, ehe er sich wieder auf den Grund des allgemeinen Chaos besann. Die Schwarzgekleideten hatten sich im Raum verteilt und schienen die Anwesenden zum Ausgang zu treiben, aber sie machten nicht von den Kalaschnikows Gebrauch. Noch nicht. Eine Gruppe von fünf, sechs Mann kam geradewegs auf die Tür zu.
Mit einem leisen Fluch drückte Indy sie ins Schloß und suchte vergeblich nach einem Schlüssel. Als er sich umwandte, stand Tamara noch immer hinter ihm, eine schwarze Ledermappe in den Händen.
«Doktor Jones!«begann sie, wurde aber sofort von Indiana unterbrochen.
«Still! Ich fürchte, sie kommen her! Wenn sie uns hören, ist es aus. «Er sah sich suchend im Raum um und deutete schließlich auf den schwarzen Schlagschatten neben der Tür.
«Dorthin!«sagte er gehetzt.»Schnell!«
Tamara rührte sich nicht.
«Verdammt!«sagte Indiana, einer Verzweiflung nahe.»Verstecken Sie sich, ehe sie hier sind!«
Tamara seufzte und blickte auf ihre Mappe, und Indiana sah ein, daß es wahrscheinlich schneller ging, wenn er ihr den Gefallen tat.»Was ist das?«fragte er resignierend.
«Meine Unterlagen. Das hier ist das Zimmer, in dem wir uns besprechen wollten. Ich — «
Ein lautes Poltern an der Tür unterbrach sie. Indiana fluchte, stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür und suchte nach festem Stand. Eine Sekunde später traf ein heftiger Schlag die Tür, sprengte sie auf und ließ Indiana haltlos zurücktaumeln.
Tamara griff rasch zu und fing seinen Sturz auf.
Indiana Jones wirbelte herum und verpaßte dem Schatten, der plötzlich hinter ihm stand, einen kräftigen Tritt an eine Stelle, an der auch Männer in Uniformen und mit Maschinenpistolen ganz besonders empfindlich sind. Der Mann krümmte sich, und Indiana packte die Tür und warf sie mit aller Kraft zu.
Sie krachte ins Gesicht des Burschen und flog vibrierend wieder auf, so daß Indiana sehen konnte, wie der Angreifer mit ausgebreiteten Armen gegen seine Begleiter prallte und sie mit sich zu Boden riß. Mit einem zweiten Tritt schloß Indy die Tür wieder, sprang zur Seite und riß Tamara mit sich; nur für den Fall, daß die Burschen dort draußen vielleicht doch noch auf den Gedanken kamen, ihre Kalaschnikows zu benutzen.
«Los, zum Fenster!«
«Nein!«Tamara löste sich energisch aus seinem Griff.»Verdammt, Indiana, hören Sie mir doch zu! Das sind — «
«Später!«keuchte Indiana und stieß sie weiter auf das Fenster zu.»Wir müssen raus hier!«
Tamara riß sich mit einem Ruck von ihm los, so daß Indiana ins Stolpern kam und um ein Haar schon wieder gestürzt wäre.»Aber das sind unsere Männer!«
Indiana blieb abrupt stehen.
«Das sind … was?«
Sie funkelte ihn an, während Indy mit einem hastigen Schritt sein Gleichgewicht wiederfand. Ihre Augen sprühten zornige Blitze.»Ich kenne die Abzeichen. Diese Männer sind Angehörige des Sowjetischen Geheimdienstes. Eine Spezialeinheit, die eigens zum Schutz hochrangiger Offiziere aufgestellt wurde. Ich weiß zwar nicht, was sie hier wollen, aber — «
Wieder wurde die Tür aufgerissen. Der Mann, der darin erschien, war derjenige, den Indiana niedergeschlagen hatte. Er war bleich und zitterte am ganzen Leib, und aus seiner Nase floß Blut. Indiana registrierte erleichtert, daß die MP lose an ihrem Lederriemen über seiner Schulter hing und seine Hände leer waren.
Aber seine Erleichterung hielt sich in Grenzen, als er sah, wie groß die geballten Fäuste des Russen waren. Indiana hob beschwichtigend die Hände.»Ganz ruhig, Towarisch. Ein Mißver- ump …«
Die Faust seines Gegenübers erstickte sowohl die zweite Hälfte des Wortes als auch Indianas letzte Hoffnung, bei seinem Gegenüber auf so etwas wie Verständnis oder gar Nachsicht zu stoßen.
Er taumelte zurück, riß die Hände schützend vor das Gesicht und erinnerte sich einen Sekundenbruchteil zu spät daran, daß der Rest seines Körpers nicht aus Beton bestand. Die Fäuste des Soldaten hämmerten in seinen Magen, seine Rippen und seine Herzgrube, so schnell, gezielt und hart, daß Indiana schon nach dem ersten Hieb begriff, daß er einem Mann gegenüberstand, der gelernt hatte, seine Fäuste einzusetzen.
Er wankte rückwärts, blockte mehr durch Glück als Können einen weiteren Hieb ab — allerdings nur, um sofort in das hochgerissene Knie des Russen zu laufen. Bunte Sterne explodierten vor seinen Augen. Mit einem fast komisch klingenden Schmerzlaut brach Indiana in die Knie, und noch bevor Kommissarin Jaglova eingreifen konnte, warf sich der Soldat auf ihn und kugelte mit ihm über den Teppich.
Indiana wehrte sich so gut er konnte, aber der Russe war ihm hoffnungslos überlegen, und Wut und Schmerz gaben ihm noch zusätzliche Kraft. Er hörte Tamara irgend etwas schrill und auf russisch rufen, aber sein Gegner schien seiner Muttersprache plötzlich nicht mehr mächtig zu sein, denn er schlug und drosch weiter auf Indiana ein, und er hätte wahrscheinlich noch lange nicht damit aufgehört, wäre da nicht plötzlich eine zweite, sehr viel schärfere Stimme gewesen, die etwas von der Tür her schrie.
Zwar verstand Indiana die russischen Worte nicht, aber sie waren ohnehin für den Angreifer bestimmt. Der Mann stieß Indy mit einem letzten Schnauben zurück und sprang wieder auf die Beine. Indiana wollte es ihm nachmachen, knickte aber sofort wieder ein. Er fiel nach vorn, prallte mit dem Gesicht auf einen dicken Teppich, der seinem Sturz sehr viel weniger von seiner Wucht nahm, als ihm recht war, und wälzte sich mühsam auf den Rücken.
Ein schlanker, sehniger Russe mit kurzgeschorenem Haar stand breitbeinig über ihm. Einen Moment lang blickte er mit fast wissenschaftlichem Interesse — und sehr wenig Mitleid — auf ihn herab, dann murmelte er ein einzelnes Wort in seiner Muttersprache, reichte Indy die Hand und zog ihn hoch. Sein Griff war so fest, daß Indianas Hand hörbar knirschte. Er verbiß sich den Schmerz und ließ sich von dem Russen auf die Beine helfen, während dieser einige rasche Worte mit Tamara wechselte.
Indiana wischte sich mit dem Handrücken über die aufgeplatzte Lippe. Er wußte, daß es zu ernsten diplomatischen Verwicklungen kommen konnte, wenn man ihm sein Handeln als Angriff auf sowjetische Armeeangehörige anlastete. Ganz gleich, warum er es getan hatte. Marcus würde toben, wenn er hörte, was hier geschehen war.
Aber sein Gegenüber schien nicht nachtragend zu sein. Dazu hatte er auch gar keine Zeit, wie Indiana an seinem leicht gehetzt wirkenden Blick erkannte.
«Doktor Jones?«richtete der Russe das Wort an ihn.»Keine Zeit für lange Erklärungen. Sie und Kommissarin Jaglova müssen das Gebäude schnellstens verlassen.«
«Was ist geschehen?«Tamara trat mit einem raschen Schritt zwischen Indiana und den Russen. Fast beiläufig registrierte Indiana, daß sie die Frage in englisch gestellt hatte, was in dieser Situation eigentlich ungewöhnlich war; zumal sie sich eine Sekunde zuvor noch mit dem Mann in ihrer Muttersprache unterhalten hatte.
Der Russe salutierte knapp.»Eine Bombendrohung, Genossin Kommissar«, erklärte er nun doch.»Wir erfuhren vor Minuten erst von einem geplanten Attentat auf Sie.«
«Ein Attentat?« Tamaras Augenbrauen rutschten ein Stück nach oben.»Genosse Sverlowsk hat keine Feinde hier, und — «
Sie stockte. Ein verblüffter Ausdruck breitete sich auf ihren Zügen aus.»Sagten Sie — auf mich! Aber das ist doch Unsinn!
Ich meine … wer sollte mir etwas tun wollen?«Sie lachte, aber es klang ein bißchen zu gekünstelt, um ihren Schrecken ganz zu verbergen.
«Vielleicht nicht Ihnen«, sagte Indiana. Tamara drehte sich mit einem Ruck zu ihm herum, und Indiana deutete mit einer Kopfbewegung auf die schmale Aktenmappe, die sie noch immer unter dem Arm trug, und fuhr fort:»Ich weiß zwar immer noch nicht, warum Sie mich zu diesem kleinen Tete-à-tete hierhergebracht haben, Tamara — aber könnte es etwas damit zu tun haben?«
Tamara wurde ein bißchen blaß, aber der junge Soldat nickte heftig.»Das könnte sein, Dr. Jones. Ein Grund mehr, daß Sie dieses Gebäude so schnell wie möglich verlassen. Wenn ein Anschlag auf Sie geplant ist, Genossin Jaglova, dann befindet sich diese Bombe mit hoher Wahrscheinlichkeit — «
«— genau hier«, führte Indiana den Satz zu Ende.»In diesem Raum.«
Tamara starrte ihn aus aufgerissenen Augen an, aber Indiana ließ sie nicht zu Wort kommen, sondern fuhr ohne Unterbrechung und in einem Ton, den der russische Soldat sofort verstand, fort.»Okay, Towarisch, hör zu: Schaff Tamara hier raus.
Und ich sorge dafür, daß die Leute von der Tür weggehen.«
«He!«protestierte Tamara, aber Indy ignorierte sie einfach.
«Schnell. Und möglichst unauffällig. Das letzte, was wir jetzt brauchen können, ist eine Panik.«
Der junge Soldat nickte knapp. Er hatte Indianas Worte nicht nur verstanden. Indy hatte auch einen Ton angeschlagen, den er kannte. Wenn es etwas gab, das russische Soldaten gelernt hatten, dann war es gehorchen. Und in Indianas Stimme war von einer Sekunde auf die andere eine ruhige, überlegte Autorität, die nicht nur ihn, sondern auch Tamara zu beeindrucken schien, denn sie sah ihn eine Sekunde lang verblüfft an. Aber wirklich nur eine Sekunde.
«Wenn ich vielleicht auch einmal etwas — «begann Tamara, um diesmal von ihrem eigenen Landsmann unterbrochen zu werden.
«Wir haben einen Bombenspezialisten in unserer Truppe, Dr. Jones. Ich werde ihn herschicken.«
«Tun Sie das«, sagte Indiana.»Aber schnell.«
Tamara setzte zum dritten Mal dazu an, etwas zu sagen, aber Indiana ergriff sie am Arm, öffnete mit der anderen Hand die Tür und schob Tamara und den jungen Soldaten einfach aus dem Zimmer. Er registrierte mit Sorge, daß die Evakuierung des Ballsaales noch keine sichtbaren Fortschritte gemacht hatte.
Noch immer hielten sich Hunderte von Menschen dort draußen auf. Verdammt, hätte er es nicht besser gewußt, dann hätte er geschworen, daß es mehr geworden waren statt weniger!
Er schloß die Tür und sah sich mit klopfendem Herzen um.
Der Raum war riesig, aber fast leer. Es gab einen wuchtigen Kamin aus Marmor und Eichenholz und einen gewaltigen Tisch mit gut drei Dutzend Stühlen, in der gegenüberliegenden Wand eine Reihe deckenhoher, eingebauter Regale voller kostbarer Bücher und einen kleinen Servierwagen voller Gläser und Flaschen gleich neben der Tür. Das war alles.
Indiana Jones war nicht sehr geübt darin, sich in die Denkweise von Attentätern hineinzuversetzen, aber er besaß einen gesunden Menschenverstand, und der sagte ihm, daß es nur eine einzige Stelle in diesem Raum gab, an dem man sinnvoll eine Bombe verstecken konnte: den Tisch.
Behutsam ging er in die Hocke, streckte sich dann ganz auf dem Boden aus und schob sich auf dem Rücken liegend unter das Möbel.
Er kam fast genau unter dem flachen, mit Klebeband befestigten Paket zu liegen, das unter der zolldicken Eichenplatte des Tisches angebracht war. Mit fliegender Hast löste er eines der Bänder, zwängte die Finger darunter und spannte die Muskeln, um es mit einem Ruck völlig abzureißen.
«An deiner Stelle würde ich das nicht tun«, sagte eine Stimme.
Indiana erstarrte mitten in der Bewegung, dann wandte er vorsichtig den Kopf. Tamara kniete neben dem Tisch und blickte stirnrunzelnd auf das Päckchen über seinem Gesicht.
«Was tust du hier?«fragte er erschrocken, wie sie ganz automatisch zum vertrauten ›Du‹ überwechselnd. In einer Situation, in der sie vielleicht gemeinsam zur Hölle fahren würden — oder wohin immer sich eine atheistische Russin in einem solchen Fall begab —, erschien ihm das nur angemessen.
«Wenn du noch ein bißchen fester an dem Klebestreifen ziehst, wirst du die Antwort auf diese Frage vermutlich nie mehr hören«, antwortete Tamara.
Indiana spürte, wie jedes bißchen Farbe aus seinem Gesicht wich. Langsam, Millimeter für Millimeter, zog er die Finger wieder zurück.»Bist du … sicher?«
«Nein«, antwortete Tamara.»Aber wenn ich diese Bombe gebaut hätte, dann hätte ich dafür gesorgt, daß niemand einfach so nachsehen kann, was wohl in diesem Paket ist. Rühr dich nicht vom Fleck.«
Sie ließ sich ebenfalls zu Boden sinken und glitt neben ihn.
Für ein paar Sekunden blickte sie das unscheinbare Päckchen nachdenklich an und zog dann eine Haarnadel hinter ihrem Nacken hervor. Verblüfft beobachtete Indiana, wie sie mit ihrer Hilfe das Klebeband weiter löste.
Ein kleines Zifferblatt wurde sichtbar. Der einzige Zeiger stand auf acht Uhr. Dann sah er eine dünne Schlaufe aus Kupferdraht, die mit einer ordinären Heftzwecke an der Unterseite des Tisches befestigt war.
Tamara nickte, und Indiana glaubte, fast so etwas wie grimmige Befriedigung auf ihrem Gesicht zu erkennen.»Siehst du?«fragte sie.
«Nein«, antwortete Indiana.»Was … meinst du?«
Tamara fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen, während sie mit der freien Hand auf den Kupferdraht und die Heftzwecke deutete.
«Eine unvorsichtige Bewegung, und BUMM!«
«Bist du … sicher?«fragte Indiana. Er hatte das Gefühl, daß das wahrscheinlich eine reichlich überflüssige Frage war, und Tamaras Blick sagte dasselbe. Ein Ausdruck leiser Verärgerung huschte über ihre Züge.»Nein«, sagte sie.»Es kann auch PENG! machen.«
«Wieso kennst du dich so gut damit aus?«fragte er stockend.
«Weil das Herstellen von Höllenmaschinen zur Grundausbildung sowjetischer Diplomaten gehört«, antwortete Tamara ärgerlich. Gleich darauf entschuldigte sie sich mit einem Lächeln für ihren Ton und setzte neu an:»Das war es ja, was ich dir die ganze Zeit über sagen wollte.
Ich war Sprengstoffspezialist in der Roten Armee, ehe ich zum Diplomatischen Corps versetzt wurde. Und jetzt halt den Mund und hilf mir. Drück mit dem Finger drauf. Aber nicht zu fest.«
Indiana tat, was sie von ihm verlangte. Sein Herz jagte. Und seine Finger zitterten heftiger, als ihm lieb war.
Aber auch Tamaras Ruhe war nur äußerlich, das spürte er. Ihr Atem ging schnell, und auf ihrer Stirn perlte kalter Schweiß.
Trotzdem bewegten sich ihre Finger mit der Sicherheit und Präzision eines Chirurgen, während sie den Sprengsatz von seinem Klebeband befreite und dann unendlich behutsam das Ende der Kupferschlaufe löste.
«Jetzt kommt der gefährlichste Moment«, sagte sie.»Halt ganz still.«
«Ich erstarre zur Salzsäule«, preßte Indiana hervor. Nach einer winzigen Pause fügte er hinzu:»Du hast doch Erfahrung mit dieser Art von Bomben? Ich meine, du hast so etwas schon einmal gemacht?«
«Nein«, antwortete Tamara.
Indy starrte sie an.»Aber du hast diese Dinger schon gesehen«, fügte er in einem Ton hinzu, der fast flehend klang.
«Nicht wahr?«
«Sicher«, antwortete Tamara.
Indiana atmete erleichtert auf, und Tamara schloß die Augen, atmete hörbar ein und sagte:»Vor ungefähr zwei Minuten das erste Mal. «Dann zog sie mit einem Ruck die beiden Drahtenden aus der Bombe.
Indiana hatte das Ende bereits vor Augen. Aber der grelle Blitz und das Krachen der Explosion, auf das er wartete, kamen nicht. Alles, was er hörte, war das leise, gleichmäßige Ticken des Zeitzünders.
«Sei vorsichtig damit«, sagte Tamara.»Sie ist immer noch scharf.«
«Ich denke, du hast — «
«— den Zünder entfernt, richtig«, fiel ihm Tamara ins Wort.
Ihre Stimme klang leise; gehetzt. Das Netz aus Schweißperlen auf ihrer Stirn war dichter geworden.»Aber nur den, der das Ding mit der Tischplatte verband. An den Hauptzünder komme ich nicht heran. Wer immer diese Bombe gebaut hat, versteht sein Handwerk.«
«Oh«, sagte Indiana.
«Sei froh«, sagte Tamara.»Wenn es nämlich ein Stümper war, dann explodiert das Ding möglicherweise zu früh. «Sie lächelte nervös, fuhr sich abermals mit der Zungenspitze über die Lippen und begann, das Päckchen mit spitzen Fingern vollends aus seinem Halt zu lösen.»Hilf mir«, sagte sie.»Und sei bloß vorsichtig. Nur keine Erschütterungen.«
Auf dem Rücken liegend schoben sie sich Millimeter für Millimeter unter dem Tisch hervor, das Bombenpaket an ausgestreckten Armen und mit allen vier Händen zugleich haltend.
Indianas Puls raste, und für einen Moment bildete er sich fast ein, daß allein das dumpfe Hämmern seines Herzens ausreichen mußte, die Bombe zur Explosion zu bringen.
Was natürlich nicht geschah. Nach einer Ewigkeit richteten sie sich — im Zeitlupentempo und halb gegeneinander gestützt — neben dem Tisch auf. Indiana legte das Paket vollends in Tamaras Hände und atmete erleichtert aus.
«Das wäre geschafft«, sagte er.
Tamara schüttelte den Kopf. Sie wirkte kein bißchen erleichtert.»Leider noch nicht«, sagte sie gepreßt. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf das Päckchen in ihren Händen.»Das Ding hat noch einen Zeitzünder.«
«Worauf steht er?«
«Acht Uhr«, antwortete Tamara.
«Und wie spät ist es jetzt?«
Tamara antwortete nicht — ganz einfach, weil in diesem Moment die große Standuhr draußen in der Halle damit begann, die achte Stunde zu schlagen …
Tamara erbleichte, und Indiana fuhr auf der Stelle herum, riß ihr das Päckchen aus der Hand und wirbelte zu dem großen Panoramafenster herum.
Er machte sich nicht die Mühe, es zu öffnen, sondern holte mit aller Kraft aus, schleuderte das Päckchen von sich und nutzte den restlichen Schwung seiner Bewegung, sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Tamara zu werfen und sie mit sich zu Boden zu reißen. Mit einem ohrenbetäubenden Klirren flog der Sprengsatz durch das zerberstende Fenster.
Aber das Glas wäre ohnehin nicht heil geblieben.
Eine gewaltige Explosion ließ das Gebäude in seinen Grundfesten erbeben. Ein Blitz tauchte den Raum in taghelles Licht.
Glassplitter, vermischt mit Kies und Erde, regneten nieder oder bohrten sich wie tödliche Geschosse in Wände, Decke und Boden. Indiana preßte sich schützend gegen Tamara und öffnete den Mund, um die Druckwelle auszugleichen. Etwas zerschlitzte seinen Anzug und hinterließ eine brennende Schmerzlinie auf seinem Rücken, und draußen im Saal verwandelte sich das aufgeregte Murmeln der Menge in einen Chor gellender Schreie.
Dann war es vorbei.
Der Regen aus Glassplittern und Trümmern hörte auf, und für einen winzigen Moment schien eine vollkommene Stille über dem Gebäude zu lasten.
«Ich glaube, das war es, Dr. Jones«, sagte Tamara. In ihrer Stimme ein halb verärgerter, halb spöttischer Unterton.»Sie können jetzt von mir heruntersteigen, Dr. Jones.«
Hastig richtete sich Indiana auf, lächelte verlegen und sah leicht benommen durch die zerborstene Tür in den angrenzenden Saal.
Auch dort herrschte ein heilloses Durcheinander. Wer nicht von der Druckwelle oder der Erschütterung von den Füßen gerissen worden war, irrte kopflos umher und tat sein Bestes, um das Tohuwabohu noch zu verstärken.
Schließlich drängte sich eine Abteilung russischer Soldaten herein, angeführt von der imposanten Erscheinung des Botschafters.
Indiana klopfte Glas und Dreck von seiner lädierten Jacke.
Ein Blick nach draußen zeigte ihm, daß vom Park nicht viel übriggeblieben war. Wo sich der Diana-Brunnen befunden hatte, gähnte jetzt ein gut drei Yards tiefes Loch, aus dem sich Rauch emporkräuselte. Es roch durchdringend nach Schwarzpulver.
Ein paar kleinere Büsche hatten Feuer gefangen.
Aus den Augenwinkeln heraus registrierte Indiana die fassungslose Miene des Botschafters, als dessen Blick dem seinen folgte.
«Nun, Exzellenz«, meinte Indiana und rückte seine Fliege gerade.»Sie sind hoffentlich meiner Meinung, daß dieser Brunnen nicht der Inbegriff sowjetischer Kunst war, oder? Seien Sie dankbar, daß ich ihn entfernt habe.«
Sverlowsk starrte ihn aus hervorquellenden Augen an und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, und Tamara hatte es plötzlich sehr eilig, Indiana beim Arm zu ergreifen und mit schon etwas mehr als sanfter Gewalt aus dem verwüsteten Raum zu zerren …
«Meine Mission«, sagte Tamara Jaglova zögernd,»ist … nun, sagen wir, etwas heikel.«
«Aha. «Indiana Jones lehnte sich in den mit rotem Samt bezogenen Sessel zurück und streckte die Beine aus. Sein Rücken hatte die Explosion nicht ohne Blessuren überstanden, und eigentlich hätte Indy sich jetzt mehr nach einem heißen Bad als nach einer Unterredung gesehnt. Andererseits platzte er vor Neugierde aus allen Nähten. So naiv, im Ernst anzunehmen, daß das Bombenattentat und der Inhalt von Tamaras Aktenmappe nichts miteinander zu tun hatten, konnte man gar nicht sein.
Sie hatten sich in den zweiten Stock des Botschaftsgebäudes zurückgezogen, während unten die letzten Gäste des so abrupt beendeten Empfangs verabschiedet und die Trümmer beiseite geräumt wurden. Bis vor zehn Minuten hatte die Straße vor dem Botschaftsgebäude noch von Polizei- und Feuerwehrwagen gewimmelt, aber Sverlowsk hatte auf seine diplomatische Immunität gepocht und sie weggeschickt. Etwas schwieriger war es dann gewesen, die in Scharen gekommenen Reporter loszuwerden. Aber das hatten Sverlowsks» Spezialtruppen «erledigt. Etwas weniger diplomatisch als der Botschafter, aber dafür mit sehr viel mehr Nachdruck.
Hier, in der rustikalen, anheimelnden Umgebung der Bibliothek waren sie ungestört und konnten endlich über Dinge reden, die erfreulicher waren als Bomben, Attentäter und explodierende Brunnen.
Obwohl sich Indiana nicht ganz sicher war, ob es tatsächlich erfreulichere Dinge waren. Dafür zögerte Tamara schon zu lange, endlich zum Thema zu kommen. Sie stand am Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Ihr Gesicht spiegelte sich geisterhaft im Glas, und Indy konnte deutlich erkennen, wieviel Ernst in ihrer Miene lag.
«Sie haben vorhin ganz richtig vermutet«, begann sie schließlich,»daß der heutige Anschlag unmittelbar mit dem Grund zusammenhängt, aus dem ich Sie sprechen wollte.«
«Sie?«fragte Indiana.»Vorhin waren wir schon bei ›du‹ angekommen.«
Tamara ignorierte seinen Einwurf. Sie drehte sich auch nicht um, sondern fuhr mit aus dem Fenster gewandten Blick und leiser Stimme fort.»Wir wissen genau, aus welcher Gruppe die Attentäter stammen. Genauso wie wir wissen, daß dies nicht der letzte Anschlag gegen mich und meine Mission war.«
«Wir?«Indiana bog den Rücken durch und verzog das Gesicht. Manchmal war es ein ziemlich schmerzhaftes Privileg, ein Held zu sein.»Wer ist wir?«
Tamara wandte sich zu ihm um.»Eine Kommission, die sich nur zu dem einen Zweck zusammengeschlossen hat, ein ganz spezielles …«Sie zögerte einen winzigen Moment.»… Problem zu lösen. Und zwar unter direktem Kommando des Obersten Sowjet.«
«Welches spezielle Problem?«
Sie blickte einen Moment unentschlossen zu Boden, dann ging sie zu einem der Sessel und setzte sich.»Besagte Kommission besteht aus namhaften Wissenschaftlern der Sowjetunion und der Äußeren Mongolei. — Ich … Ich dürfte Ihnen das eigentlich nicht anvertrauen, bevor Sie nicht eingewilligt haben, sich an dem Unternehmen zu beteiligen, Indiana. Aber ich glaube, Sie gut zu kennen. Sie werden teilnehmen.«
Indiana sah sie aufmerksam an und wartete vergeblich darauf, daß sie von sich aus weitersprach. Sie sah ihn lediglich erwartungsvoll an. Erwartete sie etwa, daß er ›ja‹ sagte, ohne zu wissen, wozu?
«Also? Nun lassen Sie schon die Katze aus dem Sack. Worum geht es?«
Wieder zögerte Tamara. Indiana sah ihr an, wie schwer es ihr fiel, weiterzureden. Als sie es schließlich tat, wich sie seinem Blick aus, und ihre Stimme war kaum mehr als ein tonloses Flüstern.
«Um das Schwert des Dschingis Khan.«
Indianas Kinnlade klappte herunter, für einen Professor der Archäologie bot er kein unbedingt intelligentes Bild in diesem Augenblick. Aber nachdem Tamara so lange um den heißen Brei herumgeredet hatte, traf ihn die plötzliche Eröffnung mit doppelter Wucht.»Das … Schwert des Dschingis Khan?«vergewisserte er sich.
Tamara nickte.»Sie kennen natürlich die alten Legenden. «Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.»Ich meine … Sie wissen, was man sich über dieses Schwert erzählt? Seine Geschichte und das, was es angeblich bedeutet?«
«Natürlich«, entgegnete er, noch immer fassungslos und halb flüsternd, mehr zu sich selbst als an Tamara gewandt. Es fiel ihm noch immer schwer zu glauben, was er hörte. Dschingis Khans Schwert? Das war … lächerlich! Eine Legende in der Preisklasse eines Excalibur oder Barbarossas Grab. Oder der Bundeslade, flüsterte eine leise Stimme hinter seiner Stirn. Und außerdem erwachte auch schon wieder der Wissenschaftler in ihm. In seinem Kopf spulte sich bereits das gesamte Wissen über das legendäre Schwert ab, das er sich im Laufe der Zeit angeeignet hatte.»Es soll im Grab des Khan liegen, irgendwo in der Mongolei. Niemand weiß, wo genau. Aber jeder Mongole kennt die Sage, so wie jeder Brite die Excaliburs.«
«Sie sind sich sehr ähnlich«, sagte Tamara.
«Ja«, antwortete Indiana.»Vielleicht gehen sie auf denselben Ursprung zurück oder enthalten den gleichen, wahren Kern, wer weiß? Es heißt, wenn das Grab jemals entdeckt und das Schwert geborgen wird, wird das Mongolenreich zu seiner alten Macht und Größe wiederauferstehen. Derjenige, der das Schwert erhebt, wird unbesiegbar sein und das mongolische Weltreich neu begründen.«
«Wie einst der Khan. «Tamara Jaglova nickte, und Indiana stellte mit einem leisen Gefühl von Beunruhigung fest, daß sie dabei sehr ernst blieb.»Und Sie können sich vorstellen, daß jeder Mongole hinter dem Eroberer stehen und mit ganzer Kraft kämpfen wird.«
«Ein Massaker. «Indiana stand auf und ging zum Fenster.»Eine Armee würde sich erheben, gegen die Hitlers Truppen wie Zinnsoldaten wirken. Wenn das Schwert wirklich gefunden würde, dann — «
«Es wurde gefunden.«
Indiana fuhr wie von der berühmten Tarantel gestochen herum.»Was?«
«Jedenfalls wird das behauptet. «Tamara zuckte die Schultern. Sie sah irgendwie … unglücklich aus, fand Indiana. Nicht wie jemand, der nur über eine Legende sprach.»Deswegen bin ich hier. Vor zwei Monaten schnappten unsere Agenten das Gerücht auf, jemand hätte das Grab gefunden. Ganze Dörfer haben sich bereits auf den Weg gemacht, um sich dem KhanNachfolger anzuschließen. Sollte sich das Gerücht bewahrheiten …«
Sie ließ den Satz unvollendet, aber Indiana Jones spürte dennoch, wie ihn ein kalter Schauer überlief. Er versuchte, die Vorstellung mit einem Achselzucken abzutun, aber es gelang ihm nicht.
«Und nun soll die Kommission prüfen, ob es stimmt«, folgerte er.
«Richtig. «Tamara griff nach ihrer Aktentasche.»Hier drin habe ich alle Informationen, die wir bislang bekommen konnten. Ich schlage vor, Sie sichten erst einmal diese Unterlagen, bevor — «
«Einen Moment«, unterbrach Indiana sie.»Ich habe noch nicht ›ja‹ gesagt.«
Tamara erstarrte mitten in der Bewegung. Sie wirkte irritiert.
«Aber ich dachte …«
Indiana unterbrach sie erneut.»Ich habe auch nicht ›nein‹ gesagt«, verbesserte er sich.»Verstehen Sie mich nicht falsch, Tamara. Aber es ist nur eine Legende. Eben wie die von König Artus. Wie würden Sie reagieren, wenn ich zu Ihnen käme und Sie bäte, mir bei der Suche nach Excalibur behilflich zu sein?«
«Ich würde Ihnen zumindest zuhören«, antwortete Tamara.»Vielleicht haben Sie recht, und es ist nur eine Legende. Aber bedenken Sie bitte, was gerade hier passiert ist. Daß niemand schwer verletzt oder getötet wurde, ist ein reines Wunder. «Sie schüttelte traurig den Kopf.»Es spielt keine Rolle, ob diese Menschen einer Legende folgen oder dem wirklichen Schwert. Sie folgen ihm, das allein zählt. Es wird Tote geben, Indiana. Es hat schon Tote gegeben, und es wird noch sehr viel mehr geben.«
«Fürchtet sich das russische Reich vor ein paar Hunnen?«fragte Indiana in dem vergeblichen Versuch, den ernsten Ton aufzulockern, der sich in ihr Gespräch eingeschlichen hatte. Er merkte selbst, wie unpassend es war.
«Es sind nicht nur ein paar Hunnen«, antwortete Tamara.»Ich rede von Dschingis Khans Horden, Indiana. Ich rede von den Reitern, die halb Europa und fast ganz Asien erobert haben. Wir fürchten sie nicht. Zauberschwert oder nicht, gegen Panzer und MGs hätten sie kaum eine Chance. Aber der Gedanke, daß wir gezwungen sein könnten, Tausende von Menschen zu töten, wenn nicht Zehn- oder gar Hunderttausende, macht mich krank. Überlegen Sie nur einmal, daß die Ureinwohner Ihres Landes das Kriegsbeil ausgraben und den weißen Mann angreifen würden. Auch Sie hätten wohl keine Angst vor ihnen, nehme ich an.«
Das saß.»Entschuldigung«, sagte Indiana.»Das war dumm von mir. Aber bitte, verstehen Sie mich richtig, Tamara. Ein Volksaufstand in der Mongolei ist allein das Problem der Sowjetregierung. Ich kann mich da nicht einmischen. Selbst wenn ich es wollte. Ich bin amerikanischer Staats-«
Ein leises Klopfen unterbrach Indiana. Mit verhaltenem Ärger schloß Tamara die Tasche und blickte zur Tür.»Ja, bitte?«
Die mit braunem Schweinsleder verkleidete Tür öffnete sich, und ein livrierter Bediensteter der Botschaft schob sich in den Raum.»Bitte entschuldigen Sie die Störung, Genossin Kommissar«, wisperte er und schaffte es gerade noch, vor Ehrfurcht nicht in den Teppich einzusickern,»aber Professor Jones wird dringend in der Halle verlangt.«
Indy drehte sich erstaunt herum.
«Von wem?«
Der Hausdiener zog umständlich eine Visitenkarte aus seinem Jackett und studierte sie eingehend.»Ein Professor Marcus Brody«, verkündete er dann und warf einen scheuen Blick auf Tamara Jaglova.»Soll ich ihn heraufbitten?«
Bevor sie antworten konnte, war Indiana bei ihr und berührte sie an der Schulter.»Verzeihen Sie, Tamara, aber ich würde gern unter vier Augen mit ihm sprechen. Natürlich wahre ich absolute Diskretion«, fügte er hinzu, als er sah, daß sie zu einer Entgegnung ansetzen wollte. Wenn Marcus sich persönlich hierher bemühte, mußte die Angelegenheit hochoffiziell sein.
Indy hatte seinen Freund und Kollegen eigentlich in der Oper vermutet; eine kulturelle Vorliebe, der Marcus bei jeder Gelegenheit frönte.
Tamara sah ihn einen Moment mit forschender Miene an, aber dann nickte sie.
«Gut, ich werde hier warten. Bitte, Indiana — kein Wort über unser Gespräch.«
Indiana Jones folgte dem Livrierten über die breite Prachttreppe ins Erdgeschoß. Während er mit Tamara oben im Zimmer gewesen war, hatten Sverlowsks Leute ein kleines Wunder bewirkt und sämtliche Spuren der Explosion und der anschließenden Panik aus der Halle getilgt. Fast hätte er geschmunzelt, als er Marcus Brody in der nunmehr vollkommen leeren, mit weißen Marmorfliesen ausgelegten Halle sah. In seinem Frack sah Marcus aus wie ein Pinguin, der sich auf einer riesigen Eisscholle verirrt hatte.
Ein reichlich nervöser Pinguin, der fortwährend die Hände rang und sich nach allen Seiten umsah. Als er Indiana erblickte, erhellte sich sein Gesichtsausdruck — und seine Nervosität wuchs schlagartig um mehrere Grade. Er eilte ihm entgegen.
«Gott sei Dank, Indy«, sagte Marcus Brody atemlos.»Ich dachte schon, dir wäre etwas passiert. «Er deutete auf den Flügel des Raumes, der durch die Explosion deutlich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Glassplitter waren zwar entfernt worden, aber die Fensterrahmen waren geschwärzt, und Wände und Fußboden sahen aus wie nach einem Tieffliegerangriff. Erneut kam es Indiana wie ein Wunder vor, daß durch die Explosion niemand ernsthaft verletzt worden war.
Indiana setzte zu einer Erwiderung an, doch Marcus Brody fuhr fort, ohne auch nur Luft zu holen.»Indy, etwas Unglaubliches ist geschehen. Ich muß dich sofort sprechen.«
Er wandte sich an den Diener, der in respektvollem Abstand stehengeblieben war.»Wo können wir — äh, Sie sprechen doch englisch? Oh, gut. Gibt es einen Raum, wo Doktor Jones und ich ein Gespräch unter vier Augen führen können?«
Minuten später standen sie in einem prunkvollen Zimmer, das in einem Haus normaler Größe mindestens einen mittleren Ballsaal abgegeben hätte. Nur an den exquisiten Möbeln und den dicken Teppichen war zu erkennen, daß es ein ansonsten bewohnter Raum war. Auch hier herrschte der zaristische Prunk vor, mit dem die Botschaft vom Keller bis zum Dachfirst protzte; unbeschadet von allem, was seine Bewohner sagten.
Brodys Nervosität war in den letzten Minuten noch weiter angewachsen, und kaum hatte sich die Tür hinter dem Diener geschlossen, als er auch schon lossprudelte:»Es ist unglaublich, Indy, einfach unglaublich. Man hat mich mitten aus Mozarts ›Zauberflöte‹ geholt und geradewegs ins Weiße Haus entführt. Ins Weiße Haus, Indy! Wenn du ahnen würdest, wer mich dort empfangen hat — «
«Der Präsident, nehme ich an«, sagte Indiana trocken.
«Du weißt …?«
«Marcus, es steht dir mit leuchtenden Lettern auf der Stirn geschrieben«, sagte Indiana ruhig.»Jetzt spann mich nicht länger auf die Folter. Was wollte Frankie von dir?«
«Mister Franklin D. Roosevelt«, betonte Marcus ärgerlich,»wünschte mich in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen, die vor allem dich betrifft. Es geht um deine Einladung zu diesem Empfang. Das State Department hat erfahren, daß du für eine Expedition angeworben werden sollst, für eine absolut unglaubliche Sache. Du wirst nicht glauben, was die Russen gefunden zu haben behaupten. Ich kann es selbst nicht fassen. Indy, du wirst nie erraten — «
«Das Schwert des Dschingis Khan«, sagte Indiana im Plauderton.»Und ehe du deinen Blutdruck unnötig weiter in die Höhe treibst, Marcus — ich habe mich bereits entschieden.«
Brody stand einen Moment wie erstarrt, dann griff er sich mit der Rechten ins schüttere Haar.»O nein, Indy. Ich habe es geahnt. «Er drehte sich abrupt um und begann im Raum auf-und abzuschreiten.»Ich wußte, daß sie dich herumkriegen würden. Und das Schlimmste ist: Ich verstehe dich sogar. Das Schwert des Dschingis Khan! Ich würde alles dafür geben, es auch nur sehen zu können. «Brody seufzte.»Aber das State Department hat strikte Order gegeben, dich davon abzuhalten. Du weißt, was die Legende den Mongolen bedeutet. Angenommen, es ist wirklich das Schwert des Khan, dann kommt es garantiert zu einer Krise, wie sie die Sowjetunion seit ihrem Bestehen nicht erlebt hat. Das gesamte mongolische Volk wird sich erheben. Dagegen nehmen sich Hitlers Truppen wie … wie Zinnsoldaten aus.«
«Ich weiß. Dasselbe habe ich vorhin zu Tamara Jaglova gesagt. «Er lächelte flüchtig.»Sogar mit denselben Worten.«
«Tamara Jaglova?«
«Die Kommissarin, die die Expedition leiten soll.«
«Natürlich! Ich hätte es wissen müssen! Sie haben dir eine Frau geschickt! Diese Russen sind raffinierter, als man denkt. Indy, du kannst da nicht mitmachen! Es wird zu einem Aufstand kommen, aus dem die Vereinigten Staaten sich heraushalten müssen. Die Sache ist eine rein russische Angelegenheit. Du weißt, wie empfindlich sie sind, wenn sie glauben, daß sich jemand in ihre Angelegenheiten mischt! Es kann zu … zu unabsehbaren diplomatischen Verwicklungen kommen!«
«Du weißt genau, daß ich diese Sache nicht unter politischen Aspekten sehen kann«, erwiderte Indiana ernst.»Das Schwert des Dschingis Khan, Marcus! Du hast gesagt, du würdest alles geben, es auch nur zu sehen. Und ich habe die Chance, es zu finden. Archäologie, Marcus, ist international. Du kennst meine Auffassung doch am besten.«
«Natürlich kenne ich sie. «Marcus zuckte resignierend mit den Schultern. Er hatte eingesehen, daß jedes weitere Wort sinnlos war.»Ich hatte ehrlich gesagt auch nicht die Hoffnung, es dir ausreden zu können. Aber was soll ich dem State Department sagen?«
«Sag ihnen, ich wäre spurlos verschwunden. Gib mir Rük-kendeckung, Marcus. Nur für ein, zwei Tage. Bis dahin sitze ich in einem Flugzeug und bin längst auf dem Weg in die Mongolei.«
Marcus seufzte.»Denk wenigstens an die möglichen politischen Folgen«, sagte er.»Ich weiß ja, daß du dich nicht die Bohne für Politik interessierst, aber — «
«Ich denke praktisch ununterbrochen an nichts anderes«, unterbrach ihn Indiana ebenso sanft wie entschlossen. Er machte eine Handbewegung zur Decke hinauf.»Die Russen wollen, daß ich mich einmische, verstehst du? Du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß Tamara die Sache auf eigene Faust eingefädelt hat? Sie ist in hochoffiziellem Auftrag hier, darauf verwette ich meinen Hut.«
«Aber … wieso?«fragte Marcus verstört.
Indiana zuckte mit den Achseln.»Was weiß ich. Vielleicht halten sie mich für das kleinere Übel.«
«Ja — oder sie lassen dich die Drecksarbeit machen und bezahlen dich mit fünfzig Gramm bestem russischen Blei, Kaliber 7.65«, knurrte Marcus.
«Es wäre nicht das erste Mal, daß jemand das versucht«, sagte Indiana wegwerfend.
«Aber vielleicht das erste Mal, daß es jemandem gelingt«, knurrte Marcus.
Indiana grinste nur.
Marcus seufzte. Er schüttelte den Kopf, straffte sich und atmete tief durch. Dann streckte er Indiana Jones die Hand hin.
Indy schlug ein.»Dann viel Erfolg, Indy. Obwohl ich mir vielleicht wünschen sollte, daß du nichts findest. «Er zögerte einen winzigen Moment.»Du weißt, was passieren kann, wenn es dieses Schwert wirklich gibt? Und jemand es gefunden hat?«
«Sicher«, sagte Indiana ruhig.
Marcus seufzte.»Viel Glück, Indiana.«
«Danke, Marcus. «Indiana sah auf seine Armbanduhr.»Ich würde sagen, in zehn Minuten sind Miss Jaglova und ich von hier verschwunden. Wie lange brauchst du zurück zum Weißen Haus?«
Marcus dachte einen Moment nach. Dann grinste er.»Ich würde sagen, zehn Minuten.«
Im Schein der wenigen Straßenlaternen lag das ehrwürdige, aus rotem Stein erbaute Gebäude ruhig da. Fast schon zu ruhig für Indiana Jones’ Geschmack. Niemand war ihnen bis hierher, zum» Washington Museum«, gefolgt, wo er in den letzten zwei Wochen die Ausstellung asiatischer Grabfunde geleitet hatte.
Sie hatten zur Sicherheit das Taxi drei Straßen entfernt halten lassen und den Rest der Strecke zu Fuß zurückgelegt.
«Alles still«, bemerkte nun auch Tamara und drückte sich neben Indiana Jones in den Schatten des Hauseinganges, von dem aus sie das Museum beobachteten. Sie trug noch immer die Uniformhose und die hohen, glänzenden Lederstiefel, nur die zu auffällige Jacke mit den Tressen hatte sie auf Indianas Rat über den Arm gelegt. In dem weißen, knappsitzenden Hemd sah sie einfach hinreißend aus, wie Indy nicht zum ersten Mal feststellte.
Aber wahrscheinlich hätte Tamara Jaglova selbst in einem Kartoffelsack hinreißend ausgesehen.
«Ja«, bestätigte er mit einiger Verzögerung.»Alles ruhig. Die Wache kommt nur jede halbe Stunde. Wir haben also gut«— er blickte kurz auf die Uhr —»zwanzig Minuten Zeit.«
«Wofür?«fragte Tamara.»Was mußt du denn jetzt noch unbedingt aus deinem Zimmer holen? Wir hätten längst schon — «
«Es ist wichtig für mich. Keine Diskussionen jetzt. Komm!«
Während sie zum Museum hinüberhuschten, sah Indiana rasch die Straße hinauf. Kein Passant, nicht einmal ein Automobil. Verdammt. Die Vergangenheit hatte ihm mehr als einmal gezeigt, daß gerade dann tausend Augen auf ihm ruhten, wenn keine Menschenseele zu sehen war. Aber anscheinend gehörte Paranoia zu einem Abenteurer wie die Ameise zum Picknick.
Sie erreichten das gewaltige Portal des Museums in dem Moment, als zweihundert Meter die Straße hinab nun doch Motorengeräusch zu hören war. Sekunden später geisterte das Licht zweier Scheinwerfer über die Häuser, gefolgt von einem Lastwagen, der um die Ecke bog.
Indiana Jones duckte sich tiefer in die Schatten und zog Tamara zu sich heran. Der Wagen kam näher — und hielt. Das Getriebe kreischte gequält auf, dann wummerte der Motor im Leerlauf weiter.
«Was ist los?«fragte Tamara gepreßt.»Haben sie uns bemerkt?«
«Unmöglich. Ich — «
Indiana begriff in dem Moment, als sich das hohe, schmiedeeiserne Gitter neben dem Museumsgebäude öffnete und ein Mann in der Kluft der Museumsarbeiter auf die Straße trat. Sie konnten hören, wie ein Seitenfenster des Wagens heruntergekurbelt wurde.
«Na endlich«, begrüßte der Arbeiter den Fahrer und nahm eine flache Kladde entgegen. Er zückte einen Stift und kritzelte etwas auf den Bogen Papier, der darauf festgeklemmt war.»Du kommst spät«, fuhr er fort.»Die letzte Lieferung muß heute noch zum Hafen. Wir sind längst fertig mit dem Verpacken; du kannst sofort einladen.«
Der Mann im Wagen lehnte sich halb heraus und erhielt die Kladde zurück.
«Tut mir leid, wenn ihr warten mußtet«, sagte er.»Aber mir ist der Keilriemen gerissen. Das Ding ist nicht viel jünger als der Kram, den wir transportieren.«
Er lachte über seinen Witz und kurbelte das Fenster wieder hoch. Mit Schwung und aufheulendem Motor verschwand er im geöffneten Tor. Der Arbeiter folgte ihm. Ruhe kehrte ein.
Indiana Jones richtete sich wieder auf. Als er Tamaras fragenden Blick bemerkte, sagte er:»Heute war ohnehin mein letzter Tag in Washington. Die Grabfunde werden mit dem Schiff zur nächsten Station der Ausstellung gebracht. Eigentlich hätte ich morgen früh ebenfalls an Bord gehen müssen. Ich hoffe, Marcus kommt hier allein klar.«
Er zog einen Schlüssel aus der Tasche des schwarzen Zweireihers und widmete sich dem Schloß der Pforte neben dem Portal.
«Warum hast du eigentlich darauf bestanden, hier im Museum einquartiert zu werden?«fragte Tamara.»In einem Hotel hättest du bestimmt ein besseres Zimmer bekommen.«
Womit wir wieder beim >du< wären, dachte Indiana. Was zum -
Dann verstand er. Sie waren allein. Vorhin, in der Bibliothek der russischen Botschaft, waren sie das zwar auch gewesen, aber offensichtlich war Tamara nicht sicher gewesen, daß ihnen auch tatsächlich niemand zuhörte …
«Du vergißt, daß ich für die Reliquien verantwortlich bin«, entgegnete Indiana.»Ich kenne genug Grabräuber und Kunstsammler, die sich alle zehn Finger nach den Stücken dieser Ausstellung lecken würden. Vom Hotel aus gestaltet sich die Überwachung ziemlich schwierig.«
Das Schloß klickte leise und gab den Weg frei. Sie traten ein.
«Moment«, hielt Indiana Tamara zurück.»Keinen Schritt weiter!«
Er drückte die Tür wieder zu und tastete nach einem Schalter. Licht flammte auf. Sie befanden sich in einer engen Diele, die lediglich mit einem Garderobenständer und einem Stuhl bestückt war. Und mit einem kleinen, unscheinbaren Kasten dicht unter der Decke.
Indiana zog den Stuhl heran. Mit einem zweiten Schlüssel öffnete er das Kästchen und legte einen Schalter um.
«Die Alarmanlage für diesen Zugang«, erklärte er.»Jetzt können wir weiter. «Tamara zog anerkennend die Brauen hoch, schwieg aber.
Durch eine zweite Tür gelangten sie in die Halle des Museums und über eine Treppe weiter in den ersten Stock. Auf den obersten Stufen blieb Tamara noch einmal stehen und sah sich um. Die Halle lag groß und dunkel unter ihnen, in der alles zu Schatten reduzierenden Dämmerung scheinbar leer wie eine Gruft. Der Anblick hatte etwas gleichermaßen Unheimliches wie Faszinierendes. Indiana konnte verstehen, daß er Tamara in seinen Bann schlug. Wie alle Orte, an denen man normalerweise viele Menschen anzutreffen pflegte, wirkte er nun, wo er verlassen war, nicht nur einfach leer, sondern gleichsam verwandelt, als hätte er noch eine zweite, dem normalen Betrachter verborgene Seite.
«Komm weiter«, sagte er.»Ich zeige dir gern später die Aus-«
«Das ist nicht nötig«, unterbrach ihn Tamara.»Ich habe sie bereits gesehen.«
«Du warst hier? Im Museum?«
«Mehrmals. Man erfährt durch nichts soviel über einen Mann, als wenn man sich seine Arbeit ansieht.«
«Und zu welchem Ergebnis bist du gekommen?«
«Daß du ein sehr interessanter Mann sein mußt«, antwortete Tamara.»Und ein bißchen verrückt.«
Indiana lächelte.»In einem der beiden Punkte gebe ich dir sogar recht«, antwortete er.»Komm weiter- ehe ich einem überraschten Nachtwächter ein riesiges Bestechungsgeld zahlen muß, damit mein Ruf nicht völlig den Bach hinuntergeht.«
«Was für ein Ruf?«
Indiana verdrehte übertrieben die Augen.»Ich sehe, du hast dich wirklich über mich informiert«, sagte er.»Und jetzt komm!«
Erst nachdem er die Vorhänge in seinem Zimmer zugezogen hatte, schaltete Indiana Jones das Licht ein.
«Gemütlich«, kommentierte Tamara und sah sich um.»Zumindest dann, wenn man sonst in Zelten lebt.«
«Eine Notunterkunft«, entgegnete Indiana.»Mir genügt’s.«
Er öffnete einen Schrank und zog eine Reisetasche aus gegerbtem Schweinsleder hervor.»Bitte entschuldige mich einen Moment.«
Mit diesen Worten verschwand er im angrenzenden Bad. Tamara ließ sich vorsichtig auf dem Feldbett nieder und sah sich um.
Keine Utensilien auf dem Hocker, der wohl als Nachttisch diente. Keine Kleidungsstücke über einem Stuhl. Nicht einmal Rasierzeug vor dem hohen Spiegel, den im unteren Drittel ein Sprung durchlief. Ein seltsamer Mensch, dieser Doktor Jones.
Entweder war es sein persönlicher Stil, keine privaten Ansatzpunkte zu offenbaren, oder er hatte damit gerechnet, schnell von hier verschwinden zu müssen.
Dann entdeckte Tamara doch noch etwas. Es hing gleich neben der Tür an einem Haken und hatte Ähnlichkeit mit einer mumifizierten Schlange. Seltsam …
Sie erhob sich und nahm das Ding näher in Augenschein.
Eine … Peitsche?
Was um alles in der Welt wollte ein Doktor der Archäologie mit einer Peitsche!
Das Knarren der Badezimmertür ließ Tamara herumfahren.
Fast hätte sie aufgeschrien. Es dauerte eine Sekunde, bis sie begriff, daß der Mann, der ihr gegenüberstand, Doktor Jones war, der den Raum gerade erst verlassen hatte.
Aber wie hatte er sich verändert! Im schwarzen Anzug hatte er fast genauso ausgesehen, wie sich Tamara einen charmanten, aber etwas verstaubten Gelehrten eben vorgestellt hatte.
Jetzt wirkte er wie ein … Dschungelkämpfer. Eine staubbraune Hose, ein grobgewebtes, beigefarbenes Hemd, darüber eine abgewetzte Lederjacke. Und der Hut: ein abenteuerlich aussehendes Ding mit breitem Band und leicht nach unten geneigter Krempe. Darunter blitzten Augen in einem Gesicht, das mit dem bisherigen wenig gemein zu haben schien. Irgendwie sah Indiana Jones härter aus. Plötzlich war da ein Hauch von Gewalt, von eiserner Entschlossenheit, der Tamara im gleichen Maße überraschte wie beeindruckte. Und ganz plötzlich wußte sie es: Er war ein Abenteurer, nicht in dem leicht anrüchigen Sinn, den dieses Wort bei den meisten Menschen hatte, sondern in seinem ursprünglichsten, ehrlichsten Sinn. Unter der Tünche des zivilisierten Mannes und Wissenschaftlers war Doktor Indiana Jones ein Mann wie vielleicht Scott oder Amundsen geblieben — und ein Stück von Sindbad dem Seefahrer spiegelte sich auch in seiner Erscheinung.
Er grinste breit, als er Tamaras fassungslosen Gesichtsausdruck bemerkte; und auf eine Weise, die ihr klar machte, daß er es gewohnt war, auf diese Weise angestarrt zu werden.
«So, ich bin soweit. Wir können …«
Jetzt endlich begriff Tamara.
«Sie sind nur wegen dieser … dieser Kleidungsstücke hierher gekommen?«fragte sie, hin- und hergerissen zwischen Fassungslosigkeit und allmählich aufkeimendem Zorn.
«Sagte ich nicht, daß ich diese Wohlstandsklamotten hasse?«entgegnete er.»Für das, was wir vorhaben, muß ich mich bewegen können.«
«Und Sie glauben nicht, daß wir so eher auffallen werden?«
«In Washington — vielleicht. Aber der Rest der Welt wird einem geschniegelten Universitätsprofessor wohl kaum auch nur einen Fallschirm leihen.«
«Einen … Fallschirm?«stammelte Tamara.»Was haben Sie vor, Doktor — «
«Bleiben wir doch bitte beim ›Indiana‹«, unterbrach Indiana sie.»Bitte glaub mir, ich mußte hart arbeiten für dieses Image.
Helden in Bundfaltenhosen leben nicht lange.«
«Ach. Ist das deine persönliche Philosophie?«
«Nein, das steht im Drehbuch, Schätzchen. «Indiana grinste wieder.»Aber genug gescherzt. Machen wir, daß wir hier weg … oh, oh.«
Mit den letzten Worten hatte Indiana Jones den Vorhang ein Stück zur Seite geschoben und auf die Straße hinabgesehen.
Was er dort entdeckt hatte, schien ihn nicht eben zu begeistern.
«Da haben wir den Salat. CIA oder FBI, jede Wette.«
Mit zwei schnellen Schritten war Tamara am Fenster und lugte ebenfalls hinaus. Unten auf der Straße drückten sich gerade zwei Männer in grauen Anzügen in den Hauseingang, den sie eben noch selbst als Deckung benutzt hatten.
«Oder die, die hinter mir her sind«, ergänzte sie seine Liste.»Was jetzt? Glaubst du, die wissen, daß wir hier sind?«
«Anzunehmen. Die Burschen sind flinker, als ich dachte. Wir müssen improvisieren.«
Er zog den Hut tiefer in die Stirn und griff nach seiner Peitsche, zögerte aber dann noch einmal, sie von ihrem Haken zu nehmen.»Wenn das wirklich deine Leute sind, sehe ich nicht ein, warum wir uns nicht einfach von ihnen aus der Stadt bringen lassen.«
«Weil ich nicht sicher bin, daß es meine Leute sind«, antwortete Tamara.»So wenig wie du, daß es deine sind.«
«Und außerdem bist du nicht sicher, daß deine Leute auch wirklich deine Leute sind«, vermutete Indiana. Es war ein Schuß ins Blaue, aber er sah an Tamaras fast unmerklichem Zusammenzucken, daß er einen Treffer gelandet hatte.
Er nahm die Peitsche vom Haken, befestigte sie an einer Schlaufe an seinem Gürtel und trat auf Tamara zu.»Mal ehrlich«, sagte er.»Dieses vorgetäuschte Attentat — das galt doch nur dem Zweck, mich neugierig zu machen.«
«Woher … weißt du das?«fragte Tamara erschrocken.
«Ich spüre so etwas«, antwortete Indiana.»Allerdings hätte ich nicht gedacht, daß ihr so weit geht.«
«Das wollten wir auch nicht«, murmelte Tamara.
«Wie?«
Tamara wich seinem Blick für einen Moment aus.»Nun, ich meine … die Bombe und all das, das war schon geplant. Es war nicht meine Idee«, fügte sie hastig hinzu.»Sverlowsk kam auf den Gedanken. Er meinte, das wäre genau der Köder, nach dem ein Mann wie du schnappen würde.«
Indiana blickte sie finster an, beschloß aber im stillen, seine vielleicht etwas vorschnell gefaßte Meinung über Graf Dimitri Sverlowsk bei Gelegenheit noch einmal zu überdenken.
«Was nicht geplant war, war, daß sich in dem Paket wirklich eine Bombe befand«, fuhr Tamara fort.»Es sollte eine Attrappe sein. Ein bißchen Knetmasse, mehr nicht.«
«Knetmasse?«ächzte Indiana.»Soll das heißen, daß … du nicht gewußt hast, daß in dem Paket eine richtige Bombe war? Die ganze Zeit, während du daran herumgefummelt hast?«
Tamara deutete ein schüchternes Kopf schütteln an.
«Aber du … du weißt, wie man so etwas macht?«fuhr Indiana unsicher fort.»Ich meine, du … du verstehst etwas von … von Bomben?«Sein Gaumen fühlte sich plötzlich trocken und rauh an. Er hatte das ebenso ungute wie todsichere Gefühl, die Antwort auf diese Frage zu kennen.
«Um … um ganz ehrlich zu sein — nein«, gestand Tamara.»Ich habe eigentlich nur ein bißchen daran herumgezupft und — gezerrt.«
«Herumgezupft?«keuchte Indiana.»An einem Pfund Dynamit?«
«Ich wußte es nicht«, verteidigte sich Tamara.»Verdammt, ich hätte mir fast in die Hosen gemacht, als der Brunnen in die Luft flog.«
«Dasselbe passiert mir auch gleich«, murmelte Indiana.
Dann kehrte er übergangslos zum Thema zurück.»Also — die Bombe war nur eine Attrappe; oder sollte es sein. Das heißt, daß jemand euren Plan gekannt und sich eingeklinkt hat.«
Tamara nickte.»Ich fürchte ja.«
«Das heißt, daß ihr eine undichte Stelle habt.«
«Sieht so aus.«
«Wer hat alles von eurem Plan gewußt?«fragte Indiana.»Außer dir selbst?«
«Nur Sverlowsk — und zwei, höchstens drei andere«, sagte Tamara.»Sverlowsk fällt aus. Er ist absolut integer.«
«Da wäre ich nicht so sicher«, wandte Indiana ein, wurde aber sofort von Tamara unterbrochen.
«Er würde mich niemals in Gefahr bringen. Er ist mein Onkel.«
Indiana hätte ihr sagen können, daß auch das nicht unbedingt etwas bedeuten mußte, aber jetzt war nicht die Zeit für Diskussionen dieser Art.
«Ich bin sicher, daß Sverlowsk bereits alle anderen, die von unserem Plan wußten, überprüfen läßt«, sagte Tamara.»Er wird den Verräter kriegen. Schon wegen des Brunnens.«
Indiana sah sie fragend an.
«Er liebte diesen Brunnen«, erklärte Tamara. Sie lächelte verzeihend.»Was seinen Geschmack angeht, ist er so etwas wie das schwarze Schaf der Familie.«
Indiana warf einen Blick auf die Straße hinab. Die Gestalten, die er vorhin gesehen hatte, waren verschwunden. Aber er war ziemlich sicher, daß sie noch da waren.»Im Klartext heißt das, daß wir niemandem trauen können«, sagte er.»Deinen Leuten nicht, weil ihr einen Verräter unter euch habt, und meinen nicht, weil sie alles andere als erbaut davon sind, daß ich bei eurem Unternehmen überhaupt mitmache.«
«Heißt das, daß du aussteigen willst?«fragte Tamara.
«Aussteigen?«Indiana lachte.»Jetzt erst recht nicht. Wir sollten nur genau überlegen, was wir als nächstes tun. «Nachdenklich sah er sie an.»Ich nehme an, du hast bereits alle notwendigen Dokumente für mich vorbereitet, damit ich in die UdSSR einreisen kann?«
«Sicher. «Tamara schlug mit der flachen Hand auf ihre Tasche.»Und zwei Flugkarten erster Klasse nach Paris.«
«Wunderbar«, sagte Indiana.»Wirf sie weg. Wir verlassen das Land auf meinem Weg.«
«Aber warum?«
«Weil der Verräter, der dir die echte Bombe untergeschoben hat, wahrscheinlich genausogut weiß wie du, was in deiner Tasche ist«, sagte Indiana.»Sie würden spätestens am Flughafen auf uns warten. Oder eine Bombe ins Flugzeug schleusen. Auf ein paar Menschenleben mehr oder weniger scheint es deinen Freunden ja nicht anzukommen. «Er schüttelte entschieden den Kopf.»Nein — wir verlassen das Land auf meinem Weg. Hast du Geld?«
«Geld?«Tamara blinzelte.»Wozu? Die Angehörigen des Diplomatischen Corps — «
Indiana winkte ab.»Schon gut. Ich hoffe, der Oberste Sowjet in Moskau ist kreditwürdig. Und jetzt komm. «Er machte einen Schritt und blieb noch einmal stehen.»Hast du wenigstens eine Waffe?«
«Eine Waffe?«Tamara wirkte noch verwirrter als bei seiner Frage nach ihren Finanzverhältnissen.»Wozu? Ich brauche keine.«
«Na gut«, seufzte Indiana.»Dann bleib immer hinter mir, verstanden? Egal, was passiert.«
Sie verließen das Museum auf dem gleichen Weg, auf dem sie es betreten hatten. Tamara fiel auf, daß sich Indiana plötzlich auch anders zu bewegen schien; es war fast so, als wäre er nicht in neue Kleider, sondern zugleich auch in eine neue Haut geschlüpft.
Draußen auf dem Gehsteig hielt Indiana noch einmal an und sah sich um. Nichts.
«Wohin gehen wir?«fragte Tamara.
«Zum Bahnhof«, antwortete Indiana.»In einem Abteil dritter Klasse inmitten einer Horde schreiender Kinder, dicker, schwarzer Haushälterinnen und puertoricanischer Putzfrauen suchen sie bestimmt nicht nach uns.«
Tamara verdrehte lautlos die Augen. Allmählich dämmerte ihr, daß Indiana Jones Spaß an der Geschichte zu finden begann …
Womit sie nicht einmal so unrecht hatte. Allerdings hielt dieser Anfall von Abenteuerlust nicht sehr lange an. Genau gesagt, nur so lange, bis sie in die erste Seitenstraße einbogen und Indiana die beiden Gestalten erblickte, die zwanzig Meter vor ihnen unter einer Straßenlaterne standen.
Abrupt hielt er mitten im Schritt inne und sah die beiden Typen mißtrauisch an. Es waren stämmige, breitschultrige Gestalten, die für Straßenräuber entschieden zu elegant gekleidet waren. Allerdings bezweifelte Indiana, daß sie rein zufällig hier herumstanden. Es war mitten in der Nacht und entschieden zu kalt, um aus Langeweile auf der Straße herumzulungern.
Er drehte sich um und war nicht besonders überrascht, daß auch hinter ihnen zwei Gestalten wie aus dem Nichts aufgetaucht waren. Vier gegen einen … das war nicht besonders fair, dachte er.
«Sei auf der Hut«, flüsterte er.»Und wenn es brenzlig wird, kümmer dich nicht um mich. Lauf weg.«
Er räusperte sich, drehte sich wieder um und ging mit einem gezwungen wirkenden Lächeln auf die beiden Gestalten vor sich zu.»Hallo Jungs«, sagte er.»Nur für den Fall, daß ihr vom FBI oder — «
Er sprach nicht weiter. Er hatte sich den Männern weit genug genähert, um ihre Gesichter zu erkennen. Indiana wußte nicht, was sie waren, — aber er war ziemlich sicher, zu wissen, was sie nicht waren — nämlich FBI-Beamte, die gekommen waren, um ihm die Teilnahme an dieser Expedition mit sanftem Nachdruck auszureden. Es sei denn, das FBI stellte neuerdings auch Mongolen ein …
«Versuch du es, Tamara«, sagte er nervös.»Sie scheinen mich nicht zu verstehen.«
Er widerstand nur mühsam der Versuchung, einen Blick über die Schulter zu werfen. Er wußte, daß die beiden anderen noch da waren. Und vermutlich näher kamen.
Während Tamara die beiden Gestalten auf russisch ansprach, legte Indiana wie zufällig die Hand auf den Stiel der zusammengerollten Peitsche. Er konnte ziemlich gut damit umgehen, aber sie waren immerhin zu viert. Und da damit zu rechnen war, daß sie bewaffnet waren … nein, es sah nicht gut aus.
Ganz und gar nicht gut.
Eine Sekunde später sah es noch viel schlechter aus, denn was immer Tamara den beiden Burschen auf russisch gesagt hatte, es schien ihnen nicht zu gefallen. Auf dem Gesicht des einen erschien ein zorniger Ausdruck, während sich das des anderen zu einem hämischen Grinsen verzog, bei dem er zwei Reihen gelber, zum Teil abgebrochener oder abgefaulter Zähne entblößte. Nein, das waren ganz eindeutig keine FBI-Beamten.
Eine Sekunde später stürmten sie beide los, und Indiana hörte auch hinter sich schwere Schritte auf dem Straßenpflaster.
«Tamara!« brüllte er, während er die Peitsche von seinem Gürtel löste. »Lauf weg!«
Mit einem gekonnten Schwung ließ er die Peitsche knallen.
Ihr geflochtenes Ende berührte beinahe sanft die Brust eines der beiden Burschen, und der Kerl wurde jählings von den Füßen gerissen und landete mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Straßenpflaster. Indiana steppte einen Schritt zur Seite, schwang die Peitsche zu einem zweiten Schlag — und mußte plötzlich mit aller Gewalt um sein Gleichgewicht kämpfen.
Hilflos taumelte er zurück, drehte sich halb um die eigene Achse und sah, was — beziehungsweise wer — ihn fast zu Boden gerissen hätte. Er hatte eine Idee zu weit ausgeholt. Einer der beiden Burschen hinter ihm hielt das Ende der Peitschenschnur gepackt. Das steinharte Leder mußte ihm die Hände bis auf die Knochen abgerissen haben, aber das hinderte ihn nicht daran, weiter an der Peitsche zu zerren wie ein Fischer, der ein Netz einholte, so daß Indiana entweder die Peitsche loslassen — oder auf den Kerl zustolpern mußte. Er entschied sich für loslassen.
Der Bursche schien nicht damit gerechnet zu haben, denn plötzlich war er es, der mit wild rudernden Armen um sein Gleichgewicht kämpfte und eine Sekunde später auf das Straßenpflaster krachte.
Aber es blieben immer noch zwei übrig.
Und endlich lief auch Tamara los. Aber die Angst schien sie blind gemacht zu haben. Statt ins Dunkel hinein, wo sie vielleicht sicher gewesen wäre, rannte sie direkt auf den dritten Angreifer zu!
Indiana blieb nicht einmal Zeit, ihr eine weitere Warnung zuzurufen, denn in diesem Moment war der vierte Mann heran, und er hatte plötzlich alle Hände voll zu tun.
Hätte der Knabe ihn mit ein bißchen mehr Überlegung angegriffen, hätte er vermutlich keine Chance gehabt. Er war einen guten Kopf größer als Indiana und mußte mindestens dreißig Pfund mehr wiegen — aber er verließ sich wie viele wirklich starke Männer völlig auf seine überlegene Kraft. Indiana tauchte unter seiner Faust hindurch, packte den Arm mit beiden Händen, drehte sich halb um seine Achse und zerrte gleichzeitig mit aller Kraft.
Seine Rechnung ging nicht ganz auf. Statt im hohen Bogen über seinen Kopf hinwegzusegeln und sich an der nächsten Laterne den Schädel einzuschlagen, kam der Bursche nur ins Stolpern und fiel auf alle Viere. Indiana verschränkte die Hände und schmetterte sie dem Burschen mit aller Kraft in den Nacken.
Der Kerl grunzte, wankte und fiel stocksteif aufs Gesicht.
Aber das verschaffte Indiana nicht einmal eine Atempause.
Der erste, den er niedergestreckt hatte, war wieder auf die Füße gekommen und stürmte mit gesenktem Kopf und geballten Fäusten auf ihn los, und auch hinter sich hörte Indiana wieder Schritte. Offensichtlich war sein Peitschenhieb gerade fest genug gewesen, den Burschen richtig wütend zu machen, mehr nicht.
Indiana fuhr herum, sah, daß der andere schon viel näher war, als er befürchtet hatte, und überschlug blitzschnell seine Chancen, es mit beiden Kerlen gleichzeitig aufzunehmen; drei, wenn er den mitrechnete, der im Moment Haschen mit Tamara spielte. Aber er hatte keine Wahl. Wäre er allein gewesen, hätte er zu fliehen versucht, aber wenn er das tat, dann war Tamara so gut wie tot. Die Kerle waren hinter ihr her, nicht hinter ihm!
Er empfing den Kerl mit hochgerissenen Armen, tauchte unter einem blitzschnell nachgesetzten Fausthieb hindurch und brachte seinerseits eine gezielte Gerade auf das Kinn des Burschen an. Ein pulsierender Schmerz schoß durch Indianas Faust bis in die Schulter hinauf, aber den Angreifer schien der Schlag nicht besonders zu beeindrucken. Er wankte einen Schritt zurück, schüttelte einmal benommen den Kopf und stürmte sofort wieder heran.
Indiana duckte sich unter einem wahren Hagel ungeschlachter, aber wirkungsvoller Hiebe. Er rechnete jeden Moment damit, auch von hinten gepackt oder gleich niedergeschlagen zu werden, aber erstaunlicherweise geschah das nicht. Statt dessen hörte er Tamara schreien; hohe, spitze, abgehackte Schreie, die ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließen. Offenbar verließen sich die beiden Kerle voll und ganz darauf, daß ihr Kamerad allein mit Indiana fertig wurde, und waren zu zweit über Tamara hergefallen.
Und möglicherweise hatten sie damit nicht ganz unrecht. Indiana war eindeutig schneller als sein Gegner, was dazu führte, daß er selbst kaum getroffen wurde, umgekehrt aber eine ganze Serie harter, gezielter Hiebe anzubringen vermochte. Aber der Bursche mußte ein Kinn aus Stahl und einen Magen aus Beton haben. Er schien Indianas Hiebe gar nicht zu spüren, sondern taumelte manchmal nur unter der puren Wucht der Faustschläge zurück; allerdings nur, um sich sofort wieder auf ihn zu stürzen. Andererseits spürte Indiana, wie seine Kräfte allmählich nachzulassen begannen.
Schließlich kam es, wie es kommen mußte: Indiana brachte einen gezielten Faustschlag auf der Nase des Kerls an, aber der Bursche steckte den Hieb einfach weg und stürmte mit weit ausgebreiteten Armen auf Indiana los, der plötzlich von den Füßen gerissen und herumgewirbelt wurde, während sich die Arme des Kerls mit unbarmherziger Kraft um seinen Brustkorb schlossen. Seine Rippen knackten. Er bekam keine Luft mehr.
Er hörte Tamara immer noch diese hohen, spitzen Schreie ausstoßen. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er sie und die beiden anderen Kerle, verzerrte Schatten, die einen wilden Tanz aufzuführen schienen. Großer Gott, was taten sie ihr an!
Indiana bäumte sich auf, schlug dem Burschen beide Fäuste ins Gesicht und krümmte sich vor Schmerz, als dieser daraufhin den Druck seiner Arme noch verstärkte. Er hatte das Gefühl, sein Rückgrat würde brechen, aber er hatte nicht einmal mehr Luft zum Schreien. Bunte Sterne tanzten vor seinen Augen.
Mit dem letzten bißchen Kraft, das er noch in sich fand, riß er das Knie in die Höhe und rammte es dem Kerl in die Rippen.
Der entsetzliche Druck auf seinen Brustkorb lockerte sich um eine Winzigkeit.
Indiana stieß noch drei-, viermal hintereinander zu, und gerade als er spürte, daß er einfach nicht mehr die Kraft für einen weiteren Stoß haben würde, ließ der Angreifer ihn los, taumelte zurück und krümmte sich, beide Hände auf die Rippen gepreßt, die Indianas Knie bearbeitet hatte.
Indiana fiel, blieb einen Moment benommen liegen und versuchte dann, wieder auf die Füße zu kommen. Vergeblich.
Seine Arme spielten nicht mehr mit, als er sich hochstemmen wollte. Sein Gegner indes stand noch immer da; breitbeinig, mit stierem Blick und weit nach vorn gebeugt. Aber er tat ihm nicht den Gefallen, endlich umzufallen. Der Kerl hatte anscheinend nicht nur den Intelligenzquotienten, sondern auch die Konstitution eines Ochsen.
Endlich gelang es ihm, sich wankend auf die Füße zu erheben. Tamaras Schreie hatten aufgehört, aber Indiana wagte es nicht, einen Blick hinter sich zu werfen. Wahrscheinlich war es vorbei. Er empfand ein nur vages Gefühl von Furcht und einen tiefen Zorn auf das Schicksal, daß sein Leben so enden sollte. Er hatte gewußt, daß er weder im Bett noch an Altersschwäche sterben würde- aber dieses Ende, das war einfach nicht gerecht.
Seine Arme waren wie Blei, als er die Fäuste hob und auf den Mongolen zuwankte. Der Kerl hob ebenfalls seine geballten Riesenpranken — und kippte stocksteif nach vorn. Indiana konnte sich gerade noch mit einem Satz in Sicherheit bringen, um nicht unter ihm begraben zu werden.
Die nächsten zehn Sekunden verbrachte er damit, verdutzt auf die schlanke Gestalt zu starren, die hinter dem Mongolen aufgetaucht war.
«Ta … ta … mara!«stammelte er. Er wollte noch mehr sagen, brachte aber kein Wort hervor, sondern wandte statt dessen mit einem Ruck den Kopf und starrte hinter sich.
Die beiden Kerle, die Tamara angegriffen hatten, lagen nebeneinander. Der eine sah aus, als hätte er versucht, mit Kinn und Nase das Straßenpflaster zu polieren. Er stöhnte leise. Der andere rührte sich überhaupt nicht mehr. Sein Gesicht war relativ unbeschädigt, aber so, wie sein linker Arm dalag, mußte er mindestens ein zusätzliches Gelenk darin haben.
Noch immer vollkommen fassungslos wandte sich Indiana wieder um und starrte Tamara an.
Tamara ihrerseits starrte eindeutig wütend ihre rechte Hand an.»Verdammt, sieh dir das an!«maulte sie.»Ich habe mir drei Fingernägel abgebrochen!«Wütend versetzte sie der reglosen Gestalt vor sich einen Tritt.
«Wie … wie hast du das gemacht?«flüsterte Indiana.
«Gemacht? Was?«fragte Tamara harmlos.»Vielleicht hat sie mein Parfüm umgehauen. Es ist ziemlich stark, weißt du?«
Indiana riß die Augen auf.»Du — «
Tamara unterbrach ihn mit einer Geste.»Laß uns von hier verschwinden, ehe noch mehr von diesen Kerlen auftauchen. Ich weiß nicht, ob ich dich jedesmal beschützen kann.«
Den letzten Satz ignorierte Indiana vorsichtshalber.»Du meinst, sie sind nicht allein?«
Tamara lächelte.»Haben Sie schon einmal etwas von Dschingis Khans Horden gehört, Dr. Jones?«
Nach dem, was Indiana gerade erlebt hatte, zweifelte er eher daran, ob Tamara wirklich Grund hatte, sich vor einer Kompanie Hunnenreiter zu fürchten. Aber das sprach er sicherheitshalber nicht aus. Wortlos ging er die Straße hinab, hob seine Peitsche auf und befestigte sie wieder an seinem Gürtel, nachdem er sie zusammengerollt hatte.
Als er zu Tamara zurückkam, hatte sie eine winzige Feile aus der Tasche gezogen und war dabei, ihre abgebrochenen Fingernägel zu bearbeiten. Indiana nahm auch das kommentarlos hin, und er geduldete sich sogar gute zehn Sekunden, bis Tamara die Feile wieder wegsteckte und ihn auffordernd ansah.
«Also dann — wir wollten zum Bahnhof, glaube ich.«
Indiana schüttelte den Kopf. Mittlerweile hielt er das für keine gute Idee mehr.»Wahrscheinlich warten sie dort auch auf uns«, sagte er.»Ich habe eine andere Idee. Sicherer, wenn auch ein bißchen unbequemer. «Er deutete in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Kurz bevor sie in die Seitenstraße eingebogen waren, hatte er eine Telefonzelle ein Stück weit die Hauptstraße hinab gesehen.»Ich muß nur rasch einen Anruf erledigen.«
Ohne sich weiter um die vier Bewußtlosen zu kümmern, gingen sie los. Indiana war ein wenig erstaunt. Er hatte zumindest damit gerechnet, daß Tamara die Männer nach Papieren oder irgend etwas anderem durchsuchen würde, was auf ihre Herkunft schließen ließ. Aber entweder interessierte sie das nicht — oder sie wußte mehr über diese Männer, als sie zugeben wollte.
Sie erreichten unbehelligt den öffentlichen Fernsprecher. Es dauerte lange, bis sich am anderen Ende der Leitung jemand meldete.
«Keine Zeit für Erklärungen, Paul«, sagte Indiana rasch, noch bevor sein Gesprächspartner Zeit fand, darüber nachzudenken, wie spät es war.»Indy hier. Ich brauche deine Hilfe. — Ja, sofort. Ist die ›Flying Fish‹ startklar? — Okay, dann in einer halben Stunde am Hafen. — Und, Paul, bitte laß Nancy zu Hause, ja? Du weißt, ich hasse dieses Biest.«
Er legte auf und verließ die Telefonzelle. Tamara sah ihn fragend an, aber Indiana blickte sich zuerst einmal lange und sehr aufmerksam in alle Richtungen um, ehe er sich zu einer knappen Erklärung durchrang.
«Paul Webber ist der einzige, der uns ohne viel Aufsehen von hier fortbringen kann. Sein Wasserflugzeug liegt an Pier 13. Du bist doch nicht abergläubisch?«
«Solange diese Nancy nicht seine schwarze Katze ist …«
«Seine Schlange«, korrigierte Indiana und zog eine Grimasse.
«Was?«Tamara riß die Augen auf.
«Seine Lieblingsschlange«, bestätigte Indiana seufzend, und mehr an sich selbst als zu Tamara gewandt fügte er hinzu:»Gott, wie ich diese Viecher hasse!«