Irgendwo im Himalaya Sonnenaufgang

Zumindest die Treibstoffanzeige hatte Indiana im Laufe der letzten Stunden ausgemacht. Der winzige Zeiger hatte sich während der Nacht fast unmerklich, aber unbarmherzig von rechts nach links bewegt. Jetzt hatte er die ›Null‹ erreicht. Indiana schätzte, daß sie noch Treibstoff für eine halbe Stunde hatten. Mit etwas Glück vierzig Minuten. Spätestens dann würde er Lobsang gestehen müssen, daß er keine Ahnung hatte, wie man ein Flugzeug landete.

Vielleicht.

Vielleicht auch nicht.

Er sah nämlich weit und breit nichts, worauf man ein Flugzeug hätte landen können.

Vor zehn Minuten hatte es begonnen hell zu werden, und seit der gleichen Zeit hielt er verzweifelt nach irgend etwas Ausschau, das zumindest vage Ähnlichkeit mit einer Landemöglichkeit haben mochte. Aber unter ihnen war nichts als scharfkantiger Fels, jäh aufklaffende, bodenlose Schlünde und Eis, dessen grelles Weiß in seinen Augen schmerzte.

Moto meldete sich wieder. In seine Stimme hatte sich eine leise, aber unüberhörbare Spur von Nervosität geschlichen. Indiana konnte das sehr gut verstehen. Ein einziger Blick auf die Treibstoffanzeige reichte, um auch ihn unruhig werden zu lassen; und das war noch vorsichtig ausgedrückt. Dabei war ihre Maschine weitaus größer als die beiden Zeros und bot somit mehr Platz für zusätzliche Treibstofftanks. Moto und der Pilot des zweiten Jagdflugzeuges mußten praktisch auf Benzinkanistern sitzen. Und wenn sich Indiana nicht sehr täuschte, dann saßen sie auch praktisch auf dem Trockenen.

Mit einiger Verspätung schaltete er das Funkgerät ein und meldete sich.

«Freuen Sie sich nicht zu früh, Dr. Jones«, begann Moto übergangslos.

Freuen! Aber worüber …! Indiana riß überrascht den Blick von Motos Flugzeug los und sah nach rechts.

Nichts. Die zweite Maschine war nicht mehr da.

«Ist Ihrem Freund das Benzin ausgegangen, oder hatte er einfach keine Lust mehr, spazierenzufliegen?«fragte Indiana. Der Spott in seiner Stimme klang müde.

«Statt dumme Witze zu reißen, würde ich Ihnen dringend raten, sich lieber auf die Karte und die Landschaft unter uns zu konzentrieren, Dr. Jones«, sagte Moto kalt.»Ich schätze, daß mein Treibstoff noch für fünf Minuten reicht. Bis dahin sollten Sie Shambala gefunden haben.«

«Fünf Minuten?«Indiana war nur zu froh, daß Moto seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.»Meiner reicht länger.«

«Das ist mir klar, Dr. Jones«, erwiderte Moto ruhig.»Aber ehe Sie jetzt anfangen, gewisse Milchmädchenrechnungen anzustellen, bedenken Sie folgendes: Sobald auch nur das geringste Stottern des Motors einsetzt, schieße ich Sie ab. So vollgestopft mit Benzinfässern, wie Ihre Maschine ist, explodiert sie beim ersten Treffer wie eine Bombe. Mir bleibt danach immer noch genügend Zeit, mit dem Fallschirm abzuspringen.«

«Sie bluffen, Moto«, sagte Indiana nervös.»Ich glaube Ihnen nicht. Sie sind vielleicht heimtückisch, aber Sie sind kein Mörder.«

«Sind Sie bereit, Ihr Leben darauf zu verwetten?«fragte Moto.»Das werden Sie müssen.«

Indiana biß sich auf die Unterlippe. Trotz der schlechten Qualität der Funkverbindung spürte er, wie ernst es Moto meinte.»Verdammt!«sagte er.»Ich kann Shambala doch nicht herbeizaubern!«

«Das sollten Sie aber. Oder fragen Sie Ihren Begleiter. Meiner Schätzung nach hätten wir es längst erreichen müssen. «Eine winzige Pause, dann:»Noch drei oder vier Minuten, schätze ich. Sie haben nicht mehr sehr viel Zeit.«

Indiana sah Lobsang an. Der Tibeter hockte reglos wie eine Statue neben ihm und schien zu meditieren. Auf seinem Gesicht war nicht die mindeste Regung abzulesen. Indiana drückte die Sprechtaste.

«Warten Sie einen Moment, Moto«, bat er.»Ich rede mit Lobsang. «Er streifte die Kopfhörer ab, vergewisserte sich, daß das Flugzeug sicher auf Kurs lag und auch in den nächsten Minuten nicht die Gefahr bestand, daß sie unversehens gegen einen Berg prallten, dann berichtete er Lobsang mit wenigen, knappen Worten, was Moto ihm gesagt hatte.»Hat er recht?«schloß er.

«Ich meine: Sind wir schon an Shambala vorbei?«

Für ein paar Sekunden war er nicht einmal sicher, ob Lobsang seine Worte überhaupt gehört hatte. Aber dann drehte der Tibeter ganz langsam, als müsse er große Kraft für diese winzige Bewegung aufwenden, den Kopf und sah Indiana mit einer Mischung aus Trauer und tief empfundenem Mitleid an.»Und wenn es so wäre?«fragte er.

Das rote Licht auf dem Funkempfänger begann wieder nervös zu blinken, aber Indiana ignorierte es.»Ich verstehe«, sagte er.

Der Anteil von Mitleid in Lobsangs Blick wurde größer, aber er sagte nichts.

«Du glaubst, es ist so am besten, nicht wahr?«fragte Indiana.

«Du glaubst, alles wäre vorbei, wenn Moto abstürzt. Auch, wenn er uns vorher abschießt.«

«Es tut mir leid, Dr. Jones«, sagte Lobsang.»Aber es ist der einzige Weg.«

«Du irrst dich«, sagte Indiana ruhig.»Nichts wird vorbei sein. Du und ich werden sterben, aber Moto wird Shambala trotzdem finden. Und wenn nicht er, dann die, die ihm folgen.«

Er konnte sich täuschen — aber Lobsang schien ganz leicht zusammenzufahren. Er schwieg auch jetzt, aber Indiana konnte die erschrockene Frage in seinem Blick lesen.

«Hast du wirklich geglaubt, es wäre so leicht?«fragte er. Mit einer Kopfbewegung deutete er nach links, wo Motos Zero wie ein schwarzer Raubvogel neben ihnen durch die Luft schnitt.

Die beiden Maschinen waren sich jetzt so nahe gekommen, daß er das Gesicht des Japaners erkennen konnte. Moto blickte aufmerksam zu ihnen herüber. Offensichtlich sah er, daß Indiana auf den Tibeter einredete.»Was glaubst du, hat er in der halben Stunde getan, bis sie uns gefolgt sind?«fuhr er fort.

«Das weiß ich nicht, Dr. Jones«, antwortete Lobsang.

«Ich auch nicht«, gestand Indiana.»Aber ich vermute, daß er sich nicht nur mit den Hunnen herumgeschlagen hat. Wenn er auch nur halb so klug ist, wie ich ihm unterstelle, dann hat er Anweisungen für den Fall zurückgelassen, daß er nicht wiederkommt. Und zwar präzise Anweisungen. Selbst wenn er mit uns ums Leben kommt, dann habt ihr allenfalls ein paar Tage gewonnen. Wahrscheinlich nur Stunden.«

Lobsang verzog keine Miene, aber Indiana konnte in seinen Augen lesen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete.

«Bitte, Lobsang«, sagte er eindringlich.»Ich kann dir nicht einmal versprechen, daß ich diese Kiste in einem Stück herunterbekomme, aber wir haben vielleicht eine winzige Chance, ihn aufzuhalten.«

Gut ein Drittel ihrer kostbaren Zeit verstrich, ohne daß Lobsang auch nur atmete, aber dann nickte er ganz schwach und sagte leise:»Also gut. Vielleicht ist es besser zu leben und zu hoffen, statt zu sterben und zu hoffen.«

Das Flackern des roten Lämpchens vor Indiana schien hektischer zu werden, und Indy beeilte sich, die Sprechtaste zu drücken und die Kopfhörer wieder überzustreifen.»In Ordnung, Moto«, sagte er.»Folgen Sie mir.«

Die Zero fiel tatsächlich ein Stück zurück, aber es dauerte nur eine Sekunde, bis Indiana begriff, daß Moto dies aus dem einzigen Grund tat, das Flugzeug direkt vor die Läufe seiner Maschinengewehre zu bekommen. Eine einzige falsche Bewegung, eine winzige Ungeschicklichkeit, die Moto falsch deutete, und es war vorbei.

«Wohin?«fragte er.

Lobsang beugte sich zur Seite, um durch das Fenster einen Blick nach unten zu werfen. Indiana fragte sich, was er dort zu sehen erwartete. Seit es hell geworden war, schien sich der Anblick unter ihnen nicht verändert zu haben. Die Berge, deren Gipfel sich durchschnittlich in drei-, vier- oder auch fünftausend Meter Höhe erstreckten, reihten sich schier endlos aneinander, und mit Ausnahme ihrer Höhe schien einer wie der andere auszusehen. Mit einem Male war Indiana gar nicht mehr so sicher, daß Lobsang den Weg in das geheimnisvolle Shambala tatsächlich fand. Es war eine Sache, einen Weg durch dieses Gebirge zu gehen, sei es nun zu Fuß oder auf dem Rücken eines Lamas oder Maultieres, aber eine völlig andere, den gleichen Weg aus der Vogelperspektive wiederzufinden. Er betete, daß es Lobsang gelang. Ihrer beider Leben hing davon ab, und vielleicht auch noch das von zahllosen anderen Menschen.

Aber in diesem Moment sagte Lobsang:»Fliegen Sie zurück, Dr. Jones.«

Indiana legte die Maschine gehorsam in eine behutsame Linkskurve, bis sie eine Wendung um nahezu hundertachtzig Grad vollführt hatten und Lobsang ihm mit einer Geste zu verstehen gab, daß er wieder auf dem richtigen Kurs lag.»Ist es weit?«fragte er.»Moto hat allerhöchstens noch Treibstoff für zwei oder drei Minuten.«

«Wenn es dem Schicksal so gefällt, so wird diese Zeit reichen«, antwortete Lobsang ausweichend — was wahrscheinlich seine Version von Ich habe keine Ahnung war.

Indiana lächelte nervös und nahm wieder Kontakt mit Moto auf.»Wir sind auf dem Weg«, sagte er.

«Das hoffe ich«, antwortete Moto.»Ich will Sie ja nicht beunruhigen, Dr. Jones, aber gerade in diesem Moment hat mein Motor das erste Mal gestottert. Und mein Zeigefinger wird immer nervöser.«

Indiana ersparte sich die Antwort und konzentrierte sich auf das Gebirge vor ihnen. Weit entfernt, sicherlich dreißig, vielleicht auch fünfzig Meilen vor dem Flugzeug, erhob sich ein besonders hoher, steiler Berg über die Gipfel der anderen, dessen Flanken unter einem makellosen Eispanzer verborgen waren.

Indiana war nicht sonderlich überrascht, als Lobsang mit einer wortlosen Geste darauf deutete. Vergeblich versuchte er, die Zeit zu schätzen, die sie noch brauchen würden, um dorthin zu gelangen. Er hatte das Gefühl, daß sie nicht reichte.

«Bitte, geh nach hinten und sieh nach, ob wir Fallschirme an Bord haben«, sagte er.

Lobsang sah ihn auf eine Art an, die jedes Wort überflüssig machte. Selbst wenn sie Fallschirme dabei hatten — was Indiana bezweifelte —, war ein Absprung über diesem Gelände glatter Selbstmord. Und auch, wenn sie wider alle Wahrscheinlichkeit einen solchen Sprung überleben sollten — ein Marsch von dreißig oder fünfzig Meilen durch dieses Gelände war der sichere Tod. Dies alles und noch mehr las er in dem Blick, den der Tibeter ihm zuwarf. Aber Lobsang sprach nichts von alledem aus, sondern erhob sich gehorsam und verschwand im hinteren Teil des Flugzeuges.

Indiana nutzte die kurze Frist, die ihnen noch blieb, um ein letztes Mal mit Moto zu reden.

«Wie sieht es aus?«fragte er.

Motos Stimme klang fast amüsiert.»Seltsam — dasselbe wollte ich Sie gerade auch fragen, Dr. Jones. Mein Treibstoffanzeiger steht auf Null. Allerdings habe ich ausreichend Munition, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.«

Indiana verbiß sich jede Antwort darauf. Moto war verrückt, das war ihm jetzt klar. Er war sogar ziemlich sicher, daß der Japaner ihn und Lobsang auf jeden Fall töten würde; und sei es nur, um alle lästigen Zeugen dafür zu beseitigen, wie er es mit seiner» Ehre «und seinem Versprechen hielt. Sein Blick glitt über die schimmernden Flanken des gewaltigen Berges. Er war nähergekommen, aber nicht sehr. Plötzlich wußte er, daß sie es nicht schaffen würden.

Lobsang kam zurück. Er sagte kein Wort, und seine Hände waren leer, als er sich neben Indiana Jones auf den Sitz des Copiloten fallen ließ.

«Dr. Jones?«Motos Stimme in seinen Kopfhörern klang irgendwie … verändert. Nervosität und Angst waren nicht mehr zu überhören. Es überraschte Indiana ein wenig, erfüllte ihn aber zugleich mit einer absurden Befriedigung, daß auch ein Mann wie Moto Angst vor dem Sterben hatte. Er antwortete nicht.

Aber er sah genau in diesem Moment etwas, das ihn auf eine haarsträubende Idee brachte — aber verzweifelte Situationen bedingten manchmal verzweifelte Taten, und davon abgesehen blieb ihm keine Zeit mehr, großartige Pläne zu entwerfen.

Seine Hände schmiegten sich fester um das Steuerrad.

Zwei, drei Sekunden lang hielt er das Flugzeug noch auf seinem ursprünglichen Kurs, dann drückte er das Steuer mit aller Kraft herunter und riß die Maschine gleichzeitig nach links.

Die Welt vor den Fenstern vollführte einen halben Salto, und eine Sekunde später schoß ein schwarzes Phantom über das Flugzeug hinweg. Indiana hörte Moto in seinem Kopfhörer fluchen, achtete aber nicht darauf, sondern versuchte, das Flugzeug aus dem begonnenen Sturzflug wieder heraus und auf die Wolkenbank zuzureißen, die er entdeckt hatte.

Es war nur eine minimale Chance. Was er für eine besonders tief hängende Wolke hielt, konnte ebensogut Nebel sein, unter dem sich die tödlichen Grate eines weiteren Berges verbargen, und selbst wenn es nicht so war, würde er die Maschine nur wenige Augenblicke darin halten können, auch wenn er das Tempo noch so weit zurücknahm. Niemand garantierte ihnen, daß Moto tatsächlich verschwunden war, wenn sie wieder aus der Deckung der Wolkenbank auftauchten.

In Indianas Bewußtsein war allerdings in diesem Moment kein Platz für solche Überlegungen. Ein hörbares Knirschen und Ächzen durchlief den Flugzeugrumpf, und auf dem Instrumentenbord begannen einige Lämpchen zu blinken.

Irgendwie schaffte er es, die Kontrolle über die trudelnde Maschine zurückzugewinnen. Aus dem rasenden Sturz wurde ein noch immer schnelles, aber gelenktes Gleiten, und die Wolkenbank kam rasch näher. Indiana glaubte, einen gewaltigen Schatten darunter zu erkennen, versuchte sich aber einzureden, daß dies nur ein Streich war, den ihm seine überreizten Nerven spielten.

Ein letztes Mal suchte er den Himmel ab. Von Motos Maschine war keine Spur zu entdecken — und wie auch? Die letzten Sekunden waren für Indiana zu einer Ewigkeit geworden, aber tatsächlich waren erst drei oder vier davon vergangen, seit er das Flugzeug herumgerissen hatte. Motos Zero war einfach an ihm vorbeigeschossen, wie er gehofft hatte, und noch bevor es dem Japaner gelingen konnte, die Maschine herumzureißen und zur Verfolgung anzusetzen, mußten sie die Wolke erreicht haben und wenigstens für Augenblicke in Sicherheit sein.

Das war vielleicht nicht der erste, mit Sicherheit aber der folgenschwerste Irrtum, der Indiana Jones unterlief, seit er das erste Mal auf Mr. Moto getroffen war.

Motos Maschine war weder vor noch über noch neben ihnen, aber es dauerte einige Augenblicke zu lange, bis Indiana klar wurde, daß die einzig übrigbleibende Richtung hinter ihnen war … Er hörte das Heulen der Geschosse, die dicht an der Kanzel vorbeipfiffen, sah die grellen Leuchtspuren und fast im selben Augenblick die Funken, die aus der linken Tragfläche stoben. Das Fenster neben ihm zersplitterte. Eisiger Fahrtwind und ein Hagel scharfkantiger Splitter prasselten auf Indiana herunter.

Und plötzlich wurde die Welt vor den Fenstern grau. Er sah nichts mehr. Außerhalb der Maschine waren nur noch graue, zerrissene Schwaden. Der Wind pfiff noch immer in sein Gesicht, aber er trug jetzt keine Glassplitter mehr mit sich, sondern eisige Kälte, die fast ebenso schmerzhaft in seine Haut schnitt und ihm die Tränen in die Augen trieb.

Das Flugzeug begann immer stärker zu trudeln. Gegen Motos Behauptung war es nicht beim ersten Treffer explodiert, aber die Geschosse mußten wichtige Teile beschädigt oder zerstört haben. Indiana hielt das Steuer mit aller Kraft, aber er hatte die Kontrolle über die Maschine fast gänzlich verloren. Sie bockte, hüpfte wild auf und ab und brach in alle nur erdenkliche Richtungen aus. Lobsang schrie ihm irgend etwas zu, das im Heulen des hereinströmenden Windes einfach unterging. Mit aller Gewalt zerrte er den Steuerknüppel an sich heran. Die Motoren heulten, aber ihr Dröhnen klang jetzt ungleichmäßiger, fast gequält, und beißender Ölgestank erfüllte plötzlich das Cockpit.

Und trotzdem gelang es ihm irgendwie, die Nase der Maschine in die Höhe zu ziehen.

Er sah einen gewaltigen Schatten dicht unter ihnen hinweghuschen, aber ihm blieb nicht einmal Zeit, zu erschrecken. Das Grau lichtete sich, dann zerfaserten die Wolken, und das Flugzeug trudelte wieder in die Höhe.

Mehr durch Zufall als durch eigenes Dazutun flog Indiana eine Kehre von dreihundertsechzig Grad. Sein Blick suchte den Himmel ab. Und in einer Entfernung von allerhöchstens zwei Meilen entdeckte er den Umriß von Motos Zero!

Doch auch jetzt erschrak er nicht wirklich. Der Jäger schien wie ein angreifender Raubvogel auf ihre Maschine herabzustoßen, aber er sah sofort, daß irgend etwas nicht stimmte. Auf den zweiten Blick erkannte er, was es war.

Das Kanzeldach fehlte. Die Kabine darunter war leer.

Einen Augenblick später gewahrte er einen winzigen weißen Punkt, der tief unter ihnen auf das Gebirge zuglitt und nach Sekunden mit dem schimmernden Weiß des Eises verschmolz.

Motos Maschine jagte noch eine Sekunde lang weiter in der Waagerechten dahin, bis die Motoren endgültig zum Stillstand kamen, und aus dem waagerechten Flug wurde ein immer steiler und steiler werdender Sturz, bis sie schließlich in die gleiche Wolke eintauchte, aus der Indiana vor Sekunden aufgetaucht war, und für alle Zeiten verschwand.

Indiana atmete hörbar erleichtert auf. Sie hatten noch nicht gewonnen, das war ihm klar. Irgend etwas sagte ihm; daß Moto es schaffen würde. Der Japaner gehörte nicht zu den Menschen, die sich bei etwas so Banalem wie einem Fallschirmabsprung den Hals brachen. Aber sie hatten Zeit gewonnen, vielleicht genau die Zeit, die sie brauchten, Shambala zu erreichen und das Schwert fortzubringen, ehe Moto auf der Bildfläche erschien.

Glaubte er.

Er glaubte es ungefähr eine Sekunde lang ganz ernsthaft, als er bemerkte, wie der linke Motor des Flugzeugs zu stottern begann. Nach zwei, drei letzten trägen Umdrehungen des Propellers stellte die Maschine endgültig ihren Dienst ein und begann statt dessen zu brennen.

Indiana schlug zornig mit der Faust auf das Steuer, und Lobsang beugte sich vor, betrachtete eine Sekunde lang mit fast wissenschaftlichem Interesse die kleinen, blauen Flämm-chen, die aus dem linken Motor schlugen und sich allmählich in den Stoffbezug der Tragfläche zu fressen begannen. Dann fragte er:»Was bedeutet das, Dr. Jones?«

«Oh, nichts Besonderes«, antwortete Indiana.»Außer, daß wir in den nächsten zwanzig Sekunden eine Landebahn brauchen — oder wir sind eher auf dem Boden als Moto.«

Lobsangs Gesicht verlor ein bißchen an Farbe, aber er antwortete nicht, sondern sah statt dessen wieder nach vorn und deutete plötzlich auf einen Punkt ein wenig rechts von ihnen.

«Dort«, sagte er.»Versuchen Sie es dort, Dr. Jones.«

Indiana blickte in die angegebene Richtung, konnte aber nichts weiter als das übliche Durcheinander aus Steinen, Eis und rasiermesserscharfen Felszacken erkennen. Trotzdem versuchte er, die trudelnde Maschine wenigstens ungefähr in die Richtung zu steuern, die Lobsang ihm gewiesen hatte.

Er widerstand der Versuchung, nach links zu sehen und den brennenden Motor zu betrachten — statt dessen konzentrierte er sich darauf, den Boden nach der Stelle abzusuchen, an der Lobsang eine Landung für möglich hielt. Als er sie entdeckte, konnte er direkt fühlen, wie sich jedes einzelne Haar auf seinem Kopf sträubte.

Es war kein Gletscher oder ein besonders flacher Berghang, wie er vermutet hatte, sondern eine schier bodenlose, meilenlange Schlucht, die das Gebirge vor ihnen spaltete. Nicht einmal ein Meisterpilot hätte ein Flugzeug dort hineinsteuern können.

Aber er hatte keine andere Wahl mehr. Etwa ein Drittel der linken Tragfläche brannte, und der verbliebene Motor hatte nicht mehr die Kraft, das Flugzeug zu halten oder gar wieder in die Höhe steigen zu lassen.

«Wahnsinn!«murmelte er.»Das ist Wahnsinn!«

Womit er recht hatte. Doch ihm blieb keine Zeit mehr, ihre Chancen auszurechnen oder sich gar über Lobsangs Qualitäten als Pfadfinder zu äußern. Die Maschine sank tiefer, und plötzlich war rechts und links von ihnen kein freier Himmel mehr, sondern das glitzernde Weiß der eisüberkrusteten Felsen, das mit entsetzlicher Geschwindigkeit vorüberhuschte. Indiana konnte jetzt den Boden der Schlucht erkennen. Er war tatsächlich so eben, daß ein Flugzeug darauf vermutlich landen konnte — aber der Spalt verengte sich Zusehens, je tiefer sie kamen.

Wahrscheinlich hätte der schmale Pfad am Grunde der Schlucht nicht einmal ausgereicht, einen Albatros mit ausgebreiteten Schwingen landen zu lassen!

Indiana schrie auf, als die Wände von beiden Seiten zugleich auf das Flugzeug zuzuspringen schienen. Instinktiv versuchte er, die Maschine noch einmal in die Höhe zu reißen, aber es gelang ihm nicht. Ein fürchterliches Splittern und Krachen erscholl, als die Flügelkanten auf beiden Seiten gleichzeitig das Eis berührten –

— und brachen!

Indiana wurde gegen das Steuer geschleudert, sackte benommen in seinem Sitz zurück und nahm nur noch unklar wahr, wie Trümmer, Flammen und rauchende Splitter für eine Sekunde die Kanzel einhüllten. Der brennende Motor riß ab und flog davon, eine halbe Sekunde später folgte ihm auch der Propeller auf der rechten Seite, und plötzlich flammte irgendwo hinter ihnen ein grell orangefarbenes Licht auf, und in das Splittern und Bersten des auseinanderbrechenden Flugzeuges mischte sich das Krachen einer Explosion.

Die Maschine raste noch ein Stück weiter, schüttelte sich und bockte, als wolle sie endgültig auseinanderbrechen — und kam zur Ruhe!

Indiana war nur noch halb bei Bewußtsein. Er hatte sich auf die Zunge gebissen, so daß er den Geschmack seines eigenen Blutes im Mund hatte, und für Augenblicke mußte er mit aller Kraft darum kämpfen, nicht ohnmächtig zu werden. Ein häßlicher Schmerz durchzuckte sein rechtes Knie.

Stöhnend öffnete er die Augen und sah sich um. Lobsang hockte reglos und hoch aufgerichtet im Sitz neben ihm. Auch sein Gesicht war voller Blut, aber er rührte sich nicht, und sein Blick war starr. Das Flugzeug war wie durch ein Wunder zur Ruhe gekommen, aber das Knistern und Mahlen des auseinanderbrechenden Rumpfes hatte seltsamerweise nicht aufgehört, und der Sitz unter Indiana zitterte und bebte noch immer.

Er versuchte sich aufzurichten, ließ sich aber mit einer Mischung aus Überraschung und Schrecken wieder zurücksinken, als er spürte, wie das Flugzeug unter ihm zu wanken begann. Was um alles in der Welt —?

«Wir sollten jetzt sehr vorsichtig sein, Dr. Jones«, flüsterte Lobsang.

Indiana wagte nicht einmal zu antworten. Unendlich langsam, Millimeter für Millimeter, richtete er sich in seinem Sitz auf und sah durch das zerborstene Fenster nach draußen.

Im allernächsten Moment bedauerte er diesen Blick bereits.

Die Schlucht erstreckte sich vor ihnen so weit, bis sie in der Entfernung zu verschwimmen begann. Ihre Wände bestanden vollkommen aus Eis, nicht aus Felsen, wie er im ersten Moment geglaubt hatte, und sie erstreckten sich nicht nur vor und über ihnen — sondern auch unter dem Flugzeug!

Langsam, von der absurden Angst erfüllt, daß selbst diese Bewegung zuviel sein konnte, wandte Indiana den Kopf und sah zuerst nach rechts, dann nach links. Die Tragflächen der Maschine waren zu gut zwei Drittel weggerissen worden, und die zerborstenen Stummel hatten sich so tief in das Eis der Wände hineingefressen, daß das Flugzeug wie ein Messer in einer zu schmalen Scheide einfach steckengeblieben war, dreißig, vielleicht auch vierzig oder gar fünfzig Meter über dem Grund der Eisspalte!

«Ich glaube, du hast recht, Lobsang«, murmelte Indiana.»Hast du vielleicht auch eine Idee, wie wir hier herauskommen?«

Der Tibeter schüttelte vorsichtig den Kopf.»Nein«, gestand er.»In meiner Vision habe ich von diesem Teil der Reise nichts gesehen.«

Indianas Blick glitt die Wände der Gletscherspalte empor. Sie waren nicht so glatt wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte, sondern ganz im Gegenteil von Rissen und Spalten und klaffenden Schrunden durchzogen. Wenn es ihnen gelang, irgendwie aus diesem Flugzeug herauszukommen, konnten sie vermutlich daran hinaufsteigen. Indy schätzte die Entfernung bis zum oberen Ende der Gletscherspalte auf gute hundert Meter; eine elende Kletterei, aber sie hatten eine Chance.

Wenn sie hier herauskamen.

Indiana war nicht sicher, ob es ihnen gelingen würde. Das Flugzeug hatte aufgehört zu zittern, aber jede noch so kleine Bewegung ließ den Rumpf erneut beben und ächzen, und er konnte regelrecht hören, wie sich die überbeanspruchten Streben der zum größten Teil aus Wellblech und Holz bestehenden Maschine weiter bogen.

«Also gut«, murmelte er entschlossen.»Versuchen wir es.«

Lobsang starrte ihn mit einem Ausdruck an, der nur noch mit dem Wort Entsetzen zu beschreiben war, aber Indiana lächelte ihm nur aufmunternd zu, atmete noch einmal tief ein und stand dann unendlich langsam auf.

Er benötigte länger als eine Minute, nur um sich aus dem Pilotensitz zu erheben, und noch einmal mehr als das Doppelte dieser Zeit, um mit kleinen, schlurfenden Schritten zur Tür zu gelangen. Er konnte hören, wie irgendwo etwas zerbrach und Trümmer klirrend in die Tiefe rutschten. Aber der Anblick, der sich ihm bot, als er durch die Tür zum Laderaum trat, entschädigte ihn für den Schrecken, mit dem ihn dieses Geräusch erfüllte. Die Tragflächen waren nicht das einzige, was das Flugzeug eingebüßt hatte. Auch Heck und Leitwerk der Maschine waren verschwunden; an ihrer Stelle gähnte jetzt ein gut anderthalb Meter breites und ebenso hohes Loch, das von scharfkantigen Metallsplittern gesäumt war, gleichzeitig aber groß genug, um fast bequem hindurchsteigen zu können.

Mit einer Handbewegung gab er Lobsang zu verstehen, daß er ihm folgen sollte, setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen und schlurfte gebückt und wie ein Hochseilartist mit ausgebreiteten Armen das Gleichgewicht haltend nach hinten.

Kälte und eisiger Wind sprangen ihn an, als er sich der gezackten Öffnung im Rumpf des Flugzeugwracks näherte. Die Gletscherspalte erstreckte sich auch in dieser Richtung weiter als sein Blick reichte. In einiger Entfernung konnte er die brennenden Trümmer des Motors und der abgerissenen Tragflächen erkennen, ein Stück dahinter eine Lache von brennendem Benzin, die sich zischend tiefer in das Eis hineinfräste.

Vorsichtig streckte er die Hände aus, suchte an den Rändern des Loches Halt und beugte sich vor.

Der Anblick ließ ihn schwindeln. Sie waren nicht ganz so hoch, wie es ihm im ersten Moment vorgekommen war — vielleicht nur zwanzig oder fünfundzwanzig Meter. Aber auch ein Sturz aus zwanzig Metern Höhe auf Eis mußte tödlich sein; zumal, wenn einem mit großer Wahrscheinlichkeit wenige Augenblicke später das Wrack eines Flugzeuges auf den Kopf fiel.

Aufmerksam suchte er die Wände ab. Die Maschine war genau in der Mitte der Gletscherspalte zur Ruhe gekommen. Das Eis befand sich nicht einmal mehr weit von ihnen entfernt — eigentlich nur gerade so weit, daß er es nicht erreichen konnte, wenn er sich vorbeugte.

Eine lang anhaltende, vibrierende Erschütterung lief durch den Rumpf des Flugzeuges, gefolgt von einem an den Nerven zerrenden Knirschen, und Indiana konnte spüren, wie sich die Maschine ein Stück senkte, ehe sie noch einmal zur Ruhe kam.

Vielleicht zum letzten Mal.

Entschlossen drehte er sich um, klammerte sich am oberen Rand des Loches fest und beugte sich zurück. Das Flugzeug bebte und ächzte unter dieser groben Bewegung, und diesmal war er sicher, sich nicht einzubilden, daß das Wrack ein gehöriges Stück durchsackte.

Indiana schloß für eine Sekunde die Augen, sammelte jedes bißchen Kraft und Mut, das er noch in sich fand, und zog sich mit einem Ruck hinauf.

Ein furchtbares Knirschen ertönte. Indiana sah, wie sich die zersplitterten Tragflächen unter dem Gewicht des Rumpfes mehr und mehr durchbogen, und gleichzeitig fühlte er, wie die Maschine nach hinten zu sacken begann. Aus der Waagerechten, in der sie gerade noch gehangen hatte, wurde eine erschreckend schräge Ebene.

Mit dem Mut der Verzweiflung stand er auf, machte einen raschen Schritt und drehte sich herum, ehe er sich wieder auf die Knie herabfallen ließ und die Hand ausstreckte.

«Lobsang!«schrie er.»Nimm meine Hand! Schnell!«

Lobsangs Gesicht erschien unter ihm, aber der Tibeter machte keine Anstalten, seinen Halt loszulassen und nach Indianas Hand zu greifen.

«Worauf wartest du!?«brüllte Indiana.»Greif zu!«

Das Flugzeug sackte weiter durch. Lobsang stieß einen kleinen, erschrockenen Schrei aus und klammerte sich fester an die Ränder des Loches.»Springen Sie, Dr. Jones!«schrie er.»Bringen Sie sich in Sicherheit!«

«Du sollst meine Hand nehmen!«brüllte Indiana.»Sofort!

Ich — «

Der Rest seiner Worte ging in einem furchtbaren Splittern unter. Indiana fuhr erschrocken herum und sah, wie sich der Flugzeugrumpf weiter und weiter zwischen den Tragflächen senkte. Wieder war es, als bliebe die Zeit stehen. Er beobachtete, wie die überlasteten Träger endgültig zerbrachen, die Stoffbespannung der Tragflächen zerfetzt und das Wellblech des Rumpfes wie dünnes Stanniolpapier zerknüllt wurde, und plötzlich war es, als hinge der Rumpf völlig halt- und schwerelos in der Luft.

Auf einer tieferen, dem bewußten Zugriff seines Denkens entzogenen Ebene begriff Indiana, daß es Lobsang war, der ihn schützte, die gleiche, unheimliche Kraft, die ihm schon einmal das Leben gerettet hatte, aber er fand weder Zeit noch Gelegenheit, dieses Wissen in irgendeiner Form zu verarbeiten. Er reagierte ganz instinktiv. Als das Flugzeug endgültig zu stürzen begann, stieß er sich ab, sprang mit weit ausgebreiteten Armen nach der Wand auf der rechten Seite und klammerte sich fest.

Sein Gesicht prallte unsanft gegen das Eis, und er riß sich die Haut an Händen und Knien auf. Unter ihm stürzte das Flugzeugwrack krachend in die Tiefe und zersplitterte am Grund der Gletscherspalte.

Starr vor Anstrengung und Schrecken hing Indiana fast eine Minute lang im Eis, ehe er es auch nur wagte, die Augen zu öffnen und in die Tiefe zu blicken.

Der Anblick war entsetzlich. Die Stummel der beiden Tragflächen steckten noch immer wie die Klingen überdimensionaler Äxte in den Wänden, aber der Rumpf des Flugzeuges war zwanzig Meter tiefer aufgeprallt und zerborsten. Rauch drang aus den Trümmern. Von Lobsang war keine Spur zu entdek-ken.

Indiana verspürte ein Gefühl tiefer, ehrlich empfundener Trauer. Er glaubte erst jetzt wirklich zu verstehen, was dieser alte Mann alles für ihn getan hatte, und wie ernst er das Versprechen genommen hatte, das er sich selbst und seinen Brüdern gegenüber abgelegt hatte — ernst genug, um am Schluß sein Leben für Indiana zu opfern.

Und wahrscheinlich war es auch dieses Begreifen, das ihn davon abhielt, einfach aufzugeben. Er war schon öfter in verzweifelten Lagen gewesen, aber niemals in einer wie dieser. Er hing mit blutenden Händen und schmerzendem Knie in zwanzig Meter Höhe an einer Eiswand, die sich beinahe senkrecht ungefähr hundert Meter weit über ihn erhob, und selbst wenn er das Unmögliche schaffte und irgendwie dort hinaufkam, dann lag etwas noch Unmöglicheres vor ihm — nämlich verletzt und mit nichts als einer dünnen Lederjacke und einer noch dünneren Hose bekleidet, ohne Karte, ohne Kompaß und ohne Lebensmittel einen Weg durch das höchste Gebirge der Erde zu finden.

Aber er begriff auch, daß er jetzt nicht aufgeben konnte. Vor allem Lobsangs wegen, der sein Leben für ihn gegeben hatte.

Einige Sekunden lang blickte er auf das bis zur Unkenntlichkeit zertrümmerte Etwas herab, das zu Lobsangs Grab geworden war, dann machte er sich an den langen, beschwerlichen Weg nach oben.

Er brauchte mehr als drei Stunden für die knapp hundert Meter, und er schaffte es nur, weil sich die Wand als zerklüfteter erwies als er geglaubt hatte. Seine Hände hatten schon nach Minuten unerträglich zu schmerzen begonnen, und die Kälte und der heulende Wind taten ihr bestes, um seine Muskeln hart wie Holz werden zu lassen und jedes bißchen Kraft aus ihm herauszuprügeln. Das Klettern in der Wand aus Eis erwies sich als überraschend einfach, und er fand immer wieder einen Vorsprung, eine Spalte oder einen Grat, auf dem er sich niederlassen und für Minuten neue Kraft schöpfen konnte. Aber die Etappen zwischen diesen Pausen wurden immer kürzer und die Pausen selbst immer länger, so daß er auf dem letzten Viertel des Weges immer nur vier, fünf Meter weit stieg, ehe er sich irgendwo niederließ und versuchte, seinem Körper die so dringend notwendige Rast zu gönnen, ohne dabei einzuschlafen, was seinen sicheren Tod bedeutet hätte. Die letzten zehn Meter legte er in einem Zustand zwischen Wachsein und Bewußtlosigkeit zurück, in dem er zu keinem bewußten Gedanken mehr fähig war. Seine blutigen Hände hinterließen eine grausige Spur an der Wand, aber Schmerz und Kälte waren seltsam irreal geworden. Er fühlte sich leicht und irgendwie schwebend, und unter der tödlichen Kälte, die seine Hand und die Muskeln zu Eis erstarren ließ, erwachte etwas, das wie Wärme war, aber verlockender und wohltuender.

Er wußte, was es war. Die Behauptung, daß Erfrieren im letzten Stadium ein sehr angenehmer Tod sein sollte, schien wahr zu sein. Aber er wollte nicht sterben. Nicht hier und nicht so, und auch nicht, bevor er … etwas Bestimmtes getan hatte.

Er erinnerte sich nicht mehr wirklich, was es war. Ein Gesicht tauchte in den grauen Nebeln vor seinen Augen auf. Ein Name. Tamara? Er erinnerte sich nicht wirklich. Er konnte nicht mehr denken. Selbst seine Gedanken schienen zu Eis zu erstarren. Monoton zog er seinen Körper in die Höhe, streckte den Arm aus, bis er irgendwo Halt fand, immer weiter und weiter, wie eine Maschine, die nur zu diesem Zweck konstruiert und zu nichts anderem in der Lage war. Tamara … Er hatte vergessen, wem dieser Name gehörte und was er bedeutete. Aber er war wichtig. Er war der Grund, weswegen er noch lebte und weiterleben mußte.

Irgendwann nach zehn oder auch hundert Millionen Jahren griffen seine tastenden, erstarrten Hände ins Leere, und weitere zehntausend Jahre danach zog er seinen nutzlosen, tonnenschweren Körper über den Rand der Gletscherspalte und brach zusammen.

Schwärze begann die grauen Schleier vor seinem Blick aufzulösen. Das Gefühl tödlicher Wärme in seinem Inneren nahm zu, so verlockend und einlullend, daß seine Kraft nicht mehr reichte, es zurückzudrängen. Er spürte, daß es der Tod war, dessen sanfte Berührung er fühlte. Es war vorbei. Lobsangs Opfer war am Ende doch umsonst gewesen.

Etwas berührte ihn an der Schulter, und irgendwie gab ihm diese Berührung noch einmal die Kraft, den Kopf zu heben und die Augen zu öffnen. Er wäre nicht erstaunt gewesen, hätte er in das Gesicht eines Skeletts geblickt, das neben ihm stand und sich auf seine Sense stützte.

Statt dessen sah er in ein schwarzes Rohr aus Eisen.

Die grauen Schleier vor seinem Blick lichteten sich weiter, und der schwarze Schlund schrumpfte zu einem knapp einen Zentimeter durchmessenden Rohr zusammen, das eine oder zwei Sekunden später zum Lauf einer Maschinenpistole wurde, die jemand direkt auf sein Gesicht richtete.

Sein Sehvermögen kehrte langsam zurück, so daß er eine Sekunde später zwei in gefütterten weißen Handschuhen steckende Hände erkannte, die die Maschinenpistole hielten, danach die dazugehörigen Arme, die in einem weißen, pelzgefütterten Anorak steckten, und schließlich ein rundliches Gesicht, dessen Augenbrauen sich mit Rauhreif überzogen hatten, so daß es ein bißchen wie das eines japanischen Weihnachtsmannes aussah. Allerdings war es kein Weihnachtsmann. Die gab es in Japan schließlich auch gar nicht.

«Sie sind wirklich ein erstaunlich zäher Bursche, Dr. Jones«, sagte Moto lächelnd.»Jemanden wie Sie zum Gegner zu haben, gereicht mir zu großer Ehre. «Er trat einen Schritt zurück und wedelte auffordernd mit seiner Waffe.»Aber nun stehen Sie bitte auf, Dr. Jones, ehe Sie sich auf dem kalten Boden einen Schnupfen oder gar etwas Schlimmeres holen. Denn das wollen wir doch beide nicht, oder?«

Die Worte erfüllten Indiana mit einem solchen Zorn, daß er für den Moment nicht einmal mehr seine Schwäche spürte. Mit einem wütenden Laut sprang er hoch, stürzte sich auf den Japaner und holte zu einem mörderischen Kinnhaken aus.

Aber natürlich traf er nicht.

Moto trat fast gemächlich einen halben Schritt zur Seite, ließ Indiana an sich vorübertorkeln und schlug ihm den Kolben seiner Maschinenpistole in den Nacken, und Indiana Jones stürzte wie ein gefällter Baum zu Boden und verlor endgültig das Bewußtsein.

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