Obwohl Indiana viel herumgekommen war, war es das erste Mal, daß er die Chinesische Mauer sah. Und trotz der alles andere als glücklichen Umstände, unter denen dies geschah, war der Anblick so beeindruckend und erhebend, wie er ihn sich vorgestellt hatte.
Dabei konnte er nicht einmal besonders viel davon erkennen, als er am nächsten Morgen hinter Moto aus dem kleinen Flugzeug stieg, das ihn selbst, Hondo und die beiden Tibeter hergebracht hatte. Seine Knie zitterten, und ihm war noch immer flau im Magen. Der Flug war alles andere als ruhig gewesen. Auch das Wetter schien sich auf die Seite der Chinesen geschlagen zu haben, und die Landung war ein Abenteuer für sich gewesen, denn die Piste war keine Landebahn, sondern nichts anderes als ein nur notdürftig von Felsen und Baumstämmen freigeräumtes Stück Wiese im Schatten der Mauer. Zu allem Überfluß war in den letzten zehn Minuten auch noch leichter Bodennebel aufgekommen.
Aber er vergaß all das, als er aus dem Flugzeug trat und die Mauer sah. Der Anblick war … unbeschreiblich.
Es war nicht einmal so sehr die Größe, die Indiana in ihren Bann schlug. Trotz ihrer Länge von mehr als sechstausend Kilometern war die Große Mauer weniger hoch als die meisten annahmen. Indiana schätzte, daß der Wall aus Felsblöcken und Ziegeln, der sich auf der anderen Seite der improvisierten Landebahn im Nebel verlor, an keiner Stelle höher als acht Meter war. In schwer zu bestimmender Entfernung lösten sich die Umrisse eines Wachtturmes im bleigrauen Schimmer des Nebels auf, auch er keinesfalls größer als zehn oder zwölf Meter; jedes kleinere Kastell in England oder Europa konnte mit eindrucksvolleren Maßen aufwarten. Nein, was er spürte, das war etwas anderes. Es war die Größe dieser Mauer, aber es war eine Größe, die man nicht sehen konnte. Es war ein Gefühl, das Indiana Jones nicht fremd war; er hatte es oft gespürt, wenn er uralte Orte betrat, Bauwerke, die Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende vor dem Beginn der Zeitrechnung errichtet worden waren und mit der stummen Geduld von Bergen das Kommen und Gehen ganzer Zivilisationen gesehen hatten. Diese Mauer war alt, uralt. Ganze Völker hatten mehr als ein Jahrtausend an ihrer Fertigstellung gearbeitet, und es war, als spürte er etwas von dem Geist, der diese Menschen beseelt hatte, von der Kraft und der schier unerschöpflichen Energie, die sie in ihre Errichtung gesteckt hatten. Dieser ungeheuerliche Steinwall strahlte eine Majestät und Ruhe aus, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Es spielte keine Rolle, ob der große Wall die mongolischen Heerscharen daran gehindert hatte, in das Reich der Chinesen einzufallen oder nicht. Was wichtig war, war die Tatsache seiner Errichtung, sonst nichts.
Er hörte Schritte hinter sich und spürte, daß es Moto war, ohne sich umdrehen zu müssen.»Erstaunlich, nicht?«fragte der Japaner. Indiana sah ihn auch jetzt nicht an. Sein Blick folgte den im Nebel verschwimmenden Konturen der Mauer.
Erstaunlich …? Nein, es war kein Staunen, das er empfand.
Es war etwas anderes. Etwas, das Menschen schon immer gekannt und noch nie wirklich in Worte hatten fassen können.
Das Gefühl, das sie dazu brachte, an das Wirken einer übergeordneten Macht zu glauben.
«Was empfinden Sie, Dr. Jones?«fragte Moto, als hätte er seine Gedanken gelesen.
«Ich finde es … beeindruckend«, sagte Indiana, nachdem er eine Sekunde lang vergeblich nach einer wirklich passenden Bezeichnung gesucht hatte. Er sah Moto nun doch an, aber er gewahrte auf seinem Gesicht keine Spur der Ehrfurcht, die er selbst empfand. Nicht einmal Respekt vor der unvorstellbaren Leistung jener Menschen, die die Mauer errichtet hatten.»Sie nicht?«fragte er wider besseres Wissen.
Moto zuckte mit den Schultern.»Vielleicht«, sagte er.»Ja, in gewisser Weise schon. «Mit einem Lächeln fügte er hinzu:»Wir werden sie niederreißen.«
Indiana sah ihn verwirrt, aber auch erschrocken an.»Wie bitte?«
«Vielleicht auch nicht«, sagte Moto.»Oder vielleicht doch — um sie an einer anderen Stelle wieder aufzubauen. «Er lächelte.»Wer weiß?«
Indiana schluckte alles, was ihm auf der Zunge lag, herunter.
Er war nicht sicher, ob Moto das wirklich so meinte oder ob er ihn nur reizen wollte. Ihr Verhältnis hatte sich seit dem vergangenen Abend unmerklich, aber gründlich geändert. Es war, als hätte Moto eine Maske fallengelassen, hinter der möglicherweise nur eine andere Maske zum Vorschein kam, allerdings eine, die dem wirklichen Moto mehr ähnelte als das, was er Indiana bisher vorgespielt hatte. Er hatte wohl begriffen, daß Indy ihm trotz allem niemals wirklich getraut hatte. Vielleicht sah er allmählich ein, daß das Theaterspielen wenig Sinn hatte.
Mit einer energischen Geste wechselte Moto das Thema und deutete auf einen Punkt, der vielleicht einen halben Kilometer nördlich lag. Indiana sah das weiße Schimmern von Zelten und die roten Punkte zahlreicher, bis auf die Glut heruntergebrannter Feuer, die vom Nebel erstickt zu werden schienen. Er erschrak abermals. Moto hatte ihm erzählt, daß Hondo bereits damit begonnen hatte, Truppen für den bevorstehenden Angriff auf Dzo-Lins Felsenfestung zusammenzuziehen. Aber was er dort sah, das war keine kleine Truppe — es war eine Armee.
Er wollte eine entsprechende Bemerkung machen, aber in diesem Moment hörte er hinter sich das Geräusch von Schritten, und Moto machte eine rasche, erschrockene Geste. Allmählich begann die Geschichte mit dem Schweigegelübde lästig zu werden, dachte Indiana. Er würde sich eine überzeugende Begründung einfallen lassen müssen, dieses Gelübde zu brechen. Der Umstand, nicht reden zu dürfen, verschaffte ihm entschieden mehr Nachteile als Vorteile. Im Grund war er Moto hilflos ausgeliefert — und ganz genau das hatte diese Geschichte ja auch bewirken sollen. Indiana verfluchte sich in Gedanken dafür, auf diesen Trick hereingefallen zu sein.
Hondo, die beiden Tibeter und der Pilot des Flugzeuges erschienen in der Tür und sprangen in das taufeuchte Gras hinab.
Lobsang und Tsangpo betrachteten die Mauer auf eine Weise, die Indiana davon überzeugte, daß dieser Anblick absolut nichts Ungewöhnliches für sie hatte. Flüchtig fragte er sich, wieso keiner von ihnen bisher auch nur auf den Gedanken gekommen war, sich genauer nach der Herkunft und den eigentlichen Absichten der beiden angeblichen Mönche zu erkundigen. Dann traf ihn ein Blick aus Lobsangs (lächelnden) Augen, und der Gedanke verschwand aus seinem Bewußtsein, als hätte es ihn nie gegeben.
Nebeneinander gingen sie auf das Heerlager zu, aus dem ihnen eine Abordnung japanischer Soldaten entgegenkam. Hondo schien die Männer mit einem Funkspruch über ihr Kommen informiert zu haben, denn sie behandelten ihn und vor allem Moto mit geradezu kriecherischer Demut, die Indiana nach den Ereignissen der vergangenen Tage beinahe schon lächerlich erschien. Während Hondo und Moto Fragen auf japanisch stellten und Antworten in der gleichen Sprache bekamen, sah sich Indiana aufmerksam im Lager um. Seine allererste Schätzung, die Zahl der Männer betreffend, schien ein wenig zu hoch ausgefallen zu sein. Es gab zwar eine erstaunliche Anzahl von Zelten und kleinen, hastig aus Baumstämmen und Geäst errichteten Hütten, aber sehr viele davon waren leer. Dieses Lager war auf Zuwachs gebaut. Er vermutete, daß Major Hondo nicht unbedingt vorhatte, seine Truppe von diesem strategisch wichtigen Punkt wieder abzuziehen, nachdem das Kapitel Dzo-Lin abgehakt war. Nicht zum ersten Mal fragte sich Indiana, wie es ein so kleines Land wie Japan überhaupt geschafft hatte, China praktisch im Handstreich zu nehmen. Wie immer fand er keine befriedigende Antwort darauf.
Sie wurden in eines der größten Zelte geführt, das als provisorisches Hauptquartier diente. Die Einrichtung entsprach genau Indianas Vorstellung: Auf einem gewaltigen Tisch in der Mitte des Zeltes lagen Dutzende von Karten und Aufmarschplänen, dahinter hockte ein Soldat vor einem Funkgerät. Einige unbequem aussehende Klappstühle vervollständigten die spartanische Möblierung des Zeltes.
Von einem seiner ausgeprägtesten Charakterzüge — der Neugier — getrieben, trat Indiana an den Tisch. Er war ihm nicht einmal auf zwei Schritte nahe gekommen, als er grob gepackt und derb zurückgerissen wurde. Im selben Augenblick richtete sich ein halbes Dutzend Gewehrläufe auf ihn.
Moto rief einen scharfen Befehl, worauf die Soldaten — wenn auch nur zögernd — ihre Waffen senkten.
«Bitte rühren Sie nichts an, Dr. Jones«, sagte Moto beinahe beschwörend.»Und am besten sehen Sie auch nichts an, was man Ihnen nicht eindeutig anzusehen erlaubt hat. Sie spüren ja selbst, wie nervös hier alle sind. «Ungeachtet dieser verständnisvollen Worte fuhr er herum und schrie den Kommandanten der Wachmannschaft so aufgebracht an, daß diesem jede Farbe aus dem Gesicht wich.
Indiana hatte begriffen. Er kehrte zu Lobsang und Tsangpo zurück, die etwas klüger als er gewesen und unmittelbar hinter dem Eingang des Zeltes stehengeblieben waren.
Eine gute Stunde verging, ohne daß ihnen irgend jemand auch nur die geringste Aufmerksamkeit zollte. Moto, Major Hondo und der Kommandant dieses Lagers steckten die Köpfe über den Karten zusammen, um lautstark Kriegsrat zu halten.
Die sporadischen Blicke, die sie in seine Richtung warfen, gefielen Indiana nicht, und er war nicht einmal sonderlich überrascht, als Moto nach Ablauf dieser Stunde mit sorgenzerfurchter Stirn zu ihm zurückkam.
«Probleme?«flüsterte er; wie gewohnt sehr leise und ohne die Lippen zu bewegen.
«Ich fürchte«, antwortete Moto. Auch er sprach so leise, daß Indiana Mühe hatte, seine Worte überhaupt zu verstehen, obwohl er unmittelbar vor ihm stand. Er begriff, daß mindestens einer der Anwesenden der englischen Sprache mächtig sein mußte und sich Moto — anders als in Hondos Gesellschaft — plötzlich ebenfalls jedes Wort, das er sagte, gründlich zu überlegen hatte.
«Ich habe es mir nicht so schwierig vorgestellt«, gestand Moto nach einem neuerlichen, unangenehmen Zögern.
«Was?«
«Dzo-Lins Festung«, antwortete Moto.»Ich wußte, daß sie in einem schwer zugänglichen Teil der Berge liegt — aber so wie es aussieht, ist es beinahe unmöglich, dorthin zu kommen. Zumindest nicht in der knappen Zeit, die uns zur Verfügung steht. «Er seufzte tief. Für einen Moment wandte er seine Aufmerksamkeit den beiden Tibetern zu, dann sah er wieder Indiana an.
«Ihre beiden neuen Freunde werden uns nicht begleiten können, fürchte ich.«
«Wieso?«Das alte Mißtrauen stieg wieder in Indiana hoch.
«Hondo hat sich bereiterklärt, den Angriff um vier Stunden zu verschieben«, antwortete Moto.»Leider nutzt uns das nicht viel, Dr. Jones. Zu Fuß würden wir zwei Tage brauchen, um das Kloster zu erreichen — die Tatsache außer acht gelassen, daß uns Dzo-Lins Heckenschützen dabei mindestens ein Dutzend Mal über den Haufen schießen würden. Ich sehe nur einen einzigen Weg, Ihren Plan zu verwirklichen: Wir müssen mit einem Fallschirm abspringen. Haben Sie so etwas schon einmal gemacht?«
«Ich bin lernfähig«, antwortete Indiana ausweichend.
Moto sah ihn durchdringend an, gab sich mit dieser Antwort aber überraschenderweise zufrieden.»Ein Fallschirmabsprung im Gebirge, und noch dazu bei Nacht«, sagte er.»Das ist eine gefährliche Angelegenheit. Selbst wenn Sie es schaffen, Dr. Jones — «Er deutete auf die Tibeter und schenkte ihnen ein ganz kurzes, aber auch fast triumphierendes Lächeln.»— wäre es für diese beiden heiligen Männer zu gefährlich.«
Indiana überlegte angestrengt. Ob sich Moto nun über diesen Umstand freute oder nicht, änderte wenig daran, daß er recht hatte. Auch er selbst hatte das ungute Gefühl, den Mund vielleicht ein bißchen zu voll genommen zu haben. Für Lobsang und Tsangpo mußte ein solches Vorhaben der glatte Selbstmord sein.
Aber bevor er Moto widerwillig recht geben konnte, ergriff Lobsang das Wort.»Eure Sorge um unser Wohlergehen ehrt uns, göttlicher Sohn«, sagte er.»Gleichwohl ist sie unberechtigt. «Er deutete mit einem Lächeln, das Moto die Zornesröte ins Gesicht trieb, auf Tsangpo und fuhr fort:»Mein Bruder und ich hatten die große Ehre, für einige Jahre einen Fremden aus dem großen Land hinter dem Meer beherbergen zu dürfen, der uns in der Kunst des Fliegens ohne Flügel unterwiesen hat. Uns wird nichts geschehen, was nicht im Buch des Schicksals vorgezeichnet wäre.«
Moto sah plötzlich aus wie ein Dampfkessel, der ungefähr eine halbe Sekunde vor der Explosion stand. Seine Augen schossen kleine feurige Blitze in Lobsangs Richtung, und seine Finger spielten nervös am Griff seines Schwertes. Seinem Blick nach zu schließen, dachte Indiana, schien er der Meinung zu sein, daß es sehr wohl eine ganze Menge unvorhergesehener Dinge gab, die den beiden Tibetern zustoßen konnten — allen voran die Spitze seines Samurai-Schwertes. Aber er beherrschte sich auch jetzt noch.
«Was für ein Zufall«, knurrte er nur.»Aber bitte — es ist euer Leben. «Mit einer herrischen Geste zitierte er einen der Wachsoldaten herbei, fuhr ihn in seiner Muttersprache an und deutete dann der Reihe nach auf Tsangpo, Lobsang und Indiana.
Halblaut und auf englisch erklärte er:»Der Mann wird Ihnen passende Kleidung, Waffen und Fallschirme aushändigen. Machen Sie sich damit vertraut. Und versuchen Sie, ein wenig zu schlafen. In der folgenden Nacht werden wir kaum dazu kommen.«