Moto ließ sich etwas einfallen. Aber zu behaupten, daß Indiana von seiner Idee wenig begeistert war, wäre die Untertreibung des Jahrzehnts gewesen.
Er hatte Indiana davon überzeugt, daß es wirklich unmöglich für ihn war, in Begleitung eines Amerikaners bei einer Militäreinheit aufzutauchen, die sich in der Nähe der Chinesischen Mauer auf einen streng geheimgehaltenen Kommandoeinsatz gegen einen rebellischen General und dessen Guerilla-Armee vorbereitete. Die einzige Möglichkeit, ihn mitzunehmen, war, daß Indiana sich von einem Amerikaner in etwas anderes verwandelte.
Das sah Indiana ein und hieß es gut.
Was er nicht guthieß, das war die Verkleidung, die Moto ihm zugedacht hatte.
Indiana erhielt nie einen Beweis dafür, aber er war sicher, daß sich Moto bei der Wahl seines alter egos von einem subtilen Sinn für Humor leiten ließ, denn als sie vier Tage später vor der Militärkommandantur von Schenjang aus dem Lastwagen stiegen, der sie das letzte Stück des Weges transportiert hatte, trug Indiana ein graues, knöchellanges Gewand, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Sack hatte und sich auch ungefähr so angenehm auf der Haut anfühlte. Seine Füße waren nackt und schmerzten höllisch, und sein Haar war fast gänzlich abrasiert worden. Trotz dieser Verkleidung hatte sein Gesicht noch immer wenig Ähnlichkeit mit dem eines Asiaten, aber Moto hatte sich auch dafür eine glaubhafte Erklärung einfallen lassen: Er gab Indiana als Deutschen aus, der der Welt und dem hektischen Leben in Europa den Rücken gekehrt und Zuflucht bei einem japanischen Orden gesucht hatte, der sich ganz der Suche nach der inneren Ruhe verschrieben hatte. Und dessen Mitglieder praktischerweise ein Schweigegelübde ablegten, bevor sie sich die Köpfe rasierten und dem Orden beitraten.
Das paßte Indiana noch sehr viel weniger. Während der letzten vier Tage und Nächte hatten sie China per Schiff, Flugzeug, Eisenbahn und Lastwagen im Eiltempo durchquert, aber sie waren während der ganzen Zeit praktisch nicht eine Minute allein gewesen. Mit dem Ergebnis, daß Indiana in den letzten vier Tagen kein Wort geredet hatte. Er hoffte, daß das Ergebnis die Mühe wert war.
Ein kalter Wind schlug ihnen entgegen, als sie aus dem Wagen stiegen. Indiana schauderte, zog den Kopf zwischen die Schultern und trat hastig einen Schritt zur Seite, als der Militärlaster anfuhr und Moto und ihn in eine Staubwolke hüllte. Er war erschöpft von der Reise, und seine Füße taten bei jedem Schritt entsetzlich weh; es hätte ihn nicht gewundert, hätte er blutige Abdrücke auf dem Lehm der unbefestigten Straße hinterlassen, als er Moto folgte, der mit weit ausgreifenden Schritten das Gebäude der Militärkommandantur ansteuerte. Es war ein großes, zweigeschossiges Haus mit ausladendem Dach, das früher vielleicht einmal als Tempel gedient hatte, dessen neue Verwendung jedoch unschwer an den wehenden Fahnen der japanischen Besatzungsmacht und den bewaffneten Posten in den dunkelbraunen Uniformen erkenntlich war, die rechts und links des Portals Aufstellung bezogen hatten.
Ein weiteres Frösteln durchlief Indiana, während er Moto einzuholen versuchte. Aber das lag möglicherweise nicht nur an der Kälte und dem Wind, der durch sein dünnes Büßergewand schnitt. Die Japaner hatten in der Stadt Furcht gesät, und sie war beinahe körperlich spürbar. Auf der Straße waren nur sehr wenige Menschen zu sehen, und diejenigen, die sich aus den Häusern getraut hatten, gingen schnell und mit gesenkten Blicken und wechselten zum größten Teil die Straßenseite, wenn sie Moto und ihn sahen. Da sie das Land in einer Art Eilmarsch durchquert hatten und Moto sozusagen nur mit dem Finger zu schnippen brauchte, um ein Flugzeug, ein Schiff oder einen Lastwagen zur privaten Verfügung zu haben, hatte er sehr wenig von China gesehen. Aber was er gesehen hatte, war schon genug. Von der sprichwörtlichen Lebenslust und Fröhlichkeit der Chinesen schien nichts mehr übriggeblieben zu sein. Trotz allem hatte Indiana das, was man den Japanern im allgemeinen nachsagte, bisher zumindest für übertrieben gehalten, aber während der letzten Tage waren ihm gewisse Zweifel gekommen. Er selbst hatte keine Greueltaten zu Gesicht bekommen, aber er hatte die Furcht unter der Bevölkerung der besetzten Städte und Dörfer gefühlt. Und er fühlte sie auch hier. Er fragte sich, ob Motos Einfall, ihm ein Schweigegelübde anzudichten, wirklich nur pure Gehässigkeit gewesen war — oder ob er damit etwa hatte verhindern wollen, daß Indiana zu viele Fragen stellte und möglicherweise zu viele Antworten bekam.
Moto und sein Diener, der unter der Last ihres Gepäcks beinahe zusammenbrach, blieben am Fuß der Treppe stehen.
Moto warf einen ungeduldigen Blick zu Indiana zurück. Indiana versuchte schneller zu gehen, aber er konnte es einfach nicht, ohne bei jedem Schritt vor Schmerz aufstöhnen zu müssen. Auch in diesem Punkt war er nicht ganz sicher, ob die Wahl seiner Verkleidung nicht doch von dem Hintergedanken geleitet gewesen war, ihm im Fall der Fälle das Weglaufen so unbequem wie möglich zu gestalten.
Einer der beiden Posten nahm sein Gewehr von der Schulter und trat Moto mit einem knappen, herrischen Wort entgegen, als sie die Treppe hinaufgingen. Moto antwortete nicht, zog aber ein Blatt Papier aus der Brusttasche seiner schmucklosen braunen Uniform und reichte es dem Soldaten. Dieser hatte kaum einen flüchtigen Blick darauf geworfen, als alles Blut jäh aus seinem Gesicht wich. Indiana speicherte auch diese Beobachtung sorgfältig. Es war nicht das erste Mal. Moto war bisher allen Fragen über seine Person geschickt ausgewichen, aber es war Indiana nicht entgangen, mit welchem Respekt der angebliche Diplomat behandelt wurde, sobald er irgendwo seine Papiere vorzeigte.
Der Soldat salutierte so zackig, daß er sich beim Zusammenschlagen der Hacken beinahe selbst von den Füßen gerissen hätte, und trat hastig zurück. Indiana folgte Moto, blieb aber dann noch einmal stehen und warf einen Blick auf die Straße zurück, denn er hörte Geschrei.
Ein kleiner Trupp japanischer Soldaten kam die breite Straße hinuntergelaufen. Sie zerrten zwei kahlgeschorene Männer in einfachen braunen Kutten mit sich — genauer gesagt, sie trieben sie mit derben Kolben- und Ellbogenstößen vor sich her, so daß die beiden armen Teufel mehr stolperten als gingen. Einer von ihnen stürzte dann auch tatsächlich und wurde von einem der Soldaten mit Faustschlägen und Fußtritten traktiert. Die anderen kommentierten den Zwischenfall mit gröhlendem Gelächter.
Indianas Miene verdüsterte sich. Er mußte sich auf die Zunge beißen, um sein Schweigegelübde nicht schon jetzt zu brechen.
Was er über die Brutalität der japanischen Besatzer gehört hatte, schien nicht ganz falsch zu sein.
Sie betraten das Haus und durchquerten eine weite, holzgetäfelte Halle, die einmal prachtvoll gewesen sein mußte. Jetzt war sie in ein Militärlager umgewandelt worden und sah dementsprechend aus: Überall standen Feldbetten, lagen zusammengerollte Schlafsäcke, Rucksäcke und Gewehre, und jemand war sogar so weit gegangen, auf dem sorgsam polierten Holzfußboden ein Feuer zu entzünden, um sich sein Essen darüber aufzuwärmen. Indianas Archäologenherz machte einen entsetzten Hüpfer, als er diesen Frevel sah. Aber er schwieg auch jetzt. In Gedanken fügte er diese Beobachtung jedoch der immer länger werdenden Liste unangenehmer Fragen hinzu, die er Moto stellen würde, sobald sie allein waren.
Ein weiterer Soldat vertrat ihnen den Weg, und die Szene vom Eingang wiederholte sich, mit dem Unterschied, daß der Posten diesmal nicht beiseite trat, sondern auf einen knappen Befehl Motos hin herumfuhr und ihnen mit nervösen Schritten vorauseilte. Über eine breite Treppe mit einem kunstvoll geschnitzten Geländer gelangten sie in den ersten Stock des Gebäudes, wo sie eine weitere Sperre passieren mußten, ehe sie einen großen Raum betraten, der bis auf einen riesigen Tisch und einen dazu passenden, fast an einen Thronsessel erinnernden Stuhl vollkommen leer war. An den Wänden hing die japanische Flagge, der rote Kreis der aufgehenden Sonne auf weißem Untergrund, in gleich fünffacher Ausführung, und direkt hinter dem Schreibtisch prangte eine Karte Chinas. Die von den Japanern besetzten Gebiete waren rot schraffiert. Es waren erstaunlich viele, und Indiana erschrak insgeheim. Er hatte nicht gewußt, wie sehr sich dieses riesige Land bereits im Besitz seines an sich zwergenhaften Nachbarn befand.
Hinter dem Schreibtisch saß ein kahlköpfiger Japaner in einer schmucklosen grünen Uniform. Vor ihm stapelten sich Papiere, Briefe und altertümlich anmutende Schriftrollen. Er hatte eine brennende Zigarette im Mundwinkel, und um sein linkes Handgelenk spannte sich ein frischer Verband, an dem sich an einer Stelle dunkle Blutflecke zeigten. Quer auf dem Durcheinander von Papieren vor ihm lag ein Samurai-Schwert, daneben entdeckte Indiana einen Dolch, den er kurzerhand in die kostbare Platte des Tisches gerammt hatte. Seine Augen schienen Blitze zu schleudern, als Moto, Indiana und der Diener ohne anzuklopfen eintraten. Er erhob sich halb von seinem Stuhl, bellte ein einzelnes, nicht sehr angenehm klingendes Wort und streckte die Hand nach dem SamuraiSchwert aus.
Der Soldat, der sie hier heraufgeführt hatte, antwortete rasch, mit leiser Stimme und sehr nervös — und der Offizier erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Augen weiteten sich ungläubig, die Zigarette fiel ihm aus dem Mundwinkel und landete in seinem Schoß. In der ersten Sekunde schien er es nicht einmal zu bemerken, dann fegte er sie hastig beiseite und kam mit kleinen, demütigen Schritten um den Schreibtisch herum. Moto reichte ihm das Stück Papier, das er schon dem Posten am Eingang gezeigt hatte, und der Kahlkopf schien sich für einige Sekunden in einen Europäer zu verwandeln, denn seine Haut verlor jedes bißchen Farbe. Wer zum Teufel war dieser Kerl? dachte Indiana verwirrt. Der Tenno persönlich?
Moto fuhr fort, auf japanisch mit dem Soldaten zu reden, wobei er abwechselnd auf sich, Indiana und seinen Diener deutete, und der Kahlkopf antwortete mit wenigen, halb geflüsterten Worten und gesenktem Blick, als wage er es nicht einmal, sein Gegenüber anzusehen.
Als er fertig war, drehte sich Moto herum und wandte sich an Indiana.»Wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen«, sagte er.»Major Hondo wird Schenjang morgen früh mit der Hälfte seiner Soldaten verlassen, um zu der Truppe zu stoßen, die gegen Dzo-Lin vorgeht.«
Indiana brannte die Frage auf der Zunge, ob es irgendwelche Neuigkeiten über Tamara gab, aber natürlich konnte er sie nicht stellen.
Moto schien sie von seinen Augen abzulesen.»Gerüchte besagen, daß man eine Europäerin bei den Rebellen gesehen hat«, sagte er.»Aber wie gesagt — das sind Gerüchte. Und Miss Jaglova ist nicht die einzige Nicht-Chinesin hier.«
Er wandte den Kopf, wechselte wieder einige Worte mit dem Offizier und richtete seinen Blick dann wieder auf Indiana. Er wollte etwas sagen, aber in diesem Moment entstand vor der Tür Tumult.
Hondo blickte ärgerlich auf und fuhr den Soldaten an, doch bevor dieser seinen Befehl ausführen konnte, wurde die Tür aufgestoßen, und ein halbes Dutzend Soldaten kam herein. Bei ihnen befanden sich die beiden Männer in den braunen Kutten, die Indiana schon draußen auf der Straße gesehen hatte.
Sowohl er als auch Moto bemerkten, wie Hondo erschrocken zusammenfuhr. Zwar fand der Major seine Selbstbeherrschung fast sofort wieder, aber Moto hatte bereits bemerkt, daß hier irgend etwas nicht stimmte. Ruhig, aber mit der gleichen, befehlsgewohnten Kälte in der Stimme, die auch Indiana schon so beeindruckt hatte, wandte er sich an die Soldaten, die die beiden Gefangenen hereingebracht hatten, und stellte einige Fragen. Die Antworten, die er bekam, schienen nicht unbedingt seinen Gefallen zu finden, denn der Klang seiner Stimme wurde plötzlich schärfer. Fordernd deutete er auf die beiden Männer, die von ihren Bewachern grob auf die Knie herabgestoßen worden waren. Indiana sah jetzt, daß ihre Gesichter etwas schärfer geschnitten waren als die eines normalen Chinesen. Auf ihren Handrücken und zwischen den Augen befanden sich winzige, violette Tätowierungen, und über der linken Schulter trugen beide Männer eine erdbraune Schärpe, die sich kaum von der Farbe ihres Gewandes abhob.
Moto wandte sich jetzt an die beiden. Er bekam keine Antwort, und einer der Soldaten rammte dem kleineren der beiden Männer seinen Gewehrkolben zwischen die Schulterblätter.
Der Gefangene fiel mit einem schmerzerfüllten Keuchen nach vorn, und Moto fuhr den Mann, der ihn geschlagen hatte, in so scharfem Ton an, daß dieser zurückfuhr, als hätte er eine Ohrfeige bekommen.
Es gelang Indiana, Moto einen fragenden Blick zuzuwerfen, und zu seiner Überraschung reagierte der Samurai sogar darauf.
«Die beiden sind tibetische Spione«, sagte er.»Jedenfalls behaupten das diese Narren. Sie wollen sie erschießen. «Er zuckte gleichmütig mit den Achseln.»Im Grunde habe ich nichts dagegen. Aber vielleicht können uns die beiden — «
Einer der beiden Gefangenen — der, der nicht geschlagen worden war — sagte ein halblautes, einzelnes Wort, und Moto brach mit einem überraschten Ausdruck ab. Eine Sekunde lang sah er den Mann forschend an, dann trat er auf ihn zu, stellte eine Frage, und obwohl Indiana die Antwort ebensowenig verstand wie die Frage selbst, identifizierte er doch das gleiche Wort, das er soeben gehört hatte, gleich mehrfach. Die beiden unterhielten sich eine ganze Weile, und der überraschte, aber auch ein wenig mißtrauische Ausdruck auf Motos Gesicht vertiefte sich. Schließlich wandte er sich mit einem Stirnrunzeln wieder an Indiana.»Er sagt etwas von einem Zauberschwert«, sagte er verwirrt.
Zauberschwert! Indiana wurde hellhörig. Um ein Haar hätte er das Wort laut ausgesprochen, biß sich aber im allerletzten Moment noch auf die Zunge.
Aber auch Moto wirkte plötzlich genauso erregt wie er. Mit einer heftigen Handbewegung befahl er den Soldaten, den beiden auf die Füße zu helfen, scheuchte die Männer aus dem Raum und brachte Hondo, der sich hatte einmischen wollen, mit einer zornigen Geste zum Verstummen.
Er und die beiden Tibeter unterhielten sich eine ganze Weile; in einem Dialekt, der nicht nach Japanisch klang, Indiana aber natürlich ebenso unverständlich war. Motos Erstaunen nahm sichtlich zu, und ein paarmal warf er auch Indiana überraschte Blicke zu- ebenso wie die beiden Mönche übrigens, wenn diese auch weniger überrascht als wissend wirkten. Indiana verfluchte die Tatsache, daß er der Sprache, derer sich die drei bedienten, nicht einmal in Ansätzen mächtig war. So mußte er sich darauf beschränken, aus Mimik und Gesten der drei zu schließen, was sie vielleicht sagten.
Schließlich machte Moto eine besänftigende Geste, auf die die Tibeter mit einem Nicken antworteten und verstummten, streifte Indy mit einem zutiefst verwirrten Blick und drehte sich dann wieder zu Hondo um. Er sagte etwas auf japanisch.
Hondo schwieg einen Moment. Indiana konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann antwortete er, und jetzt war es Motos Gesicht, das sich verdüsterte.
Seine nächsten Worte klangen schon weitaus weniger freundlich, und Hondo schrumpfte sichtlich zusammen und senkte wieder den Blick. Aber Motos Gesichtsausdruck nach zu schließen, widersprach er auch jetzt noch.
Schließlich trat Moto wütend auf ihn zu und streckte den Arm aus, als wolle er ihn packen und schütteln, und endlich gab der japanische Major klein bei, wenn auch widerwillig, wie aus seinem Blick zu schließen war. Mit gesenktem Haupt verließ er das Zimmer. Moto schickte auch seinen Diener und die Soldaten aus dem Raum.
«Idiot!«knurrte er halblaut und auf englisch, als Indiana, die beiden Tibeter und er allein waren. Dann sah er Indy an.»Sie können reden, Dr. Jones«, sagte er.»Lobsang und Tsangpo wissen, wer Sie sind.«
Indiana maß die beiden Tibeter mit neuem Erstaunen.»Aber woher …«
«Sie behaupten«, sagte Moto mit einem Ausdruck tiefster Verstörtheit in den Augen,»eine Vision von Ihrem und meinem Kommen gehabt zu haben. Ich persönlich halte sie eher für Spione, die Dzo-Lin geschickt hat. Aber sie wissen etwas.«
«Ich kann Euch versichern, göttlicher Sohn«, sagte der kleinere der beiden Tibeter in beinahe akzentfreiem Englisch und mit einem milden Lächeln,»daß wir nicht zu General Dzo-Lins Vertrauten zählen. Weltliche Dinge sind uns völlig fremd. Euer Krieg ist schrecklich, aber es ist nicht unsere Sache, zu entscheiden, wer im Recht und wer im Unrecht ist.«
«Sie sprechen … englisch?«murmelte Indiana überrascht.
Auch Moto sah völlig perplex aus.
«Ein wenig«, sagte der Tibeter bescheiden.»Mein Bruder Tsangpo und ich hatten die Ehre, einige Jahre einen Ihrer Landsmänner zu beherbergen, der in unseren Tempel kam, um die Lehren des buddhistischen Glaubens zu studieren.«
«Was für ein Zufall«, knurrte Moto.
«So etwas wie Zufall gibt es nicht, göttlicher Sohn«, sagte Lobsang lächelnd.»Alles ist vorbestimmt und geschieht ganz nach dem Willen der Götter.«
Moto verzichtete vorsichtshalber auf die Antwort, die ihm deutlich ins Gesicht geschrieben stand.»Also gut«, knurrte er statt dessen.»Was war das für ein Unsinn mit dem Zauberschwert?«
«Ich bitte Euch, göttlicher Sohn«, sagte Lobsang. Er wurde von Moto unterbrochen.
«Laß diesen Unsinn!«sagte er.»Mein Name ist Moto. Das reicht.«
«Moto. «Lobsang nickte und lächelte wieder dieses sonderbare, wissende Lächeln.»Es ist nicht nötig, daß Ihr Euch weiter verstellt. Unsere Vision war klar. Ihr und der Doktor aus dem großen Land jenseits des Meeres seid aus dem gleichen Grund hier wie mein Bruder Tsangpo und ich. Um das Schwert des Temujin zu finden, es davor zu bewahren, in falsche Hände zu geraten.«
Während Moto sichtlich erbleichte, konnte Indiana ein amüsiertes Kichern nicht mehr ganz unterdrücken.»Dann wären wir ja schon zu viert«, sagte er.»Tamara und Dzo-Lin noch nicht einmal mitgerechnet.«
Moto starrte ihn an.»Sie glauben doch nicht, daß ich diese beiden Verrückten mitnehme?«
«Doch«, antwortete Indiana.»Das glaube ich. Und Sie auch. Sie haben zu wenig Trümpfe im Ärmel, als daß Sie es sich leisten könnten, es nicht zu tun, göttlicher Sohn. «Moto erbleichte noch ein bißchen mehr, jetzt allerdings vor Zorn, schluckte aber jedes weitere Wort tapfer herunter und beließ es dabei, abwechselnd Indiana und die beiden Tibeter mit Blicken regelrecht aufzuspießen.
«Also gut«, murmelte er nach einer Weile.»Es gibt ein paar Schwierigkeiten.«
«Welche?«fragte Indiana.
«Hondo«, antwortete Moto.»Er besteht darauf, daß die beiden auf der Stelle hingerichtet werden. Er behauptet, eindeutige Beweise dafür zu haben, daß sie Spione sind.«
«Hat er sie?«fragte Indiana.
Moto schüttelte den Kopf.»Das ist nicht die Frage«, sagte er.
«Major Hondo ist der militärische Oberbefehlshaber dieser Garnison. Er respektiert mich zwar, aber Tatsache ist, daß ich ihm nichts zu befehlen habe.«
«Aber ein Sohn des Himmels wird doch wohl einflußreicher sein als ein kleiner Major«, sagte Indiana spöttisch.
Es fiel Moto immer schwerer, seinen Zorn zu unterdrücken.
«Vermutlich«, sagte er.»Ich könnte dafür sorgen, daß er für den Rest seines Lebens damit beschäftigt ist, die Große Mauer neu zu streichen. «Er deutete auf Lobsang und Tsangpo.»Aber bis dahin wären die beiden längst tot.«
«Es muß einen Weg geben«, sagte Indiana.
«Den gibt es«, sagte Lobsang.
Indiana und Moto sahen beide gleichermaßen fragend wie überrascht auf.»Welchen?«fragten sie wie mit einer Stimme.
Diesmal antwortete der Tibeter nicht sofort, sondern sah Indiana für einige Sekunden nachdenklich und auf eine schwer zu deutende Weise an.»Es wird nicht leicht werden«, sagte er,»aber es liegt in Ihrer Macht, Dr. Jones, unsere Leben zu — «
Er kam nicht weiter. Hondo stürmte in den Raum, Schultern und Kinn kampflustig vorgereckt, die rechte Hand auf dem Griff seines Katana, das aus seinem Gürtel ragte. Moto kam nicht einmal dazu, ihn anzufahren, denn Hondo überschüttete ihn sofort mit einem Schwall erregter japanischer Worte, wobei er heftig gestikulierend auf Lobsang und Tsangpo deutete. Zwischen Motos Augenbrauen erschien eine steile Falte, während die beiden Tibeter eher amüsiert als irgendwie erschrocken aussahen.
Schließlich wandte sich Moto in beinahe hilflos anmutendem Ton an Indiana.»Er behauptet, ungefähr ein Dutzend Zeugen dafür zu haben, daß die beiden Fotografien von den Unterkünften seiner Truppe gemacht hätten. Natürlich sind diese Zeugen so falsch wie das Kleid, das Sie tragen, Jones, aber ich fürchte, ich kann nichts dagegen tun.«
Indiana seinerseits konnte nicht antworten. Er sah Hondo an, und was er im Gesicht des kahlköpfigen japanischen Majors erblickte, das machte ihm klar, wie ernst es diesem war. Es ging ihm keineswegs um die beiden Tibeter. Vermutlich war ihm ihr Schicksal ungefähr so wichtig wie der Schmutz unter seinen Fingernägeln. Aber Indiana kannte den Blick, der in Hondos Augen lag. Einen Moment lang überlegte er, ob er Moto raten sollte, Hondo einfach die Wahrheit zu sagen, verwarf aber diesen Gedanken fast im selben Augenblick wieder. Der Major war Vernunftsgründen gegenüber in diesem Moment ganz gewiß nicht aufgeschlossen. Dann begegnete sein Blick dem Lobsangs, und er las die Frage darin. Eine Sekunde lang zögerte er noch. Lobsang hatte nicht gesagt, was er tun mußte, um ihm und Tsangpo das Leben zu retten. Aber eigentlich, dachte Indiana, spielte das auch keine Rolle. Zwei Menschenleben waren eine kleine Unannehmlichkeit immer wert. Er nickte beinahe unmerklich.
Lobsang räusperte sich, um Hondos Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und es gelang ihm. Mit einem Ruck fuhr der Japaner herum und starrte ihn an, und Lobsang reagierte mit einem gleichmütigen Lächeln, deutete auf Indiana und sagte gleichzeitig einige halblaute Worte.
Das Ergebnis war erstaunlich. Moto sog überrascht die Luft ein, und Hondo starrte ungläubig zuerst den tibetischen Mönch, dann Indiana und dann wieder Lobsang an.
Lobsang wiederholte seine Worte und die deutende Geste auf Indiana, und Hondo überlegte nur noch eine Sekunde. Dann nickte er abgehackt, wandte sich auf der Stelle um und verließ das Zimmer wieder — aber nicht, ohne Indiana Jones noch einen raschen, durch und durch schadenfrohen Blick zuzuwerfen.
Die Tür fiel mit einem Knall hinter ihm ins Schloß.
«Was um Gottes willen ist denn jetzt los?«fragte Indiana verwirrt.
Lobsang schwieg, und Tsangpo schien plötzlich etwas furchtbar Interessantes an seinen Zehenspitzen entdeckt zu haben, denn er starrte mit höchster Konzentration auf seine Füße herab.
«Ich glaube, Ihr neuer Freund hat tatsächlich eine Möglichkeit gefunden, sein Leben zu retten«, sagte Moto ruhig.
Indiana sah ihn fragend an, und Moto seufzte sehr tief.»Er hat Hondos besten Mann zum Zweikampf herausgefordert«, sagte er.
«Wie bitte?«murmelte Indiana fassungslos. Völlig ungläubig starrte er den kleinwüchsigen Tibeter an, der allenfalls die Statur eines kräftigen Kindes hatte. Seine Hände mit den schlanken, sehnigen Fingern waren ja möglicherweise in der Lage, eine Gebetsmühle zu drehen, aber kaum, ein Schwert zu halten.»Ist er lebensmüde?«fragte er.
Lobsang lächelte noch freundlicher, und Moto antwortete an seiner Stelle:»Sie mißverstehen die Lage, Dr. Jones. Nicht er oder Tsangpo werden gegen Hondos Krieger antreten.«
Er sprach nicht weiter, aber plötzlich hatte Indiana das sehr, sehr ungute Gefühl, zu wissen, was er sagen wollte.
Und er hatte recht damit.
«Sie werden gegen ihn antreten, Dr. Jones«, sagte Moto ruhig.
«Heute abend, bei Sonnenuntergang.«
Indiana verbrachte die nächste halbe Stunde damit, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was ihm Moto vor vier Tagen über den Orden erzählt hatte, dessen Mitglied er vorgeblich war; genauer gesagt, ob sein Gelübde nur das Versprechen beinhaltete, nicht zu reden oder auch das, niemandem den Hals umzudrehen.
Moto hatte noch eine ganze Weile mit Lobsang geredet; und danach mit Hondo. Aber Indianas Hoffnung, der Samurai könnte die in seinem Namen ausgesprochene Herausforderung irgendwie zurückgenommen haben, erfüllte sich natürlich nicht. Er hätte sie sich ohnehin sparen können. Die Vorstellung, eine einmal ausgesprochene Herausforderung wieder zurückzunehmen, war selbst für einen Europäer nicht leicht; für einen Japaner, der nach strengsten Ehrenregeln lebte, war sie einfach undenkbar.
Unter dem Vorwand, sich auf den Zweikampf vorbereiten zu müssen, hatte sich Indiana mit den beiden Tibetern in einen kleinen Raum im rückwärtigen Teil des Gebäudes zurückgezogen, und sie waren kaum allein, als er auch schon begann, Lobsang mit einer wahren Flut von Beschimpfungen und Vorwürfen zu überschütten, auf die dieser so reagierte, wie tibetische Mönche auf so ziemlich alles reagierten, was ihnen widerfuhr: mit einem milden, verständnisvollen Lächeln, das Indiana schier zum Wahnsinn trieb. Im übrigen beruhigte er Indiana damit, daß der Ausgang des Kampfes vom Schicksal vorausbestimmt sei und es keinen Grund gäbe, sich zu ängstigen.
Indiana verdrehte beinahe verzweifelt die Augen.»Na, wenn das so ist, ist ja alles in bester Ordnung«, knurrte er.»Alles ist vorausbestimmt, wie? Dann brauchen wir uns ja um nichts mehr Sorgen zu machen und können genausogut die Hände in den Schoß legen und abwarten, was passiert!«
«Wenn es das Schicksal so vorbestimmt, so wirst du auch das tun«, sagte Lobsang.
«Ja«, fauchte Indiana.»Und vielleicht bricht sich Hondos Mann auf dem Weg zum Duellplatz den Hals! Wofür zum Teufel hältst du mich? Für einen verdammten Ninja? Ich weiß nicht einmal genau, an welchem Ende man ein Schwert anfassen muß!«Vor seinem inneren Auge erschien noch einmal der schreckliche Anblick des Korridors in Motos Haus, der voller zerstückelter Leichen gewesen war. Wenn der Mann, den Hondo gegen ihn aufstellte, auch nur halb so gut war wie Moto, dann sollte er vielleicht jetzt schon damit beginnen, Zahlen auf seine Gliedmaßen zu malen, damit das Sortieren später nicht so schwierig war …
«Ich verstehe deine Sorge«, sagte Lobsang sanft.»Doch die Lage ist nicht ganz so aussichtslos, wie du vielleicht meinst.
Als Herausforderer obliegt dir die Wahl der Waffen. Und Tsangpo und ich werden dir helfen. «Er warf einen raschen Blick zu seinem Begleiter, der an der Tür stand und zu meditieren schien. In Wirklichkeit lauschte er konzentriert, damit niemand sie überraschte. Es wäre einigermaßen peinlich gewesen, hätte man einen Bruder aus dem Orden der Stummen dabei überrascht, wie er wie ein Wasserfall redete.
«Helfen?«fragte Indiana verwirrt.»Wie wollt ihr mir helfen?«
«Es ist auch unser Leben, das auf dem Spiel steht«, sagte Lobsang lächelnd.»Und es ist nicht das Schwert, das den Kampf entscheidet, sondern die Hand, die es führt.«
«Wie tröstlich«, maulte Indiana.»Kannst du mir zufällig auch in zwei Stunden beibringen, wie ich mit einem ausgewachsenen Samurai fertig werde?«
«Ich kann es versuchen«, antwortete Lobsang.
Indiana blinzelte.»Wie?«
Lobsang lächelte wieder dieses nichtssagende, freundliche Lächeln, breitete die Arme aus und hob den Kopf in den Nacken.»Schlage mich«, verlangte er.
«Nichts, was ich lieber täte!«knurrte Indiana und schoß einen geraden Faustschlag auf Lobsangs Kinnspitze ab.
Jedenfalls versuchte er es.
Aber Lobsang war plötzlich nicht mehr da. Seine Faust schoß ins Leere, und Indiana hatte alle Hände voll zu tun, nicht von der Wucht seines eigenen Schlages von den Füßen gerissen zu werden.
Verwirrt blickte er den Tibeter an. Natürlich hatte er mit einem Trick gerechnet und Lobsang keine Sekunde aus den Augen gelassen. Er hätte jeden Eid geschworen, daß Lobsang sich nicht bewegt hatte — und trotzdem stand er plötzlich gute zwei Meter von der Stelle entfernt, an der er gewesen war, als Indiana nach ihm geschlagen hatte.
Indiana holte zu einem gewaltigen Hieb aus — und trat dann warnungslos nach Lobsangs Beinen.
Diesmal gelang es ihm nicht mehr, seiner eigenen Kraft Herr zu werden. Er landete reichlich unsanft auf dem Hinterteil und starrte mit einer Mischung aus Erstaunen und Zorn zu dem Tibeter hoch. Lobsang lächelte — was auch sonst?
«Wie hast du das gemacht?«murrte Indiana, während er umständlich versuchte, auf die Füße zu kommen.
«Ich habe nichts gemacht«, antwortete Lobsang.»Die Kunst des lächelnden Kriegers besteht darin, die Kraft des Gegners gegen diesen selbst einzusetzen. «Er streckte Indiana die Hand entgegen, um ihm vollends aufzuhelfen. Indiana griff danach — und fand sich nach einem blitzartigen Salto auf dem Rücken liegend und nach Luft ringend am anderen Ende des Zimmers wieder. Zum Teufel, Lobsang hatte ihn kaum berührt!
Umständlich stand er auf, betastete seine schmerzenden Knochen und schüttelte hastig den Kopf, als Lobsang ihm hilfreich die Hand entgegenstreckte.
«Okay«, sagte er dann.»Zeigt mir, wie das funktioniert.«
Mit Einbruch der Dämmerung erschien Moto in Begleitung zweier weiterer Japaner in seiner Unterkunft, um ihn abzuholen. Der Samurai trug jetzt eine schneeweiße, mit goldenen Tressen und Borden verzierte Uniform, auf der ein ganzes Dutzend Orden glänzte und klimperte. Auch seine beiden Begleiter trugen Paradeuniformen.
Moto sah ihn einen Moment lang durchdringend an, dann wandte er sich an Lobsang. Indiana verstand die Antwort des Tibeters ebensowenig wie Motos Frage, aber was Lobsang sagte, schien Moto alles andere als zu erfreuen. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, aber der Ausdruck von Sorge in seinem Blick vertiefte sich noch.
Wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht, dachte Indiana. Während der letzten beiden Stunden hatte sich Lobsang alle Mühe gegeben, ihn in die Kunst des» lächelnden Kriegers «einzuweisen — was im Klartext nichts anderes hieß, als daß er Indiana so oft durch das Zimmer geworfen, ins Leere hatte laufen und nach einem Phantom schlagen lassen, daß Indy nicht mehr ganz sicher war, ob sich alle seine Körperteile noch an dem dafür vorgesehenen Platz befanden. Besonders viel gelernt hatte er dabei nicht.
Was er eigentlich auch nicht erwartet hatte. Es wäre naiv, sich im Ernst einzubilden, in zwei oder drei Stunden eine Kampfkunst erlernen zu können, zu deren Beherrschung andere ein ganzes Leben benötigten. Aber wenigstens waren die vergangenen Stunden nicht langweilig gewesen …
Sie verließen das Haus und traten auf einen weitläufigen, an drei Seiten von hohen Ziegelsteinmauern begrenzten Hof hinaus. Weit über hundert Soldaten hatten sich eingefunden, um dem Duell zuzusehen.
Indiana spürte, wie seine Knie weich wurden, als er seinen Gegner erblickte.
Er hatte nicht unbedingt einen Schwächling erwartet — aber das nun auch wieder nicht. Eigentlich hatte er bisher nicht einmal gewußt, daß es Japaner mit einer Körpergröße von weit über zwei Metern gab.
Aber es gab sie, und einem davon stand er jetzt gegenüber.
Die Schultern des Burschen waren ungefähr doppelt so breit wie seine eigenen, und die Muskelstränge auf seinen nackten Oberarmen waren dicker als Indianas Handgelenke. Sein Gesicht war breit und fleischig und hatte einen brutalen Zug, und seine Hände sahen aus, als zerschlüge er Eichentüren zum puren Zeitvertreib. Oder auch Köpfe.
Indiana blieb wie angewurzelt stehen, als er den Riesen erblickte. Er konnte spüren, wie das Blut aus seinem Gesicht wich.
«O verdammt«, flüsterte er, so leise, daß nur der unmittelbar neben ihm stehende Moto die Worte verstand.»Ich glaube fast, ich … ziehe es doch vor, diesen Kampf abzusagen.«
«Ich fürchte, das geht nicht, Dr. Jones«, sagte Moto bedauernd.»Sie würden Ihr Gesicht verlieren.«
«Das macht gar nichts«, versicherte ihm Indiana.»Wirklich, ich fühle mich sehr wohl als Feigling.«
«Sie verstehen mich nicht«, antwortete Moto.»Sie würden es wirklich verlieren. Sehen Sie diese Soldaten dort?«Er deutete auf ein halbes Dutzend Japaner, die ihre Gewehre schußbereit vor der Brust hielten. Indiana nickte.
«Sie haben Befehl, sofort und ohne Vorwarnung zu schießen, sobald einer der beiden Kontrahenten zu fliehen oder dem Kampf auszuweichen versucht. «Er sah Indiana stirnrunzelnd an.»Haben Sie Angst?«
Was für eine dämliche Frage, dachte Indiana.»Lobsang hat mir … ein paar Tricks gezeigt«, sagte er stockend. Moto sah ihn zweifelnd an, und Indiana teilte diese Zweifel durchaus. Gegen dieses Riesenbaby hätte er wahrscheinlich mit einem Maschinengewehr oder einem Flammenwerfer eine Chance gehabt; aber kaum mit bloßen Händen oder einem Schwert. Ich könnte ja versuchen, ihn totzugrinsen, dachte Indiana sarkastisch, während er versuchte, Lobsang mit Blicken aufzuspießen. Der Tibeter lächelte.
Indiana raffte all seinen Mut zusammen und trat durch den Kreis der Soldaten.
Sein Gegner blickte ihn an; mit unbewegtem Gesicht, aber einem bösen Funkern in den Augen. Gleichzeitig stieß er einen knurrenden Laut aus, der sich fast wie das Grollen eines zornigen Ochsen anhörte, und ballte die Hände zu Fäusten, die nicht viel kleiner als Indianas Kopf waren. Der Japaner war kein Riese, dachte Indiana erschüttert. Er war ein Berg von einem Mann. Ein Berg, der gleich auf ihn herabfallen und ihn zermalmen würde.
Der Japaner grinste, trat ein paar Schritte zurück und hob einen Knüppel, den Indiana gut und gerne als Balken bezeichnet hätte: Er war etwas dicker als Indianas Unterarme. Zwei-, dreimal ließ er seine Keule spielerisch durch die Luft pfeifen, dann packte er sie wieder mit beiden Händen — und zerbrach sie ohne die mindeste Anstrengung in drei gleichgroße Stücke.
Indiana schluckte trocken. Vor seinem inneren Auge sah er, wie dieser King-Kong-Verschnitt dasselbe mit seinen Armen machte.
«Keine Sorge«, flüsterte Moto neben ihm.»Der Kerl ist stark, aber dumm. Und wahrscheinlich nicht besonders schnell.«
Wie tröstlich, dachte Indiana. Fließende Lava war das meistens auch nicht. Trotzdem hatte er von keinem Fall gehört, daß es jemandem gelungen wäre, sie mit bloßen Händen aufzuhalten.
In der Erwartung, daß der Kampf nach diesen Präliminarien unverzüglich beginnen würde, hob Indiana die Fäuste, aber Moto hielt ihn mit einer raschen Handbewegung und einem Kopfschütteln zurück. Auf eine zweite Geste hin tauchten Hondo und drei weitere Japaner am Rande des mit roten Bändern markierten Kampfplatzes auf, allesamt herausgeputzt wie die Pfingstochsen und mit Gesichtern, als befänden sie sich auf dem Weg zu einer Beerdigung. Genaugenommen waren sie das ja auch …
Hondo sagte etwas auf japanisch, Moto antwortete in derselben Sprache, dann war wieder Hondo an der Reihe … Indiana gab es auf, aus Betonung und Mimik der beiden den Sinn dieses Gespräches erraten zu wollen, sondern nickte nur dann und wann, wenn Moto ihm ein Zeichen gab. Es folgte ein fast viertelstündiges Palaver, das im wesentlichen daraus bestand, daß sich die beiden Kontrahenten — auf dem Umweg über ihre Sekundanten — ihre gegenseitige Hochachtung aussprachen und die strikte Einhaltung der Regeln versicherten (von denen Indiana nicht die blasseste Ahnung hatte).
Schließlich blieb Indiana allein mit King Kong auf dem Kampfplatz zurück. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, daß sich Lobsang und Tsangpo am Rand der abgesteckten Fläche auf die Knie herabließen und die Hände flach vor den Gesichtern gegeneinanderlegten. Ihre Lippen begannen eine monotone Formel zu murmeln, die ihnen wahrscheinlich helfen sollte, sich in religiöse Trance zu versetzen.
Indiana trat seinem Kontrahenten entgegen, verbeugte sich und riß das Knie hoch, als sich King Kong ebenfalls verneigte.
Fast zu seiner eigenen Überraschung traf er, obwohl er sich wunderte. Sein Knie landete wuchtig direkt in King Kongs Gesicht. Indiana keuchte vor Schmerz, so heftig hatte er zugestoßen.
King Kong nicht. Er tat Indiana nicht einmal den Gefallen zu wanken oder wenigstens ein ganz kleines bißchen zu zittern.
Seelenruhig richtete er sich auf und maß Indiana mit einem Blick, in dem sich Verachtung und hämische Schadenfreude mischten. Ein dünner Blutstrom rieselte aus seiner Nase. Er machte sich nicht einmal die Mühe, ihn wegzuwischen.
«Ommm …«murmelten Lobsang und Tsangpo einstimmig, und Indiana holte aus und schlug Kong die geballte Faust direkt auf die Kinnspitze.
Der Erfolg war beeindruckend.
Kong grinste, während sich aus den Reihen der Zuschauer höhnisches Gelächter erhob und Indiana auf einem Knie herumzuhüpfen begann und seine geprellte Faust gegen den Leib preßte.
Indiana fluchte lautlos in sich hinein, schüttelte den Schmerz aus seiner Hand, sprang in die Höhe, riß das rechte Knie an den Leib und stieß den Fuß dann mit aller Gewalt fast senkrecht nach oben.
King Kong trat lässig zur Seite und schnippte Indianas Fuß wie einen lästigen Moskito beiseite. Indiana überschlug sich in der Luft, landete unsanft auf dem Rücken und rang nach Atem.
Die zusehenden Soldaten gröhlten, und Lobsang und Tsangpo steuerten ein mißbilligendes» Ommm!«bei.
Die bunten Sterne vor Indianas Augen verblaßten allmählich, und er konnte wieder sehen. Konkret blickte er in King Kongs Gesicht, und was er darin sah, half ihm, schleunigst wieder auf die Beine zu kommen. Kongs Lächeln war erloschen.
Aus dem Spiel wurde ernst.
Als der Körper des Japaners wie eine Lawine auf ihn zurollte, begriff Indiana, daß es vorbei war. Er hatte nicht einmal mehr Zeit, Angst zu empfinden. Er hoffte nur, daß es schnell ging.
«Ommm …«summten Lobsang und Tsangpo.
Etwas sehr Sonderbares geschah. Obwohl die Stimmen der beiden Tibeter keinen Deut lauter waren als zuvor, hörte Indiana ihren Ton viel deutlicher; nicht lauter, aber irgendwie präsenter. Das Summen hielt an, wurde irgendwie … mächtiger, als durchdränge es plötzlich alles — und plötzlich wurde King Kong langsamer und langsamer, bis er sich nur noch im Zeitlupentempo auf Indiana zubewegte.
Es war, als wäre sein Körper plötzlich von einem unsichtbaren, zähen Sirup eingeschlossen, der jede seiner Bewegungen um das Zehnfache verlangsamte. Der Anblick verwirrte Indiana so sehr, daß ihn die Faust des Japaners um ein Haar trotzdem getroffen hätte.
Im letzten Moment erst wich er ihr aus, machte hastig einen Schritt zur Seite — und riß abermals verblüfft die Augen auf.
King Kong war nicht der einzige, der sich plötzlich wie in einem mit viel zu langsamer Geschwindigkeit ablaufenden Hollywood-Film bewegte … Auch die Zuschauer, allen voran Hondo, dessen Gesicht vor Blutgier zu leuchten schien, waren in diesem unheimlichen Zeitablauf gefangen. Arme, die jubelnd hochgerissen wurden, bewegten sich im Schneckentempo, aufgerissene Münder waren zu grotesken Grimassen erstarrt, einer der Soldaten hatte seine Mütze hochgeworfen, die sich jetzt plötzlich träge wie ein nasses Blatt bewegte, das von einer Sturmböe davongeweht wurde…
Einen Moment lang fragte sich Indiana ganz ernsthaft, ob das schon das Ende war. Hatte ihn King Kongs Fausthieb vielleicht auf der Stelle umgebracht, und das war es, was auf der anderen Seite wartete?
Unsinn. Außerdem konnte Indiana der Versuchung einfach nicht widerstehen. Als Kong wie in Zeitlupe an ihm vorübertaumelte und sich auf seinem Gesicht ein absurder Ausdruck der Verblüffung auszubreiten begann, trat Indiana ihm kräftig in die Kniekehle. Ohne Erfolg zwar, aber mit einer gewaltigen inneren Befriedigung.
Das letzte» m «von Lobsangs Ommm verklang, und von einem Sekundenbruchteil auf den anderen war alles wie vorher.
Lärm und Geschrei schlugen wie eine Woge über Indiana zusammen, King Kong machte einen torkelnden Schritt nach vorn und knickte plötzlich mit dem linken Bein ein, als Indianas Tritt mit einiger Verzögerung trotzdem noch eine Wirkung tat, und kämpfte Augenblicke lang mit wild rudernden Armen vergebens um sein Gleichgewicht.
Die Jubelschreie und Hochrufe der Japaner verstummten abrupt, als der Riese der Länge nach vor ihre untergeschlagenen Beine fiel. Hondos Augen wurden groß. Motos auch. Lobsang lächelte.
Kong lächelte nicht. Ganz im Gegenteil — sein Gesicht war zu einer Grimasse aus Wut und Mordlust verzerrt, als er sich mit einer ungeheuer kraftvollen Bewegung hochstieß und schnell wie eine Schlange zu Indiana herumwirbelte. Lobsang und Tsangpo beugten sich vor, und wieder durchdrang ein summendes, lang anhaltendes» Ommm «die Wirklichkeit und dehnte sie wie Kaugummi.
Indiana trat gemächlich einen Schritt zur Seite und betrachtete mit fast wissenschaftlichem Interesse Kongs Körper, der plötzlich fast waagerecht in der Luft lag und auf ihn zuglitt — ungefähr so schnell wie eine arthritische Landschildkröte, die einen Berg zu ersteigen versuchte. Kongs Technik war perfekt, das mußte er zugeben. Der Bursche war nicht nur groß, sondern mußte auch ein Meister im Kung Fu oder Karate oder irgendeiner anderen asiatischen Schlagetot-Technik sein. Seine vorgestreckten Füße waren leicht einwärts geknickt, so daß sie ihr Ziel mit der harten äußeren Fußkante treffen konnten; wahrscheinlich heftig genug, um einen Eichenbalken zu zertrümmern. Er war nur ein bißchen langsam …
Indiana ergriff sein rechtes Bein, riß es zur Seite und trat zurück, während Lobsangs mmm … allmählich leiser wurde.
Sehr viel lauter war eine halbe Sekunde später Kongs Schrei, als er kopfüber im Dreck landete, gute zwei Meter von Indianas neuer Position entfernt.
Selbst ohne die Hilfe der beiden Tibeter hätte Indiana in diesem Moment wahrscheinlich Zeit genug gehabt, einen wirkungsvollen Treffer anzubringen, denn der Japaner blieb geschlagene drei Sekunden regungslos liegen. Fassungslosigkeit, Schrecken, Unglaube und Wut spiegelten sich in seinem Gesicht — aber auch noch etwas anderes, das so intensiv war, daß er Indiana beinahe leid tat.
Allerdings war dies nicht der einzige Grund, aus dem er darauf verzichtete, seinem Gegner nachzusetzen und ihn die Faust spüren zu lassen. Er hatte keinen Beweis dafür, aber er war sicher, daß die Kraft, die ihm plötzlich half, sich nicht zu einem Angriff mißbrauchen lassen würde.
Umständlich rappelte sich der Japaner wieder auf. Für den Bruchteil einer Sekunde huschte so etwas wie Respekt über sein Gesicht — aber dann verdunkelte sich sein Antlitz, und er stürmte mit hoch erhobenen Fäusten heran.
Nach Lobsangs siebtem oder achtem Ommm hatte er kaum noch die Kraft, auf seinen eigenen Beinen zu stehen, und seine Hiebe hatten ebenfalls an Kraft und Schnelligkeit eingebüßt. Es war an der Zeit, dem grausamen Spiel ein Ende zu bereiten.
Lobsang schien das auch so zu sehen, denn er warf Indiana einen auffordernden Blick zu. Als Kong das nächste Mal in slow motion erstarrte, trat Indiana hinter ihn, packte seinen Arm und verdrehte ihn so, daß sich die Kraft des Riesen gegen sich selbst richtete. Ein häßliches Knirschen ertönte und gleich darauf der gellende Schrei des Japaners, der vor Indiana in die Knie brach.
Indiana ließ ihn los, trat einen Schritt vor und sah fragend zu Moto hinüber.
Das Gesicht des göttlichen Sohnes war zu einem Ausdruck völligen Entsetzens erstarrt, während sich auf Hondos Zügen ein zunehmender Ausdruck von Zorn und Haß ausbreitete, als er mit einem Ruck den Kopf wandte und Moto ansah.
Aber Hondo wäre kein japanischer Offizier gewesen, hätte er seine Fassung nicht binnen Sekundenbruchteilen wiedergefunden. Als er sich wieder zu Indiana herumdrehte, war sein Gesicht so ausdruckslos und beherrscht wie üblich.
Indiana hörte ein dumpfes Stöhnen und machte einen hastigen Schritt zur Seite, als King Kong sich mühsam zu bewegen begann; nur für den Fall, daß der Japaner sich zu einer Unbe-dachtsamkeit hinreißen ließ.
Seine Sorge war unbegründet. Der Japaner stand schwankend auf. Sein Gesicht war schmerzverzerrt, während er die Hand auf die linke Schulter legte, die er sich freundlicherweise selbst ausgerenkt hatte. Aber in seinem Blick lag kein Haß, als er Indiana ansah, sondern beinahe so etwas wie Bewunderung; und ein Ausdruck tiefen, ehrlich empfundenen Respekts.
Auch Hondo und die anderen erhoben sich; alle mit Ausnahme Lobsangs und Tsangpos, die mit gefalteten Händen dasaßen und sich im Takt einer unhörbaren Melodie weiter vor- und zurückwiegten — vielleicht, vermutete Indiana, um notfalls sofort loszukommen. Der Gedanke an das, was geschehen war, jagte Indiana mit einiger Verspätung einen eisigen Schauer über den Rücken. Indiana Jones gehörte nicht zu den Menschen, die das Wort Magie von vornherein mit einem Lächeln abtaten. Dazu hatte er zuviel erlebt, was mit Logik allein nicht zu erklären war.
Aber das …
Er verscheuchte den Gedanken, als ihm klar wurde, daß Hondo sich mittlerweile zum dritten Mal mit den gleichen Worten an ihn wandte. Fragend sah er den Japaner an.
Moto übersetzte:»Major Hondo drückt Ihnen seine Hochachtung aus, Dr. Jones. Gleichzeitig versichert er Ihnen, daß es nicht in seiner Absicht gelegen hätte, in irgendeiner Form an Ihrer Ehre zu rühren, indem er Ihnen einen derartig unwürdigen Gegner zuwies. Er versichert, daß es nicht in seiner Absicht lag, einen derartigen Meister der Kriegskunst wie Sie zu beleidigen.«
Indiana sah Hondo an und lächelte, und der leicht verkniffene Ausdruck auf dem Gesicht des Japaners entspannte sich; allerdings nur ein wenig.
«Trotzdem ist Major Hondo natürlich bereit, für diese Schmach persönlich geradezustehen, sollten Sie Satisfaktion verlangen, Dr. Jones«, fuhr Moto fort.
Wieder lächelte Indiana Hondo an, und er gönnte sich den Spaß, den Offizier sekundenlang im eigenen Saft schmoren zu lassen, ehe er eine Kopfbewegung und eine eindeutige Geste machte. Hondo atmete deutlich erleichtert auf, richtete ein paar Worte an ihn, brach dann ab und wiederholte das ganze an Moto gewandt.
Wieder spielte der göttliche Sohn den Übersetzer:»Major Hondo«, sagte er,»dankt Ihnen für Ihren Großmut, Dr. Jones.
Er wird für den Rest seines Lebens in Ihrer Schuld stehen. Er bittet Sie jedoch, eine Frage stellen zu dürfen.«
Nur zu, dachte Indiana und nickte.
Hondo stellte keine Frage — das hatte er offensichtlich bereits getan —, denn Moto übersetzte seine Antwort sofort:»Ihre Art zu kämpfen hat ihn tief beeindruckt, Dr. Jones. Er möchte Ihr Schüler werden, soweit das Ihre Zeit zuläßt.«
Indiana hatte im Grunde überhaupt nichts dagegen, Hondo alles beizubringen, was er über fernöstliche Kampfkunst wußte — schließlich beschränkte sich sein Wissen auf die (amerikanische) Schreibweise von drei oder vier dieser Techniken. Aber natürlich konnte er das nicht sagen. So tat er das, was Moto und er für einen solchen Fall vorgesehen hatten: Er machte eine Reihe komplizierter, völlig sinnloser Handbewegungen, und Moto tat so, als hätte er ihre Bedeutung begriffen und gab Hondo eine Antwort auf japanisch. Der Offizier wirkte enttäuscht, lächelte aber trotzdem und verbeugte sich so tief, daß Indy beinahe damit rechnete, seine Stirn würde seine auf Hochglanz polierten Stiefelspitzen berühren.»Ich habe ihm erklärt, daß dies zu Ihrem großen Bedauern nicht möglich ist, Dr. Jones«, sagte Moto.»Ihr Eid verpflichtet Sie, das Geheimnis Ihrer Kriegskunst nur an Mitglieder Ihres eigenen Ordens weiterzugeben. «Etwas leiser und mit einem Blick, der kommendes Unheil versprach, fügte er hinzu:»Davon abgesehen — ich würde mich auch ganz gern mit Ihnen darüber unterhalten.«
Indiana grinste ihn an. Manchmal, dachte er, war es vielleicht ganz praktisch, nicht reden zu dürfen.
Indiana hatte weit mehr gewonnen als ein Duell. Von der Mischung aus Verachtung und Feindseligkeit war nichts, aber auch gar nichts mehr geblieben, als sie den Kampfplatz verließen und wieder ins Haus und das Zimmer zurückgingen, in dem Lobsangs ›Unterricht‹ stattgefunden hatte. Hatte er auf dem Weg hierher eine Art Spießrutenlauf hinter sich gebracht, so behandelten ihn die Japaner jetzt mit einer Ehrerbietung, die schon fast peinlich war. Moto mußte all seine Autorität und Überredungskunst aufbieten, damit sie allein gelassen wurden.
Als er sich jedoch dann zu Indiana umwandte, war in seiner Stimme sehr wenig Ehrerbietung, dafür jedoch ein Zorn, den er kaum noch zu unterdrücken vermochte, und den Indiana auch in seinen Augen las. Motos Wut war nichts, was er auf die leichte Schulter nehmen konnte. Er mußte auf der Hut sein.
«Finden Sie nicht, daß Sie mir ein paar Erklärungen schuldig sind, Dr. Jones?«schnauzte er.
«Selbst wenn das so wäre«, antwortete Indiana amüsiert, aber auch sehr vorsichtig,»wäre ich nicht in der Lage, welche abzugeben. «Er fing einen raschen, beinahe warnenden Blick Lobsangs auf, verstand, was der Tibeter ihm sagen wollte, und improvisierte den Rest seiner Antwort.»Ich habe ein Schweigegelübde abgelegt, Mr. Moto.«
Motos Hand fiel auf das Schwert herab und schloß sich so fest darum, daß Indiana seine Knöchel knirschen hören konnte.»Treiben Sie es nicht zu weit, Jones!«sagte er gefährlich leise.»Auch meine Geduld hat Grenzen.«
«Worüber regen Sie sich auf?«fragte Indiana ruhig.»Was habe ich getan? Wäre es Ihnen lieber gewesen, wenn mich dieser King-Kong-Verschnitt umgebracht hätte?«
Moto antwortete nicht darauf — aber Indiana las in seinen Augen, daß ihm diese Vorstellung nicht einmal so unsympathisch zu sein schien. Vielleicht sollte er sein Verhältnis zu Moto noch einmal überdenken. Sie hatten eine Art Waffenstillstand geschlossen; aber keine Freundschaft.
«Ich dachte, ich hätte Ihr Ehrenwort, daß wir offen zueinander sind«, sagte Moto.
«War ich das denn nicht?«erwiderte Indiana.
Moto machte eine zornige Handbewegung, bei der er wenigstens die Hand vom Schwertgriff löste.»Sie haben mir verschwiegen, daß Sie die Kunst des lächelnden Kriegers beherrschen«, sagte er.
«Ich wußte nicht, daß es so wichtig für Sie ist«, antwortete er.»Außerdem: Ich denke, jetzt sind wir quitt, göttlicher Sohn.«
Moto starrte ihn an. Seine Lippen wurden zu dünnen, blutleeren Strichen, und für eine Sekunde war Indiana felsenfest davon überzeugt, daß er nun doch zu weit gegangen war. Aber dann entspannte sich Moto wieder — und zwang sich sogar zu etwas, das er selbst wahrscheinlich für ein Lächeln hielt.»Touché!«sagte er.»So sagt man doch bei Ihnen, nicht wahr, Dr. Jones?«
«Ja«, erwiderte Indiana ernst.»Obwohl ich nicht glaube, daß es angebracht ist. Ich werde den Verdacht nicht los, Mr. Moto, daß Sie mir immer noch einige Punkte voraus sind.«
Moto überging die Bemerkung mit diplomatischem Schweigen.
«Und wie geht es jetzt weiter?«fragte Indiana nach einer Weile, als ihm klar wurde, daß Moto nicht von sich aus das Wort ergreifen würde, sondern ihm die Initiative — und damit die Möglichkeit, Fehler zu machen — überließ.»Ich meine, nachdem wir uns alle köstlich amüsiert und ich eine Kostprobe der berühmten japanischen Gastlichkeit bekommen habe — was gedenken Sie jetzt zu Tamaras Rettung zu unternehmen?«
Moto antwortete auch jetzt nicht sofort. Er streifte die beiden Tibeter mit einem Blick, der alles andere als freundlich war, und Indiana rechnete eigentlich damit, daß er sie aus dem Zimmer schicken würde. Aber er tat es nicht. Statt dessen beantwortete er mit einiger Verzögerung Indianas Frage:»Major Hondo und zweihundertfünfzig seiner Männer brechen im Morgengrauen auf. Wir wissen jetzt, wo Dzo-Lins Lager ist. Es wird nicht leicht, den Fuchs aus seinem Bau herauszujagen.
Aber wir haben genug Männer und Waffen. Ich hätte Ihnen dringend geraten, hierzubleiben oder sich zumindest aus den direkten Kampfhandlungen herauszuhalten«, fügte er mit einem hörbaren Anflug von Gehässigkeit in der Stimme hinzu,»aber nach dem, was ich gerade gesehen habe, brauche ich mir ja wohl keine Sorgen um Sie zu machen. Sagen Sie, Dr. Jones — sind Sie zufällig auch noch kugelfest?«
Indiana war ein wenig irritiert. Er konnte sich zwar vorstellen, wie beeindruckt Moto und auch die anderen von der kleinen Vorstellung waren, die er mit Hilfe der beiden Tibeter gerade unten im Hof gegeben hatte, aber Motos Reaktion erschien ihm trotzdem völlig überzogen. Der Japaner war nicht nur beeindruckt und verwirrt — er war eindeutig verletzt. Aber warum?
«Bitte lassen Sie den Unsinn, Mr. Moto«, sagte er ernst.»Wir haben Wichtigeres zu besprechen.«
«Da bin ich nicht sicher«, antwortete Moto.»Ich habe lange mit Major Hondo und seinen Beratern gesprochen. Die Lage hat sich seit unserem letzten Gespräch ein wenig geändert.«
«Inwiefern?«fragte Indiana.
Moto machte eine wegwerfende Geste.»Dzo-Lin und seine Räuberbande sind kein Problem mehr«, sagte er.»Sie waren gefährlich, solange wir nicht wußten, wo sie sich verstecken. Aber wir kennen ihr Versteck jetzt. In spätestens vierundzwanzig Stunden gibt es diesen sogenannten Rebellengeneral nicht mehr.«
Indiana spürte einen neuen, tiefen Schrecken. Motos Worte bedeuteten mehr als das, wonach sie sich im ersten Augenblick anhörten. Er hatte mit eigenen Augen gesehen, wie wenig diesem Mann ein Menschenleben galt, und er wußte auch, daß Moto in dieser Hinsicht keineswegs eine Ausnahme darstellte.
Zwanzigstes Jahrhundert oder nicht- die japanischen Soldaten unterschieden sich auch heute in ihrer Grausamkeit und Konsequenz kaum von den Samurai-Kriegern des Mittelalters.
Wenn ein Mann wie Moto sagte, daß er einen Gegner auslöschen wollte, dann meinte er das wortwörtlich. Vielleicht lag es an der Geschichte dieses Volkes, das, solange es existierte, stets darunter gelitten hatte, Massen von Menschen auf kleinstem Raum unterbringen zu müssen. Ein Menschenleben galt einem Samurai nicht viel; auch sein eigenes nicht.
«Sie dürfen Tamara auf keinen Fall in Gefahr bringen«, sagte er.
«Das liegt nicht in meiner Absicht«, antwortete Moto leise.»Aber ich fürchte, daß es nicht nach mir geht, Dr. Jones. «Er warf einen raschen, fast feindseligen Blick auf die beiden Tibeter, die neben der Tür saßen, ehe er fortfuhr:»Ich weiß nicht genau, wofür Sie mich halten, Jones. Aber so schwer es mir fällt, es zuzugeben, es ist so, daß ich hier nichts zu sagen habe.
Hondo ist der Befehlshaber dieser Garnison, und er hat entschieden, Dzo-Lins Lager mit einem schnellen, harten Schlag zu treffen und zu vernichten.«
«Reden Sie keinen Unsinn, Mann!«sagte Indiana zornig.
«Sie könnten ihn davon abhalten.«
«Vielleicht«, gestand Moto nach kurzem Überlegen.»Aber ich bin nicht sicher, ob ich das sollte.«
«Wieso?«
«Sie mißverstehen noch immer die Lage, in der wir uns befinden, Dr. Jones«, antwortete Moto.»Sie und ich, wir sind hier, um das Schwert zu finden und möglichst auch noch Miss Jaglova zu befreien. Aber in diesem Land herrscht Krieg. Und General Dzo-Lin und seine Räuberarmee fügen unseren Truppen seit Monaten schwere Schäden zu. Die Zahl ihrer Opfer geht in die Hunderte, wenn nicht Tausende. Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, die vielleicht einzige Chance, ihn zu stellen, aufs Spiel zu setzen, nur um ein einzelnes Menschenleben zu retten.«
«Wenn das so ist«, sagte Indiana zornig,»dann vergessen Sie unsere Abmachung, Moto! Sollte Tamara etwas zustoßen, erfahren Sie von mir kein Wort, das schwöre ich Ihnen!«
«Das wäre bedauerlich«, antwortete Moto,»aber nicht zu ändern. Major Hondo wird morgen früh aufbrechen, und bei Sonnenaufgang des nächsten Tages beginnt der Angriff auf Dzo-Lins Lager. Aber ich kann Hondo nicht befehlen, seine Flugzeuge nicht zu starten, nur weil ich Lust dazu habe. Er würde diesen Befehl verweigern — und zu Recht.«
Es dauerte fast eine Sekunde, bis Indiana überhaupt begriff, was Motos Worte wirklich bedeuteten.»Flugzeuge?«wiederholte er erschrocken.»Sie meinen … diese Narren haben einen Luftangriff auf das Lager vor?«
«Sie wären Narren, wenn sie das nicht vorhätten«, erwiderte Moto gelassen.»Dzo-Lins Bande hat sich in einem Tempel in den Bergen verschanzt, der so gut wie uneinnehmbar ist. Wie soll ich Hondo erklären, daß er seine Flugzeuge am Boden lassen und statt dessen fünfhundert oder auch tausend seiner Männer ins MG-Feuer der Rebellen schicken soll?«
«Aber damit bringen Sie Tamara um!«sagte Indiana aufgebracht.
«Ich weiß«, antwortete Moto ruhig.»Es herrscht Krieg.«
Indiana schloß in hilflosem Zorn die Augen. Er wußte, daß jedes weitere Wort sinnlos war. Sie waren nicht einfach nur zwei — potentielle — Gegner, die miteinander redeten. Was hier aufeinanderprallte, das waren zwei Welten, zwei grundverschiedene Denkweisen, die so wenig miteinander gemein hatten, daß ihre beiden Völker ebenso gut auf zwei verschiedenen Planeten hätten leben können.
«Verzeiht, wenn ich mich einmische, göttlicher Sohn«, sagte Lobsang vom Boden aus. Indiana und Moto blickten beide zu ihm herab.
«Was hast du jetzt wieder vor?«fragte Moto verächtlich.
«Soll ich einen Boten zu Dzo-Lin schicken und ihn zum Zweikampf herausfordern?«
Lobsang tat, was er immer tat, wenn er angesprochen wurde — er lächelte, und Indiana las auf Motos Gesicht ab, daß dieses Lächeln allmählich auch an seinen Nerven zu zerren begann.
«Das wäre kein kluger Einfall«, sagte er, als hätte er Motos Vorschlag ernsthaft erwogen.»Mein Bruder Tsangpo und ich sahen in unserer Vision auch General Dzo-Lin, den weißen Doktor und Euch, göttlicher Sohn. Aber wir sahen keine Armee.«
Moto schnaubte verächtlich.»Na, wunderbar!«sagte er.»Dann werden wir diese Bergfestung am besten allein stürmen und — «
«Aber natürlich!«unterbrach ihn Indiana. Moto wirbelte auf dem Absatz herum und starrte ihn zornbebend an, aber Indiana gab ihm keine Gelegenheit, etwas zu sagen, sondern deutete zuerst auf den knienden Tibeter, dann auf Moto und sich selbst.»Exakt das ist die Lösung!«
«Wie bitte?«fragte Moto in einem Ton, der klarmachte, daß er an Indianas Verstand zweifelte.
«Natürlich nicht nur Sie und ich, Moto«, antwortete Indiana.»Aber ich bin sicher, daß Major Hondo nichts dagegen hätte, General Dzo-Lin lebendig in die Hände zu bekommen.«
«Das ist unmöglich«, sagte Moto impulsiv, wurde aber schon wieder von Indiana unterbrochen.
«Das ist es nicht!«sagte Indiana überzeugt.»Überlegen Sie doch! Wenn dieses Felsenkloster wirklich so uneinnehmbar ist, wie Sie behaupten, dann fühlt sich Dzo-Lin wahrscheinlich sehr sicher. «Er überlegte sich seine nächsten Worte sehr genau.»Aber wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was ich über Ihre Krieger und vor allem die Samurai gehört habe, Mr. Moto, dann gibt es keinen Ort, an dem man vor ihnen sicher ist.«
Moto entging keineswegs der Umstand, daß diese Worte wenig mehr als eine Schmeichelei waren. Aber Indianas Rechnung ging trotzdem auf; er war einfach zu sehr Japaner, um den Köder nicht zu schlucken, auch wenn er den Haken darin sehen mußte.»Sie meinen …«, begann er.
«Ich meine, daß Sie und ich jetzt zu Major Hondo gehen und ihm folgenden Vorschlag unterbreiten sollten«, sagte Indiana.»Er soll seinen Angriff um einige Stunden verschieben. Nur lange genug, daß Sie und ich und allenfalls noch eine Handvoll ausgesuchter Männer in dieses Kloster eindringen und General Dzo-Lin selbst gefangennehmen können. Vielleicht vermeiden wir auf diese Weise sogar überflüssiges Blutvergießen. Wenn Dzo-Lin tatsächlich ein so berühmter und wichtiger Mann ist, dann geben seine Anhänger vielleicht auf, wenn wir ihn gefangennehmen.«
«Das ist Wahnsinn«, murmelte Moto. Aber er klang nicht sehr überzeugt.
«Nein«, widersprach Indiana.»Es ist wahrscheinlich Tamaras einzige Chance, am Leben zu bleiben. «Nach einer winzigen Pause fügte er hinzu:»Und Ihre, dem Schwert des Dschingis Khan auch nur nahe zu kommen.«
Das gab den Ausschlag. Moto druckste noch einen Moment lang herum, aber dann zwang er sich zu einem abgehackten Nicken.»Ich werde mit Hondo reden«, sagte er.»Aber noch eines, Dr. Jones: Wenn es mir gelingt, Ihre Bedingung zu erfüllen, dann sind wir quitt, wie Ihr Amerikaner sagt. Ich fühle mich von meinem Ehrenwort entbunden und verlange, daß Sie mir Miss Jaglovas Aufzeichnungen aushändigen und anschließend Ihrer Wege gehen.«
Es fiel Indiana nicht besonders schwer, auf dieses Ansinnen mit einem Nicken zu antworten. Mit einer einzigen Ausnahme — nämlich der, Moto Tamaras Aktenmappe ganz gewiß nicht auszuhändigen — hatte er sowieso genau das vorgehabt. Und was Motos Ehrenwort anging … Ob Moto sich nun dem Bushido verpflichtet fühlte oder nicht — Indiana hatte ohnehin das Gefühl, es niemals wirklich gehabt zu haben.