Wie es dem kleinwüchsigen Japaner gelungen war, ihn mehr als eine Meile weit zu tragen, war Indiana ein Rätsel, aber als er mit den schlimmsten Kopfschmerzen seines Lebens und vor Kälte schreienden Finger- und Zehenspitzen erwachte, da befand er sich genau diese Strecke entfernt vom Rand der Gletscherspalte. Moto hatte seinen Fallschirm diesmal nicht achtlos weggeworfen, sondern aus dem Stoff ein kleines Zelt improvisiert, das sie zwar nicht vor der Kälte, aber zumindest vor dem schneidenden Wind schützte. Und auch für einige der Schnüre hatte er eine nützliche Verwendung gefunden: Sie banden Indianas Hand- und Fußgelenke so sicher zusammen, daß er nicht zu der geringsten Bewegung fähig war.
Aber auch ohne Fesseln hätte er sich wahrscheinlich nicht bewegen können. Sein ganzer Körper fühlte sich taub an, und er war nicht sicher, ob ihn dieses Abenteuer nicht einige Zehen oder auch Finger kosten würde. Sein rechtes Knie schmerzte jetzt unerträglich, und sein Gesicht fühlte sich an, als hätte jemand versucht, ihm die Haut in Streifen herunterzuziehen.
Wenn es den gleichen Anblick bot wie seine Hände, dann sah es wohl auch ungefähr so aus.
Er war nicht von selbst erwacht. Moto hatte ihn sanft, aber ausdauernd geohrfeigt, bis ihn der brennende Schmerz die Augen öffnen ließ, und ihn danach solange gerüttelt, bis er sich wankend aufgesetzt hatte. Jetzt hockte er mit angezogenen Knien und zitternd vor Kälte an der Wand aus Eis, die das hintere Drittel ihres improvisierten Zeltes bildete, und starrte den Japaner mit einem Blick an, in den er vergeblich Haß oder wenigstens so etwas wie Wut hineinzulegen versuchte. Er war nur müde, so unendlich müde wie nie zuvor in seinem Leben. Gefühle aufzubringen erschien ihm viel zu mühevoll.
Moto saß knapp zwei Meter im Schneidersitz vor ihm, hatte die Waffe lässig an die Wand neben sich gelehnt und lutschte einen Schokoladenriegel, den er aus den unergründlichen Taschen seines Anoraks zutagegefördert hatte. Eine Weile hielt er Indys Blick ausdruckslos stand, dann zog er einen zweiten, in Stanniolpapier eingewickelten Schokoladenriegel hervor. Indiana schüttelte trotzig den Kopf.
Moto seufzte.»Sie sollten etwas essen, Dr. Jones«, sagte er ernsthaft.»Es ist sehr wichtig, daß Sie Ihrem Körper Nahrung zuführen. Der menschliche Körper verbrennt mehr Energie, wenn es so kalt ist wie hier.«
Indiana wollte nicht antworten. Sprechen war noch viel mühsamer als Denken, und er wußte, daß jedes herausgepreßte Wort Motos Triumph nur noch verstärken würde. Trotzdem murmelte er:»Was soll das, Moto?«Seine Lippen waren so taub vor Kälte, daß er kaum sprechen konnte.»Warum bringen Sie mich nicht endlich um? Macht es Ihnen solchen Spaß, mich zu quälen?«
«Umbringen?«Motos Überraschung war perfekt.»Aber warum sollte ich das, Dr. Jones? Haben Sie unser Abkommen schon vergessen? Wir wollten das Schwert gemeinsam suchen — und das werden wir. Vielleicht töte ich Sie hinterher. Aber jetzt auf keinen Fall.«
«Sie sind ja … komplett wahnsinnig, Moto«, flüsterte Indiana. Er mußte all seine Kraft aufbieten, um nicht nach vorn zu sinken und auf der Stelle einzuschlafen.»Wir sterben doch … sowieso.«
Moto lachte, wickelte den Schokoladenriegel aus, den er Indiana angeboten hatte, und biß hinein.»Für einen Mann von Ihrer Zähigkeit«, antwortete er kauend,»reden Sie sehr oft von Tod und Sterben, finden Sie nicht auch?«
«Und für einen Mann von Ihrer Intelligenz«, antwortete Indiana matt,»sind Sie erstaunlich naiv. Wir werden erfrieren, Moto. Spätestens wenn die Sonne untergeht. Dann wird es hier so kalt, daß Sie an Ihrem eigenen Atem ersticken.«
Moto mampfte genüßlich weiter.»Vielen Dank für das Kompliment, Dr. Jones«, sagte er mit vollem Mund.»Aber was den Rest Ihrer Behauptung angeht, so muß ich Sie leider enttäuschen. Ich denke nicht daran zu erfrieren.«
Indiana versuchte zu lachen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen zustande.»Sicher«, sagte er.»Ich nehme an, Sie haben einen Ofen und einen Sack Kohlen in der Tasche.«
«Keineswegs«, erwiderte Moto.»Aber etwas, das beinahe ebenso gut ist. Und entschieden nützlicher. «Er zog den Reißverschluß seines Anoraks herunter und zog eine klobige Leuchtpistole heraus.
Indiana sah ihn fragend an.
«Sie halten mich doch nicht für so dumm, Dr. Jones, daß ich losgeflogen wäre, ohne entsprechende Befehle zu erteilen«, sagte Moto in beinahe vorwurfsvollem Ton. Er lächelte milde und auf eine Art, die Indiana an Lobsang erinnerte.»Ich kann es nicht auf die Minute genau bestimmen«, fuhr er fort,»aber ich nehme an, daß in spätestens zwei oder drei Stunden ein weiteres Flugzeug hier auftaucht. Und dank der Hilfe Ihres dahingeschiedenen Freundes liegen wir ja ziemlich genau auf unserem Kurs, nicht wahr?«
«Sicher«, sagte Indiana düster.»Wenn Sie mit dem Piloten irgendwie Kontakt aufnehmen können, zeige ich ihm gern eine wunderschöne Landebahn.«
Moto lachte amüsiert.»Ich habe Ihre Landung beobachtet, Dr. Jones«, sagte er.»Mein Kompliment. So etwas schafft entweder nur ein Genie — oder ein Vollidiot. Ich frage mich seit Stunden vergeblich, was Sie nun eigentlich sind?«
«Ein Vollidiot«, sagte Indiana leise,»sonst wäre ich nicht auf Sie hereingefallen, göttlicher Sohn.«
Motos Lachen klang noch etwas amüsierter.»Wir sind hier nicht in einer Situation, in der Titel eine Rolle spielen«, sagte er.»Aber um Ihre Neugier zu befriedigen, an der Sie ja schon seit Tagen beinahe ersticken: Das, was ich Ihnen in Hongkong über mich erklärt habe, entspricht offen gesagt nicht ganz den Tatsachen.«
«Was für eine Überraschung«, murmelte Indiana.
«Es würde zu weit führen, Ihnen die genauen Zusammenhänge zu erklären«, sagte Moto herablassend.»Aber ich glaube, wenn ich mich als Mitglied des japanischen Kaiserhauses bezeichne, ist das nicht ganz falsch.«
Indiana war nicht überrascht.»Lobsang hat das gewußt«, vermutete er.
«Ja«, räumte Moto ein.»Fragen Sie mich nicht, wieso, aber er wußte offensichtlich, wer ich bin. Er hat es Ihnen nicht gesagt?«
«Nein«, sagte Indiana.»Hätte er es, dann hätte ich mir wohl auch lieber von diesem Riesenkerl aus Hondos Truppe den Schädel einschlagen lassen, statt weiter mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
Moto seufzte tief, schüttelte den Kopf und begann einen dritten Schokoladenriegel auszuwickeln.»Ich kann Ihre Gefühle verstehen, Dr. Jones«, sagte er.»Aber glauben Sie mir, Sie tun mir unrecht.«
«Sicher«, sagte Indiana.»Sie sind der ehrenhafteste, aufrechteste und netteste Kerl, der mir jemals begegnet ist.«
«Das bin ich wahrscheinlich nicht«, antwortete Moto.»Aber ich bin ein Mann, der seinem Kaiser und seinem Land die Treue geschworen hat und diesen Schwur über alles andere stellt. Ich dachte eigentlich, daß Sie das verstehen würden.«
«Ach?«fragte Indiana böse.
«Ja«, bestätigte Moto.»Und Sie würden es auch verstehen, wenn Sie es sich selbst gestatten würden, Dr. Jones. Wir sind uns viel ähnlicher, als Sie zugeben wollen. Auch Sie würden keine Rücksicht auf Ihr eigenes Leben oder das eines Fremden nehmen, wenn es um das Wohl und Wehe Ihres Landes geht.«
Er sah Indiana aufmerksam und durchdringend an.»Wie würden Sie handeln, wenn nicht ich hier säße, sondern ein Geheimagent der Deutschen? Würden Sie zu einem Nazi auch von Ehre und Aufrichtigkeit sprechen? Was würden Sie tun, wenn die Gefahr bestünde, daß Dschingis Khans Schwert in Hitlers Hände fällt? Würden Sie es ihm geben oder darum kämpfen?«
«Ich würde darum kämpfen«, antwortete Indiana überzeugt.
«Ich würde ihn vielleicht sogar töten, wenn es sein müßte; zumindest würde ich mein eigenes Leben verteidigen.«
«Sie haben schon Menschen getötet«, sagte Moto.»Vergessen Sie nicht, daß ich alles über Sie weiß, Dr. Jones.«
«Das habe ich«, sagte Indiana ruhig.»Aber niemals heimtük-kisch und hinterrücks, Moto. Ich bin kein Mörder, der Schnüre an Fallschirmen durchschneidet, und ich gebe auch nicht mein Ehrenwort, um es dann zu brechen.«
Er sah, daß seine Worte Moto wirklich trafen. Der Japaner sah aufgebracht aus, zugleich aber auch verletzt und beinahe beschämt.»Vielleicht ist das der grundlegende Unterschied zwischen Ihrem und unserem Volk, Dr. Jones«, sagte er ernst.»Wir sind bereit, all diese Dinge zu tun, wenn es sein muß, und hinterher die Konsequenzen zu tragen.«
«So?«fragte Indiana ätzend.»Was werden Sie tun, Moto?
Sich einen Eimer Asche über das Haupt schütten oder Harakiri begehen?«
«Vielleicht«, sagte Moto mit einer Ernsthaftigkeit, die Indiana schaudern ließ. Aber nur für einen Moment, dann gewann sein Zorn wieder die Oberhand.
«Falls Sie dabei Hilfe brauchen, lassen Sie es mich wissen«, sagte er.»Für einen guten Freund tut man schließlich alles.«
Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ein mörderischer Glanz in Motos Augen. Automatisch zuckte seine rechte Hand dorthin, wo er wohl normalerweise sein Katana trug, aber er führte die Bewegung nicht einmal zu Ende, sondern lächelte plötzlich und entspannte sich wieder.»Ich muß wiederholen, was ich schon einmal festgestellt habe«, sagte er.»Sie sind ein gefährlicher Mann, Dr. Jones. Sie wissen zu kämpfen. Nicht nur mit Waffen.«
«Das stimmt«, sagte Indiana wütend.»Bei Gelegenheit werde ich Ihnen demonstrieren, wie gut. Sollte ich jemals wieder nach Japan kommen, werde ich eine Menge Mühe und Zeit auf die Ahnenforschung verwenden. Vielleicht finde ich ja ein paar unangenehme und peinliche Dinge über Ihre Vorfahren heraus, die ich herumerzählen kann.«
Moto begann schallend zu lachen, schlug sich auf die Oberschenkel und beruhigte sich erst nach Minuten wieder.»Wirklich, Dr. Jones«, sagte er.»Sie gefallen mir. Es ist zu schade, daß ich es mir nicht leisten kann, Sie am Leben zu lassen. Aber ich verspreche Ihnen, daß Sie einen ehrenhaften Tod haben werden.«
Indiana zog es vor, nicht mehr darauf zu antworten. Es war seine Absicht, Moto zu reizen, allerdings nur weit genug, daß er sich möglicherweise dazu hinreißen ließ, ihm die eine oder andere Information zu geben; nicht so weit, daß er vielleicht handgreiflich wurde. Indys Bedarf an blauen Flecken, Prellungen, Schnitt- und Schürfwunden war gedeckt. Für die nächsten neunundachtzig Jahre.
Moto versuchte noch zwei-, dreimal, ihn mit provozierenden Bemerkungen aus der Reserve zu locken, aber Indiana starrte ihn nur stumm an, so daß sie schließlich beide in brütendes Schweigen versanken.
Die Zeit verstrich träge. Indiana erwog und verwarf in der nächsten Stunde ein gutes Dutzend Fluchtpläne, die trotz ihrer Unterschiedlichkeit eine Gemeinsamkeit hatten: Sie waren allesamt unmöglich. Sie wären selbst dann unmöglich gewesen, wenn es ihm wider jede Logik irgendwie gelungen wäre, sich seiner Fesseln zu entledigen und Moto zu überwältigen.
Wo sollte er hin? Wie sollte er auch nur eine Nacht in dieser Eiswüste überleben?
Nein — so schwer es ihm fiel, sich mit der Vorstellung abzufinden … seine einzige Chance, am Leben zu bleiben, waren Moto und das Flugzeug, auf das er wartete.
Wenn es kam.
Toshiro Moto war ein ausgezeichneter Schauspieler, soviel hatte Indiana begriffen. Aber es war ihm trotzdem nicht völlig gelungen, seine Unsicherheit zu verbergen. Sie saßen hier nicht auf einer einsamen Insel im Pazifik, sondern in einem der unzugänglichsten Gebirge der Welt. Selbst wenn das Flugzeug kam (was längst nicht sicher war) und selbst wenn es sich auf dem richtigen Kurs befand (was noch viel weniger sicher war), und selbst wenn der Pilot sie sah (was eigentlich am wenigsten sicher war) — wie um alles in der Welt sollte die Maschine hier landen!
Indiana überlegte gerade, welches dieser drei Wenns am ehesten dazu angetan sein mochte, Moto gründlich die Stimmung zu verderben, als sich der Japaner plötzlich aufrichtete und konzentriert einen Moment lauschte.
«Was ist los?«fragte er.
Ohne auch nur mit einem Blick auf Indianas Frage zu reagieren, erhob sich Moto und ging gebückt aus dem Zelt. Indiana hörte den Schnee unter seinen Schritten knirschen — aber es verging noch eine gute halbe Minute, ehe auch er endlich hörte, was den Japaner aufgeschreckt hatte.
Moto mußte über ein sehr viel feineres Gehör verfügen als er, denn Indiana vernahm das Motorengeräusch selbst jetzt nur als feines, fernes Summen, das im Heulen des Windes beinahe unterging.
Moto kam zurück, zog ein Messer und schnitt die Schnüre an Indys Fußgelenken durch. Und er sagte auch weiter kein Wort, sondern warf Indiana nur einen warnenden Blick zu und ging wieder nach draußen.
Es dauerte eine geraume Weile, bis Indiana überhaupt in der Lage war, ihm zu folgen. Seine Beine wollten ihm nicht richtig gehorchen. Er stürzte zweimal, ehe es ihm überhaupt gelang, auf die Füße zu kommen, und jeder Schritt war eine Qual, die ihm schon wieder die Tränen in die Augen trieb.
Als er das Zelt endlich verließ, war das entfernte Summen zum Dröhnen gleich mehrerer Flugzeugmotoren geworden.
Indiana hob den Kopf und blinzelte ins grelle Sonnenlicht. Er identifizierte zwei große, bauchige Transportmaschinen, die von einem ganzen Schwarm Zeros begleitet wurden. Der Anblick erstaunte ihn einigermaßen. Wenn Moto nicht den Verlust all dieser Flugzeuge in Kauf nehmen wollte, dann konnte das nur bedeuten, daß die Maschinen mindestens einmal, wenn nicht öfter zwischengelandet waren, um aufzutanken. In einem Land, das nicht unter japanischer Herrschaft stand; zumindest noch nicht. Toshiro Moto mußte wirklich ein einflußreicher Mann sein.
Die kleine Flugzeugstaffel glitt täuschend langsam über den Himmel. Indiana verlängerte ihren Kurs in Gedanken und kam sehr schnell zu dem Schluß, daß sie in beträchtlicher Entfernung an ihrer Position vorbeifliegen würden; zumindest viel zu weit, als daß eine realistische Chance bestand, daß sie von den Männern dort oben gesehen wurden.
Moto schien zu der gleichen Erkenntnis gelangt zu sein, denn er versuchte erst gar nicht, zu winken oder gar zu rufen, sondern hob seine Leuchtpistole, schob eine Kugel in den Lauf und drückte ab. Noch während die Kugel in den Himmel stieg und dabei zu einer roten Feuerkugel aufblühte, zog er seinen weißen Tarnanorak aus und begann damit zu winken.
Indianas Blick glitt zwischen der Leuchtkugel und den Flugzeugen hin und her. Noch vor wenigen Stunden hätte er über die Behauptung gelacht, aber im Moment freute er sich über nichts mehr als den Anblick der japanischen Flugzeuge.
Die Leuchtkugel wurde gesehen. Eine der Zeros scherte aus dem Verband aus, nahm Kurs auf Moto und ihn und fegte in kaum fünfzig Metern Höhe über das Eisfeld hinweg. Indiana zog instinktiv den Kopf zwischen die Schultern, als ein Hagel von Schnee und winzigen Eiskristallen auf sie herunterprasselte. Trotzdem drehte er sich um und blickte dem Flugzeug nach. Die Zero jagte über sie hinweg; der Pilot hatte sie erkannt. Nur einen Augenblick später begann der gesamte Verband seinen Kurs zu ändern und hielt nun direkt auf sie zu.
«Sie haben uns gesehen«, sagte Moto zufrieden, während er umständlich wieder in seine Jacke schlüpfte. Er zitterte vor Kälte, aber seine Augen leuchteten triumphierend.»Nur noch ein wenig Geduld, Dr. Jones. In ein paar Minuten haben wir das Schlimmste hinter uns.«
Er zog seinen Reißverschluß zu, schauderte sichtbar vor Kälte und sah wieder zu den Flugzeugen hinauf.
Der Verband kam langsam näher, hielt aber noch immer nicht direkt auf sie zu. Und nur wenige Augenblicke später wußte Indiana auch, warum. Die Maschinen drehten in den Wind. Eine Anzahl winziger, dunkler Punkte quoll aus den Rümpfen der beiden Transportflugzeuge, stürzte in die Tiefe und blähte sich dann zu weißen Halbkugeln auf.
Fallschirme! dachte Indiana verblüfft — aber auch erschrocken. Das waren Fallschirme!
«Sie … Sie sind ja völlig wahnsinnig, Moto«, flüsterte er.»Die Hälfte Ihrer Männer wird draufgehen!«
«Das ist möglich«, antwortete Moto gelassen.»Große Aufgaben verlangen Opfer- außerdem sollten Sie diese Männer nicht unterschätzen. Es ist eine Eliteeinheit, die ihr Handwerk versteht.«
Gebannt beobachtete Indiana, wie sich die Fallschirme — es waren mindestens fünfzig, und nicht an allen hingen Männer — über den Himmel verteilten und zu sinken begannen.
Es trat ein, was er befürchtet hatte: Die Männer dort oben mochten gut sein, aber das hier war der Himalaya, mit all seinen unberechenbaren Witterungs- und Windverhältnissen, in dem ein Fallschirmabsprung wahrscheinlich gleich hinter bewußtem Selbstmord rangierte. Der Wind riß die Fallschirmspringergruppe auseinander, noch ehe sie den halben Weg zum Boden zurückgelegt hatte. Seine Schätzung war wahrscheinlich noch zu optimistisch gewesen. Das Eisfeld, auf dem Moto und er standen, stellte weit und breit den einzig möglichen Landeplatz für einen Fallschirmspringer dar. Die, die es verfehlten, erwartete ein tödliches Labyrinth aus rasiermesserscharfen Felsen, tödlichen Eissperren und bodenlosen Schluchten und Spalten. Schon daß Moto heil heruntergekommen war, glich einem Wunder.
Die Zero, die über sie hinweggeflogen war, kam zurück — aber irgend etwas stimmte nicht … Sie flog zu schnell, fand Indiana, und zu tief. Die Art, auf die der Pilot flog, erinnerte Indiana eher an einen … Angriff!
Er warf sich im gleichen Moment zu Boden wie Moto, und nicht einmal eine halbe Sekunde später begannen die Maschinengewehre der Zero zu feuern. Heulend jagten die Geschosse über sie hinweg und schlugen nur wenige Meter hinter ihnen in den Schnee.
«Ist der Kerl verrückt geworden?«brüllte Indiana mit überschnappender Stimme.»Moto, was bedeutet das?«Ungeschickt versuchte er, sich mit seinen aneinandergefesselten Händen in die Höhe zu stemmen und fiel wieder auf die Knie herab. Gleichzeitig registrierte er voller Entsetzen, wie eine zweite Zero aus der Formation über ihnen ausbrach und zu einem Sturzangriff ansetzte.
«Moto!«brüllte er verzweifelt.»Was soll das? Was —?«
Der Rest dessen, was er hatte sagen wollen, blieb ihm vor Schrecken im Hals stecken, denn in diesem Moment hatte er es endlich geschafft, sich herumzudrehen — und sah, worauf die Zeros feuerten!
Hinter ihnen stürmten mindestens dreißig oder vierzig Hunnen heran! Moto und er hatten sich so auf die Flugzeuge konzentriert, daß sie nicht einmal gemerkt hatten, daß die Männer hinter ihnen auftauchten.
Auch die zweite Zero begann jetzt zu feuern. Die Kugeln pfiffen so dicht über Indiana hinweg, daß er sich instinktiv tiefer in den Schnee drückte, und die Salve lag genau im Ziel. In einer Explosion aus hochstiebendem Schnee und Eis brachen zahlreiche Hunnen zusammen, aber der Rest stürmte unbeeindruckt weiter. Die Männer schienen Tod und Verwundung so wenig zu fürchten wie die, die Motos Lager angegriffen hatten.
Die Zero raste heulend über sie hinweg und feuerte eine zweite Salve ab, ehe der Pilot seine Maschine wieder in die Höhe zog; beinahe gleichzeitig setzte die erste Jagdmaschine zu einem zweiten Angriff ein. Aber der Pilot feuerte seine Maschinengewehre nicht mehr ab. Die Hunnen waren schon zu nahe, und die Gefahr, Moto oder Indiana zu treffen, zu groß.
«Moto!«schrie Indiana mit überschnappender Stimme. »Schneiden Sie mich los!«
Tatsächlich sprang der Japaner auf die Füße und kam mit weit ausgreifenden Schritten auf ihn zu. Er feuerte sein Gewehr ab, und einer der Angreifer stürzte; aber weitere zwanzig Männer stürmten mit gezückten Schwertern und Dolchen heran.
Selbst für einen Mann wie Moto entschieden zuviel.
Mit zwei gezielten Schüssen reduzierte Moto die Anzahl der Angreifer um die gleiche Zahl, fiel neben Indiana auf die Knie, zerschnitt seine Fesseln und gab einen weiteren Schuß ab.
Dann zerrte er Indiana hastig auf die Füße und gab ihm einen Stoß, der ihn vorwärtstaumeln ließ.
Einer der Hunnen hatte das Pech, einige Schritte vor seinen Kameraden heranzustürmen — und schneller zu laufen als sie.
Moto streckte ihn mit einem blitzschnellen Schlag zu Boden, riß sein Schwert an sich — und warf Indiana plötzlich sein Gewehr zu!
Indiana fing die Waffe ganz automatisch auf, war aber im ersten Moment viel zu verblüfft, um mehr zu tun, als einfach dazustehen und die Waffe in seinen Händen verblüfft anzustarren.
Eine Gestalt in Fellmantel und spitzer Pelzmütze tauchte plötzlich vor ihm auf, und Indiana erwachte endlich aus seiner Starre. Blitzschnell hob er das Gewehr, drückte aber nicht ab, sondern schlug den Mongolen mit dem Kolben nieder. Moto erledigte zwei weitere Angreifer mit dem erbeuteten Schwert, und sie hatten noch einmal einige Sekunden Luft, ehe die übrigen Hunnen heran waren und sie umzingelten.
Ohne Moto hätte er nicht einmal die erste Sekunde überlebt.
Der Japaner kämpfte mit der Kraft und Wildheit eines Dämonen. Sein Schwert schien sich in einen silbernen Blitz zu verwandeln, der schneller hin- und herzuckte, als der Blick ihm folgen konnte. Drei, vier, fünf Hunnen sanken blutüberströmt in den Schnee, und für einen Moment schreckte seine Wut die übrigen Mongolen so sehr, daß sie sogar zurückwichen.
Aber eben nur für einen Moment.
Dann stürzten sie abermals vor.
Moto wurde von sieben oder acht Männern zugleich attak-kiert, Indiana von dreien. Er schoß den ersten nieder, schlug dem zweiten den Gewehrlauf über den Schädel und ging unter dem Anprall des dritten zu Boden. Der Mann war nicht einmal besonders groß, aber flink wie ein Wiesel und erstaunlich stark, während Indianas Muskeln vor Kälte steif waren. Vergeblich bäumte er sich unter dem Hunnen auf und verlor fast das Bewußtsein, als der Bursche ihm einen fürchterlichen Hieb gegen die Schläfe versetzte. Sein Kopf dröhnte. Halb ohnmächtig registrierte er, wie sich ein zweiter Hunne auf ihn warf. Er wunderte sich ein wenig, daß er noch lebte, denn beide Männer waren mit Schwertern und Dolchen bewaffnet. Es wäre ihnen ein leichtes gewesen, ihn zu töten.
Harte, sehr starke Hände packten seine Arme und drehten sie auf den Rücken, ein weiterer Hieb in den Leib brach auch den letzten Rest seines Widerstandes, dann wurde er in die Höhe gezerrt.
Ein Schuß krachte. Einer der beiden Hunnen, die ihn hielten, brach getroffen zusammen, und dann begann zuerst eine, kurz darauf eine zweite MP mit ihrem ratternden Hämmern. Die Kugeln pfiffen Indiana nur so um die Ohren. Rechts und links von ihm stoben winzige Explosionen aus dem Schnee. Der zweite Mongole versuchte zu fliehen, kam aber nur wenige Schritte weit.
Indiana fiel auf die Knie und sah, wie sich das Gewehrfeuer nun auf die Männer konzentrierte, die Moto angriffen. Wie durch ein Wunder war der Japaner noch am Leben, kämpfte wie ein Stier, während er aus zahlreichen Wunden blutete. Und die Männer, die seinem Toben bis zu diesem Moment entkommen waren, fielen jetzt dem Gewehrfeuer der japanischen Soldaten zum Opfer.
Voller Grauen sah sich Indiana um. Eine Handvoll Hunnen rannte im Zickzack über das Eisfeld davon und versuchte, sich in den Schutz der Felsen zu retten, hinter denen sie hervorgekommen waren, aber die allermeisten waren den Angriffen der beiden Zeros, Motos Schwert oder den Gewehrkugeln der Soldaten zum Opfer gefallen.
Warum? dachte er schaudernd. Was die Männer getan hatten, war selbstmörderisch. Selbst wenn es ihnen gelungen wäre, Indiana und Moto zu töten, wären sie hinterher von den Fallschirmspringern oder den Zeros getötet worden, die noch immer wie riesige schwarze Todesvögel über dem Eisfeld kreisten. Was um alles in der Welt trieb diese Männer an?
Er sah nicht mehr hin, während mehr und mehr von Motos Elitesoldaten rings um sie herum vom Himmel regneten und zum Teil noch in der Luft auf die flüchtenden Mongolen zu schießen begannen.
«Sie sehen nicht besonders glücklich aus, Dr. Jones«, sagte Moto, später, als sie in einem der von den Japanern errichteten Zelte saßen und Tee tranken.»Schon gar nicht für einen Mann, der binnen weniger Stunden zum zweiten Mal dem sicheren Tod entgangen ist.«
Der lauernde Unterton in seiner Stimme entging Indiana keineswegs. Und er verstand ihn auch. Abgesehen von einigen Kratzern und Schürfwunden war Indiana so gut wie unverletzt davongekommen, während Moto — nachdem der Sanitäter mit ihm fertig war — ein bißchen an eine Mumie erinnerte. Sein Kopf war verbunden, der linke Arm hing in einer Schlinge, und über dem rechten Handgelenk spannte sich ein blutiger Verband. Wenn er ging, dann humpelte er sichtbar, und manchmal, wenn er glaubte, Indiana sehe nicht hin, zuckten seine Lippen vor Schmerz. Was alles in allem auch kein Wunder war — schließlich hatte er die Mongolen praktisch allein aufgehalten, mit nichts als einem Schwert und seinen bloßen Händen.
Trotzdem antwortete Indiana nicht auf die Frage, die in seinen Worten lag, sondern zuckte nur mit den Schultern, nippte an seinem Tee und schmiegte die Hände fest um die emaillierte Blechtasse, um auch das letzte bißchen Wärme aufzunehmen.
Es nutzte nichts. Wahrscheinlich hätte es auch nichts genutzt, wenn er die Finger direkt in die Flammen des Gaskochers gehalten hätte. Die Kälte hatte sich so tief in seinem Körper eingenistet, daß er nicht sicher war, ob er sie jemals wieder völlig daraus vertreiben konnte. Vielleicht würde er für den Rest seines Lebens frieren müssen — was unter Umständen allerdings nur noch Stunden waren.
Sie hatten Shambala gefunden. Einer der Piloten hatte das Kloster auf der anderen Seite des Berghanges entdeckt und seine genaue Position über Funk durchgegeben, ehe die Maschinen wieder abgeflogen waren. Sobald die Sonne aufging, würden sie losmarschieren und Shambala nach wenigen Stunden erreichen.
«Wissen Sie, Dr. Jones«, fuhr Moto nach einer Weile fort, als er begriff, daß Indiana nicht reagieren würde.»Ich war zwar anderweitig beschäftigt, aber ich konnte mich trotzdem nicht des Eindrucks erwehren, daß diese Männer Sie irgendwie schonen würden. Kann das sein?«
Indiana trank einen weiteren Schluck Tee, ehe er antwortete.»Sie hätten mich töten können, wenn sie gewollt hätten«, sagte er ruhig.»Und ehe Sie fragen: Ich weiß ebensowenig wie Sie, warum sie es nicht getan haben.«
«Oh, ich weiß es.«
Indiana sah verblüfft auf, und Moto lächelte geheimnisvoll und schwächte seine Worte ein wenig ab:»Oder sagen wir: Ich habe eine bestimmte Vermutung.«
«Und welche?«
«Es ist noch zu früh, um darüber zu reden, Dr. Jones«, sagte Moto.»Aber wenn ich recht habe, dann würde das eine Menge erklären, was ich bisher nicht verstanden habe.«
«Vielleicht beantwortet es auch die Frage, wie Sie und Ihre Männer wieder aus diesen Bergen herauskommen wollen«, sagte Indiana giftig.»Oder haben Sie zufällig eine spezielle Art von Fallschirmen dabei, mit denen Sie wieder zu Ihren Flugzeugen hinauf springen können?«
Moto lachte herzhaft.»Ganz so einfach wird es leider nicht sein, Dr. Jones«, gestand er.»Aber keine Sorge — ich habe auch daran gedacht. Eine gut ausgerüstete Expedition ist bereits auf dem Weg zu uns. Wir werden einige Unbequemlichkeiten erdulden müssen, aber wir werden es überleben. Und wir sind nicht mehr ganz so allein und hilflos wie heute morgen.«
Zumindest in diesem Punkt hatten sich Indianas Befürchtungen gottlob nicht bestätigt: Es hatte zwar Stunden gedauert, bis die in alle Richtungen auseinandergewehten Soldaten das Lager erreicht hatten, aber von den fünfzig Mann, die die Flugzeuge abgesetzt hatten, hatten es nur acht nicht geschafft. Indiana war allerdings nicht völlig sicher, ob er sich wirklich darüber freuen sollte. Der Angriff der Hunnen hatte gezeigt, daß Shambala bewacht wurde aber gegen zweiundvierzig von Motos Ninja-Soldaten hatten vermutlich nicht einmal zweihundert Hunnen eine Chance.
Die Zeltplane wurde zurückgeschlagen, und einer der Soldaten trat ein. Er salutierte und wandte sich dann an Moto. Indiana verstand nicht, was er sagte, aber auf Motos Gesicht breitete sich eine Mischung aus Sorge und leiser Verärgerung aus.
Er antwortete nicht, sondern stand mit einem Ruck auf und ging aus dem Zelt. Indiana folgte ihm, wogegen Moto keine Einwände erhob.
Eine kleine Gruppe Soldaten hatte sich unweit des Zeltes versammelt und redete aufgeregt und heftig gestikulierend miteinander. Moto sorgte mit einem knappen Befehl für Ruhe.
Aber die mühsam unterdrückte Furcht vermochte er nicht aus den Gesichtern der Männer zu vertreiben.
Moto redete eine ganze Weile mit den Soldaten, ehe er sich mit finsterem Gesicht wieder umdrehte.
«Probleme?«fragte Indiana. Er versuchte vergeblich, so etwas wie Schadenfreude in seine Stimme zu legen.
«Nein«, blaffte Moto. Aus irgendeinem Grund war er sehr wütend.»Diese Narren beginnen Gespenster zu sehen — schon in der ersten Nacht. Das kann ja heiter werden.«
«Gespenster?«hakte Indiana nach.
Moto zögerte einen spürbaren Moment, aber dann antwortete er doch.»Sie behaupten, den Schneemenschen gesehen zu haben.«
«Den Yeti?«fragte Indiana überrascht.
«So nennt man ihn wohl. «Moto nickte widerwillig.»Was für ein Unsinn!«
Vom anderen Ende des Zeltlagers hallte ein Schrei herüber, der eine Sekunde später von einem kurzen Feuerstoß aus einer Maschinenpistole beantwortet wurde.
Sie rannten los. Das Feuer brach ab, aber sie hörten Schreie, und aus den Zelten rannten Soldaten und schlossen sich ihnen an. Eine Leuchtkugel schoß zischend in die Höhe und tauchte das Lager in rotes, unheimlich flackerndes Licht.
Am entgegengesetzten Ende des Zeltlagers waren an die zwanzig Soldaten zusammengelaufen; sehr nervös — und voller Furcht. Sie standen um einen Punkt wenige Meter von den Felsen entfernt und wichen nur widerwillig beiseite, als Moto und Indiana herangeeilt kamen.
«Was zum Teufel ist hier los?«knurrte Moto auf englisch.
«Diese Narren erschrecken vor jedem Schatten, der — «
Er brach überrascht ab, als die Männer vor ihm Platz machten und sie sehen konnten, was sie so erschreckt hatte.
Es war eine Spur. Allerdings nicht die eines Menschen.
Auch Indiana riß verblüfft die Augen auf. Er hatte nie zuvor eine Fußspur wie diese gesehen. Sie glich eher der eines Affen als der eines Menschen, aber wenn, dann des größten Affen, von dem er je gehört hätte.
Sie führte von den Felsen zum Rand des Lagers und wieder zurück. Jeder einzelne Abdruck war gute vierzig Zentimeter lang. Und noch etwas fiel Indiana auf.
Neugierig beugte er sich vor und betrachtete die monströsen Fußspuren im Schnee genauer, bis er bemerkte, daß Moto ihn mißtrauisch ansah. Er richtete sich hastig wieder auf.
«Haben Sie etwas entdeckt, Dr. Jones?«fragte Moto.
«Nein«, antwortete Indiana ausweichend.»Ich bin nur … erstaunt. Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
«Ich auch nicht«, sagte Moto.»Wofür halten Sie das?«
«Auf jeden Fall nicht für den Yeti«, antwortete Indy; selbst für seinen eigenen Geschmack eine Spur zu hastig, um wirklich überzeugend zu wirken.
Er überzeugte Moto auch nicht. Ganz im Gegenteil — die Augen des Japaners wurden noch schmaler, und auf seinen Zügen erschien ein lauernder Ausdruck. Aber zu Indianas Überraschung sagte er nichts mehr, sondern blickte nur noch eine Sekunde lang nachdenklich auf die Spur im Schnee herab — und bewegte sich dann langsam in die Richtung, in der sie zwischen den Felsen verschwand. Indiana folgte ihm, und nach kurzem Zögern gesellten sich auch einige Soldaten zu ihnen. Einige.
Längst nicht alle.
Indiana war nicht besonders überrascht, daß sich die Spuren nach wenigen Metern zwischen den eisverkrusteten Felsen verloren. Aber ihm fiel noch etwas auf: Die Felsen waren an dieser Stelle besonders steil und hoch. Selbst Moto hatte manchmal Mühe, sich durch die engen Spalten und Zwischenräume zu zwängen. Für ein Wesen, das solche Spuren hinterließ, gab es hier eigentlich kein Durchkommen.
«Hier stimmt doch etwas nicht«, murmelte Moto. Er gab einem der Soldaten einen Befehl, und der Mann feuerte eine weitere Leuchtkugel ab. Zischend und funkensprühend stieg das Geschoß in die Höhe und überzog das Eisfeld mit Helligkeit.
Und im gleichen Moment sahen sie den Yeti.
Hoch aufgerichtet und mit weit ausgebreiteten Armen stand das Ungeheuer über ihnen auf einem Felsen, ein Gigant mit zottigem, schmutzigweißem Fell, das vom flackernden roten Licht der Leuchtkugel wie mit Blut überzogen zu sein schien.
Er war größer als ein Bär, aber nicht so massig. Fürchterliche Klauen blitzten wie fingerlange Dolche an seinen Pranken, und sein Gesicht war eine schreckliche Mischung aus Affe, Mensch und noch etwas, das Indiana nicht einordnen konnte. In der vorgewölbten Schnauze blitzten ehrfurchtsgebietende, gekrümmte Fänge, und die Augen loderten wie kleine, glühende Kohlen.
Die Leuchtkugel erlosch, und aus dem Giganten wurde ein monströser, struppiger Schatten, der noch größer erschien. Ein tiefes, drohendes Knurren erklang.
Einer der Soldaten begann zu schießen. Aus dem Knurren wurde ein wütender Schrei, und die Soldaten ergriffen voller Panik die Flucht. Moto und Indiana wurden einfach mitgerissen. Hinter ihnen wurde das Brüllen des Yeti immer lauter und zorniger, und sie hörten das Krachen und Poltern von Steinen, vermischt mit stampfenden Schritten.
«Auf jeden Fall nicht der Yeti, wie?«brüllte Moto, während sie nebeneinander zum Lager zurückrannten.»Was für ein Wissenschaftler sind Sie, Dr. Jones? Einer, der mit Kaffeesatz und Kristallkugeln arbeitet?«
Indiana warf einen Blick über die Schulter zurück. Er konnte das Ungeheuer nicht mehr sehen, aber er konnte seine stampfenden Schritte fühlen. Was zum Teufel ging hier vor?
Sie blieben erst stehen, als sie wieder im Lager und von zwei Dutzend bewaffneten Soldaten umgeben waren. Die Männer feuerten jetzt Leuchtkugeln in ununterbrochener Folge, aber das flackernde rote Licht machte es eher schwerer, etwas zu erkennen.
«Was ist das, Jones?«fragte Moto. Seine Stimme klang wieder gefaßt, aber es gelang ihm nicht ganz, seine Nervosität zu verbergen.»Ich meine, es … es gibt doch keinen Yeti, oder?
Nicht wirklich!«
«Das habe ich bis vor zehn Minuten auch geglaubt«, murmelte Indiana.
Wieder krachte ein Schuß, aber diesmal vom anderen Ende des Lagers. Schreie gellten auf, und plötzlich zerrissen Donner und Blitz einer explodierenden Handgranate die Nacht. Moto begann lautstark und auf japanisch zu fluchen und stürmte in die Richtung, aus der der Lärm gekommen war. Als er zurückkehrte, befanden sich zwei weitere Soldaten in seiner Begleitung. Beide bluteten aus einem halben Dutzend kleiner Schnitt-und Schürfwunden; verletzt vom Splittern ihrer eigenen Handgranate. Den Yeti hatten sie natürlich nicht erwischt.
Indiana hatte Mühe, ein schadenfrohes Grinsen zu unterdrük-ken, als die drei auf ihn zuhumpelten. Und den entsprechenden Ton aus seiner Stimme zu verbannen, versuchte er erst gar nicht.
«Sieht ganz so aus, als stünde Ihnen eine aufregende Nacht bevor, Mr. Moto«, sagte er.
Es wurde eine unruhige Nacht. Obwohl keiner der Männer den Yeti innerhalb der nächsten beiden Stunden auch nur zu Gesicht bekam, steigerte sich die gespannte Stimmung unter den Japanern bis Mitternacht zu einem Zustand, der verdächtig nahe an Hysterie grenzte. Drei weitere Soldaten wurden verletzt, weil ihre Kameraden auf Schatten schossen; einer davon so schwer, daß es fraglich war, ob er den Morgen erleben würde.
Und auch an Indiana ging die Anspannung nicht spurlos vorüber — obwohl es weniger Angst war, was er verspürte. Der Anblick des Ungeheuers hatte ihn ebensosehr erschreckt wie Moto und seine Männer, aber viel größer als seine Furcht war die Verwirrung, die der Wissenschaftler in ihm empfand.
Er hatte den Yeti gesehen; zwar nur für eine Sekunde, aber deutlich und aus nächster Nähe. Indiana war kein Anthropologe, aber seine wissenschaftliche Ausbildung sagte ihm sehr deutlich, daß es ein Wesen wie den Yeti einfach nicht geben konnte. Es paßte in keine ökologische Nische, und es war auch nicht einfach nur ein Mittelding zwischen Mensch und Affe. Es war … etwas, das es einfach nicht geben durfte. Er war verwirrt.
Verwirrt und unsicher wie selten zuvor im Leben.
Kurz vor Mitternacht befahl Moto den Männern, die Hälfte des Lagers aufzugeben und sich zu einem dichten Kreis zusammenzuschließen. Sie opferten alles, was sie nicht unbedingt benötigten, um eine Anzahl Feuer zu entzünden, die einen zweiten, hell erleuchteten Kreis um ihr geschrumpftes Lager bildeten, den nicht einmal eine Maus ungesehen passieren konnte.
Es war eine Maßnahme, die sicherlich wirkungsvoll, aber auch sehr riskant war. Die Männer verbrannten einen Teil ihrer dringend benötigten Ausrüstung. Wenn sie Shambala am nächsten Tag nicht fanden, würde die kommende Nacht mehr als hart werden.
Trotz all dieser Sicherheitsmaßnahmen wirkte Moto alles andere als zufrieden, als er kurz nach Mitternacht in das Zelt zurückkehrte, das er mit Indiana teilte. Als Indy ihn darauf ansprach, explodierte er regelrecht.
«Was ich habe?«polterte er los.»Zum Teufel, da fragen Sie noch?«Er gestikulierte zum Zeltausgang hin.»Ich habe eine Armee dort draußen, Dr. Jones! Eine verdammt gute Armee! Jedenfalls habe ich das vor ein paar Stunden noch geglaubt. Und was habe ich jetzt? Einen Haufen zitternder Idioten, der sich gegenseitig die Füße abschießt, weil er Angst vor einem … Gespenst hat!«
«Das war kein Gespenst«, sagte Indiana ruhig.»Ich habe es gesehen. Ihre Männer haben es gesehen. Sie haben es gesehen, Mr. Moto.«
Eine Sekunde lang starrte Moto ihn verwirrt an, dann machte er eine herrische Geste, und der gewohnte, überhebliche Ausdruck trat wieder in seine Züge.»Ich habe etwas gesehen, Dr. Jones«, sagte er.»Genau wie Sie. Ich weiß nicht, was es war.
Vielleicht ein Affe.«
«Es gibt keine Affen im Himalaya«, antwortete Indiana ruhig.»Zumindest keine so großen.«
«Es ist mir gleich, was es ist!«fauchte Moto.»Verdammt, und wenn es der legendäre Yeti ist — was soll’s? Wir werden auch damit fertig, wenn es sein muß.«
Ein dumpfes Grollen drang durch die Zeltplane herein, fast als hätte irgend etwas dort draußen seine Worte gehört.
Aber es war nicht die Stimme des Yeti, es war …
Motos Augen weiteten sich, als er im gleichen Moment wie Indiana begriff.»Das ist …«
«… eine Lawine«, führte Indiana den Satz zu Ende.
«Raus hier!« brüllte Moto.
Hintereinander stürmten sie aus dem Zelt. Auch die Soldaten waren aufgesprungen und blickten mit schreckgeweiteten Augen in die Richtung, aus der das immer lauter werdende Grollen und Dröhnen kam. Indiana spürte, wie das Eis unter seinen Füßen sacht zu vibrieren begann.
Moto schrie einen Befehl, und die Soldaten spritzten in alle Richtungen auseinander. Auch Indiana begann zu rennen, aber er ahnte, daß es ein Wettlauf war, den er nicht gewinnen konnte.
Er hatte recht.
Indiana war kaum hundert Meter vom Lager entfernt, als sich das Rumpeln und Grollen zu einem ungeheuerlichen Dröhnen steigerte. Im Laufen sah er sich um — und was er erblickte, das ließ ihn noch schneller ausgreifen, obwohl er auf dem glatten Boden schon so den Halt zu verlieren drohte. Eine staubige, weiße Wand raste auf Motos Zeltlager zu und verschlang es binnen einer Sekunde — zusammen mit den Männern, die das Pech gehabt hatten, nicht schnell genug oder in die falsche Richtung gelaufen zu sein.
Doch auch Indiana blieben nur noch Sekunden. Mit dem Erlöschen der Feuer hatte sich fast vollkommene Dunkelheit über das Eisfeld gesenkt — aber Indiana sah die Lawine trotzdem noch, wie eine schwarze, massive Wand, die mit der Geschwindigkeit eines Expreßzuges herangedonnert kam und den Boden unter ihm zum Wanken brachte.
Blindlings fuhr er herum, stürmte weiter — und blieb nach ein paar Schritten wieder stehen.
Vor ihm war nichts mehr.
Er stand am Rand einer mehr als fünf Meter breiten Gletscherspalte, deren Boden sich in pechschwarzer Finsternis verlor!
Gehetzt sah er sich um. Die allesverschlingende schwarze Wand der Lawine war vielleicht noch hundert Meter hinter ihm, dann neunzig, achtzig …
Indiana ließ sich auf die Knie herabsinken, suchte mit den Händen nach etwas, von dem er sich wenigstens einreden konnte, daß es ein sicherer Halt war, und ließ die Beine in die Tiefe gleiten. Seine wild tastenden Füße fanden einen Spalt im Eis. Mit jagendem Herzen kletterte er weiter, löste die Hand von ihrem Halt und suchte nach einem neuen.
Die Lawine donnerte über die Gletscherspalte hinweg, kaum daß er den Kopf unter ihre Kante gebracht hatte.
Hinterher wußte er selbst nicht, wie er es geschafft hatte. Es dauerte vielleicht eine Minute, kaum länger, aber für Indiana war es, als vergingen Ewigkeiten, während er sich mit aller Kraft an das Eis preßte. Der Himmel über ihm war erloschen, verschlungen von einer brüllenden Decke aus Schnee und Eis, die alles zermalmend über Indiana hinwegschoß. Die Wand, an die er sich klammerte, wankte und bebte wie ein Schiff im Sturm. Er konnte nicht mehr atmen. Die Luft um ihn war voller feuchtem, pulvrigem Schnee, der ihn zu ersticken drohte. Die Temperaturen sanken schlagartig so tief, daß Indiana spürte, wie jedes Gefühl und jede Kraft aus seinen Fingern wich. Eis und Schnee hämmerten auf seinen Rücken und seine Schultern ein. Noch eine Sekunde, und — Die Lawine war vorbei. Plötzlich war der Himmel über ihm wieder da, und er konnte wieder atmen. Die Eiswand stellte ihre Bemühungen ein, Indiana abzuschütteln.
Unendlich erleichtert legte Indiana den Kopf in den Nacken, schloß die Augen und atmete tief ein, und der Lawine folgte ein Nachzügler in Form eines faustgroßen Schneeballes, der direkt in Indys Gesicht prallte und ihn rücklings in die Tiefe stürzen ließ.
Der Sturz brachte ihn nicht um. Er raubte ihm auch nicht das Bewußtsein. Er tat ihm nicht einmal besonders weh, denn er landete in weichem, nassem Schnee, der seinem Fall den allergrößten Teil seiner Wucht nahm.
Trotzdem blieb er eine Weile benommen liegen, ehe er es wagte, sich behutsam aufzusetzen und ebenso behutsam mit den Fingerspitzen über seinen Körper zu tasten, wie um sich davon zu überzeugen, daß noch alles an seinem Platz und relativ unbeschädigt war. Erst danach wagte er es, ebenso vorsichtig aufzustehen und sich in der Gletscherspalte umzublicken, soweit dies im schwachen Licht der Sterne überhaupt möglich war.
Was er sah, erfüllte ihn nicht gerade mit Zuversicht. Er war sieben oder acht Meter in die Tiefe gestürzt, so daß es trotz der weichen Decke aus Schnee, in die er gefallen war, einem kleinen Wunder glich, daß er unverletzt davongekommen war.
Und die Wand neben ihm war glatt wie ein Spiegel, zumindest hier unten. Vorhin hatte ihm die pure Todesangst die Kraft gegeben, sich in winzigen Spalten und Rissen festzuklammern, aber zum einen gab es diese winzigen Spalten und Risse hier unten nicht, und zum anderen begann er die Wirkung der Kälte nun wirklich unangenehm zu spüren. Seine Hände waren so steif, daß er die Finger nicht mehr geradebekam, ohne vor Schmerz aufzustöhnen, und selbst das Luftholen tat ihm in der Kehle weh. Er wollte um Hilfe rufen, tat aber auch das nicht.
Falls überhaupt einer von Motos Soldaten die Lawine überlebt hatte, so hatten sie im Moment wahrscheinlich anderes zu tun, als nach ihm zu suchen.
Trotzdem resignierte Indiana Jones nicht. Es war nicht das erste Mal, daß er ganz auf sich allein gestellt war, und es war weiß Gott nicht das erste Mal, daß er sich in einer Situation befand, die jeder andere als ausweglos bezeichnet hätte. Er hob die Hände ans Gesicht, blies hinein, um sich an seinem eigenen Atem aufzuwärmen, und versuchte auf der Stelle zu treten, um auch seinen Füßen Bewegung zu verschaffen, versank dabei aber so tief in dem weichen Schnee, daß er dieses Unterfangen sofort wieder aufgab.
Indiana gab auch die Idee, einfach auf dem Grund der Spalte entlangzumarschieren, bis er eine Stelle fand, an der das Hinaufklettern möglich sein mochte, sehr schnell wieder auf und begann methodisch, seine Kleider und alles, was er bei sich trug, zu untersuchen. Manchmal, das hatte ihn die Erfahrung gelehrt, erwiesen sich die banalsten Dinge in bestimmten Situationen als überaus nützlich.
Leider war dies keine von diesen bestimmten Situationen.
Moto hatte ihm zwar seine Peitsche gelassen, die er trotz allem wohl als eine Art Talisman oder bestenfalls ein Spielzeug anzusehen schien, aber Indiana war im Moment einfach nicht in der Verfassung, sich in Tarzan-Manier an der Peitschenschnur irgendwo hinaufzuhangeln, ganz davon abgesehen, daß es weit und breit nichts gab, wonach er sie hätte schwingen können.
«Sieht ganz so aus, als ob du diesmal wirklich in der Klemme sitzt, alter Junge«, sagte er zu sich selbst.
Der Klang seiner eigenen Stimme ließ ihn schaudern. Die glatten Eiswände reflektierten sie und warfen sie hundertfach gebrochen zurück, und irgendwo löste sich ein winziger Rest von Schnee und fiel raschelnd in die Tiefe.
Wider besseres Wissen trat Indiana an die Wand heran, hob die Arme und suchte nach einem Halt. Er fand keinen. Enttäuscht trat er zurück, starrte die Wand vor sich einen Moment lang mürrisch an, tat dann das einzige, was ihm übrigblieb — er suchte sich ein halbwegs trockenes Fleckchen, setzte sich und wartete, daß Hilfe kam.
Endlose Minuten vergingen, bis er endlich über sich Stimmen und die Geräusche näherkommender Menschen hörte. Er sprang auf, rief ein paarmal laut und hob gestikulierend die Arme, als ein Gesicht über ihm auftauchte. Nur einen Augenblick später wurde ein Seil zu ihm herabgeworfen. Auf dem letzten Stück griffen starke Hände nach ihm und zogen ihn wieder auf das Eisfeld hinauf, wo er sofort erschöpft auf die Knie sank und fast eine Minute lang mit geschlossenen Augen dahockte, ehe er überhaupt die Kraft fand, den Kopf zu heben und sich umzusehen.
Es waren zwei von Motos Soldaten, die ihn aus der Gletscherspalte gerettet hatten, und diese beiden waren die einzigen lebenden Menschen, die er in weitem Umkreis erblickte.
Eigentlich waren sie überhaupt das einzige, was er sah.
Er hatte damit gerechnet, das Lager völlig zerstört vorzufinden, aber das war es nicht — es war einfach nicht mehr da. Wo die Handvoll Zelte und Lagerfeuer gewesen waren, erstreckte sich jetzt eine makellose, völlig ebene weiße Fläche. Auch die Felsen, in deren Windschatten sich die Zelte geduckt hatten, waren zum allergrößten Teil verschwunden. Nur ihre Spitzen ragten noch aus dem Weiß hervor.
Einer der beiden Soldaten sagte etwas auf japanisch zu ihm.
Indiana schüttelte übertrieben den Kopf und hob beide Hände an die Ohren, um zu verdeutlichen, daß er nicht verstand, aber aus irgendeinem Grund schien das den Soldaten wütend zu machen. Grob zerrte er Indy in die Höhe und wiederholte seine Worte, und auch Indiana wiederholte sein Kopfschütteln, zuckte mit den Achseln und lächelte unsicher.
Vielleicht war der Vorrat des Mannes an Humor momentan begrenzt. Vielleicht bedeutete ein Lächeln in dieser Situation für einen Japaner etwas ganz anderes als für Indiana — auf jeden Fall erreichte er das Gegenteil dessen, was er gewollt hatte. Der Soldat holte ohne Vorwarnung aus und versetzte Indiana einen Schlag mit dem Handrücken, der ihn rücklings in den Schnee stürzen ließ.
Indiana hob in Erwartung eines neuerlichen Schlages oder Fußtrittes schützend die Arme vor das Gesicht, aber der Soldat griff ihn nicht noch einmal an. Statt dessen riß er plötzlich sein Gewehr hoch und starrte aus weit aufgerissenen Augen auf einen Punkt irgendwo hinter Indiana, und auch der zweite Japaner fuhr mit einem Schrei herum und hob seine Waffe.
Ihre Reaktion kam zu spät. Plötzlich erschien ein gewaltiger, weißer Schatten über Indiana. Ein ungeheuerliches Brüllen erklang, und einer der beiden Japaner taumelte unter einem Hieb zurück, der ihm das Gewehr aus der Hand riß und ihn haltlos stolpern ließ. Indiana half der Entwicklung noch ein bißchen nach, indem er ihm ein Bein stellte, und der Soldat kippte rückwärts und mit einem gellenden Schrei in die Gletscherspalte hinab, aus der er Indy selbst vor wenigen Augenblicken erst herausgezogen hatte. Der zweite Japaner warf in hohem Bogen seine Waffe fort und suchte sein Heil in der Flucht.
Indiana stemmte sich auf die Ellbogen hoch und sah hinter sich, und obwohl er gewußt hatte, was er erblicken würde, erfüllte ihn das Bild für einen Moment mit lähmendem Schrek-ken. Der Yeti stand hinter ihm, ein Koloß von gut zwei Metern Größe, riesig, wild, mit lodernden Augen und zum tödlichen Hieb erhobenen Krallen. Indiana sah das unvorstellbare Wesen jetzt aus unmittelbarer Nähe, und sein Anblick wirkte noch erschreckender und furchteinflößender als vorhin. Für einen Moment war er einfach starr vor Schrecken, und vielleicht rettete ihm gerade dies das Leben, denn aus irgendeinem Grund zögerte die Bestie zuzuschlagen. Ihr Blick bohrte sich in den Indianas, und er konnte das rote Lodern in den Augen erkennen, eine flackernde Glut wie die eines Feuers, das im Inneren des Ungeheuers zu brennen schien.
Dann fiel ihm etwas auf. Die Füße des Ungeheuers waren zu groß. Er war ein Gigant, größer als jeder Mensch, den Indiana je gesehen hatte, aber seine Füße waren selbst im Verhältnis zu diesem ungeheuerlichen Körper beinahe absurd groß. Und … ja, und auch sonst stimmten die Proportionen dieses Wesens einfach nicht.
Der Schneemensch stand noch immer da, die rechte Hand mit den fürchterlichen Krallen wie zum Schlag erhoben, aber Indiana stemmte sich jetzt langsam in die Höhe, wich zwei, drei, vier vorsichtige Schritte von dem weißbepelzten Koloß zurück und schüttelte den Kopf.
«Laß den Unsinn«, sagte er.
Der Yeti starrte ihn weiter an. In seinem Gesicht, in dem sich die Züge eines Menschen und die eines Affen zu einer sonderbaren Mischung vereinten, rührte sich nichts, und auch das flackernde Feuer in den Augen des Yeti veränderte sich nicht.
Dann stieß er einen grollenden Laut aus, hob auch die andere Hand, so daß er wie ein zum Kampf aufgerichteter Bär mit weit ausgebreiteten Armen vor Indiana stand, und machte einen einzelnen, tapsigen Schritt.
Indiana wich um die gleiche Distanz vor ihm zurück, löste die Peitsche vom Gürtel und sagte noch einmal:»Bitte, laß den Unsinn.«
Der Yeti machte einen weiteren Schritt, und Indiana schlug mit der Peitsche zu.
Die Lederschnur schnitt durch die Luft, traf den Kopf des Yeti, riß ihn von seinen Schultern und ließ ihn drei, vier Meter weit davonfliegen, ehe er mit einem sonderbar weichen, hohlen Laut im Schnee landete. Der Yeti erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Arme waren noch immer hoch erhoben. Er wankte, fiel aber nicht. Und aus dem Loch zwischen seinen Schultern, wo sein Kopf gewesen war, floß auch kein Blut. An seiner Stelle erschien plötzlich ein zweiter, kahlgeschorener und sehr viel kleinerer Schädel inmitten des struppigen weißen Fells, während sich die Arme des Yeti nun doch senkten.
«Woran haben Sie es gemerkt, Dr. Jones?«fragte Lobsang vorwurfsvoll.
Indiana rollte gemächlich seine Peitsche auf und sah sich nach weiteren japanischen Soldaten um, entdeckte aber keine.
«Deine Füße«, sagte er mit einer entsprechenden Geste auf die gewaltigen weißen Überschuhe, in denen die Füße des Tibeters steckten.»Sie sind zu groß.«
Lobsang sah betroffen auf die gut vierzig Zentimeter langen Schneemenschen-Füße herab, in die er geschlüpft war, und Indiana fuhr in beinahe heiterem Tonfall fort:»Außerdem solltest du sie vorn beschweren. Mir ist schon vorhin an der Spur aufgefallen, daß etwas damit nicht stimmt. Die Eindrücke waren eigentlich nur hinten.«
«Aber sonst war ich doch überzeugend, oder?«fragte Lobsang.
Indiana rollte seine Peitsche vollends zusammen, befestigte sie wieder an seinem Gürtel und tat ihm den Gefallen, zu nicken.»Im Grunde schon«, sagte er. Dann wurde er ernst.»Ich frage mich nur, was du dir davon versprochen hast. Hast du wirklich geglaubt, mit dieser Verkleidung allein Moto und seine Soldaten in die Flucht schlagen zu können?«
«Irgend etwas mußte ich versuchen, Dr. Jones«, verteidigte sich Lobsang. Er kam auf Indiana zu, und jetzt, als Indy seinen Kopf auf den Schultern des gewaltigen Wesens sah, fiel ihm erst auf, wie ungelenk und tolpatschig die Gestalt war. Lobsang, der ihm normalerweise nicht bis zur Kinnspitze reichte, überragte ihn jetzt um mehr als zwei Haupteslängen. Der Tibeter mußte auf Stelzen gehen — was in dieser schwerfälligen Verkleidung schon ein Kunststück für sich war.
Indiana schüttelte seufzend den Kopf.»Ich glaube dir ja, daß es gut gemeint war«, sagte er.»Aber besonders klug war es nicht.«
«Es hat doch gewirkt«, sagte Lobsang, zuckte mit den Schultern und kämpfte plötzlich mit aller Macht um sein Gleichgewicht, denn die Bewegung drohte ihn nach vorn kippen zu lassen. Indiana streckte die Arme aus, um ihn aufzufangen, aber Lobsang fand im letzten Moment seine Balance wieder.
«Für einen Moment, ja«, räumte Indiana ein.»Aber ich glaube, auch Moto ist bereits mißtrauisch geworden. Und es hat auch Nachteile, Menschen zu nervös zu machen. Sie schießen im Moment auf jeden Schatten, nehme ich an. Die, die noch am Leben sind, heißt das. «Er überlegte einen Moment.
Dann fragte er:»War die Lawine auch dein Werk?«
«Sagen wir, ich habe ein wenig … nachgeholfen«, gestand Lobsang. Sein Lächeln, das schon bisher sehr unglücklich gewesen war, erlosch für einen Moment ganz.»Es tut mir leid, daß so viele unschuldige Menschen zu Schaden gekommen sind«, sagte er.»Aber manchmal müssen Dinge getan werden, auch wenn sie nicht gut sind.«
«Na ja«, sagte Indiana.»Auf jeden Fall scheint es funktioniert zu haben. «Demonstrativ sah er sich um. Noch immer war nirgendwo eine Spur von irgendwelchen Überlebenden zu sehen, aber er glaubte nicht, daß die Sache schon vorbei war. So wie er selbst und die beiden Männer, die Lobsang verjagt hatte, mußten auch noch andere die Lawine überlebt haben. Wahrscheinlich würde es einfach eine Weile dauern, bis sie sich von ihrem Schrecken erholt und wieder gesammelt hatten.
Indiana gedachte nicht, dann noch hier zu sein.
«Jetzt komm endlich da raus und laß uns von hier verschwinden«, sagte er.»Du kennst doch den Weg nach Shambala, oder?«
Lobsang nickte, wenn auch nur zögerlich, und Indiana begriff, daß es ihm selbst jetzt noch schwerfiel, einem Fremden den Weg in dieses Heiligtum zu weisen. Gleichzeitig schien er aber auch einzusehen, daß sie im Augenblick keine andere Wahl mehr hatten. Wie wenig seine mongolischen Freunde gegen eine gut ausgerüstete und wirklich entschlossene Truppe von modernen Soldaten ausrichten konnten, das hatten sie alle am Nachmittag erlebt.
«Würden Sie mir vielleicht freundlicherweise meinen Kopf geben?«bat Lobsang, während er mit umständlichen Bewegungen im Inneren des Yeti-Kostüms von seinen Stelzen herabstieg und die Arme aus den Armhüllen des Schneemenschen zog. Sie fielen schlaff an der Seite des weißen Fellbündels herab, und die Gestalt geriet vollends zur Karikatur. Indiana war hin- und hergerissen zwischen dem Bedürfnis, einfach laut loszulachen und einer fast widerwilligen Bewunderung für Lobsang. Selbst ihn hatte dieses Kostüm für einen Moment genarrt. Und, auch wenn es vielleicht nicht perfekt war, so wirkte es möglicherweise gerade deshalb überzeugend.
Indiana stapfte die wenigen Meter durch den Schnee, um den Yeti-Kopf aufzuheben. Während der Tibeter sich umständlich aus seinem Kostüm schälte, untersuchte Indiana die Maske.
Wie er vermutet hatte, bestanden ihre Augen aus nichts anderem als kleinen, geschliffenen roten Gläsern, und im Inneren des hohlen Schädels war tatsächlich eine sinnreiche Konstruktion angebracht, auf der eine brennende Talgkerze gestanden hatte. Kein Wunder, daß er an ein loderndes Feuer im Inneren des Monsterschädels hatte denken müssen. Und auch sonst überraschte der künstliche Kopf Indiana mehr und mehr. Das Fell erwies sich bei näherer Betrachtung als nichts anderes als das weißgefärbte Fell eines Lamas, das in kleine Stücke zerschnitten und anschließend wieder neu zusammengenäht worden war. Aber Indiana konnte beim besten Willen nicht sagen, woraus das Gesicht gefertigt war. Es fühlte sich an wie Leder, war aber keines, und so genau er auch hinsah, so konnte er doch zumindest im schwachen Sternenlicht keinerlei Nähte entdecken. Und auch die Zähne und die dazugehörigen Kiefer waren echt. Er fragte sich, von welchem Raubtier sie stammten. Er hatte so etwas noch nie gesehen.
Lobsang hatte sich endlich aus seinem Kostüm hervorgearbeitet, rollte es sorgsam zusammen und wickelte als letztes den Yeti-Kopf hinein, ehe er alles zusammen in einem Beutel verstaute, den er sich mit Indianas Hilfe auf den Rücken schnallte.
Dieses Unternehmen verbrauchte eine Menge Zeit, Zeit, die sie wahrscheinlich gar nicht hatten, aber Indiana erhob keinerlei Einwände. Ohne daß Lobsang es ihm hätte sagen müssen, wußte er, daß dieses Kostüm sehr, sehr wertvoll war.
«Und jetzt?«fragte Lobsang, als sie fertig waren.
«Shambala«, antwortete Indiana.»Es sei denn, du hättest eine bessere Idee.«
«Wir …«Lobsang zögerte,»müssen nicht dorthin«, sagte er.
«Ich kenne einen Weg ins Tal hinab, den wir bewältigen könnten. «Er schien Indianas Einwände vorauszuahnen und fügte beinahe hastig hinzu:»Meine Brüder und ich haben überall Lebensmittellager eingerichtet, und wir werden auch eine Höhle finden, die uns vor dem Nachtfrost schützt.«
«Daran zweifle ich nicht«, sagte Indiana. Er sprach sehr leise, und er bemühte sich, seiner Stimme einen ebenso ehrlichen wie eindringlichen Klang zu verleihen, um Lobsangs Mißtrauen nicht noch mehr zu schüren.»Du mußt mich nach Shambala bringen«, sagte er.»Du hast gar keine andere Wahl — und ich glaube, du weißt das auch sehr gut. Moto und seine Männer sind nicht alle tot. Ich glaube nicht einmal, daß es viele erwischt hat. Und sie wissen, wo Shambala liegt.«
Lobsang erschrak.»Sie — «
«Einer der Piloten hat das Kloster entdeckt«, bestätigte Indiana.»Moto weiß genau, wo er danach zu suchen hat. Eigentlich wollte er erst morgen früh losmarschieren. Aber ich denke, solange wird er jetzt nicht mehr warten.«
«Aber was können wir zwei allein tun?«fragte Lobsang hilflos.
«Nichts«, gestand Indiana.»Aber wenn wir ihm zuvorkommen und das Schwert wegbringen, dann gibt es keinen Grund mehr für ihn, Shambala anzugreifen. Und wenn wir es nicht schaffen …«Er zuckte mit den Schultern und versuchte aufmunternder zu lächeln, als ihm zumute war.»Vielleicht kann ich euch wenigstens helfen, das Kloster zu verteidigen.«
Lobsangs Blick machte deutlich, was er von diesem Teil seines Vorschlags hielt, aber er behielt seine Meinung für sich und nickte widerwillig.»Also gut«, sagte er.»Ich werde Sie — «
Ein Schuß krachte. Zwischen Indiana und Lobsang spritzte der Schnee auf, und eine Sekunde später erklang ein zweiter Gewehrschuß, der diesmal unmittelbar hinter Indy den Schnee aufwühlte.
Indiana erstarrte zur Salzsäule. Er hatte die Warnung verstanden. Wer immer auf ihn geschossen hatte, hätte ihn schon beim ersten Mal treffen können, wenn er gewollt hätte.
«Sehr vernünftig von Ihnen, Dr. Jones!«schrie eine Stimme.
Sie war dünn, ging halb im Geräusch des Windes unter und kam von weit her, aber er erkannte sie trotzdem sofort.
«Moto«, murmelte er düster.
Lobsang erbleichte vor Schrecken, nahm sich aber ein Beispiel an Indiana und erstarrte ebenfalls zur Reglosigkeit, und aus der Dunkelheit hinter ihnen fuhr Motos Stimme fort:»Bitte, seien Sie auch weiter vernünftig und rühren Sie sich nicht, ehe ich mich gezwungen sehe, Sie und Ihren Begleiter zu erschießen!«
Indiana hob die Hände und drehte sich ganz langsam in die Richtung, aus der die Stimme kam. Er konnte weder Moto noch seine Männer sehen, denn die Nacht lag wie ein dunkler Vorhang vor ihm und verschlang alles, was weiter als fünf oder sechs Schritte entfernt war, aber er zweifelte keine Sekunde daran, daß mindestens ein Dutzend Gewehrläufe auf ihn und den Tibeter gerichtet waren. Und daß Motos Drohung nicht aus leeren Worten bestand. Es gab für den Japaner keinen Grund mehr, ihn oder gar Lobsang am Leben zu lassen.
Eine Anzahl geduckter Schatten tauchte in der Dunkelheit vor ihnen auf. Fünf, sechs, zehn — schließlich mehr als ein Dutzend japanischer Soldaten. Unter ihnen befand sich auch Moto selbst. Der Japaner und seine Soldaten sahen etwas mitgenommen aus, fand Indiana. Kaum einer von ihnen war ohne mehr oder minder schwere Verletzungen davongekommen, aber das schien ihre Entschlossenheit eher noch zu steigern. Indiana rührte sich auch weiter nicht. Er wußte, daß die Männer bei der kleinsten verdächtigen Bewegung das Feuer eröffnen würden.
Moto begann spöttisch zu applaudieren, als er noch fünfzehn Meter entfernt war.»Das war wirklich eine phantastische Vorstellung, Lobsang«, sagte er.»Ich gestehe, daß sogar ich darauf hereingefallen bin. «Er lachte.»Ist das nicht herrlich? Außer dem legendären Schwert des Dschingis Khan werde ich noch etwas aus dem Himalaya mitbringen — nämlich die Antwort auf die Frage, ob es den Yeti wirklich gibt.«
Dann erlosch sein Lächeln. Mit ausgestrecktem Arm deutete er auf Lobsang.
«Erschießt ihn«, sagte er.
Drei oder vier seiner Männer hoben gleichzeitig ihre Gewehre, und Lobsang verwandelte sich in einen wirbelnden Schatten, der mit unvorstellbarer Schnelligkeit auf Indiana zuraste, gegen ihn prallte — und ihn mit sich über die Kante der Gletscherspalte riß, vor der sie standen.
Wieder war es der frische Schnee der Lawine, der sie vor schweren Verletzungen bewahrte. Indiana prallte dicht neben Lobsang in die weiße Masse. Über sich hörte er Schreie und hastige Schritte, und er hatte sich kaum auf Hände und Knie hochgearbeitet, da erschienen die ersten Schatten am Rand der Spalte und begannen auf sie zu schießen. Rechts und links von ihnen fuhren Kugeln mit einem feuchten Klatschen in den Schnee. Indiana begriff voller Schrecken, daß Lobsang und er vor dem hellen Hintergrund ein hervorragendes Ziel bieten mußten.
Verzweifelt sprang er auf die Füße, zerrte den Tibeter mit sich und versuchte, im Zickzack zu laufen, kam aber kaum von der Stelle, denn seine Füße sanken bei jedem Schritt weit in den Schnee ein. Wieder krachten Schüsse, und diesmal waren die Einschläge noch näher als bei der ersten Salve. Und sobald sich die Soldaten auch nur ein paar Sekunden Zeit nahmen, um wirklich zu zielen, konnten sie sie auf diese geringe Entfernung eigentlich gar nicht verfehlen.
Er erspähte eine Schneewehe an der gegenüberliegenden Wand, aber Lobsang zerrte ihn mit erstaunlicher Kraft in die entgegengesetzte Richtung, obwohl sie sich den Japanern dadurch wieder näherten. Indiana war viel zu durcheinander, um sich zu wehren. Plötzlich war er es, der hinter Lobsang herstolperte. Eine Kugel pfiff so dicht an ihm vorbei, daß er den heißen Luftzug spürte, dann hörte er Motos befehlsgewohnte Stimme, und das Feuer brach für eine Sekunde ab. Die nächsten Schüsse würden treffen, das wußte er.
Plötzlich riß ihn Lobsang nach links, scheinbar direkt auf die massive Wand aus Eis zu. Aber was selbst aus unmittelbarer Nähe wie eine undurchdringliche Mauer aussah, war keine. Indiana hob schützend die linke Hand vor das Gesicht, aber vor ihm war nichts — er stolperte plötzlich beinahe haltlos gegen den Tibeter und wäre gestürzt, hätte Lobsang nicht zugegriffen und ihn im letzten Moment aufgefangen.
Lobsang ließ ihm nicht einmal Zeit, seiner Überraschung Ausdruck zu verleihen, sondern zerrte ihn grob mit sich in die Dunkelheit hinein. Indiana strauchelte immer wieder. Der Boden unter seinen Füßen war spiegelglatt und mußte aus Eis bestehen, und ein paarmal prallte er in der absoluten Schwärze gegen Hindernisse, die er nicht sehen konnte, denen Lobsang aber wie durch Zauberei auswich. Ein paarmal sah er sich im Laufen um. Die Schreie der Japaner und das Geräusch der Schüsse blieben schon nach Augenblicken hinter ihnen zurück, und auch der verwaschene Lichtfleck, der den Eingang in diesen Tunnel im Eis darstellte, verblaßte nach erstaunlich kurzer Zeit, so daß sie durch vollständige Finsternis rannten. Erst als er ganz sicher zu sein schien, daß sie von ihren Verfolgern nicht mehr eingeholt werden konnten, lief Lobsang etwas langsamer und blieb schließlich stehen. Sein Atem ging schnell und schwer, und als er sprach, hatte seine Stimme einen unheimlichen, hohlen Widerhall, der Indiana verriet, daß sie sich in einem sehr großen Raum aufhalten mußten.
«Ich glaube, wir sind vorerst in Sicherheit, Dr. Jones«, sagte er.»Sie werden es nicht wagen, uns hierhin zu folgen.«
«Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete Indiana.
Er konnte Lobsangs Kopfschütteln in der Dunkelheit hören, so heftig war es.»Sie wagen es nicht«, sagte er noch einmal.
«Niemand, der sich hier nicht wirklich auskennt, könnte in diesem Stollen überleben. Es ist ein ganzes Labyrinth, in dem man sich hoffnungslos verirren kann.«
«Aber du kennst dich hier aus?«fragte Indiana.
Lobsang wich einer direkten Antwort aus.»Ich werde einen Platz suchen, an dem wir die Nacht verbringen können«, sagte er.»Sobald es hell wird, bringe ich Sie nach Shambala. Dieser Weg ist viel kürzer als der über den Berg, den Moto und seine Männer nehmen müssen.«
«Ich bin nicht besonders müde«, sagte Indiana. Die völlige Dunkelheit und der Gedanke an die ungezählten Tonnen von Eis und Fels, die über ihnen sein mußten, machten ihn nervös.
Seine Behauptung war natürlich gelogen — er war sogar zum Umfallen müde. Aber ihr Vorsprung war einfach zu kostbar, um ihn mit etwas so Banalem wie Schlaf zu vertun. Wenn sie eine Chance hatten, Stunden, vielleicht sogar eine halbe Nacht vor Moto das Felsenkloster zu erreichen, dann mußten sie sie nutzen.
«Trotzdem ist es besser, wir warten ab, bis es Tag wird«, sagte Lobsang.
«Wieso?«fragte Indiana mißtrauisch.
«Nun, ich …«Lobsang zögerte hörbar.»… bin nicht ganz sicher, ob ich den Weg auch in der Dunkelheit finde«, gestand er schließlich.
«Du kennst dich hier nicht aus?«fragte Indiana erschrocken.
Ein heftiges Rascheln erklang aus Lobsangs Richtung, als der Tibeter eine abwehrende Bewegung machte.»Doch, sicher«, sagte er, ein bißchen zu hastig, um Indiana wirklich zu überzeugen.»Es ist nur so, daß dieser Weg unter dem Eis zum Teil keinem anderen Zweck dient, als Eindringlinge zu verwirren.
Es gibt Irrgänge und Fallen, hier.«
«Aber du bist schon einmal hiergewesen?«fragte Indiana.
Lobsangs Schweigen war Antwort genug.
«Nun, das kann ja heiter werden«, seufzte Indiana.»Hast du vielleicht noch mehr solcher Überraschungen auf Lager?«
«Ich verstehe Ihre Sorge, Dr. Jones«, antwortete Lobsang,»aber sie ist unbegründet. Wenn die Sonne aufgeht, werden wir ein wenig Licht haben, und dann finde ich den Weg. Man hat ihn mir genau beschrieben, keine Angst.«
«Oh, dann ist ja alles in Ordnung«, antwortete Indiana spöttisch.»Und ich hatte schon Angst, du hättest ihn nur in einer Vision gesehen.«
Lobsang schwieg einige Sekunden.»Wenn ich ehrlich sein soll …«, begann er, aber er sprach nicht weiter, als hätte er Indianas erschrockenen Gesichtsausdruck gesehen. Vielleicht hatte er es.