N E U N

Um 17:30 Uhr an diesem Abend verließ eine 67 Jahre alte Frau namens Matilda Pancic den Discounter-Bioladen auf der Lincoln Avenue in West Milwaukee und machte sich auf den Weg nach Hause. Ihre Wohnung lag drei Blocks weiter westlich.

Beim Laufen summte sie fröhlich vor sich hin: »This is my lovely day … this is the day I will remember until the day I’m dying …«

Da wölbte sich plötzlich direkt hinter ihr der Gehsteig, was von einem tiefen, schleifenden Geräusch begleitet wurde, das sie allerdings nicht hören konnte, einerseits wegen des Verkehrs und anderseits, weil sie halb taub war. Sssssssschhhhhh – sssssschhhhhh – sssssschhhhhh.

Matilda Pancic war seit vier Jahren und neun Tagen Witwe. Ihr Mann Milton hatte als Konditor gearbeitet. Sein Foto stand auf ihrer Kommode. Ein glatzköpfiger Mann mit herabhängendem Schnurrbart, den in der Nacht vor ihrem Hochzeitstag der Tod ereilt hatte. Das Geschwulst in seinem Körper war zu groß geworden. Der Kuchen, den er für das Jubiläum gebacken hatte, stand hinter Glas neben seinem Foto. Für meine liebste Matti. Danke für 48 wundervolle Jahre. Für immer, dein Milton.

Er hatte den Kuchen um 18:00 Uhr nach Hause gebracht. Das Für immer hatte ganze 17 Minuten gedauert.

Die Kälte setzte Matilda Pancic zu. Sie hatte sich ein Kopftuch umgebunden, das mit den Niagarafällen bedruckt war. Dazu trug sie einen tristen, blauen Stepp-Regenmantel. Ihr Gesicht wirkte runder denn je, doch was konnte sie schon großartig anderes tun als vor dem Fernseher zu sitzen, Tropenfrucht-Joghurt aus dem Becher zu löffeln und an Milton zu denken? Manchmal in der Nacht bildete sie sich ein, seine Stimme aus der Küche zu hören, so laut und deutlich, als ob er noch am Leben wäre.

Sie machte in der Drogerie Halt, um ein Milwaukee Journal und eine neue Zahnbürste zu kaufen. Mr. Druker, der pferdegesichtige Verkäufer, beugte sich über den Tresen und erkundigte sich: »Haben Sie die Hautsalbe ausprobiert, die ich Ihnen empfohlen hatte? Was halten Sie davon?«

Matilda Pancic verzog angewidert die Lippen. »Ist mir zu fettig, Herman – war nichts für mich. Sie hat mir die Ärmel eingesaut.«

»Sie sollten sie aber mindestens einen Monat lang anwenden.«

Das Mädchen vor ihr konnte sich nicht für eine Haartönung entscheiden. Sie schwankte zwischen einem Hellblond mit der Bezeichnung »Honigtau« und einem Farbton namens »Dunkelblonde Verzückung«. Mrs. Pancic sah der jungen Frau über die Schulter und mischte sich ein: »Nehmen Sie das dunklere Blond. Das andere ist so hell, damit sehen Sie aus wie ein Schrubber.«

Das Mädchen wandte sich um, starrte sie an und schnaubte verlegen durch ein Nasenloch.

»Hören Sie auf mich«, drängte Mrs. Pancic, »ich kenn mich mit Haarfärbemitteln aus. Schauen Sie mal, welche ich benutze: ›Schneeüberraschung‹.«

Sie lachte über ihren eigenen Witz. Doch nur knapp 20 Zentimeter von ihrem linken Fuß entfernt begann sich der PVC-Boden mit Schachbrettmuster zu wellen und auszubeulen. Das schleifende Geräusch schien immer näher an die Oberfläche zu dringen.

»Nur die Zeitung und die Zahnbürste«, sagte Mrs. Pancic und hielt beides wie zur Bekräftigung hoch.

In diesem Moment riss wenige Zentimeter neben ihr der Boden auf. Eine riesige, haarige Hand schoss heraus und umfasste ihren Knöchel.

Die alte Frau schrie vor Schreck entsetzt auf und kippte vornüber auf den Tresen, wobei die gläsernen Trennwände zerbrachen. Packungen mit Aspirin, Paracetamol, Abführmittel und Tampons prasselten neben ihr herab.

Das Mädchen schrie ebenfalls auf und sprang mehrere Schritte zur Seite.

»Oh mein Gott!«, keuchte Mr. Druker.

Matilda Pancic klammerte sich in einem verzweifelten Rettungsversuch an die Fußleiste der Verkaufstheke. Doch eine weitere Hand, die aus dem Boden kam, ergriff ihre rechte Wade. Matilda Pancic gab keinen einzigen Laut von sich, streckte lediglich ihre Hand in Richtung des Ladentischs in der Hoffnung aus, irgendwo Halt zu finden.

Mr. Druker schrie seinen Assistenten an: »Rufen Sie die Polizei!«

»Was?«, entgegnete der Assistent, dessen Haar sich bereits lichtete.

»Rufen Sie die Polizei, verdammt noch mal!«, brüllte Mr. Druker erneut. Es war das erste Mal seit 1951, in Korea, dass er laut fluchte.

Die zwei riesigen Hände packten Matilda Pancic und schleuderten sie von einer Seite zur anderen – ließen sie Krach!!! gegen den Verkaufstresen knallen, dann Krach!!! auf den Boden und schließlich Krach!!! gegen den Ständer mit den Hallmark-Grußkarten. Ihr Tuch mit den Niagarafällen war plötzlich dunkelrot vor Blut. Ihre Arme schlackerten, weil sie gebrochen waren. Sie wurde wieder und wieder von einer Seite zur anderen geschmettert, bis sie nur noch hin- und herflog wie eine blutige Stoffpuppe.

Sirenen heulten auf der Straße wie Kinder. Schon hatte sich vor der Drogerie eine Menschenmenge eingefunden. Nicht um Matilda Pancic zu retten, sondern um sie beim Sterben zu begaffen. Ihr Blut und ihr Gehirn waren im Schaufenster und über den ganzen Tresen verteilt.

Hast du gesehen, wie das Blut rausgeschossen ist? Wie die Arme herumschlackern? Krass, wie ihr Gesicht aussieht!

Schließlich griffen die riesigen Hände wieder nach ihr. Vor allen Umstehenden, die ihren Augen kaum trauten, wurde sie als klägliches Häufchen aus Blut, Innereien und einem lose auf dem Hals sitzenden Kopf in den Beton hereingezogen. Ein mörderisches menschliches Puzzle, das sich niemand, der es sah, so recht erklären konnte.

Das Letzte, was im Boden verschwand, war ihr geschwollener linker Fuß – der bandagierte Fuß einer alten Dame. Er schrammte mit einem Geräusch nach unten, das einem die Haare zu Berge stehen ließ – Fleisch gegen Beton. Fleisch in Beton hinein.

Dann war sie verschwunden und der Boden wölbte sich ein letztes Mal. Die Polizei stürmte mit gezogener Waffe in die Drogerie. »Raus da! Keine Bewegung! Polizei!« Doch niemand konnte den Mann, der einst auf den Namen Lester getauft worden war, an seiner Flucht durch das Erdreich hindern.

Kurz nach 19:00 Uhr am gleichen Abend verließ ein 33 Jahre alter Versicherungssachverständiger namens Arnold Cohn in der Firmenzentrale der Wisconsin Mutual Assurance auf Parkdeck 3 den Aufzug und ging durch die Tiefgarage.

Er hatte an diesem Abend eine Verabredung zum Abendessen mit einer jungen Frau namens Naomi Breinstein. Er hoffte, sie anschließend in seine Wohnung in Shorewood mitzunehmen, um gemeinsam Opernarien zu lauschen. In seiner Aktentasche lag neben den Dokumenten zum hochgradig verdächtigen Ausbruch eines Feuers im Voight-Gemüsedepot eine neue Gesamtaufnahme des Kalifen von Bagdad von François-Adrien Boieldieu. Arnold war ein echter Opernkenner, dessen Kenntnisse weit über Verdi hinausgingen.

Er machte sich ernsthaft Sorgen um sein Haupthaar. Obwohl er erst 33 Jahre alt war, lichtete es sich am Hinterkopf bereits, und zwar so stark, dass die Kopfhaut durch seine schwarzen Locken schimmerte, wenn er sich im Badezimmerspiegel von hinten betrachtete.

Arnolds Vater hatte eine Vollglatze, aber bei Vätern war das irgendwie okay. Arnold war nie davon ausgegangen, dass auch ihm dieses Schicksal drohte. Besonders nicht jetzt, wo er ein Mädchen gefunden hatte, das er regelrecht vergötterte.

Naomi spielte Cello im Milwaukee Symphony Orchestra. Ihr Haar war dunkel und bedeckte ihren halben Rücken. Naomis Augen glänzten und waren so braun wie Schokoladen-M&M’s und ihre Oberschenkel straff. Arnold hatte nie zuvor eine Frau getroffen, die ein solches Feuer in ihm entfachte.

Arnold war fast an seinem Wagen angelangt, als ihn das sichere Gefühl beschlich, dass ihn jemand mit schlurfenden Schritten verfolgte. Er hielt inne und sah sich irritiert um, doch in der Tiefgarage war niemand. Er hatte Überstunden geschoben und abgesehen von seinem eigenen Volkswagen standen nur noch sechs oder sieben andere Fahrzeuge auf dem Deck. Eines davon war die Corvette, die seinem Kollegen John Radetzky gehörte und sorgsam mit einer Plane abgedeckt war.

Arnold rührte sich fast eine halbe Minute nicht vom Fleck und hielt sogar vorübergehend die Luft an. Aber in der Tiefgarage blieb es ruhig. Er hmpfte, schalt sich selbst einen Narren und lief weiter. Ob er Naomi wohl überreden konnte, die Nacht bei ihm zu bleiben? Er hatte gesehen, wie ihre Oberschenkel das Cello umschlossen. Der Gedanke daran, dass sie sich um seine Taille wickelten, trieb ihm Schweiß der Erregung auf die Stirn.

Als er seinen Autoschlüssel aus der Tasche fischte, hörte er wieder das Geräusch. Ssssssschhhh – ssssschhhhh – ssssschhhhh. Das klang wie jemand, der einen schweren Sack schleppte. Arnold sah auf. Das Geräusch schien von der Decke auszugehen, von Parkdeck 2. Aber Parkdeck 2 war verlassen und dunkel gewesen, als er mit dem Aufzug daran vorbeifuhr. Normalerweise wurde es nur tagsüber von Besuchern der Versicherung genutzt.

»Ist da jemand?«, rief er. Jemand?, wiederholte sein Echo.

Er schloss sein Auto auf. Ssssssssssssschhhhhhh, flüsterte das Geräusch. Diesmal drehte sich Arnold ganz schnell um.

»Also wenn hier jemand ist, dann sollten Sie besser wissen, dass Sie hier unbefugt eindringen und ich den Wachmann alarmieren werde, wenn ich das Gebäude verlasse.«

Just in dem Moment bemerkte er, wie sich die Plane auf John Radetzkys Auto minimal bewegte. Das war es also. Jemand versteckte sich in Radetzkys Corvette. Wahrscheinlich irgendein Penner. Entweder schlief er da drin oder wollte die Stereoanlage klauen.

Arnold schlich sich zu der abgedeckten Karosse. Mit einer Hand fuhr er sich nervös durchs Haar. Als er den Wagen erreichte, zögerte er nur einen ganz kurzen Augenblick. Dann beugte er sich nach vorn und ergriff die Plane mit beiden Händen.

Also gut, du Arschloch. Eins, zwei, drei! Er schlug die Plane zurück und rief: »Erwischt!«

Doch das Auto war leer. Niemand darin.

Verlegen – und froh, dass ihn niemand bei dieser peinlichen Aktion beobachtet hatte – spähte Arnold durch die blitzblanke Windschutzscheibe.

Während er das Innere ausgiebig inspizierte und dabei die Augen mit der Hand gegen die Leuchtstoffröhren abschirmte, die sich im Glas spiegelten, begann sich die Betondecke über seinem Kopf zu wölben, als ob sie wie Sand zerfloss.

Langsam teilten sich die Moleküle des Betons und gaben den Umriss einer nackten Frau frei, die ausgestreckt auf einem Deckenbalken lag. Sie war auf eine schwer zu beschreibende Art und Weise attraktiv, hatte feurige Augen und kleine Brüste und genau die Art geschwungener, stämmiger Hüften, die Arnold ausgesprochen attraktiv fand.

Sie fasste nach unten wie ein Schwimmer, dessen Hände ins Wasser eintauchten. Mit unglaublicher Sanftheit berührte sie Arnolds Haar.

Er kämmte sich mit einer ungeduldigen Geste die Strähne zurück. Er dachte, es wäre eine Fliege gewesen oder sein Haar hätte sich wieder einmal unerlaubterweise von seiner kahlen Stelle weggekräuselt.

Die Frau berührte ihn erneut. Diesmal sah er auf und runzelte die Stirn.

»Ahh!«, keuchte er. Mehr brachte er nicht heraus. Sein Magen fühlte sich an, als wäre er vor lauter Angst implodiert wie ein Ballon.

Die Frau im Beton ließ ihm keine Chance. Mit beiden Händen umfasste sie seinen Hals und zerrte ihn nach oben, sodass seine Füße den Halt verloren. Er trat um sich, schwang hin und her, würgte und versuchte zu schreien, aber sie zog ihn mühelos zur Decke, wobei sie ihre Daumen in seinen Adamsapfel bohrte und ihre Fingernägel ganz tief in seinen Hals rammte.

Rot vor Anstrengung drückte er mit beiden Händen gegen die Decke, um sich abzustoßen, doch sie zog ihn so weit zu sich hinauf, dass sich sein Gesicht gegen ihres presste.

Ihre Wangen und ihre Stirn fühlten sich beinahe so rau an wie der Beton, aus dem sie aufgetaucht war. Ihre leeren Betonaugen starrten in seine. Er konnte nicht atmen, konnte nicht schreien. Er fühlte sich, als ob das ganze Gebäude auf ihn fiel. Tatsächlich war es aber genau umgekehrt. Er wurde in das Fundament hineingezogen.

Küss mich, befahl ihm die Frau lächelnd, während sie ihre Nase gegen seine Wange rieb und sie dabei schmerzvoll abschabte. Findest du mich nicht wunderschön? Sieh dir meine Brüste an! Willst du nicht mit mir schlafen?

Sie rieb ihr Gesicht erneut an seinem, von einer Seite zur anderen, immer und immer schneller. Aus Kratzern wurden schnell Fleischwunden und die Fleischwunden wurden zu Furchen. Die Haut löste sich ab, als ob sie aus Seidenpapier bestünde. Nervenenden kamen zum Vorschein, rohes Fleisch wurde sichtbar. Rechts, links, rechts, links – schnipp, schnapp, schnipp, schnapp – den Letzten beißen die Hunde!

Die Betonfrau lachte ihn aus. Ihr Gesicht glänzte, weil es über und über mit Arnolds Blut besprenkelt war. Er öffnete den Mund und versuchte zu schreien, aber sie drückte seine Kehle fest zu. Als er es doch versuchte, riss sie ihm mit ihrer roh verputzten Stirn die Lippen ab wie zwei dicke rote, verstümmelte Würmer. Dann kam seine Nase dran, ein blutiger Klumpen aus Knorpeln und Knochen. Doch erst als sie sein Kinn bis aufs Skelett abschabte, zitterte er vor lauter markerschütterndem Schmerz so sehr, dass sie ihn fallen ließ.

Arnold sackte mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Sein Blut spritzte quer über John Radetzkys Auto. Keuchend, würgend und mit Blasen im Mund kroch er vom Auto weg und hinterließ dabei eine Blutspur wie frisch verschüttete Farbe.

Mein Gesicht, dachte er durch einen Schleier aus Schmerzen. Was hat sie mit meinem Gesicht angestellt?

Blut lief ihm in die Augen, sodass er kaum noch etwas sehen konnte. Er traute sich nicht, sich ins Gesicht zu fassen, um es wegzuwischen, doch wenn er mit seinem linken Auge blinzelte, gelang es ihm, sich grob zu orientieren. Sein rechtes Augenlid hing nutzlos herab.

Er entdeckte seinen hellgrünen Volkswagen, der auf der anderen Seite der Tiefgarage geparkt war. Arnold schleppte sich darauf zu und bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, was gerade geschehen war. Er versuchte einfach nur, dort anzukommen. Rette dich ans Steuer und du bist in Sicherheit!

Ihm war eiskalt und sein Körper schien doppelt so viel zu wiegen wie sonst. Immer wenn er mit dem linken Auge blinzelte, floss ein frischer Schwall Blut. Er versuchte, sich an die Worte aus einer seiner Lieblingsopern zu erinnern, Koanga von Frederick Delius.

Arnold war nur noch knapp zwei Meter von seinem Auto entfernt, als der Betonboden unter ihm plötzlich aufzugehen schien wie ein grauer Hefezopf. Ein Erdbeben, flüsterte sein Verstand. Doch dann fühlte er raue, kräftige Hände, die ihn in eine schreckliche Umarmung schlossen, und Brüste, die sich gegen seinen Oberkörper pressten. Er blinzelte mit seinem linken Auge und sah, dass sie ihn anlächelte – ein verrücktes, triumphierendes, furchteinflößendes Lächeln. Ihr Gesicht war mit dem Öl parkender Autos und Arnolds Blut besudelt.

Lass uns Liebe machen, verlangte sie. Komm schon, Süßer, lass uns Liebe machen.

Sie küsste seinen rauen, lippenlosen Mund und schabte ihre Betonzähne gegen seine. Dann verschwand sie wie ein Taucher mit einer ruckartigen Bewegung im Boden und zog ihn hinter sich her.

Eine Sekunde lang verspürte Arnold Schmerzen, die alles übertrafen, was er kannte. Es schien, als ob er bei lebendigem Leib in eine Batterie von Fleischwölfen geraten war. Als er zerfetzt, verstümmelt und entzweigerissen wurde, wunderte er sich noch, dass er so lange bei Bewusstsein blieb, wo doch sein Körper nur noch aus Fett, Schleim, zertrümmerten Knochen und zermahlenen Sehnen bestand. Er grübelte darüber nach, bis er starb. Und er starb unter höllischen Qualen.

Als ihn die Gnade des Todes ereilt hatte, herrschte wieder Schweigen in der Tiefgarage. Kaum hörbar entfernte sich das Sssssschhhhhh – sssssschhhhhh – sssssschhhh von menschlichem Fleisch, das durch feste Wände geschleppt wurde.

Officer Gene Spanier von der Milwaukee Police fuhr um 02:30 Uhr am nächsten Morgen von der Arbeit nach Hause in Richtung Norden, als er auf der Lisbon Avenue einen Betrunkenen zu sehen glaubte, der auf dem Gehsteig lag. Langsam lenkte er sein Auto an den Straßenrand, drehte sich in seinem Sitz herum und warf einen Blick zurück, während er den Motor im Leerlauf ließ. Entweder ein Betrunkener oder eine Leiche, soweit er das beurteilen konnte. Doch es war niemand als vermisst gemeldet worden. Obwohl die Anwohner ohne Hemmungen über Betrunkene hinwegsteigen würden, wollten sie doch keine Leichen auf ihrem schönen Trottoir liegen haben.

Officer Spanier war unheimlich müde. Er war um elf Uhr vormittags zu seiner Schicht angetreten und wollte nur noch ins Bett. Doch da war dieser Mensch, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Bürgersteig lag. Seine Arme lagen eng am Körper. Was, wenn er wirklich tot war und Officer Spanier einfach weiterfuhr?

Er stieß ein zynisches Stoßgebet gen Himmel aus. Oh Herr, du schenkst Bankräubern Jachten und Zuhältern Cadillacs. Warum bleiben für mich immer nur Pommes und abgestandener Kaffee übrig? Amen. Er setzte mit seinem klapprigen, acht Jahre alten Oldsmobile ein Stück zurück, bis es genau neben der Gestalt zum Stehen kam, und begutachtete sie durch das verschlossene Fenster.

War sie betrunken oder tot? Das ließ sich von hier aus kaum beurteilen. Er sah nicht, ob sie atmete, und ihr Gesicht wies eine sehr merkwürdige Färbung auf – es war fast genauso grau wie der Beton, auf dem sie lag. Ihr Mantel hatte ebenfalls die Farbe von Beton.

Es handelte sich um einen stämmigen Mann, vielleicht 35 Jahre alt, möglicherweise einen Polen oder Deutschen.

Officer Spanier fuhr noch ein Stück weiter zurück und bemerkte, dass der Mann keine Schuhe trug. Seine Füße? Auch grau wie Beton.

Ein Betrunkener, was denn sonst? Kein Blut, keine Kopfverletzung zu sehen. Aber sein Gesicht wirkte aschfahl und sein Brustkorb schien sich nicht zu heben und zu senken, wenn er atmete. Und selbst wenn er nicht tot, sondern nur betrunken war, konnte er immer noch eine Alkoholvergiftung haben. Officer Spanier appellierte an sich selbst, auszusteigen, um dem Mann das Leben zu retten.

Wenn man überhaupt von Leben retten sprechen kann, wenn es um einen Mann geht, der um 02:30 Uhr morgens sturzbetrunken auf der Lisbon Avenue liegt, fügte er in Gedanken sarkastisch hinzu. Ihm hatte das Gleichnis vom barmherzigen Samariter noch nie gefallen. Den meisten Polizisten ging es ganz ähnlich. In der Regel wollten die Leute, die sie retteten, gar nicht gerettet werden – oder aber sie waren es einfach nicht wert. Landstreicher, Junkies, Möchtegern-Selbstmörder, arbeitslose Brauereiangestellte, verrückte Polacken.

Officer Spanier war 39 Jahre und 51 Wochen alt und hatte gerade seine zweite Scheidung hinter sich gebracht. Er wachte jeden Morgen zwei Stunden zu früh auf, lag dann lange wach und grübelte über sein Leben nach. Nächste Woche wurde er 40. Er lebte in einer Zweiraumwohnung. Über ihm wohnte ein Sopran-Saxofonist und gegenüber eine Prostituierte. Der Sopran-Saxofonist spielte besonders erbärmliche Versionen von Roland-Kirk-Nummern und die Prostituierte trug enge, weiße, ganz kurze Shorts, die ihr wie ein scharfes Messer in die Beine schnitten. Beide waren ihm herzlich egal. Er trank viel Jack Daniel’s, wenn er nicht im Dienst war, und amüsierte sich großartig über Miami Vice. Klar, denn weder ein weißer Armani-Anzug noch ein roter Ferrari Daytona waren zwangsläufig nötig, um ein glücklicher Cop zu sein. Man brauchte einfach nur eine tolle Ehefrau, die einen nicht nervte, nicht das Essen anbrennen ließ und sich nicht angewidert wegdrehte, wenn man zu ihr ins Bett stieg und aussah wie Frankenstein persönlich, der auf die Three Stooges trifft. Eine Frau, die nicht versuchte, dich mit einem Nachthemd aus dem Repertoire einer alten Jungfer ins Zölibat zu treiben. Außerdem brauchte kein Mensch diese verdammten Milwaukee-Winter mit Wind, der wie eiskalte, in Wodka eingelegte Rasierklingen über den See blies.

Grunzend und äußerst widerwillig hievte sich Officer Spanier aus dem Fahrersitz. Seit seiner Scheidung hatte er knapp sieben Kilo zugelegt und sich einen Schnurrbart wie Teddy Roosevelt stehen lassen. Sein größter Held war Burt Reynolds. Er besaß ein signiertes Foto, auf dem er Arm in Arm mit dem Hollywood-Star in den Universal Studios stand. Für Gene. Mit besten Schnörkeln, Burt Reynolds. Er hatte bis heute keine Ahnung, was es mit den Schnörkeln auf sich hatte.

Er ging neben der ausgestreckt daliegenden Gestalt in die Hocke. Sie stank nicht nach Alkohol. Sie roch nach überhaupt nichts. Betrunkene mieften normalerweise wie ein Schnapsladen und Leichen sonderten einen Geruch nach Scheiße ab, weil die Schließmuskelfunktion aussetzte. Aber dieser Mann da roch nach gar nichts. Officer Spanier betrachtete ihn eine Weile mit professionellem Desinteresse, schniefte dann und sagte: »Hey Junge, schläfst du oder was?«

Die Gestalt auf dem Bürgersteig regte sich nicht. Nicht betrunken, nicht tot, sondern völlig leblos.

Officer Spanier streckte vorsichtig die Hand aus und berührte den Mann am Arm. Du liebe Güte, er bestand aus Beton, war eine verfickte Statue. Jemand hatte eine Statue auf den Gehsteig gelegt.

Er drückte dagegen, doch das blieb ohne Wirkung. Er konnte nicht mal seine Finger darunterbekommen. Das Ding schien untrennbar mit dem Gehsteig verbunden. Herrgott! Jemand hatte ein Stück Straßenpflaster in eine Skulptur umgeformt. Da konnte locker jemand drüberfallen und sich sämtliche Knochen brechen. Was für eine verrückte Sache! Klar, in Kalifornien war so etwas fast schon an der Tagesordnung, aber hier in Milwaukee?

Doch der Künstler beherrschte sein Handwerk. Man musste sie schon aus nächster Nähe betrachten, um überhaupt zu erkennen, dass sie aus Beton bestand. Die Detailgenauigkeit war verblüffend. Wer auch immer dahintersteckte, konnte ein Vermögen machen, wenn er Gummipuppen als Zeitvertreib für geschiedene Cops herstellte.

Das Problem war, dass Officer Spanier zwangsläufig einen Bericht über seine Entdeckung schreiben musste. Und er musste nach dem Verantwortlichen fahnden und ihn verhaften lassen, sofern das Anfertigen von Skulpturen aus Gehwegplatten tatsächlich eine Straftat darstellte. Vielleicht konnte man es als Vandalismus oder Erregung öffentlichen Ärgernisses hindrehen.

Eventuell konnte er sich die ganze Mehrarbeit auch sparen, wenn er die Skulptur einfach verschwinden ließ. Er musste einfach nur die Asphaltdecke mit dem spitzen Ende seines Wagenhebers rundherum aufreißen und sie dann wegschaffen. Dann reichte es, das verdammte Ding in den nächsten Tümpel zu werfen und so zu tun, als ob es nie existiert hätte.

Er ging zurück zu seinem Oldsmobile, öffnete den Kofferraum und tastete unter der Abdeckung nach dem Werkzeug. Hatte er da nicht gerade ein Schaben gehört? Officer Spanier hielt inne und sah sich um, doch die Lisbon Avenue lag völlig verlassen da. Nichts, dachte er. Hast wohl Angst im Dunkeln.

Der Polizeibeamte drehte sich wieder zur Skulptur um. Ich kann es einfach nicht glauben. Ich sollte längst zu Hause im Bett liegen. Doch stattdessen bin ich hier und versuche, die Plastik eines Menschen vom Gehsteig zu schaben. Ich hätte doch auf Onkel Albie hören und den Wohnwagenhandel übernehmen sollen. Zumindest hätte ich damit mehr Geld verdient. Und ich würde nicht um drei Uhr morgens auf einem verdammten Trottoir kauern und mich mit der Arbeit eines verrückten Künstlers herumschlagen.

Etwas außer Atem bückte sich Officer Spanier und setzte das meißelförmige Ende des Wagenhebers passgenau an der Stelle an, wo die Wange der Statue den Boden berührte. Gerade als er mit der Arbeit beginnen wollte, öffnete sie die Augen und starrte ihn an. Officer Spanier ließ das improvisierte Werkzeug mit einem lauten Scheppern auf den Boden donnern. Er stand hektisch auf und wischte sich nervös die Hände an seiner Jeans ab.

»Du hast dich bewegt«, schimpfte er mit der Skulptur. »Du hast die Augen geöffnet.«

Die Statue lächelte. Der Schein trügt. Du bist ein Polizist. Du solltest das wissen.

Officer Spanier griff nach dem Wagenheber und fuchtelte damit in der Luft herum. »Ich warne Sie. Was auch immer Sie sind, ich werde Sie verhaften. Ich werde Ihnen Ihre Rechte vorlesen.«

Ich kenne meine Rechte. Awen, der Bedeutendste von allen, hat sie mir verliehen.

»Stehen Sie einfach auf, Mister. Stehen Sie ganz langsam auf. Hände vor den Körper, keine falsche Bewegung.«

Ich kann nicht aufstehen. Noch nicht.

»Aufstehen habe ich gesagt!«, blaffte Officer Spanier.

Das ist unmöglich. Der Beton besteht aus mir und ich bestehe aus Beton.

»Wenn Sie nicht freiwillig aufstehen, Mister, dann werde ich Sie hochziehen.«

Officer Spanier packte den Skulpturenmann am Kragen und versuchte, ihn auf die Beine zu stellen. Doch – »Scheiße!« – es war unmöglich. Entweder war der Fremde sehr schwer oder Officer Spanier nach 16 Stunden im Dienst einfach zu erschöpft, um ihn hochzuheben. Oder vielleicht war der Skulpturenmann tatsächlich ein Teil des Bürgersteigs.

Was zum Teufel sollte er jetzt tun?

Gib mir deine Hand!, befahl ihm der Skulpturenmann. Seine Stimme klang belegt und undeutlich, als ob er eine Handvoll feinen Sand im Mund hätte.

Officer Spanier nahm den Wagenheber in die linke Hand und bot der merkwürdigen Erscheinung seine rechte an. Der Skulpturenmann griff zu und hielt ihn fest. Sehr fest. In einem eisernen Handgriff.

»Okay, Mister, hoch jetzt!«, verlangte Officer Spanier.

Nein, mein Freund. Du kommst runter.

Officer Spanier zog an dem Fremden. Doch der war außergewöhnlich stark. Der Polizist hatte so etwas noch nie erlebt. Er versuchte, seine Hand loszureißen, doch es gelang ihm nicht.

»Hey! Lassen Sie meine …!«

Doch der Skulpturenmann drehte sich plötzlich lächelnd im Gehsteig herum, tauchte in den Beton hinab und verschwand. Officer Spanier schrie noch »Halt!«, doch dann wurde er auch in den Boden hineingerissen.

Officer Spanier war an einem Februarmorgen in den Lake Michigan gesprungen, um eine Ertrinkende zu retten. Er hatte sich durch lodernde Flammen gekämpft, um zwei kleine Kinder aus einer brennenden Wohnung zu retten. Er war durch ein Spiegelglasfenster gesprungen, um nicht von einem verrückten, drogenabhängigen Polacken mit einer abgesägten Schrotflinte erschossen zu werden. Doch niemals hätte er damit gerechnet, mit dem Kopf voran in den Gehsteig auf der Lisbon Avenue gezogen zu werden. Er wurde mit einer solchen Urgewalt in den Boden geschmettert, dass es ihm vorkam, als würde seine Seele in ihre Bestandteile zerspringen.

Es war absolut ausgeschlossen, dass ein menschlicher Körper tatsächlich in Beton eindrang, und doch schien genau das gerade zu passieren. Der Skulpturenmann zog ihn tief in den grauen Untergrund herein, drohte seine Haut auseinanderzureißen, Arterien zu durchtrennen und seinen ganzen Körper zu Brei zu zermalmen.

Er fühlte den Tod herannahen, als würde die Objektivabdeckung auf die Kamera seines Lebens gesteckt. Ich sterbe. Ich kann es nicht glauben. Das ist das Ende meines Lebens. Er glaubte zu schreien, aber wahrscheinlich spielte ihm sein Gehirn nur einen Streich, während es in tausend Stücke zerbröselte.

Officer Spanier verschwand im Gehsteig wie ein Taucher im Swimmingpool. Die Lisbon Avenue blieb still und verlassen zurück. Die Tür seines zurückgelassenen Streifenwagens stand offen und der Schlüssel steckte noch im Zündschloss.

Nach etwa einer Viertelstunde zeichnete sich ein nasser, dunkler Fleck auf dem Bürgersteig ab, gefolgt von Rissen im Beton.

Der Fleck wurde größer und größer. Dann quoll plötzlich eine dickflüssige Tomatensuppe aus dem Boden, die sich immer weiter ausbreitete. Bei der Suppe handelte es sich um die Überbleibsel von Officer Spanier – sein Fleisch, Blut und seine zerschmetterten Knochen hatten sich verflüssigt. Er floss über den Gehsteig in den Rinnstein und tropfte dann in die Kanalisation hinein.

In den Morgenstunden öffnete eine 19-jährige Psychologiestudentin namens Rhoda Greenberg im Zimmer 516 des Hyatt Regency auf der Grand Avenue von Milwaukee die Augen. Sie hob den Kopf vom Kissen, betrachtete stirnrunzelnd das Fenster und fragte sich, wo um alles in der Welt sie sich befand. Da hörte sie ein Schnarchen. Mit der Sorgfalt eines Leichenbestatters hob sie die verknäulte Decke an und betrachtete den grauhaarigen Mann, der tief und fest neben ihr schlief. Da kehrte die Erinnerung zurück.

Du hast es wieder getan, Rhoda, du Schlampe.

Müde schob sie die Decke zur Seite und kletterte nackt aus dem Bett. Sie ging zum Fenster und kratzte sich gähnend an ihrem schwarzen Lockenschopf. Geräuschvoll zog sie die Vorhänge zurück. Draußen lag die Innenstadt von Milwaukee geisterhaft im Nebel des Lake Michigan. Der Glockenturm des Rathauses mit seinem charakteristischen grünen Dach wirkte durch den Schleier wie der Turm einer osteuropäischen Metropole. Die Turmuhr verriet ihr, dass es erst 06:05 Uhr war. Sie hatte eine mächtige Rotweinfahne und ihr Kopf dröhnte wie beim Spontanbesuch eines Bienenschwarms.

Rhoda schaute zurück in Richtung Bett. Ein fetter Arm, so weiß wie Fleischwurst und von einer dünnen grauen Haarschicht überzogen, lugte unter der Decke hervor. Eine Seiko-Uhr aus Edelstahl protzte am Gelenk. Am Ringfinger steckte ein Ehering. Rhoda wusste nicht, ob sie sich vor sich selbst ekeln sollte oder nicht – und wie stark. Sie hatte etwas Ähnliches schon so oft getan, dass ihr Schuldgefühl relativ abgestumpft war. Und sie würde es wieder tun, sobald sich die Gelegenheit ergab, keine Frage.

Rhoda verharrte lange im perlfarbenen Lichtschein am Fenster. Man konnte sie nicht unbedingt schön nennen. In ihrem Gesicht prangte eine viel zu große Hakennase und ihre Lippen waren extrem wulstig, ihr Kinn ähnlich schwach ausgeprägt wie bei Popeyes Olivia. Zu Hause hatte sie ein paar Fotos ihrer Großmutter aus Breslau aus jungen Tagen gesehen. Die Ähnlichkeit war verblüffend.

Doch sie besaß einen spektakulären Körper. Ihre Brüste waren riesig, rund und fest und ihre Hüfte so schmal, dass die meisten Männer sie mit den Händen umschließen konnten. Ihre langen Beine mit schlanken Schenkeln und wohlgeformten Knöcheln kamen der Perfektion nahe.

Mit 13 fiel ihr zum ersten Mal auf, dass die Männer geil auf sie waren. Sie wollten zwar nicht mit ihr gesehen werden und sie beispielsweise zum Tanzen ausführen, weil sie ihnen zu gewöhnlich, hasenzahnig und kraushaarig erschien. Außerdem klang es wie das Schreien eines Esels, wenn sie lachte. Doch die Männer gaben alles dafür, ihre Brüste berühren und die Hände unter ihren Rock schieben zu dürfen. Sie hatte sogar ihren Vater einmal dabei ertappt, wie er mit erschreckender Faszination durch die Badezimmertür gestiert hatte, als sie einen Spaltbreit offenstand. Eine Hand lag auf seinem Herzen, Whiskey vernebelte ihm den Verstand und seine Augen waren blutunterlaufen.

Rhoda sehnte sich nach Freundschaften, Partnerschaften, nach Zuneigung, Liebe und Leidenschaft, genau wie jedes andere Mädchen auch. Nur weil sie nicht das Gesicht einer Ballkönigin besaß, hieß das noch lange nicht, dass sie keine emotionalen Bedürfnisse hatte. Doch wenn Männer Rhoda ansahen, dann sahen sie ihr nie ins Gesicht. Und nicht ein einziges Mal hatte man sie auf eine Party mitgenommen. Mit 15 hatte sie einen Entschluss gefasst: Wenn die Männer ihr nicht das geben wollten, was sie brauchte, musste sie sich eben von ihnen holen, was sie konnte.

Sie war ganz offen hinter jedem einzelnen Jungen aus ihrer Abschlussklasse in der High School her gewesen (und hatte sie auch alle ins Bett bekommen), bis auf zwei, die schwul waren. Selbst drei ihrer Lehrer landeten mit ihr im Bett. Jetzt, wo sie an der University of Wisconsin in Milwaukee Psychologie studierte, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihre wenigen freien Abende im Hyatt oder im Sheraton zu verbringen oder in den Läden auf der Grand Avenue einsame Geschäftsleute aufzugabeln. Wenn es dort Kosmetika, Schmuck oder auch Dessous zu kaufen gab, waren sie eine gute Anlaufstelle. Denn dort machten sich die Männer ungeschickt auf die Suche nach Geschenken, die sie ihren Frauen zu Hause mitbringen konnten.

Rhoda gab sich stets nett und hilfsbereit. »Wissen Sie, was ich ihr kaufen würde, wenn ich Sie wäre …?«

Doch in den Hotelzimmern machte sie sich einen Spaß daraus, sie zu demütigen. Rhoda ließ die Männer kriechen. Sie nannte sie Abschaum, gab ihnen Schimpfnamen und ließ sie die widerwärtigsten Dinge tun, die ihr in den Sinn kamen. Und das Seltsame war: Sie taten immer, was sie von ihnen verlangte. Einige von ihnen bewunderten sie sogar so sehr, dass sie Rhoda als stets verfügbarer Domina ein eigenes Apartment finanzieren wollten.

Aber sie lehnte solche Angebote immer ab. Sie wollte niemandem gehören. Dennoch verdiente sie Tausende von Dollar und erwartete von jedem Mann ein teures Geschenk. Schmuck, Parfüm oder ein Kleid.

Rhoda trat vom Fenster zurück und ging ins Badezimmer, ohne den schlafenden Mann auf dem Bett eines weiteren Blickes zu würdigen. Sie wusste noch nicht einmal mehr, wie er hieß, sondern erinnerte sich nur an seinen kleinen, haarigen Körper und daran, dass er in Tränen ausgebrochen war, nachdem sie mit dem Sex fertig gewesen waren. Als »Liebe machen« betrachtete sie das, was sie tat, nie.

Rhoda schaltete das Licht im Badezimmer ein und sah sich im Spiegel an.

Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Sie hatte an diesem Wochenende einiges an Schlaf nachzuholen. Rhoda putzte sich die Zähne, spuckte aus und putzte sie gleich noch mal.

Als sie sich den Mund ausspülte, hörte sie hinter sich ein Geräusch, als ob jemand gegen den Duschvorhang strich. Sssch.

Sie schaute in den Spiegel, aber niemand tauchte in der Reflexion hinter ihr auf. Sie ließ kaltes Wasser ins Waschbecken laufen, um ihren geschwollenen Augen etwas Entspannung zu gönnen. Sie verfluchte sich für ihre Vorliebe für Rotwein. Sie verschaffte ihr immer einen Kater, der sie den ganzen Tag über lahmlegte.

Dann hörte sie das Geräusch wieder. Diesmal kam es langsamer und dauerte länger an. Sssschh – sssschhhhh.

Stirnrunzelnd drehte Rhoda sich um. Im Bad war niemand zu sehen. Der Duschvorhang hatte sich nicht bewegt. Sie ging zur Tür und warf einen Blick ins Schlafzimmer, doch der haarige Zwerg schlief noch immer tief und fest – und schnarchte laut und vernehmlich.

Ach, was soll’s? Vielleicht sind es die Leitungen, dachte sie. Du weißt ja, wie es in diesen Hotels ist. Immer wenn jemand aufs Klo geht, bekommt es der Nachbar in allen dreckigen Details mit.

Rhoda wusch sich das Gesicht, trocknete sich ab und öffnete dann ihren Schminkbeutel. Sie ging ziemlich großzügig mit Make-up um. Falsche Wimpern und dunkelroten Lippenstift mochte sie am liebsten. Besser man sah wie eine Nutte aus als wie ein Mauerblümchen.

Sie brachte Kleber an einer der falschen Wimpern an. Bei der Erinnerung an einen der Kerle, der diese mal im Regal entdeckt hatte, musste sie schmunzeln. Der hatte sie nämlich in Toilettenpapier zerquetscht und sie in der Toilette runtergespült, weil er sie für Tausendfüßler gehalten hatte.

Sie lächelte immer noch in sich hinein, als das Wasser im Waschbecken plötzlich von selbst abfloss und im Abfluss gurgelte.

Rhoda rüttelte am Hebel, der den Stöpsel fixierte. Dann ließ sie erneut Wasser ein, doch wieder floss es sofort ab. Sie sah sich den Verschluss genauer an. Möglicherweise war er ja undicht? Sie versuchte immer noch herauszufinden, was mit dem Stöpsel nicht stimmte, als sie bemerkte, dass sich ihre Haare im Abfluss verfangen hatten. Verdammt, murmelte sie und versuchte, ihren Kopf zu heben, doch ihr langes, lockiges Haar steckte fest.

Vorsichtig versuchte sie es zu lösen. Doch je mehr sie versuchte, ihre Strähnen freizubekommen, desto mehr steckten sie fest. Ihr Kopf wurde inzwischen ziemlich schmerzhaft in das Waschbecken hinuntergezogen, ihre Stirn gegen die kalte Keramik gepresst.

»Verdammt noch mal«, fluchte Rhoda. Sie war nicht länger nur ungeduldig, sondern stand kurz davor, in Panik zu geraten. Sie wollte ihr Haar auf keinen Fall abschneiden, es war schließlich ihr Kapital. Außerdem begriff sie nach wie vor nicht, wie sie sich so hoffnungslos verheddert hatte.

»Hey!«, rief sie und versuchte, den haarigen Zwerg drüben im Schlafzimmer aufzuwecken. »Hey, hilf mir mal hier, ja? Hey!« Sie hätte sich gerne an seinen Namen erinnert. So was wie Herman oder Harry oder Herbert.

»Hey, Herman!«, rief sie. »Herman, ich hänge fest! Herman, hol mich hier raus! Bitte!«

Doch kaum hatte sie das gesagt, wurde ihr Haar mit roher Gewalt ins Abflussrohr gezerrt, als ob da drin jemand wäre, der sämtliche Kräfte mobilisierte und daran zog. Rhoda knallte mit der Stirn gegen das Waschbecken und schrie jetzt vor Angst. »Hilfe! Hilfe! Um Gottes willen, Herman, hilf mir!«

Rhodas Kopf wurde immer wieder gegen das Waschbecken geschlagen. Sie fühlte, wie ihre Kopfhaut bis aufs Äußerste gespannt und von ihrem Schädel weggezogen wurde. Sie schrie immer und immer wieder, doch das erbarmungslose Ziehen wollte einfach nicht aufhören.

»Was zum Teufel ist los, warum brüllst du denn so?«, hörte sie die Stimme des haarigen Zwergs Herman ganz in ihrer Nähe. Sie öffnete die Augen und sah sein besorgtes Gesicht falsch herum.

»Ich stecke fest, mein Haar ist eingeklemmt. Komm her und mach mich los!«

Herman packte sie am Kopf und versuchte, sie nach oben zu ziehen. Rhoda schrie noch schriller, woraufhin er sie wieder losließ.

»Nicht so, du verdammter Idiot!«, meckerte sie mit Tränen in den Augen. »Der Stöpsel, hol den Stöpsel raus!«

Herman kämpfte eine Weile damit, rüttelte am Hebel wie ein Kind, das Zug fahren spielt, doch dann keuchte er. »Es geht nicht. Dein Haar steckt zu fest, ich bekomme es einfach nicht los.«

»Scheiße, ich werde nach unten gezogen!«, schluchzte Rhoda. Sie sah auf Hermans großen, weißen, fetten Arsch. Unentschlossen öffnete und schloss er seine Faust. »Vielleicht sollte ich sie abschneiden?«, schlug er verunsichert vor. »Soll ich eine Schere holen?«

»Befrei mich einfach!«, flehte sie ihn an. Ihr Haar wurde mit solcher Kraft in den Abfluss gezerrt, dass es ihr vorkam, als würde es an den Wurzeln herausgerissen. Der Schmerz war so überwältigend, dass sie ihn nicht länger ertragen konnte. Sie fing wieder an zu schreien. Blind und sinnlos brüllte sie die kalte Keramik des Waschbeckens an.

Herman wich zurück. »Du!«, ließ er sich vernehmen. »Ich geh mal besser und hol Hilfe. Hältst du noch einen Moment durch? Geht das?«

Er eilte zurück ins Schlafzimmer und zog sich an. »Verdammt.« Wie ein Berserker durchstöberte er das Zimmer auf der Suche nach seinem Hemd und seinen Socken. »Was zum Teufel habe ich mit meiner Krawatte gemacht? Herrgott, hör auf zu schreien, meine Güte.«

Rhoda holte zitternd tief Luft und wollte erneut brüllen. Doch diesmal drang kein Laut aus ihrer Kehle. Zwei glänzend weiße Hände schälten sich aus dem Waschbecken, packten ihren Kopf und zogen ihn direkt in das weiße Material hinein.

Herman erschien wieder in der offenen Badezimmertür. Er war halb angezogen und seine Miene wirkte wie versteinert. Er sah Rhodas nackten, über das Waschbecken gebeugten Körper, der zitterte, als ob sie auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet würde. Das Becken selbst war randvoll gefüllt mit Blut, das teilweise über den Rand hinausschwappte.

Herman starrte Rhoda lange an. Er hatte noch nie gesehen, wie jemand getötet wurde. Er merkte nicht einmal, dass Rhoda auf eine Art starb, die gegen sämtliche Naturgesetze verstieß. Letzte Nacht hatte sie ihn gezwungen, auf dem Teppich entlangzukriechen. Nun ging sie vor ihm in die Knie. Ihre Arme und Beine waren steif vor Schmerz und das Leben wich langsam, aber unaufhaltsam aus ihrem Körper.

Herman fühlte eine perverse sexuelle Erregung in sich aufsteigen. Sie war nackt, sie wurde gerade getötet und er konnte einfach nicht wegschauen.

Schließlich packte er den Knauf der Badezimmertür und zog sie mit einer seltsamen kleinen Verbeugung zu. Herman atmete tief durch. Dann nahm er ein Taschentuch und wischte den Griff ab. Er hatte vermutlich im gesamten Zimmer Tausende von Fingerabdrücken hinterlassen, aber irgendwie vermittelte ihm diese Tat ein Gefühl von Sicherheit. Zumindest konnte ihm so niemand beweisen, dass er sie beim Sterben beobachtet hatte. Zitternd, schweißnass und kreidebleich ging er zurück ins Schlafzimmer, um seinen Koffer zu packen.

Als er fertig war, ging Herman zurück zur Badezimmertür und lauschte. Nur ein langsames, stetes Tropfen war zu hören. Ob er einen letzten Blick riskieren sollte? Herman entschloss sich dagegen. Wenn jemand ihn fragte, würde er leugnen, das Mädchen je gesehen zu haben – sie musste in sein Hotelzimmer eingebrochen sein, nachdem er schon ausgecheckt hatte, und dort Selbstmord begangen haben. Ganz offensichtlich handelte es sich um Selbstmord. Sie hatte sich im Waschbecken die Kehle aufgeschlitzt.

Herman wusste, dass seine Frau Marcia ihm Rückendeckung geben würde. Er konnte ihre Reaktion fast hören. »In 37 Jahren Ehe war mein Herman nicht ein einziges Mal untreu.« Bei diesen Worten würde sie bestätigend mit ihrer grauen Dauerwelle nicken. Er schwitzte wie ein Schwein und kam so schlecht zu Atem, dass er sich gegen die Wand lehnen und immer wieder ins Gedächtnis rufen musste: Atmen, atmen, verdammt noch mal, atmen.

Irgendwann schaffte er es, nicht mehr zu keuchen. Alles okay so weit, jetzt musst du einfach nur noch die Fläschchen aus der Minibar an der Rezeption bezahlen, lächeln und das Flugzeug zurück nach Indianapolis nehmen. Und keiner wird dir je beweisen können, dass du irgendwas mit der Sache zu tun hattest.

Er hievte seinen karierten Koffer hoch und wandte sich zur Tür.

Doch dort wartete eine böse Überraschung auf ihn, die ihn in der Bewegung erstarren ließ. Noch nie in seinem Leben hatte er eine solche Angst verspürt.

Die Tür selbst hatte sich gewölbt und die Form eines kleinen muskulösen Mannes angenommen. Dieser starrte ihn grinsend an. Die braungoldenen Muster des Holzfurniers zeichneten Streifen wie bei einer Kriegsbemalung auf sein Gesicht.

Herman stand regungslos da, starrte den Mann in der Tür an und wusste nicht, was er tun sollte. Er traute sich nicht, die Hand nach der Klinke auszustrecken.

»Was wollen Sie?«, flüsterte er schließlich.

Der Mann in der Tür grinste immer noch und glotzte ihn weiter an. Etwas an dem Lächeln ließ Herman keinen Moment daran zweifeln, dass er dieses Hotel nicht mehr lebend verlassen würde.

Es passierte überall in Milwaukee, Wauwatosa, Cudahy und Whitefish Bay. Auf der East Kilbourn Avenue fand man dreijährige Zwillinge, die offenbar von ihrer Mutter beim Shoppen zurückgelassen wurden, in ihrem Buggy. Auf der North Sixth Street verschwand ein bekannter Bierbrauer aus dem Auto, während er vor einer Ampel stand. Es gab keine Hinweise auf seinen Verbleib, nur den merkwürdigen Umstand, dass sämtliche Ledersitze der Limousine aufgeschlitzt waren.

Genau neben den Gewächshaus-Kuppeln des Mitchell Park Horticultural Conservatory wurden drei Gäste einer Hochzeitsgesellschaft vor Dutzenden völlig entsetzter, jedoch hilfloser Zeugen in den Boden hinabgezogen, während sie für ein Erinnerungsfoto posierten.

Ein 32 Jahre alter Architekt wollte gerade die Toilette im Mader’s Restaurant verlassen, tauchte aber nie wieder auf.

Jack schaute den ganzen Tag Nachrichten und versuchte zu zählen, wie viele Leute verschwanden. Am Nachmittag war die Zahl deutlich zweistellig und er konnte den Berichten entnehmen, dass sich in Milwaukee eine Panik ausbreitete. Gouverneur Earl hatte für die Region bereits den Notstand ausgerufen und die Nationalgarde alarmiert.

»Aber in Wahrheit wissen wir überhaupt nicht, womit wir es hier zu tun haben … ob die Fälle plötzlichen Verschwindens auf ein Naturphänomen, eine Art Erdbeben, zurückzuführen sind … oder ob diese Menschen einer kriminellen Verschwörung zum Opfer fielen …«

Jack sah Geoff Summers an.

Der zuckte nur die Achseln.

»Sollen wir es ihnen sagen?«, wollte Jack wissen.

»Meinst du, dass sie uns glauben würden?«, erwiderte Geoff.

»Ganz bestimmt nicht.«

»Dann sollten wir es besser für uns behalten und nach einer Möglichkeit suchen, diese Irren aufzuhalten, bevor es zu spät ist. Ich regle bestimmte Angelegenheiten am liebsten persönlich. Sobald man es über die offiziellen Kanäle versucht, ist man verloren.«

Geoff hatte ein kleines Hinterhaus in einem Vorort von Madison aufgetrieben, dessen Veranda mit Flaschenkürbissen überwuchert war. Darauf stand ein Schaukelstuhl, in direkter Umgebung wartete ein verwahrloster, leerer Parkplatz seit Jahren auf den nächsten Besucher. Das Haus gehörte einem Physikprofessor, der für zwei Jahre in Skandinavien unterrichtete. Geoff besaß den Schlüssel, weil er ab und zu hinfuhr, um die Pflanzen zu gießen. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass sie jemand dort entdeckte.

Es war ein trüber, Kopfschmerzen verursachender Nachmittag und dunkle Wolken hingen tief am Himmel. Es roch, als ob es bald regnen würde. Sie saßen auf Sitzsäcken im Empfangszimmer des Physikprofessors und tranken Kaffee aus Garfield-Tassen. Jack war kurz davor aufzugeben. Er hatte eine Horde unkontrollierbarer, krimineller Irrer in die Freiheit entlassen und fühlte sich für jedes Leben, das sie auslöschten, persönlich verantwortlich. Langsam begann er zu glauben, dass selbst Geoff und Karen ihm die Schuld dafür gaben.

»Wenn wir sie nur irgendwie ausfindig machen könnten«, sagte er. »Sie irgendwie finden, bevor sie wieder zuschlagen und sich neue Menschen schnappen.«

Geoff blätterte durch einen voluminösen, muffig riechenden Schmöker mit dem Titel Rituale und Magie in vorchristlicher Zeit. »Ich habe versucht, das Ritual zu finden, mit dessen Hilfe die Druiden in den Boden gelangt sind. Vielleicht können wir sie mit eigenen Waffen schlagen.«

»Du meinst, indem wir selbst in den Boden gehen?«, fragte Jack.

»Na, wie sollen wir sie denn sonst finden?«

»Das weiß Gott allein«, erwiderte Jack.

»Wartet mal – da kommen wieder Nachrichten«, mischte sich Karen ein. Sie nahm die Fernbedienung und stellte den Ton lauter. Auf dem Bildschirm sah man ein paar Bauarbeiter mit Schutzhelmen, die mit der Polizei und Fernsehreportern redeten.

Einer der Arbeiter sagte: »… graben, um Elektrokabel zu verlegen, wissen Sie? Und plötzlich spielten meine Wünschelruten verrückt. Also wollte Louis hier wissen, was zum Teufel da los war – entschuldigen Sie, dass ich mich so derb ausdrücke –, und plötzlich fiel er direkt in den Bürgersteig und zack, weg war er.«

»Sie meinen, er ist direkt in Ihre Baugrube gefallen?«, fischte eine Fernsehreporterin nach einer rationalen Erklärung.

Der Arbeiter schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein, gute Frau. Er war gar nicht in der Nähe der Baugrube. Er ist direkt in die Straße hineingefallen. Er ist im festen Boden verschwunden.«

Die Reporterin wandte sich der Kamera zu: »Ein weiteres unerklärliches Verschwinden hier auf der East Wisconsin Avenue, der 18. Fall in der Region Milwaukee innerhalb von nur 24 Stunden. Ein Bauarbeiter versinkt im Boden und gibt seinen Arbeitskollegen und der Öffentlichkeit Rätsel auf. Die Polizei hält nach eigenen Worten ›Augen und Ohren offen‹. Schon jetzt mehren sich Stimmen, die das Einsetzen einer Sondereinheit fordern. Hunderte Einwohner von Milwaukee fliehen per Auto oder Flugzeug aus der Region, bis eine Erklärung für das plötzliche und massenhafte Verschwinden von Menschen gefunden ist. Alle Straßen in Richtung General Mitchell Field …«

Jack schnappte sich die Fernbedienung, schaltete auf stumm und wandte sich mit ernstem Gesicht an Geoff. »Weißt du, was jetzt passieren wird? Es kommt zu einer Massenhysterie. Wir müssen uns schnell was einfallen lassen.«

Doch Geoff wirkte nachdenklich. »Hast du gehört, was der Bauarbeiter sagte?«

»Klar. Sein Freund verschwand im festen Boden.«

»Ja, aber ich meine davor.«

»Keine Ahnung. Dass sie Elektrokabel verlegten?«

Geoff schloss sein Buch und legte es zur Seite. »Er sagte: ›Meine Wünschelruten spielten verrückt.‹«

»Ach ja?«, fragte Jack immer noch ratlos.

»Überleg doch mal …«, begann Geoff, »die Versorgungsunternehmen setzen Wünschelruten ein, bevor sie die Straße ausbaggern, um Wasser- und Gasleitungen aufzuspüren und Erdarbeiten durchzuführen, ohne etwas zu beschädigen. Aber die Druiden benutzten ebenfalls Wünschelruten, um Leylinien zu lokalisieren. Sie setzten dafür Haselnusszweige ein … aber das Prinzip war genau das gleiche.«

»Worauf willst du hinaus?«, wollte Jack wissen.

»Nun, wenn Quintus Miller und seine Kumpels die Wünschelruten verrückt spielen lassen, dann könnten wir vielleicht jemanden ins Boot holen, der weiß, wie man die Dinger benutzt, um Jagd auf diese Scheißkerle zu machen.«

»Und was ist mit dem Typen aus dem Fernsehen – dem Bauarbeiter?«, mischte sich Karen ein.

»Gute Idee«, meinte Geoff. »Jack, warum rufst du nicht bei den Elektrizitätswerken an und schaust, ob du herausfinden kannst, wie der Typ heißt.«

»Und was unternimmst du in der Zwischenzeit?«

Geoff nahm wieder sein Buch in die Hand. »Ich werde mir das Wissen anlesen, wie wir uns gegen diese Irren zur Wehr setzen können, wenn wir sie denn finden.«

»Ich dachte, wir müssten ihnen das Rückgrat brechen oder so?«, erkundigte sich Karen.

»Das stimmt … aber das muss genau so passieren, wie es im uralten Ritual der Druiden festgelegt ist. Ihr müsst bedenken, dass sie ihre Menschlichkeit einbüßen, wenn sie durch die Erde reisen. Sie sind fast so etwas wie Übermenschen. Wenn wir sie Awen als Opfer darbringen, müssen wir sicherstellen, dass sie auch geopfert bleiben. Sonst kehren sie vielleicht als noch wildere Kreaturen zurück und machen Jagd auf uns.«

Karen schauderte. Jack griff nach dem Telefonhörer.

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