D R E I Z E H N

Maggie rannte blitzschnell über den Marmorboden, bis sie den Fuß der Treppe erreichte. Ihr Burberry-Regenmantel raschelte. Mit der Taschenlampe leuchtete sie die Stufen hinauf, erst in Jacks Gesicht, dann in das von Karen und schließlich auf Randy.

»Randy!«, schrie sie. »Gott sei Dank, du bist in Ordnung!«

Mit klappernden Pumps rannte sie die Treppe hoch, beugte sich zu ihrem Sohn und drückte ihn ganz fest an sich. Randy brach in Tränen aus.

»Was hast du ihm angetan?«, klagte Maggie ihren Mann an. »Was ist mit seiner Kleidung passiert?« Mit einem geringschätzigen Seitenblick auf Karen fügte sie hinzu: »Ich hätte wissen sollen, dass du auch hier bist!«

»Was mich viel mehr interessiert, ist, was zum Teufel du hier zu suchen hast!«, konterte Jack. »Wie viel Uhr ist es? Es ist noch nicht mal hell!«

»Sergeant Schiller hat mich angerufen, um mich davor zu warnen, dass du geflohen und vielleicht gefährlich bist.«

»Schönen Dank auch. Ich habe gerade Randy davor gerettet, bei lebendigem Leib geopfert zu werden, und du hältst mich für gefährlich.«

»Ich bin nie davon ausgegangen, dass du ihn umgebracht hast«, entgegnete Maggie. »Vielleicht liebe ich dich nicht mehr, Jack. Ich hasse dich, das trifft es wahrscheinlich eher. Aber ich kenne dich trotzdem ziemlich gut. Mir ist irgendwann aufgegangen, dass du Randy vermutlich irgendwo versteckt hältst und ihn nach deiner Flucht aus dem Gefängnis dort abholen wirst. Und der einzige Ort, der mir eingefallen ist, war dieses Haus, nach dem du so verrückt bist. Ich wusste, dass ich schnell handeln musste, also bin ich sofort hergefahren.«

»Mrs. Reed … dieses Gebäude ist extrem gefährlich. Wir müssen sofort hier weg«, mischte sich Geoff ein.

»Wer ist denn das?«, wollte Maggie wissen. »Ich warne Sie – ich werde die Polizei rufen!«

»Im Moment ist die Polizei meine geringste Sorge, Mrs. Reed. Also, können wir los?«

»Wenn du glaubst, dass ich dich so einfach von der Leine lasse, dann hast du dich geschnitten«, erklärte Maggie Jack. »Ich bin wegen dir durch die Hölle gegangen!«

Sie nahm Randy an der Hand und lief mit ihm die Treppe hinunter, während sie ihre Taschenlampe schwang. Geoff sah Jack mit hochgezogenen Augenbrauen an und Karen meinte: »Wenn sie die Bullen ruft …«

Doch Maggie hatte erst ein Drittel der verbleibenden Stufen zurückgelegt, als sie laut aufschrie. Randy schrie ebenfalls. Geoff richtete die Maglite auf sie und zu Jacks Entsetzen ragten zwei graue, mit Blasen bedeckte Hände aus der Treppe und versuchten, Maggie und Randy in den Marmor zu ziehen.

»Maggie, halt durch!«, schrie Jack. Gemeinsam mit Geoff rannte er zu ihr. Während Jack Quintus Miller mit voller Kraft auf die Finger trat, öffnete Geoff mit zitternden Fingern seine Flasche mit Weihwasser und verteilte den Inhalt überall um sie herum. Maggie brüllte und kreischte und klammerte sich an Jacks Bein, doch dann zischte das Wasser auf Quintus’ Haut und sein Griff lockerte sich. Da schaffte es Jack endlich, Maggie wieder die Stufen hinaufzuziehen. Randy folgte ihnen. Er weinte und zitterte.

Geoff war immer noch damit beschäftigt, großzügig die heilige Flüssigkeit zu verteilen, als eine weitere Hand hinter ihm aus dem Boden schoss und nach seinem Knöchel griff.

Er drehte sich um, rutschte aus und hätte fast das Gleichgewicht verloren. Die Perrier-Flasche fiel ihm aus der Hand, prallte auf den Boden, blieb aber ganz und rollte weg.

»Wir müssen raus hier!«, schrie Jack. »Die Treppe runter, den Gang entlang und durch die Empfangshalle, schnell!«

»Also los!«, antwortete Geoff. »Je schneller, desto besser!«

Geoff setzte sich in Bewegung, doch gerade als er die unterste Stufe erreichte, kam eine ganze Armee von Marmorhänden aus dem Boden des Gangs und tastete blindlings nach ihm. Die Wahnsinnigen hatten den Keller verlassen und waren auf der Suche nach dem versprochenen Opfer im Gebäude nach oben gewandert. Der Gang glich einem abscheulichen Spargelbeet, bei dem blasse Arme als Sprossen herhalten mussten.

»Nach oben!«, brüllte Geoff, während er kehrtmachte und wieder die Treppe hinaufsprintete. Als er die Stelle erreichte, an der Quintus Millers Hände aus dem Boden gekommen waren, rissen die marmornen Stufen auf und barsten entzwei. Eine polternde, zersplitternde Furche verfolgte ihn auf seinem Weg nach oben.

Geoff packte Karen und Maggie und schleifte sie mit voller Kraft durch den Gang. Jack hoppelte hinterher. Trotz seiner gebrochenen Rippe, die ihn bei jedem Schritt pikte, zerrte er Randy mit sich.

Direkt in ihrem Rücken brach Quintus Miller mit Gewalt durch den Linoleumboden und nahm die Verfolgung auf. Er kannte kein Erbarmen und konnte es kaum erwarten, sie in Stücke zu reißen. Er gierte nach Rache und danach, sich sein Opfer zurückzuholen.

»Wir müssen nach oben!«, keuchte Jack, als sie das Podest vor Elmer Estergomys Büro erreichten. »Und dann den Gang entlang – und die andere Treppe wieder runter!«

Maggie schrie: »Was ist das? Jack, was ist das?«

Doch Jack schrie nur zurück: »Keine Zeit! Die Treppe hoch, los!«

»Aber was ist das?«

»Maggie!«, bellte Jack, als der Boden um sie herum aufplatzte. »Lauf die verdammte Treppe hoch!«

Auf Händen und Füßen kraxelten sie nach oben wie herumtollende Kinder, während direkt hinter ihnen die Stufen entzweibrachen, das Treppengeländer wegplatzte und die Stahlgitter an den Fenstern ratterten und schwankten.

»Ich kann nicht … ich kann nicht mehr weiter!«, keuchte Karen. »Nimm Randy an der Hand!«, befahl Jack Maggie und hievte sich Karen auf die Schulter. Der Schmerz in seinen Rippen war nahezu unerträglich, aber irgendwie schaffte er es doch, mit seiner menschlichen Last weiter die Treppen hochzustolpern, während ihm wie bei einem chinesischen Schnurrbart das Blut an den Seiten des Mundes herunterlief. Endlich erreichten sie das Ende der Treppe.

Hinter ihnen wölbten sich die Stufen mit einem erbarmungslosen Ritsch-Ratsch, Ritsch-Ratsch und der Putz bröckelte wie ein undurchdringlicher grauer Nebel von den Wänden.

Jack stellte Karen wieder auf die Füße. Dann keuchte er: »Okay … wir rennen da lang – zum anderen Ende – und dann wieder runter – werden sehen, ob wir nicht …«

»Guck mal!«, unterbrach ihn Karen kreischend und deutete auf den Gang vor ihnen.

Entschlossen und unaufhaltsam kam der Kopf von Gordon Holman, dem Zungennagler, auf sie zu. Er riss den Boden hinter sich auf wie eine Boje, die hinter einem Motorboot hergezogen wurde. Geoff leuchtete mit der Taschenlampe auf ihn und für einen Moment glänzten Gordon Holmans Augen über dem Kamm des auseinanderbrechenden Bodens. Sie waren so rot wie die Augen auf einem fotografisch misslungenen Schnappschuss einer Überraschungsparty.

Jack wandte sich um. Quintus hatte das Ende der Treppe fast erreicht. Beide Rückwege nach unten waren blockiert.

»Dort!«, sagte Jack und deutete auf die Decke. »Geoff, da oben muss doch ein Dachboden sein!«

Direkt über der Treppe zeichnete sich der kleine, rechteckige Umriss einer Falltür ab. Ein ausgefranstes Seil hing vom Haken herunter, doch als Geoff danach greifen wollte, stellte er fest, dass es knapp zehn Zentimeter zu kurz war. Er sprang hoch und berührte es, doch es gelang ihm nicht, daran zu ziehen.

Die obere Stufe brach entzwei und zerbrochene Geländerstücke polterten mit einem dumpfen Aufprall die Treppe herunter. Gordon Holmans Kopf war in dem engen Gang nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt und kam unaufhaltsam näher. Plötzlich schoss eine seiner Hände aus dem Boden und versuchte, ihn am Knöchel zu erwischen.

Jack nahm Randy auf den Arm und sagte: »Halt es fest, Randy! Halt das Seil fest!«

Randy zog am Seil, doch nichts geschah.

»Versuch es noch mal, Randy!«, brüllte Jack.

Diesmal löste sich die Falltür abrupt und eine Holzleiter knallte herunter. Doch im gleichen Moment klatschte eine glitschige Sintflut einer fauligen schwarzen Flüssigkeit auf sie herab, die so stark nach Essig roch, dass Karen würgen musste.

»Ach du Scheiße, was ist denn das?«, schrie Maggie.

»Ich weiß es nicht! Los, hoch!«, befahl Jack ihr.

»Da hoch? Ich kann nicht! Oh Gott, ich kann nicht!«

In diesem Moment stieß Geoff einen abrupten Schmerzensschrei aus. Als sie sich umdrehten, sahen sie, dass Quintus Millers Hände aus dem Linoleum gekommen waren und ihn am rechten Fußknöchel festhielten.

»Hoch!«, schrie Jack Maggie zu. »Du auch, Karen! Und nehmt Randy mit!«

Maggie schloss für eine Sekunde die Augen, dann schob sie Randy vor sich die Holzleiter hinauf. Von den Sprossen der Leiter troff die schwarze, verweste Brühe. Während die beiden Frauen mit dem Jungen hochkletterten, wollte der Schwall der unidentifizierbaren Flüssigkeit einfach nicht versiegen.

Jack trat Quintus Miller mit voller Wucht auf die Hände, doch der schien diesmal wild entschlossen, nicht loszulassen.

Geoff klammerte sich mit wild umherblickenden Augen an Jack. »Jack … hör mir gut zu – bring dich selbst in Sicherheit! Sorg nur – sorg nur dafür, dass er mich nicht opfert – lass ihn nicht – nicht das Ritual – sonst – wird er frei sein, Jack! Lass ihn nicht frei!«

Quintus zog Geoffs rechten Fuß tief in den Boden hinab. Geoff schrie auf. Aus seinem Knöchel schoss Blut. Doch dann ließ er Jack abrupt los und stieß verzweifelt hervor: »Rette – dich – Jack …«

Jack drehte sich um. Gordon Holman hatte ihn schon fast erreicht. In seinen Augen stand die Gier nach Blut. Karen verschwand die glitschige Leiter hinauf zum Dachboden.

Geoff schenkte Jack ein gequältes Grinsen und schüttelte steif den Kopf. Dann stieß er sich mit aller Kraft nach hinten und zur Seite. Er fiel über das Geländer. Blut spritzte ihm aus dem zermahlenen Fuß. Dann stürzte er die zwei Stockwerke bis zum Fuß der Treppe in die Tiefe. Jack hörte ein schrecklich schmatzendes Geräusch, als er aufkam.

Am liebsten hätte er auf der Stelle aufgegeben und es Geoff gleichgetan. Tränen der Wut und der Verzweiflung liefen ihm die Wangen hinunter. Er wandte sich um und rammte Gordon Holman den Fuß mitten ins Gesicht. Dann griff er nach der glitschigen, stinkenden Leiter und kletterte schnell hinauf zum Dachboden.

Was sich dort oben abspielte, war so entsetzlich, dass es sich Jack nicht einmal in seinen schlimmsten Albträumen ausgemalt hätte. Der Dachboden erstreckte sich über die gesamte Länge von The Oaks, die Türme am anderen Ende ausgenommen. Erhellt wurde er nur von Maggies Taschenlampe und den Blitzen, die gelegentlich durch die winzigen, oben abgerundeten Fenster hereindrangen. Der Lärm, den der direkt über ihren Köpfen auf die hölzernen Schindeln trommelnde Regen machte, war ohrenbetäubend. Er wurde begleitet vom Wasser, das aus den kaputten Regenrinnen heraussprudelte, und dem ewigen Tröpfel-plopp-tröpfel des Wassers, das sich seinen Weg durch die maroden Dichtungsbleche bahnte.

In der Mitte des Dachbodens standen vor Entsetzen wie gelähmt Maggie, Karen und Randy. Auf dem Boden türmten sich verrottende menschliche Überreste. Einige waren mumifiziert, sodass sie knirschten, wenn man darauftrat, andere noch nicht ganz so alt, aber doch im flüssigen Stadium des fortgeschrittenen Zerfalls. Die Luft konnte man kaum atmen. Etliche Liter Essig waren auf die Körper geschüttet worden – vermutlich, um ihren Gestank zu übertünchen. Jack nahm an, dass Essig das Einzige war, was Quintus in dem seit Ewigkeiten leer stehenden Irrenhaus gefunden hatte – doch die Kombination aus der beißenden Flüssigkeit und menschlicher Verwesung raubte einem schier die Sinne.

Jack watete über den glitschigen Boden. In der schlammigen Brühe sah er eine Tüte oder einen Sack liegen und bückte sich danach. Im Licht von Maggies Taschenlampe las er, was auf dem fleckigen Etikett stand: Gale McReady, University of Wisconsin La Crosse. Er ließ es zu Boden fallen. »Seht ihr, was Quintus hier getan hat?«, fragte er mit vor Entsetzen ganz heiserer Stimme. »Er hat bereits 800 Leben ausgelöscht, wenigstens beinahe. In den letzten 60 Jahren tötete er alle, die The Oaks aufsuchten – Landstreicher, Anhalter – alle, die hier draußen eine Panne hatten, das Haus besetzen oder sich einfach nur umsehen wollten. Vermutlich hat er einige von ihnen mit seinem kleinen, grau-weißen Kind eigens angelockt. Dem kleinen, grau-weißen Kind, das nichts weiter als eine Zeitung ist.«

Jack versuchte zu schlucken, zu atmen, doch es gelang ihm nicht. »Er ist dazu tatsächlich in der Lage, wisst ihr? Papier zu zerreißen, ohne es auch nur anzurühren, Dinge zu bewegen. So hat er mich dazu gebracht, nach The Oaks zu kommen. Es war die einzige Möglichkeit, mich zu erreichen.«

Jack sah sich um und weinte vor Trauer und Ekel, sodass es ihm fast die Sicht vernebelte. »Er muss verdammt nah dran gewesen sein, 800 Leben auszulöschen … vielleicht haben es die anderen Verrückten mitbekommen, vielleicht auch nicht. Doch Quintus selbst – Herrgott, schaut euch an, was er getan hat! Quintus stand kurz davor, in die reale Welt auszubrechen. Das ist der einzige Grund, weshalb er mich nicht ebenfalls getötet hat. Das ist der einzige Grund, weshalb ich nicht auch hier oben auf dem Boden liege. Jemand musste losgeschickt werden, um Pater Bell zu suchen. Irgendein armer, gutgläubiger Trottel.«

Maggie stolperte mit ausgebreiteten Armen auf Jack zu. Sie erstickte fast vor Angst. »Jack, du musst uns hier rausholen. Jack! Du musst uns hier rausholen! Ich halte es nicht mehr aus! Ich halte es nicht mehr aus! Ich halte es nicht mehr aus!«

Jack packte sie am Handgelenk und hielt sie fest. »Was auch immer du tust, lass bloß nicht die Taschenlampe fallen. Schau mal – da drüben ist ein größeres Fenster. Wir könnten aufs Dach klettern – und uns dann vielleicht an den Abflussrohren hinunterlassen.«

»Ich halte es nicht mehr aus! Ich kann nicht mehr! Jack, du musst mich hier rausbringen!«

Jack schleppte sie zu dem halbrunden Fenster. Auf der Scheibe lag eine dicke Fett- und Staubschicht, doch als er mit der Hand darüberwischte, konnte er den wasserbedeckten Sims des Mansardendachs draußen erkennen. Von allen Seiten stürzte Regenwasser herab und Blitze zuckten über die Baumkronen in der Ferne wie Schlangenzungen. Jack vermied den Blick nach unten, um nicht zu sehen, wo er hintrat, aber es fühlte sich an wie ein Haufen fettiger Gummihandschuhe.

Er betätigte den Riegel, ein altmodisches Ding aus Messing, überzogen mit einer grünlichen Schicht. Er war so schwergängig, dass Jack ihn mit beiden Händen nach unten drücken musste, doch zu seiner Überraschung schwang das Fenster tatsächlich knarzend zur Seite auf. Der kalte, erfrischende Regen peitschte Jack ins Gesicht.

Er lehnte sich hinaus und kniff die Augen gegen den Regen und den Wind zusammen. Der Sims war deshalb überflutet, weil Blätter und Taubenkot aus über 60 Jahren die Abläufe verstopften. Doch wenn sie sich vier Meter auf dem Dach bis zum Ostturm vorwärtshangelten, würden sie zu einem nach unten führenden Rohr gelangen, das in der Ecke zwischen dem Turm und der Hauptwand verlief und so aussah, als könnte man relativ leicht daran herunterklettern. Ungefähr jeden Meter befand sich eine Halterung an der Wand und es gab genügend Möglichkeiten, sich festzuhalten. Er wandte sich wieder an Maggie. »Siehst du das? Siehst du das Abwasserrohr?«

»Was?«, fragte sie ihn mit fest geschlossenen Augen, während sie sich die Ohren zuhielt.

»Maggie, schau mich an! Hör mir zu! Siehst du das Abwasserrohr? Da – in der Ecke?«

Sie sah kurz hin und nickte dann.

Jack legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte: »Du musst einfach – am Sims entlangklettern – okay? Halt dich mit der Hand am Dach fest – und dann kletterst du an dem Rohr nach unten. Und rennst weg. Hast du mich verstanden?«

Maggie nickte. Ihre Augen waren immer noch fest zusammengekniffen.

»Maggie, verdammt noch mal, verstehst du mich? Du musst das Rohr runterklettern!«

»Ja! Ja! Ja!«, schrie sie ihn an. »Ja, ich verstehe!«

»Also gut, dann los! Randy ist der Nächste, dann Karen.«

Maggie öffnete die Augen und starrte Jack entsetzt an. Ihre Pupillen waren vor Schock auf Stecknadelgröße geschrumpft. »Ich kann es nicht!«, brüllte sie. »Wie kannst du von mir verlangen, dass ich so was tue?«

Mit entsetzter Stimme unterbrach Karen die Diskussion der beiden »Jack – da bewegt sich was. Jack, bitte beeil dich! Da ist etwas!«

Jack packte Maggie am Handgelenk und half ihr – na ja, er schubste sie – aus dem Fenster. Maggie stand bis zu den Knöcheln im Wasser. Ihr Mantel flatterte im Wind. Die Augen hatte sie geschlossen und presste ihre Hände an die Dachziegel.

»Klettere los!«, schrie Jack ihr zu. »Klettere bis zur Ecke – und dann das Rohr nach unten!«

Maggie nickte stumm und arbeitete sich Zentimeter um Zentimeter voran. Während sie mit den Händen tastete, bewegte sie sich Schritt für Schritt zur Seite. Jack sah ihr ungeduldig zu, wie sie sich zögerlich zur Ecke des Turms hin kämpfte. Dort hielt sie inne und setzte mit geschlossenen Augen einen Fuß nach hinten.

»Zieh die Schuhe aus!«, befahl ihr Jack. »Und mach die Augen auf, verdammt noch mal!«

Er drehte sich zu Randy um, der blass war und in Geoffs riesigem braunen Sweater zitterte. »Also, was meinst du, Raumflieger? Glaubst du, du schaffst das? Am Sims bis zur Ecke zu klettern und dann die Rinne nach unten? Du musst nur vorsichtig sein und dich gut festhalten.«

»Yes, Sir«, antwortete Randy zitternd. Jack hob ihn aus dem Fenster, woraufhin der Junge seiner Mutter in den Regen folgte. Seine Füße spritzten das Wasser aus dem überfluteten Sims.

Gott, das ist mein Junge, dachte Jack. Ganz souverän. Er weiß ganz genau, was zu tun ist.

Jack leuchtete mit der Taschenlampe zurück auf den Dachboden. Er versuchte, die grässlichen Haufen glänzenden Fleischs nicht so genau anzusehen. Karen kämpfte sich mit gerümpfter Nase zu ihm durch. An ihren Beinen klebte verwesende Brühe.

Jack streckte ihr eine Hand entgegen. »Komm schon, Schatz, wir werden es schaffen. Mach schnell!«

Doch kaum drei Meter hinter ihr erbebten plötzlich die Haufen menschlicher Überreste. Etwas bahnte sich den Weg von unten herauf. Ein Wust aus glänzenden Därmen schlängelte sich schnell, aber widerstrebend zur Seite, zu Sülze gewordenes Fleisch machte Platz für den Angreifer. Schädel erhoben sich und sanken wieder hinab, als ob sie von einer Flutwelle mitgerissen wurden. Der Boden von Quintus Millers Schlachthaus schien fast zu kochen, als eine mächtige energetische Welle auf sie zugerollt kam – eine Welle, wie sie nur von einem rachsüchtigen, unerbittlichen Wahnsinnigen verursacht werden konnte, der unaufhaltsam durch den Boden auf sie zuschwamm.

»Schneller!«, schrie Jack. Karen wandte sich um und stieß nur ein kurzes »Ah!« aus.

»Schneller!«

Karen streckte die Hand nach ihm aus – »Jack, bitte!«, keuchte sie panisch und verzweifelt. Ihre Hände zitterten und die blonde Perücke, die sie trug, war verrutscht. In ihrem Gesicht spiegelte sich das blanke Entsetzen. Sie hatte ihn schon fast erreicht, als sie ausrutschte, stolperte und auf die Knie fiel.

In diesem Moment bohrten sich Quintus Millers gierige Hände aus der blutigen Masse zerfallener Körper, umfassten Karen an den Knöcheln und rissen sie mit sich.

»Karen! Halt durch!«, brüllte Jack und machte sich auf den Weg zu ihr durch die verwesten Leichen.

Karen schrie und schlug um sich. Doch Quintus zog sie immer weiter weg. »Halt durch! Tritt weiter um dich!«, ermutigte Jack sie lautstark.

Doch da erschien Randys blasses Gesicht am Fenster. Sein Haar war klatschnass, der vom Regen durchnässte Pullover triefte. Mit schriller Stimme schrie er: »Daddy! Daddy! Mami stürzt ab! Daddy, komm schnell!«

Entsetzt sah Jack zu Karen, dann wieder zu Randy.

»Bitte, Daddy – Mami stürzt ab! Sie kann sich nicht mehr halten!«

»Ja-a-a-cckkk!«, schrie Karen.

Jack tat drei schwere, schmatzende Schritte auf Karen zu. Sie wurde mit dem Gesicht nach unten über den Boden geschleift, immer weiter auf die Falltür zu. Karen hob ihren Kopf aus der klebrigen Masse. Ihr Gesicht war zu einer starren Maske absoluten Entsetzens verzerrt.

»Daddy!«, wimmerte Randy. »Daddy bitte!«

Jack sah zum Fenster, dann wieder zu Karen und noch einmal zum Fenster. Dann begrub er sein Gesicht mit den Händen und stieß einen qualvollen Schrei nackter Verzweiflung aus.

Er wusste nicht, weshalb er sich entschloss, Karen den Rücken zuzukehren. Es war keine bewusste Entscheidung. Doch ehe Jack sich versah, watete er wieder zum Fenster zurück.

Gerade wollte er sich an dessen Rahmen hochziehen, als Karen ein hoffnungsloses Gurgeln ausstieß und dann einen letzten verzweifelten Schrei: »Jack! Rette mich!«

Zitternd kletterte er auf das geflutete Dach hinaus und balancierte auf die Rinne in der Ecke des Turmes zu. Der Regen peitschte ihm wie ein kaltes Stahlseil ins Gesicht, doch er empfand es fast schon als angenehm, weil er gnädig die Tränen verbarg, die ihm die Wangen herunterliefen, und er so allen Grund zum Zittern hatte.

Randy lief dicht hinter ihm und drängte ihn zur Eile: »Schnell – schnell, Daddy, schnell!«

Jack beugte sich nach unten und schielte über die Dachkante. Maggie war nur etwas mehr als einen Meter unter ihm, hielt sich an der Rinne fest und stöhnte vor Angst.

»Schon gut!«, schrie Jack. »Maggie, es ist alles in Ordnung! Ich komme runter! Halt dich nur gut fest und rühr dich nicht von der Stelle!«

Seine gebrochene Rippe bohrte sich in seine Lunge, während er sich über die Dachkante schob. Vorsichtig kletterte er zu der Stelle, wo Maggie kauerte.

»Ich werde über dich drübersteigen, verstanden? Ich werde über dich drübersteigen, damit ich dir von unten helfen kann!«

Maggie antwortete nicht, sondern zitterte und stöhnte weiter.

»Margaret-Ann!«, schrie er. »Halt dich gut fest, ich klettere jetzt über dich!«

Vorsichtig lavierte er an ihr vorbei und stützte sich mit einer Hand am Turm ab, bis er genau hinter ihr war. Das Rohr quietschte bedrohlich und eine der Halterungen begann sich aus dem Mauerwerk zu lösen.

»Oh Gott, ich habe solche Angst!«, keuchte Maggie mit geschlossenen Augen. Ihr nasser Mantel klebte an Jack fest.

»Hör zu«, sagte er zu Maggie, »ich werde direkt unter dich klettern und dir mit den Händen anzeigen, wo du die Füße hinsetzen sollst. Halt dich einfach gut fest und komm mir nach, dann wirst du nicht fallen.«

»Oh Gott!«, stöhnte sie.

»Margaret-Ann, mach verdammt noch mal, was ich dir sage, und klettere jetzt los!«, forderte Jack. »Sonst werde ich dich hier zurücklassen, verfluchte Scheiße!«

»Ich versuch’s ja, ich versuch’s ja!«, versprach ihm Maggie. »Schrei mich bitte nicht mehr an, Jack, ich versuch’s ja.«

Zentimeter für Zentimeter bahnten sie sich den Weg nach unten. Sobald Maggie weit genug vom Dachvorsprung weg war, rief Jack Randy zu, dass er ihnen folgen sollte. Randy war schon auf Bäume geklettert, die fast so hoch waren wie The Oaks, und kam ohne große Schwierigkeiten hinterher. Maggie brabbelte und stöhnte während des gesamten Abstiegs vor sich hin. Nachdem Jack ihr den letzten Schritt zum Boden angezeigt hatte, drehte sie sich um, schlang die Arme um ihn und bedeckte ihn gegen seinen eigenen Willen mit nassen Küssen, während sie hysterisch kreischte.

Jack stieß sie zur Seite und hielt sie am Arm fest, um sie sich vom Leib zu halten. Er sah zu, wie Randy das letzte Stück mit einem Sprung überwand, und fragte dann: »Wo steht dein Auto?«

»Hinten am Tor!«, erklärte Maggie. Mit einem Blick zum Dach fügte sie hinzu: »Wo ist Karen?«

»Mach dir jetzt mal keine Gedanken um Karen, sondern schnapp dir Randy, renn zum Auto und mach, dass du von hier wegkommst. Fahr direkt nach Hause und halt unterwegs auf keinen Fall an.«

»Aber ich dachte, Karen sei direkt hinter uns!«

»Maggie, nach Hause! Sofort!«

Verwirrt nahm Maggie Randy bei der Hand und die beiden eilten entlang der Eichenallee auf das Tor zu.

»Lauft!«, schrie Jack und sie begannen zu rennen.

Jack stand da und sah ihnen hinterher, während ihn seine Gefühle dermaßen überwältigten, dass er kaum atmen konnte. Dann wandte er sich wieder den dunklen Türmen von The Oaks zu. Er hatte noch eine gewaltige Rechnung mit Quintus Miller zu begleichen.

Er wanderte an der Küche und der Rückseite der Fassade vorbei zum Gewächshaus. Der heftige Regen hatte einen weiteren Teil des Glasdachs zum Einsturz gebracht. Wasser klatschte geräuschvoll auf die Fliesen. Jack zögerte kurz, dann ging er hinein. Die Tür ließ er weit offen stehen.

Er durchquerte den dunklen Aufenthaltsraum, bis er die Halle erreichte. Die zwei blinden Statuen beobachteten ihn erneut mit geschlossenen Augen. Nichts erinnerte mehr an die gierigen Hände, die aus dem Marmorboden emporgekommen waren. Keine Spur von Quintus Miller, Gordon Holman oder einem der anderen Geistesgestörten.

In der Halle war es still.

Jack leuchtete alles mit seiner Taschenlampe ab. Irgendwann erhaschte er einen Blick auf grünes Glas. Es war Geoffs Perrier-Flasche, in der er das Weihwasser transportiert hatte. Er wartete, lauschte und versuchte, das verräterische Sssschhhh – sssschhh – sssschhhhh auszumachen, doch er hörte nur den Regen. Vielleicht musste Quintus nach seiner Gewaltorgie erst einmal wieder zu Kräften kommen.

Karen!, dachte er in einem plötzlichen Anflug von Trauer.

Er tappte auf Zehenspitzen durch die Halle und hob die Wasserflasche auf. Dann trat er den Rückweg an. Er ließ den Strahl der Taschenlampe hierhin und dorthin schweifen, immer auf der Suche nach Händen oder Gesichtern, die aus den Wänden ragten.

Das restliche Weihwasser in der Flasche gab ein schwach schmatzendes Geräusch von sich. Jack betete, dass es klappen würde, genau wie es bei Pater Bell funktioniert hatte. Er kannte keine Exorziergebete, doch hoffte er, dass die Aufrichtigkeit seines Vorhabens, die Welt von Quintus Miller und all den anderen wahnsinnigen, mörderischen Bestien zu befreien, ausreichte.

Zu seiner grenzenlosen Erleichterung erreichte Jack unbehelligt den Ausgang des Gewächshauses. Er trat wieder hinaus in den Regen, schraubte die Flasche auf und begann, seine primitive Variante eines Bannkreises um The Oaks zu ziehen, indem er sparsam das verbliebene Weihwasser verteilte und dabei seine eigenen Gebete sprach, um unreine Geister für immer gefangen zu halten.

»Lieber Gott, wenn dir etwas an dieser Welt liegt … wenn du das Leben und das Glück wertschätzt … dann sperr diese Menschen für immer in diesen Ring ein … denn Dein ist die Kraft und die Herrlichkeit, Amen.«

Er war fast fertig, als er ein Pochen tief im Untergrund wahrnahm. Es klang so, wie H.G. Wells die tosenden Maschinen der Morlocks in Die Zeitmaschine beschrieb.

Dann vernahm er ein hohes, wehklagendes Geräusch. Als er so im Regen stand, erkannte er, dass es die Irren waren, die weinten. Jack hatte sie wieder in The Oaks eingesperrt, hielt sie gefangen. Und diesmal würden sie nie mehr entkommen, denn er hatte sie eingesperrt und der Einzige, der sie jemals wieder herauslassen konnte, war er selbst. Entweder er oder drei Kardinäle.

»Ihr Monster!«, schrie er zum Himmel. »Ihr Monster!«

Jack marschierte zurück zum Kiesweg und warf einen vorerst letzten Blick auf die neugotischen Umrisse von The Oaks. Er wünschte sich, das ganze Gebäude vollkommen zerstören zu können.

Jack blinzelte immer noch wegen des Regens, als unversehens ein tiefes Ssssschhhhh im Kies zu seiner Rechten ertönte, ganz nah am Badehaus. Er leuchtete mit der Taschenlampe in die Richtung, aus der das Geräusch zu kommen schien. Zunächst konnte er gar nichts erkennen.

Dann hörte er es erneut. Sssssssssssssschhhhhhhhhhhh – schneller und immer schneller. Es mündete in ein tosendes Crescendo. SsssssSSSCHHHHHHHHH …

Jack ließ den Lichtkegel von einer Seite des Kieswegs zur anderen schnellen. Da sah er eine riesige Flutwelle blitzartig im Boden aufbranden, die schneller auf ihn zukam, als ein Mensch rennen konnte.

Er musste nicht erst warten und schauen, um wen es sich handelte. Er wusste es einfach. Quintus Miller musste The Oaks verlassen haben, bevor Jack seinen Weihwasserring gezogen hatte. Und jetzt schoss der zügellose Anführer vor Wut schäumend und versehen mit nahezu grenzenloser Macht durch den Boden direkt auf ihn zu.

Der Kies brodelte und spritzte zur Seite. Das Gras des Rasens stob auseinander. Zwei steinerne Blumentöpfe explodierten wie Bomben. Jack rannte den Hügel hinunter zum Tennisplatz. Eine riesige Woge aus aufplatzendem Gras und Erdklumpen verfolgte ihn.

Quintus Miller war so dicht hinter Jack, dass dieser es nicht wagte, zurückzusehen und sich ihm mit den letzten Tropfen Weihwasser bewaffnet zu stellen.

Jack rannte und rannte, bis er so schnell war, dass er nicht einmal hätte anhalten können, wenn er es denn gewollt hätte. Er überquerte den unter Wasser stehenden Tennisplatz. Seine Schuhe platschten durch die Pfützen. Der Asphalt wurde nur einen Meter hinter seinen Hacken aufgerissen. Er erreichte den Rand des überlaufenden Schwimmbeckens, versuchte auszuweichen, stolperte und fiel mit rudernden Armen seitwärts in die kalte, trübe, widerliche Brühe. Noch im Fallen dachte er: Was auch immer passiert, lass bloß nicht das Weihwasser los.

Die Kälte ließ ihn nach Luft ringen. Er kämpfte sich unter Wasser in Richtung Oberfläche durch, dabei entglitt ihm seine Taschenlampe. Sie verschwand als schwache Funzel in der Tiefe.

Da platzten die Fliesen am Pool auf und Quintus Miller tauchte mit einer enormen Explosion von Blasen, Dreck und aufgewühltem Schlamm ins Wasser ein. Jack schrie, schoss an die Oberfläche und sog gierig Luft ein. Doch Quintus erwischte ihn am Knöchel und zog ihn wieder hinab.

Jack wand sich und trat um sich, doch Quintus war entschlossen, ihn nicht gehen zu lassen. Er umschloss Jacks Hüfte, dann seinen Oberkörper und zog ihn nach hinten. Verzweifelt nach Luft ringend, fühlte Jack Quintus’ kräftige Finger, die sich auf der Suche nach den Augenhöhlen in sein Gesicht gruben.

Jack schlug mit der Perrier-Flasche nach Quintus, doch der Hieb ging daneben und diesmal ließ er sie fallen. Quintus’ Gegenangriff bestand darin, Jack an der Kehle zu packen und ihm die Daumen direkt unterhalb des Kiefers in den Hals zu bohren. Jacks Augen quollen hervor und Luftblasen drangen durch die zusammengebissene Zähne aus seinem Körper. Es fühlte sich an, als wollte Quintus sein ganzes Gesicht entzweibrechen.

Jack peitschte um sich – und berührte dabei etwas, das ihm schrecklich vertraut vorkam. Der ekelerregende Sack, in dem sich die unappetitlichen Überreste von Joseph Lovelittles zweiköpfigem Schäferhund befanden. Instinktiv zog er ihn an sich.

Er hat Angst vor Hunden. Sein Vater hetzte ihm den Wachhund der Familie auf den Hals, nachdem er seine Brüder und seine Mutter getötet hatte – hätte ihn fast umgebracht – Angst vor Hunden …

Während Jack erstes Wasser durch die Nase einatmete, zog er das Knie an und rammte es Quintus in die Brust – einmal, noch einmal und ein drittes Mal. Sein Angreifer lockerte den Griff, doch er drehte sich um ihn herum, um ihn an der Hüfte zu packen und seinen Oberkörper nach hinten zu ziehen.

Jack öffnete den Sack und fummelte angeekelt darin herum. Schließlich zerrte er den zweiköpfigen Hund an seinem wasserdurchtränkten Genick heraus. Er konnte ihn in der trüben Dunkelheit des Schwimmbeckens nicht genau sehen, doch Quintus würde ihn so deutlich vor seinem inneren Auge erkennen, als ob ein Flutlicht darauf schien.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Jack, dass es nicht klappen würde. Doch dann krümmte sich Quintus und verkrampfte. Er wirbelte von Jack weg, doch dieser konnte die epileptischen Anfälle deutlich wahrnehmen – genauso wie den sprudelnden Schrei absoluten Entsetzens.

Jack beförderte sich durch Treten an die Oberfläche des Pools, doch er hielt den monströsen Hund immer noch fest in der Hand. Die plätschernden Wellen, die in Richtung des Beckenrands schwappten, verrieten ihm, wohin Quintus verschwunden war. Der Himmel wurde langsam hell, auch wenn es immer noch regnete.

Die Fliesen am anderen Ende des Pools krachten und splitterten entzwei, als Quintus von Krämpfen geschüttelt das Wasser verließ und in die Erde zurückkroch. Jack nahm die Verfolgung auf und erreichte bald die Leiter. In diesem Moment hörte er etwas ganz dicht neben sich klirren. Es war die Perrier-Flasche, die auf der Wasseroberfläche schwamm und gegen den Rand prallte. Er nahm sie an sich – hätte sie am liebsten geküsst.

Jack schwang sich die Leiter hinauf, so gut das mit seinen klatschnassen Klamotten eben ging, und setzte Quintus über das Gras nach. Wie ein Schild oder einen grässlichen Talisman hielt er den missgebildeten Hund mit den zwei Köpfen ausgestreckt vor sich.

Quintus erreichte die niedrige Ziegelsteinmauer, welche die Wiese von den Bäumen trennte. Das Schieben und Schleifen im Mauerwerk verriet Jack, dass Quintus sich zwischen zwei Reihen von Steinstufen in einem etwa vier Meter großen Abschnitt der Mauer befand. Er fühlte sich an einen Mann mit chronischer Erkältung erinnert, der sich unter seiner Bettdecke verkroch.

Jack legte den Hundekadaver ganz in der Nähe ab und öffnete dann zielstrebig die Flasche mit dem Weihwasser. Er ging einmal um den Mauerabschnitt herum, sprach sein Gebet und verteilte das Wasser.

»Quintus!«, schrie er. »Kannst du mich hören, Quintus? Du sitzt in der Falle, hier kommst du nicht mehr raus!«

Es kam keine Antwort, doch die Steine rieben trocken gegeneinander, als ob jemand mit einem Mund voller Sand mit den Zähnen knirschte.

»Quintus, wo ist Karen? Was hast du mit ihr angestellt, Quintus? Ich werde nicht zulassen, dass du sie opferst, Quintus! Hast du mich verstanden?«

Du erbärmlicher Wurm, ließ sich Quintus’ schroffe Stimme plötzlich vernehmen. Ich kann sie nicht opfern, weil sie längst tot ist. Du hast mir keine Zeit gelassen, du mit deinem Weihwasser und deinen stümperhaften Gebeten! Ich habe sie wegen dir getötet!

»Du lügst!«, schrie Jack in Richtung Mauer. »Du hältst sie irgendwo versteckt!«

Ich wünschte, es wäre so. Aber sie ist tot, Jack. Zermatscht wie Tomaten.

Jack sog zweimal schnell und zitternd die Luft ein: »Oh Herr, sorg dafür, dass dieser Sünder in der Mauer eingesperrt bleibt, denn er hat alles verdient, was bald auf ihn zukommt, Amen.«

Mit steifen Gliedern drehte er sich herum und stapfte wieder Richtung The Oaks zurück. Er war zu erschöpft, um zu rennen. Am hinteren Ende des Gewächshauses hatte er einen Schuppen gesehen. Und wo ein Schuppen war, fand sich in der Regel auch Werkzeug.

Die kleine Hütte war mit einem Schloss verriegelt, doch alles war so morsch, dass er die Tür mit Leichtigkeit aus ihren rostigen Angeln treten konnte. Im Inneren fand er haufenweise Blumentöpfe, einen Rasenmäher aus grauer Vorzeit, Benzinkanister, Unmengen von Pflanzstäben aus Bambus und genau das, was er jetzt brauchte – eine Spitzhacke.

Erschöpft machte er sich über die Wiese wieder auf den Weg zur Mauer, in die Quintus eingesperrt war. Die Sonne schimmerte schwach durch die Wolken und glänzte auf dem regendurchtränkten Gras.

Jack lockerte mit der Hacke die beiden oberen Reihen der Mauersteine. Dann nahm er sich die nächsten vor und setzte sein Werk fort, bis die Absperrung in sich zusammenfiel.

Quintus fing an zu toben. Bleib weg, du Arschloch! Bleib bloß weg! Ich werde dich dafür töten, ich werde dich in Stücke reißen!

Doch Jack reagierte gar nicht darauf. Er war viel zu erschöpft, um sich eine Antwort zurechtzulegen, setzte einfach unverdrossen sein Werk fort und hämmerte weiter auf die Mauerreste ein, bis er Quintus in die hinterste Ecke zurückgedrängt hatte.

Nein!, schrie Quintus. Wenn du mich anrührst, bringe ich dich um!

Jack schwang die Hacke erneut. Plock. Die Ziegelsteine schlugen dumpf gegeneinander, als sie auf die Wiese polterten. »Jetzt hast du keine Rückzugsmöglichkeit mehr, Quintus. Tja, das war’s dann wohl.«

Quintus stieß ein gellendes Winseln mit einer so hohen Frequenz aus, dass Jacks Ohren es kaum noch wahrnehmen konnten.

Er schwang die Hacke und die nächsten Mauersteine fielen herunter. Vor ihm lag Quintus’ Gesicht. Seine Augen waren weit geöffnet, sein Mund zu einem entsetzten Schmerzensschrei verzogen.

Als Jack weiterhackte, zeigten sich Quintus’ Schultern, kurz darauf sein Oberkörper. Dann war da nur noch ein halb nackter, zitternder Mann, der sich mitten in den Steintrümmern zusammengekauert hatte.

Quintus hob den Blick. Seine Augen waren metallisch, gnadenlos und ohne jegliche Regung.

Dafür wirst du auf ewig verflucht sein.

»Gott möge mir vergeben«, erwiderte Jack cool, hob die Hacke und rammte Quintus die Spitze mitten ins Gesicht.

Quintus brach in der Mitte auseinander wie eine Statue und zerfiel dann in seine Einzelteile. Jack bückte sich und hob eines der Bruchstücke auf – es bestand ebenfalls aus Ziegelstein, der unter seinen Fingern zu Staub zerfiel.

Jack blieb sehr lange an der zertrümmerten Mauer stehen. Der Himmel klarte auf, der Regen versiegte und The Oaks lag hinter ihm im Nebel. Schließlich ließ Jack die Hacke zu Boden poltern und lief über den Hügel zurück.

Zwei der Benzinkanister im Schuppen waren noch fast vollständig gefüllt. Jack holte sie heraus und schleppte sie zur Tür des Gewächshauses. Sein Rücken bog sich unter der schweren Last.

Jack schraubte die Deckel ab und warf die Kanister in die Lounge. Sie klackerten, warfen ein Echo an die Wand und stürzten um. Dann hörte er nur noch das Gluckern von Benzin, das auf den Boden lief.

Ihm fielen keine Gebete mehr ein und auch keine wütenden Hasstiraden. Stattdessen zog er mit zitternden Händen ein Streichholzbriefchen aus der Tasche und warf drei flackernde Hölzer in die Lounge, eins nach dem anderen. Die ersten beiden knisterten zunächst nur, doch als er das dritte hineinschleuderte, breiteten sich die Flammen mit einem lauten Wummmmm! aus.

Es war spektakulär anzusehen, wie The Oaks abbrannte. Stockwerk für Stockwerk, Fenster für Fenster wütete das Feuer weiter in Richtung Dach.

Die in der Bausubstanz gefangenen Irren mussten im Labyrinth der Hauswände immer höher geklettert sein, denn erst als das Feuer den zweiten Stock erreichte, hörte Jack ihre Schreie.

Er stand auf der Wiese und hatte eine Hand gegen die Hitze abgeschirmt, während die gotischen Umrisse des riesigen Anwesens von den Flammen eingeschlossen wurden. Das Feuer wütete im frühen Morgenwind wie eine riesige orangefarbene Flagge.

Die Wahnsinnigen brüllten vor Angst, Schmerz und Verzweiflung, wollten nicht über 60 Jahre ums Überleben gekämpft haben, um jetzt auf diese Weise zu krepieren. Die Ratten sitzen in der Falle, dachte der Rattenfänger, der sie mit seiner Flöte dorthin gelockt hatte.

Die Türme fielen in sich zusammen, die Treppen stürzten in die Tiefe. Blinde Gesichter polterten von den Zinnen. Das Geschrei hielt weiter an, als 130 Seelen im Feuer vergingen. Jack sah zu und wartete überaus geduldig ab, bis auch der letzte Schrei verklungen war.

In der Ferne konnte Jack Sirenen hören. Er wischte sich mit dem Ärmel über das vor Hitze gerötete Gesicht. Nach einem letzten Blick auf The Oaks machte er sich auf den Weg durch den Wald.

Sergeant Charles Schiller lief mit knirschenden Schuhen durch die schwelenden Überreste von The Oaks. Die Hände hatte er in den Taschen seines Regenmantels versenkt. Ganz in der Nähe war ein Räumungskommando damit beschäftigt, zwei blasse, rußbedeckte Statuen zu bergen, die auf wundersame Weise unbeschädigt geblieben waren.

Der Feuerwehrhauptmann kam schniefend herübergetrottet und rieb sich die Hände. »Was für ein Feuerchen, hmm?«

»Wie lange dürfte es noch dauern, bis die Jungs von der Spurensicherung loslegen können?«, erkundigte sich Sergeant Schiller.

»Vier oder fünf Stunden. Es muss erst mal auskühlen hier.«

Sergeant Schiller lief durch die völlig zerstörten Überreste von The Oaks. Durch die Sohlen seiner geliehenen Feuerwehrschuhe konnte er die Hitze des erst vor Kurzem erloschenen Feuers spüren. Er klaubte Marmorsplitter, zersprungenes Porzellan und eine von der Hitze verformte Gabel auf. Da lagen auch Knochen, doch er rührte sie nicht an.

Als er gerade gehen wollte, sah er etwas in der Asche glitzern. Er bückte sich und schälte es mit seinem Stift aus dem Boden. Es war zu heiß, um es mit bloßen Händen anzufassen. Sergeant Schiller hob den Gegenstand in die Höhe und ließ ihn am Ende seines Stifts baumeln.

Es handelte sich um ein billiges Goldkettchen, auf dem die Buchstaben K-A-R-E-N eingraviert waren.

Jack kehrte nicht nach Hause zurück. Er hob sämtliche Ersparnisse von seinem Konto ab, kaufte im Städtchen Standard in Wisconsin einem Apfelbauern, der in Rente gegangen war, einen heruntergekommenen beigen Plymouth ab und fuhr unbehelligt über die kanadische Grenze.

Unter dem Namen Jack Pontneuf arbeitet er heute in der Nähe von Quebec als Meister in der Werkstatt St. Basile Muffler und spricht mittlerweile ganz passabel Französisch. Seine Freunde in der Kneipe nennen ihn Jack den Nüchternen, denn er nimmt nie mehr als drei alkoholische Getränke zu sich. Er hasst den Regen und redet nicht besonders viel – außer über Auspuffanlagen – und da kann ihm so schnell keiner etwas vormachen.

In einem unscheinbaren Vorort von Quebec hat er sich in einem kleinen, blau getünchten Haus ein Zimmer gemietet und verbringt den Großteil seiner Zeit damit, aus dem Fenster zu schauen: auf die Leitungsmasten, zum Himmel hinauf oder zu den Kindern, die auf der Straße spielen.

Seine Vermieterin ist eine einfach gestrickte, stets freundliche und doch melancholische Frau namens Cécile de Champlain. Sie ist mit ihren 45 Jahren bereits Witwe. Alle paar Tage stellt sie ihm ein Marmeladenglas mit frischen Blumen ins Zimmer, doch sie wechseln kaum ein Wort miteinander.

Er hat seine Vermieterin eindringlich gebeten, ihm sofort Bescheid zu geben, falls sie jemals ein knisterndes Geräusch in den Wänden hört oder falls sich vor ihr ohne ersichtlichen Grund die Erde auftut. Und vor allem, wenn sie jemals einem kleinen Kind im grau-weißen Regenmantel begegnen sollte. Sie hat ihm das hoch und heilig versprochen.

Er hat sie außerdem (auf merkwürdige Weise, seine Augen waren auf einen Punkt weit, weit in der Ferne gerichtet …) aufgefordert, unter keinen Umständen das Kinderlied Lavendelblau zu singen. Auch dieses Versprechen hat sie ihm gegeben.

Insgeheim denkt Cécile de Champlain allerdings, dass Jack dringend mal zum Psychiater gehen sollte. Menschen wie er gehören in die Anstalt.

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