Die ganze Rückfahrt hatte er damit verbracht, sich eine Entschuldigung zurechtzulegen, aber Maggie tobte trotzdem. Sie marschierte in der Küche auf und ab, während er mit einem Bier in der Hand am Küchentisch saß. Das Truthahn-Fertiggericht aus der Gefriertruhe inklusive Toffee-Brownie als Gratisbeigabe hatte schon zwei Stunden vorher ein jähes Ende in der Mülltonne gefunden.
»Sag’s mir!«, schnaubte sie. »Na los! Nenn mir doch nur ein Argument, das mich davon überzeugt, dass du Ahnung vom Management eines Country Clubs hast! Nur ein einziges, das würde mir schon reichen. Vielleicht kann ich dann endlich anfangen, dich ernst zu nehmen!«
Jack zuckte die Achseln. Er versuchte mit aller Macht, vernünftig und gelassen zu bleiben und sich nicht aufzuregen. Denn erstens schlief Randy schon und zweitens verlor er jeden Streit mit Maggie, wenn ihm der Kragen platzte, denn dann musste er sich hinterher immer dafür entschuldigen, dass er durchgedreht war. Maggie widmete das dann immer flugs zur Entschuldigung um, dass er überhaupt Streit angefangen hatte, völlig egal, ob er im Recht war oder nicht.
»Erstens habe ich Ahnung, wie man ein erfolgreiches Geschäft führt!«, konterte er. Beim Wort erfolgreich verzog sie spöttisch das Gesicht.
»Zweitens weiß ich zufällig ganz genau, was ich von einem solchen Club erwarte, wenn ich dort als zahlender Kunde auftauche.«
»Wie kannst du auch nur die geringste Vorstellung davon haben, was man von einem Country Club erwarten kann?«, schnaubte sie. »Schließlich warst du ja noch nie in einem.«
Jack starrte auf sein Bier. »Na ja«, erwiderte er, »sorry, aber das beweist nur wieder, dass du keine Ahnung hast. Ich war schon mal mit Harry Whiteman im Kenosha Golf Club, und als wir den Kongress für Schalldämpfer-Händler in Madison organisiert haben, bin ich im Mud Lake Tennis and Racquet Club abgestiegen.«
»Oh, das hätte ich fast vergessen«, antwortete Maggie. »Der Mud Lake Tennis and Racquet Club. Ein halbes Dutzend bierbäuchiger Männer in Hawaiihemden, die versuchen, Plastikfederbälle über eine Reihe von Klappstühlen zu schlagen.«
»Das Netz wurde gerade repariert!«, protestierte er und dachte dann: Scheiße, sie kriegt mich immer mit den Details dran.
»Das ist also deine Idealvorstellung von einem Country Club? Mud Lake?«
Jack hob den Kopf und warf ihr einen finsteren Blick zu, doch er schaffte es, die Beherrschung nicht zu verlieren. Er hatte sie enttäuscht, das war ihm schon klar. Seit sie geheiratet hatten, bot er ihr nichts als eine Serie von Enttäuschungen. Sie hatte ihn für einen anderen gehalten, für eine andere Sorte von Mann. In elf Jahren Ehe war es ihm nicht gelungen, herauszufinden, welche Erwartungen genau sie an einen solchen Mann stellte.
Er hatte versucht, hinter das Geheimnis zu kommen, indem er sie immer dann, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte, anbrüllte: »Was zum Teufel willst du von mir?« Doch sie antwortete ihm nie. Sie verschanzte sich in solchen Situationen einfach im Schlafzimmer und rollte ihr Haar in Lockenwickler ein. Wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht so genau.
Doch sie liebten sich noch immer, obwohl es Jack schwerfiel, diese Liebe in Worte zu fassen. Sie machten einen auf Traumpaar, wenn sie zusammen ausgingen. Jack war groß und schlank, hatte kastanienbraunes Haar, das immer aussah, als müsste es mal geschnitten werden, und eines dieser gutmütigen, makellosen Gesichter, das man nie wirklich ernst nehmen konnte – so wie das von Dick Van Dyke. Er zog sich öfter mal zu gut an und trug eine Krawatte, wenn alle anderen sich mit einem Hemd begnügten. Selbst im Alter von 43 Jahren hatte er es noch nicht geschafft, die übermächtige Förmlichkeit abzulegen, die er von seinem Vater geerbt hatte. Viel zu spät war ihm bewusst geworden, dass dessen Förmlichkeit kein Anzeichen für Traditionalismus und Stärke gewesen war, sondern er seine Schüchternheit und chronische Unsicherheit damit kaschierte.
Maggie (oder Margaret-Ann, wie er sie nannte, wenn er sich wirklich über sie ärgerte) war ein Milwaukee-Eigengewächs mit deutschen Wurzeln in zweiter Generation. Ihr Haar war silberblond, die Augen smaragdgrün und ihr Kinn stark ausgeprägt, typisch deutsch und stark gespalten wie das ihres Vaters. Wenn es ihr gut ging, trat ihre weibliche Seite in den Vordergrund. Dann wirbelte sie ausgelassen auf ihren vollschlanken nackten Füßen durch die Wohnung. Doch bei einem Wutausbruch kam das Männliche in ihr durch. Sie hatte große Brüste und stämmige Arme. Im Sommer war ihr Körper über und über mit Sommersprossen bedeckt. Und immerzu beschwerte sie sich über ihre zu breiten Hüften.
Ihr Vater war ein Drucker im Ruhestand, der schon immer unter der Trugvorstellung gelitten hatte, ein europäischer Intellektueller zu sein. Seine Bücherregale quollen über mit Literatur wie Narziss und Goldmund oder Die Fahrt der Beagle und er war treuer Abonnent von Psychology Today. Er rauchte Zigarillos und schwadronierte von »Welten in Welten«.
Maggie, die irgendwann mal ziemlich zufrieden mit ihrem Teilzeitjob als Klavierlehrerin an der Marquette University gewesen war, schien seit einiger Zeit unter ähnlichen Wahnvorstellungen zu leiden. Sie hatte sich an der Abendschule für einen Kurs in Expressionismus eingeschrieben, der im März beginnen sollte. Jack wusste nicht einmal, was sich hinter dem Begriff verbarg. Er sagte immer nur: »Was zum Teufel ist Expressionismus überhaupt?«, doch sie wollte es ihm nicht sagen oder konnte es nicht.
»Wir könnten einen Lebensstil pflegen, wie du ihn dir in deinen kühnsten Träumen nicht erhofft hast«, erklärte Jack ihr.
»Findest du unseren aktuellen nicht schlimm genug?«, konterte sie, während sie von einer Seite der Küche zur anderen marschierte.
»Findest du ihn schlimm?«, erkundigte er sich. »Du findest unsere Art zu leben wirklich schlimm?«
»In Gottes Namen, Jack, ich hab’s nicht so gemeint. Nicht so schlimm. Ich meinte eher, keine Ahnung ... stressig.«
»Was denn für ein Stress?«, wollte er wissen. »Was für ein Stress? Der einzige Stress ist, dass wir keinen haben. Es gibt keine Herausforderungen.«
»Und du hältst die Leitung eines Country Clubs für eine Herausforderung? Herrgott! Manche Leute haben wirklich komische Vorstellungen.«
Sie trabte sechs Schritte in die eine, dann wieder sechs Schritte in die andere Richtung. Vor genau fünf Monaten und vier Tagen hatte sie von einem Tag auf den anderen das Rauchen aufgegeben. Die Vorderseite des Eichenholzschranks im Kolonialstil war durch Wasserflecken verschandelt. Die elektrische Wanduhr hing nie ganz gerade und so wirklich genau ging sie auch nicht.
Jack schüttelte den Kopf und versuchte, sie mit einer mitleidigen Miene zu mustern, weil sie ihn ganz offensichtlich nicht verstand. »Schatz, dieses Gebäude … es ist wie aus einem Märchen. Kannst du dich an Dornröschen erinnern? Das von Dornen umrankte Schloss? Du musst es dir ansehen, damit du verstehst, was ich meine.«
»Ich will es gar nicht sehen«, klärte Maggie ihn auf. »Ich hab überhaupt nicht das geringste Interesse daran. Die ganze Geschichte, diese Idee – es kommt mir vor, als hättest du deinen Verstand verloren. Es ist so, als wärst du hier reingeplatzt und hättest mir eröffnet, dass du an AIDS erkrankt bist oder so.«
»AIDS?« Er musste sich beherrschen, um nicht zu schreien. »AIDS? Es ist ein Haus, Maggie. Es ist ein riesiges altes Grundstück mitten im Wald. Es hat so viel Potenzial, dass es kaum zu fassen ist! Es hat alles, was man sich nur wünschen könnte! Jetzt mach mal halblang, Herrgott noch mal!«
Er hielt inne, schüttelte sich und sagte dann: »AIDS, du meine Güte!«
Maggie hörte auf durch die Küche zu marschieren und drückte eine Hand an die Schläfe. »So etwas Blödes hab ich echt noch nie gehört«, spöttelte sie, als ob sie gerade mit jemandem telefonieren würde. »Ich kann’s nicht glauben, dass du mit zweieinhalb Stunden Verspätung nach Hause kommst und mir dann erzählst, dass du einen Country Club eröffnen willst. Vielleicht wache ich morgen früh auf und stelle fest, dass es nur ein durchgeknallter Traum war.«
Jack stand auf. Vater im Himmel, bitte. Er war kurz vorm Durchdrehen. »Maggie«, begann er in möglichst versöhnlichem Tonfall. »Glaubst du allen Ernstes, dass ich 25 Jahre Reed Muffler & Tire für eine Schnapsidee opfern würde? Glaubst du das wirklich? Ich bin kein Volltrottel, Maggie. Ich bin jemand, der die Dinge anpackt. Du musst mir schon zugestehen, dass ich über eine gewisse Vorstellungskraft verfüge. Ich habe einen Traum. Auch wenn ich schon 43 bin, habe ich doch immer noch Träume.«
»Träume«, wiederholte sie und nickte, als ob sie immer noch mit ihrem imaginären Gesprächspartner telefoniere.
»Was ist so falsch daran, Träume zu haben?«
Ihre grünen Augen fokussierten ihn ernst. »Es sind deine Träume, über die du hier sprichst, mein Freund. Deine Träume, nicht meine.«
Jack schlug mit der Faust auf die Theke und verschüttete dabei sein Bier. »Na gut, verdammt! Es ist mein Traum! Aber wie zum Teufel soll ich dir deine Wünsche erfüllen, wenn ich sie noch nicht einmal kenne, verdammter Mist!«
Die Schlafzimmertür fiel krachend ins Schloss. Putz rieselte von der Decke. Jack saß alleine in der Küche und starrte sein übergeschwapptes Bier an. Wieder verkackt, dachte er mit einer Bitterkeit, die ihm inzwischen schon vertraut vorkam. Wieder verkackt. Jetzt bleiben mir noch zwei Möglichkeiten, nämlich entweder die Sache mit dem Country Club abzuschreiben oder gleich die Scheidung einzureichen.
Er saß immer noch so da, als sich die Tür wieder öffnete. Für einen Moment dachte er schon, es sei Maggie, die zurückgekommen war, um ihm zu sagen, dass es ihr leidtat. Doch es war Randy, der mit zerzausten Haaren und verquollenen Augen hineinschlurfte. Er trug seinen geliebten »A-Team«-Schlafanzug und hielt das schreckliche beigefarbene, geschlechtslose Ding in der Hand, das eine Feministenfreundin von Maggie für ihn gestrickt hatte, weil es in keiner Weise diskriminierend war.
Randy nannte es Waffel, da es die Oberflächenstruktur einer Waffel aufwies. Für Jack war es die Kackwurst.
»Wie geht’s dir, Großer?«, erkundigte sich Jack bei Randy und hob ihn auf die Theke.
»Du und Mom, ihr habt mich aufgeweckt!«, beklagte sich Randy.
»Oje, da haben wir wohl etwas zu laut gesungen«, sagte Jack.
Randy schüttelte den Kopf. »Ihr habt euch gestritten.«
»Nee. Es war kein Streit, sondern eher eine Art Diskussion.«
»Mami hat die Tür abgeschlossen und als ich durchs Schlüsselloch geschaut habe, hat sie sich Lockenwickler reingedreht.«
Jack seufzte. »Also gut, Officer, ich gestehe: Es war ein Streit.«
»Worum ging es denn diesmal?« Für einen neunjährigen Jungen war Randy ganz schön abgeklärt.
»Ach, ich weiß nicht. Dies und das. Das Übliche. Einfach zwei Erwachsene, die nicht in der Lage sind, zu etwas anderem als dem Wetter die gleiche Meinung zu vertreten und friedlich miteinander umzugehen. Wir sind uns nicht einig, ob das Universum eine Donut-Form hat und wenn ja, wo sich die Marmelade befindet. Deine Mutter und ich, wir können über alles Mögliche streiten.«
Jack schwieg einen Moment, trank einen Schluck Bier und fragte dann: »Randy, würdest du gerne von hier wegziehen?«
Randy presste die Kackwurst enger an sich und runzelte die Stirn.
»Meinst du woanders hinziehen?«
»Klar. Zum Beispiel – keine Ahnung – in den Wald vielleicht.«
»In den Wald?«
Jack nickte eifrig. »Genau, in den Wald. Du klingst schon fast wie deine Mutter. Ich sage ›Wald‹ und dann sagt sie ›Wald?‹ und dann sage ich ›Wald‹. So geht’s dann endlos weiter bis zum Sankt Nimmerleinstag.«
Randy starrte ihn entgeistert an. Schließlich erlaubte sich Jack ein Grinsen und sagte: »Weißt du was, Randy? Ich werde dir die Schätze des Waldes zeigen.«
Es regnete immer noch, als Jack am nächsten Morgen zu Reed Muffler & Tire neben der Wisconsin Cuneo Press auf der West Good Hope Road einbog. Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz mit dem RESERVIERT-Schild ab und eilte über den von Pfützen übersäten Betonboden zur Reparaturwerkstatt. Seine Mechaniker sahen aus, als hätten sie alle Hände voll zu tun. Auf den Hebebühnen standen zwei Autos, deren Auspuffsystem ausgetauscht werden sollte, während in der Reifenmontagehalle das laute Kreischen von Bohrern und das ohrenbetäubende Knallen widerhallte, das beim Aufpumpen von Reifen unvermeidlich war.
Jacks Schichtleiter Mike Karpasian hob seine ölverschmierte Hand zum Gruß und walzte dann seinen massigen Körper, der in einem Overall in Übergröße steckte, durch die Werkstatt. Mike war früher mal Profiboxer gewesen und sprach äußerst undeutlich, was bei Gesprächspartnern den Eindruck vermittelte, als wäre er nicht besonders hell im Kopf, doch unter den Angestellten war er mit Abstand der zuverlässigste und schlagfertigste.
»Was ist denn mit deinem Auto passiert?«, erkundigte sich Mike, während sein Kopf in Richtung des Kombis nickte.
»Ins Schlingern geraten und gegen einen Baum gekracht!«, erklärte Jack. »Hast du den ganzen Tag so viel zu tun?«
»Sieht ganz danach aus. Wir haben heute Morgen noch fünf weitere Termine: zwei Auspufftöpfe, die ausgetauscht werden müssen, und drei Abgasuntersuchungen. Reifen sind nicht ganz so viele zu wechseln, aber man weiß ja nie. Die Leute fangen an, sich über ihre Reifen Gedanken zu machen, sobald die Straßen rutschig werden.«
Er schniefte und fuhr dann fort: »Mein Cousin Waldo kann dir das Heck reparieren. Ihm gehört eine Karosseriewerkstatt drüben in Cudahy. Der macht dir einen Vorzugspreis.«
»Wenn er so arbeitet wie der Cousin von dir, der mir die Schrottpresse repariert hat, dann verzichte ich dankend. Ich hab jetzt vermutlich die einzige Schrottpresse in ganz Amerika, die den Müll vergrößert.«
Jack ging durch die Werkstatt ins Büro. Karen schrieb gerade Rechnungen, doch sie schaute auf, als er die Tür öffnete, und lächelte ihn an.
»Hab nicht damit gerechnet, dass du heute reinkommst!«, erklärte sie ihm. »Wolltest du nicht nach Wauwatosa?«
»Ich wollte dich sehen!«, antwortete er und schloss die Bürotür hinter sich.
Karen arbeitete nun schon seit drei Jahren für ihn. Sie war 26 Jahre alt und hatte braunes, fülliges Haar. Auf ihre püppchenhafte Art wirkte sie mit ihrem Schmollmund und ihren künstlichen Wimpern sehr attraktiv. Meistens trug sie tief ausgeschnittene Strickwesten, keinen BH und enge Miniröcke. Wenn sie lief, wackelte sie mit dem Hintern. Die männliche Kundschaft von Reed Muffler & Tire fühlte sich stark zu ihr hingezogen, doch sie hatte nur Augen für Jack.
Nicht dass sie miteinander rumgemacht hätten. Karen hatte gerade erst eine Verfügung gegen ihren zweiten Ehemann erwirkt, einen Truckerfahrer mit 140 Kilogramm Lebendgewicht namens Cecil, der ihr an zwei Stellen den Kiefer gebrochen hatte. Momentan gönnte sie sich eine »emotionale Auszeit«, wie sie es nannte, und kümmerte sich statt um Männer mit viel Hingabe um ihre Tochter aus erster Ehe, Sherry (eine Abkürzung für Sherrywine, die nichts mit dem alkoholischen Getränk zu tun hatte, wie sie stets eilig versicherte).
Karen und Jack gingen gelegentlich kurz nach Feierabend auf ein Bier in die Kneipe gegenüber. Dann sprachen sie gefühlsduselig über alles, was geschah oder eben auch nicht und das, was niemals geschehen konnte.
»Hast du dich wieder mit Maggie gezofft?«, erkundigte sie sich.
»Na ja, nicht direkt.« Jack setzte sich an seinen Schreibtisch und fuhr sich über das Gesicht. Hinter ihm hing ein Kalender mit Nacktmodels, der in eher ungewöhnlicher Weise die Vorzüge eines Niederquerschnittsreifens vom Typ HRS-71 anpries.
»Willst du einen Kaffee?«, erkundigte sich Karen. »Du siehst aus, als könntest du dringend einen gebrauchen.«
Jack schüttelte den Kopf. »Ich brauche eher einen Jack Daniel’s und ein Bier zum Nachspülen.«
»Na, so schlimm kann das Leben doch gar nicht sein«, entgegnete Karen und zog ihren pinken Cardigan aus Angorawolle ein Stück herunter, wodurch neben noch mehr Dekolleté auch eine vergoldete Halskette sichtbar wurde, auf deren Anhänger ihr Name stand.
»Ich weiß nicht«, antwortete Jack. »Vielleicht doch. Also stell dir mal vor, du hättest gerade etwas entdeckt, das genau das ist, was du immer gesucht hast, auch wenn dir das vorher gar nicht klar war. Aber du kannst es einfach nicht bekommen. Jedenfalls nicht, ohne alles andere in deinem Leben zu verlieren!«
»Soll das jetzt ein Rätsel werden oder was?«, erkundigte sich Karen.
»Na ja, so ungefähr!«, meinte Jack.
Karen sah ihn lange an und kaute schweigend ihren Kaugummi. Dann sagte sie: »Willst du mir nicht einfach erzählen, was los ist?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das kann!«, stellte Jack fest. Ihm war plötzlich ein Gedanke gekommen: Wenn er Karen eröffnete, dass er Reed Muffler & Tire verkaufen wollte, um einen Country Club zu eröffnen, würde er ihr die Sicherheit um ihren Arbeitsplatz unter den Füßen wegziehen wie einen billigen Teppich. Sie musste sich schließlich um Sherry kümmern. Auch die Jungs im Laden hatten ihre Familien, für die sie sorgen mussten. Wer würde Mike Karpasian anstellen? Schließlich war er bereits 75 Jahre alt, nuschelte extrem und sein Talent beschränkte sich auf das Anbringen von neuen Auspufftöpfen an Autos.
Vielleicht verhielt sich Jack egoistischer, als er bislang gedacht hatte. Im Reader’s Digest hatte er etwas über die Wechseljahre bei Männern gelesen. Nach Jahren voller Verantwortung und Bescheidenheit neigten Männer mittleren Alters plötzlich zu einem Verhalten, das an pubertierende Teenager erinnerte. Sie stellten Frauen nach, fuhren zu schnell und träumten von unerreichbarem Luxus – etwa der Leitung eines Country Clubs.
Da riss ihn Karen aus seinen Gedanken heraus: »Ich habe das Rätsel gelöst. Du hast etwas gefunden, was du schon immer haben wolltest. Vielleicht warst du dir dessen vorher nicht bewusst – erst, als es direkt vor deiner Nase auftauchte – und als du es dann gesehen hast, da wurde dir sofort klar: Das ist es, das ist das, was ich schon immer gewollt habe.«
Jack nickte und lächelte dann.
»Also, was ist es?«, erkundigte sich Karen. »Spann mich doch nicht so auf die Folter!«
Nach kurzem Nachdenken sagte Jack: »Ich bin gestern zum Devil’s Lake gefahren. Eigentlich wollte ich nur im Sommerhaus meines Vaters nach dem Rechten sehen. Auf dem Rückweg hatte ich einen Unfall. Nichts Ernstes. Einen Baum gestreift, mehr nicht. Aber als ich ausstieg, um mir den Schaden anzusehen, habe ich dieses unglaubliche Gebäude entdeckt.«
Karen sagte nichts, sondern schob lediglich ihren Kaugummi auf die andere Seite des Mundes, was verriet, dass sie aufmerksam zuhörte.
»Es lässt sich schwer beschreiben«, verriet ihr Jack. »Es ist riesig, wirklich riesig, und alt. Aber auch sehr eindrucksvoll. Und seit Jahren wohnt niemand mehr darin.«
»Und du willst es«, folgerte Karen mit zarter Stimme.
»Ja«, antwortete er. »Ich will es.«
»Das habe ich mir schon gedacht«, erwiderte sie. »In deiner Stimme schwang der gleiche Unterton mit, den Cecil immer draufhatte, wenn er über seinen 1968er Barracuda mit Stufenheck sprach.«
Jack grinste schief. »Ich sag dir eins, Karen. Wenn das Haus erst mir gehört, wird es mein ganzes Leben verändern.«
»Aber Maggie will nicht, dass du es kaufst, habe ich recht? Warum eigentlich nicht?«
»Ohne Grund. Sie will einfach nicht, dass ich es kaufe.«
»Aha.« Karen setzte ihre füllige Haarpracht mit einem Nicken in Bewegung und sagte dann wieder: »Aha.« Nach einer Weile fuhr sie fort: »Tut mir leid, dass ich frage, aber warum genau willst du es noch mal kaufen?«
»Ich, äh – ich will mich beruflich weiterentwickeln, weißt du? Abwechslung, das ist das richtige Wort. Klar, mit Reed Muffler & Tire setze ich alles auf eine Karte. Deshalb will ich jetzt auch in der Hospitalität mitmischen.«
»Du willst ein Krankenhaus eröffnen?«
»Nein, nein, ein Hotel. Einen Country Club. Einen Ort, an dem man auch Fachkongresse abhalten kann, Tennis spielen, schwimmen, saunieren und so weiter. Einen Ort der Eleganz, wenn du verstehst, was ich meine, mit einem Nobelrestaurant und exquisitem Wein.«
»Klingt wie der Himmel auf Erden«, bemerkte Karen.
»Ja, nicht wahr?«, bestätigte Jack. »Doch Maggie ist absolut dagegen. 100 Prozent dagegen. Ihrer Meinung nach bin ich nicht dazu in der Lage, einen Country Club zu leiten.«
Karen sah ihn an und kaute angestrengt auf ihrem Kaugummi herum. »Was hast du jetzt also vor?«, fragte sie dann.
»Ich weiß es nicht!«, gestand er ihr. Er sah durch das Bürofenster auf einen Buick Riviera, der gerade auf den mit Ölflecken übersäten Werkstattboden abgelassen wurde, auf die Silhouetten seiner Mechaniker, die sich gegen das graue Licht eines regnerischen Tages abzeichneten. Das Haus hatte ihn verführt, gar keine Frage. Es tauchte in allen Einzelheiten vor seinem inneren Auge auf, wie es so einsam und verlassen im Nieselregen stand.
Rette mich!, hatte es ihn angefleht. Mach mich wieder zu der Attraktion, die ich einmal war.
Vielleicht sprach es ihn deshalb so an, weil er sein eigenes Leben aufgegeben und seine eigenen Ziele nie verwirklicht hatte.
Karen sagte: »Lass uns was trinken gehen, ja? Du siehst aus, als könntest du einen Drink gut gebrauchen. Du wirkst momentan eher wie ein Zombie als wie ein Mensch.«
Gemeinsam überquerten sie im Regen die West Good Hope Road, Jack mit aufgestelltem Kragen und Karen auf ihren lächerlich hohen Pfennigabsätzen.
»Zeig es mir!«, rief Karen, als ein Lastwagen an ihnen vorbeibrauste.
»Was?«, schrie er zurück.
»Das Haus! Bring mich dorthin, ich will es sehen!«
Jack verbrachte den Großteil des Nachmittags im Büro. Der Reihe nach rief er die Makler in Madison an, um herauszufinden, wer das Gebäude vermittelte. Doch er hatte keinen Erfolg. Sobald er erklärte, für welches Objekt er sich interessierte, antworteten alle: »Oh, dieses Haus!«, als ob er einen Verwandten erwähnt hätte, der auf Abwege gekommen war und dessen Porträt man deshalb jetzt verschämt auf dem Speicher verwahrte.
»Ja, dieses Haus!«, sagte er zu einer kühl klingenden Frau des Maklerbüros Capitol Realtors. Sie bat ihn, kurz zu warten. Nachdem er fast drei Minuten in der Leitung gehangen hatte, während eine zerkratzte Endlosversion des Posthorn-Galopps abgenudelt wurde, meldete sie sich mit einem wie Karens Kaugummi in die Länge gezogenen Ja-a-a-aa! zurück. Capitol sei im Grunde für das Gebäude zuständig, doch müsse er einen Termin vereinbaren, um einen gewissen Mr. Daniel Bufo zu treffen.
»In Ordnung, großartig. Dann mache ich einen Termin mit Mr. Daniel Bufo.«
Jack war abends schon früh zu Hause und hatte Blumen mitgebracht. Sie sahen etwas zu sehr nach diesen in Eile ausgewählten Sträußen aus, die Ehemänner gelegentlich mitbrachten, um sich bei ihren Ehefrauen zu entschuldigen. Er bestand aus eindeutig zu vielen dekorativen Zweigen und einigen Gewächshaus-Rosen. Nachdem Maggie zur Tür hereingekommen war, stand sie im unvorteilhaften Licht des Gangs und starrte die Blumen einen Moment lang an, als erwartete sie, dass sie vor ihren Augen welk würden. Dann hängte sie ihre myrtengrüne Baskenmütze und ihren Strickmantel an die Garderobe – eine Kombination, die Jack immer spöttisch als ihr Mudschahedin-Outfit bezeichnete – und ging mit schnellen Schritten in die Küche, ohne das Bouquet eines weiteren Blickes zu würdigen.
»Blumen!«, sagte Jack und deutete mit dem Kopf in Richtung Gang.
Sie lächelte gezwungen. »Hast du noch nichts gegessen?«
Er sah zu Randy, der auf einem der Küchenstühle saß und fernsah. »Randy hat schon eine Schüssel Cornflakes gefuttert. Ich wusste nicht genau, wann du zurückkommst.«
»Meine Frauenrunde geht bis halb sieben, das weißt du doch. Hast du nicht mal eine Pizza mitgebracht?«
»Tut mir leid. Ich dachte, wir könnten vielleicht essen gehen. Ins Schneider’s oder so, hmm? Würstchen mit Sauerkraut? Deutschland einig Vaterland? Nichts ist schöner als ein gelegentliches Treffen mit den eigenen Landsleuten.«
In Wahrheit hatte er vorher keinen einzigen Gedanken an das Abendessen verschwendet. Seine Gedanken kreisten zu sehr um den Merrimac Court Country Club und seinen Termin mit Mr. Daniel Bufo am nächsten Vormittag um elf Uhr. Er hatte sogar bereits einen kunstvollen Briefkopf für den Club skizziert – der Buchstabe M für Merrimac und dahinter die aufragenden Türme des Clubs.
»Hast du einen Babysitter bestellt?«, wollte Maggie wissen. Grüne, ausdruckslose Augen blickten ihn erwartungsvoll an. Randy drehte sich um und schien erst jetzt zu bemerken, dass sie nach Hause gekommen war, doch er sagte nichts. Ihm war bewusst, dass der aufziehende Streit im Moment wichtiger war als er. Erwartungsvoll sah er seinen Vater an.
»Nun … ich habe noch nichts festgemacht«, gab Jack zu.
»Du wolltest mich ins Schneider’s ausführen, aber du hast noch nichts festgemacht?«
»Ich dachte, dass Randy vielleicht mitkommen kann.«
Maggies Stimme bekam diesen schrecklich herablassenden Unterton, der ihn immer fast die Beherrschung verlieren ließ. »Er hat schon seinen Pyjama an, Jack. Morgen muss er in die Schule. Und du willst ihn ins Schneider’s mitnehmen?«
»Ja und?«, konterte er. »Ja und, verdammt! Er ist schon neun und er kann mit ins Schneider’s.«
»Jack, er muss in die Schule.«
»Er kann sie mal ausfallen lassen.«
»Jack«, sagte sie. »Du bist verrückt.«
Fast hätte er gesagt: Ja, ich bin verrückt, dabei sein Bierglas von der Theke gestoßen und ihr eine gescheuert, doch stattdessen senkte er den Kopf, atmete tief durch und unterdrückte den Drang, die Vorstellung in die Tat umzusetzen.
Randy schaute erst seine Mutter, dann seinen Vater an. Erwartungsvoll, aber nicht ängstlich.
Nach einer Weile gab Maggie nach: »Na gut«, seufzte sie, als ob ihr der ganze Streit sowieso egal gewesen war. »Doch wenn er die Schule schwänzt, wirst du auf ihn aufpassen müssen. Und du musst ihm eine Entschuldigung schreiben.«
»Mach ich, in Gottes Namen«, versicherte ihr Jack. »Du willst eine Entschuldigung? Ich schreib dir eine Entschuldigung!«
»Du hast getrunken!«, tadelte ihn Maggie.
Er bedeckte seine Augen mit der Hand, als ob er müde wäre und das Licht ihn blendete. Aber gib’s zu, Jack, du hoffst, dass du die Augen wieder aufmachst und sich alles zum Guten gewendet hat. Dass Maggie dann lächelt und Randy glücklich ist und diese Gehässigkeiten nie ausgetauscht worden sind.
»Nun … wenn wir wirklich ins Schneider’s gehen, sollte ich mich besser frisch machen«, bemerkte Maggie. »Randy – zieh dich um. Und zieh dir etwas Anständiges an, hörst du? Nicht wieder dieses ausgeblichene ALF-T-Shirt.«
Randy schaltete den Fernseher aus und rannte in sein Zimmer, um die Anweisung seiner Mutter in die Tat umzusetzen. Jack sah Maggie an und Maggie sah Jack an.
»Weißt du was?«, meinte Jack schließlich. »Wir sind doch gar kein so übles Paar, du und ich. Passen eigentlich ganz gut zusammen. Wir reden nur manchmal etwas aneinander vorbei, das ist alles. Verstehen einander nicht hundertprozentig, wenn du weißt, was ich meine.«
»Denkst du das wirklich?«, wollte Maggie wissen. Er konnte in ihren klaren grünen Augen nichts erkennen, was darauf hindeutete, dass er sie für sich gewonnen hatte.
Jack nickte. Ihm fiel nichts ein, was er seiner kleinen Ansprache noch hinzufügen konnte. Maggie stand eine Weile da, sah ihn einfach nur an und ging dann ins Bad, um sich frisch zu machen. Er hörte, wie sie die Tür hinter sich abschloss.
Herrgott, sagte er zu sich selbst. Diese Ehe ist am Ende. Aus und vorbei. Ich sollte dieses Bier austrinken, schnurstracks zur Tür hinausgehen und nie wieder zurückkommen.
Doch dann betrat Randy das Zimmer. Er trug seine nagelneue Levi’s-Jeans und einen hellroten Rollkragenpulli, grinste über beide Ohren und freute sich darauf, mit Mom und Dad ins Schneider’s zu gehen. Jack empfing ihn mit ausgebreiteten Armen und drückte ihn fest an sich. Er atmete diesen heißen, irgendwie an Kekse erinnernden Jungengeruch ein und verfluchte Gott dafür, dass er Väter dazu brachte, ihre Söhne zu lieben.
Es regnete stark, als sie die auf einer Anhöhe gelegene Abzweigung erreichten, die knapp eine Meile hinter Lodi lag. Und tatsächlich wartete Mr. Daniel Bufo in seinem sattelbraunen Cadillac Sedan Deville auf sie. Jack parkte hinter ihm und schaltete den Motor ab. Er öffnete das Fenster seines Kombis einen Spaltbreit, weil die Windschutzscheibe beschlug. Der Regen prasselte auf die Lorbeerbäume am Straßenrand und trommelte in unregelmäßigen Abständen auf das Autodach. Nach einem Moment öffnete sich die Tür des Cadillacs. Eine korpulente Gestalt in grauem Plastikmantel und -hut kam zum Vorschein. Sie bahnte sich den Weg ins Freie und bewegte sich schwerfällig auf sie zu.
»Oh mein Gott!«, hauchte Karen mit gespielter Dramatik. »Es ist Moby Dick!«
Daniel Bufo erreichte ihr Auto und tauchte mit seinem regennassen Gesicht vor Jacks geöffnetes Fenster hinab.
»Mr. Reed? Wie geht es Ihnen heute? Und Mrs. Reed? Schön, Sie kennenzulernen, Madam.«
Karen schlug ihre Beine übereinander, zog den Saum ihres Minirocks herunter und stieß ein besonders schrilles Lachen aus.
»Und wen haben wir da hinten?«, fragte Daniel Bufo. »Ist das der Kleinste der Reed-Familie?«
»Das ist Randy!«, stellte Jack seinen Sohn vor.
Daniel Bufo wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Randy, hm? Hatte mal ’nen Hund, der hieß auch Randy. Ist nicht böse gemeint. War ein großartiges Tier. Ich schwöre, der Racker hätte sprechen können, wenn sein Maul nicht ständig voll mit Fressen gewesen wäre.« Jack sah Wurstfinger und dicke Goldringe.
»Folgen Sie mir den Hügel runter und dann nach links. Die Abfahrt ist leicht zu übersehen, also fahren Sie besser langsam.«
Daniel Bufo ging zu seinem Wagen zurück. Beide Fahrzeuge starteten und bahnten sich vorsichtig ihren Weg die gewundene Straße zwischen den Bäumen hindurch. Manchmal war es im Schatten der Allee so dunkel, dass die Automatik von Jacks Kombi die Scheinwerfer anschaltete. Kaum zu glauben, dass es erst elf Uhr war.
Vorstehende Äste knarzten und zerkratzten den Lack des Kombi. Dann wurde die Straße etwas breiter und Jack erkannte schwarze Eisengitter, die mit Ketten behangen und durch ein Vorhängeschloss gesichert waren.
Daniel Bufo hielt an, hievte sich aus seinem Cadillac heraus und ging zum Tor, um aufzuschließen. Bevor er sich wieder auf den Fahrersitz zwängte, signalisierte er Jack, dass alles okay war.
Sie fuhren eine weitere lange Allee mit überhängenden Bäumen entlang. Karen sagte: »Irgendwie düster hier, oder?«
»Hat sich seit Urzeiten keiner mehr drum gekümmert!«, gab Jack, dessen Mund vor Aufregung ganz trocken war, zurück. »Wenn diese Bäume erst mal zurückgeschnitten sind und das Gras gemäht ist ...«
Die Allee schien endlos lang zu sein. Sie erstreckte sich über beinahe eine Meile. Dann tauchte ohne Vorwarnung das Gebäude vor ihnen auf. Es war sogar noch größer und imposanter, als Jack es in Erinnerung hatte. Irgendwie kam es ihm mürrisch vor, schien zu schmollen, weil Jack noch mehr Menschen anschleppte, die es in seiner Ruhe stören wollten. »Es ist fan-tas-tisch!«, rief Karen aus, doch Randy lehnte sich nur mit weit aufgerissenen Augen in seinem Sitz zurück, als ob ihm der Anblick gar nicht schmeckte.
Sie parkten vor dem Haupteingang. Daniel Bufo erklomm keuchend die Stufen zur Tür und durchforstete lautstark einen Schlüsselbund, der sogar den Geist des ollen Marley aus Charles Dickens’ Weihnachtsgeschichte neidisch gemacht hätte. »Das ist ein schönes, historisches Gebäude, wirklich schön. Man baut heutzutage einfach nicht mehr in diesem Stil. Finden sich keine Handwerker mehr dafür.«
»Wie lange steht es denn nun schon leer?«, erkundigte sich Jack. Er hatte schon am Telefon gefragt, doch Daniel Bufo war der Frage ausgewichen. »Eine Weile«, hatte er geantwortet. »Vielleicht weiß es jemand anders genauer.«
Daniel Bufo fand den richtigen Schlüssel und hielt ihn triumphierend in die Höhe. Er war anders als alle Schlüssel, die Jack je gesehen hatte – glich eher einem balinesischen Dolch als einem Instrument zum Öffnen von Türen. »Schlüssel wie diese gibt’s auch nicht mehr heutzutage. Das ist vielleicht ein Mördergerät, was?«
»Was meinen Sie? 20 Jahre, 30 Jahre?«, insistierte Jack.
Daniel Bufo zuckte die Achseln. »Na ja, mein Partner meinte, dass es kurz vor der Jahrhundertwende erbaut wurde. Zuerst war es ein privates Anwesen. Adolf Krüger, der später die Brauerei Krüger Beer gründete, hat es in Auftrag gegeben. Er scheint es kurz nach dem Ersten Weltkrieg verkauft zu haben. Danach wurde es in ein Pflegeheim umgewandelt.«
Er drehte den Schlüssel in der Tür und stieß sie auf. Sie knarrte weder noch klemmte sie. Die Scharniere bewegten sich, als ob sie frisch geölt wären.
Als sie hineingingen, sah Randy auf die blinden Flachrelief-Gesichter und flüsterte: »Warum haben sie alle die Augen geschlossen?«
Daniel Bufo sah hoch und schüttelte dann den Kopf, sodass seine Wangen schwabbelten. »Das kann ich mir genauso wenig erklären wie Sie, mein Freund.«
»Sie sehen aus wie diese Masken«, warf Karen ein. »Wissen Sie, wenn jemand gestorben ist und man sein Gesicht nachbildet.«
»Totenmasken«, sagte Jack.
»Genau, Totenmasken. Unheimlich, oder? Was, wenn es wirklich welche sind? Ein ganzes Haus voller toter Gesichter von Menschen, die zu Lebzeiten genauso ausgesehen haben.«
Sie betraten den riesigen, nachhallenden Gang mit den elfenbeinfarbenen Statuen. Bis auf das Schlurfen ihrer Schuhe über den Boden war es völlig still im Haus. Randy umklammerte die Hand seines Vaters. Karen war sichtlich nervös und fröstelte.
»Na ja, wohnlich ist es nicht gerade«, bemerkte sie.
»Mr. Reed, nach dem, was Sie mir am Telefon verraten haben, spielen Sie mit dem Gedanken, dieses Anwesen in eine Art – was war es? – Urlaubsressort umzuwandeln?«, erkundigte sich Daniel Bufo, während er sich umsah.
»Stimmt genau«. Jack hielt inne und lauschte. Was erwarte ich zu hören?, fragte er sich selbst. Flüsterstimmen? Regenwasser, das ins Gebäude eindringt? Etwa das gleiche Sssschhh-Geräusch, das mich gestern die Treppen hinuntergejagt hat?
»Dafür ist das Anwesen wirklich wie geschaffen!«, sagte Daniel Bufo. »Es gibt einen sehr geräumigen Aufenthaltsraum, ausgesprochen beeindruckend. Man kann es sich alles sehr gut vorstellen, nicht wahr? Licht. Menschen. Leben.«
»Also, ich kann nur Staub und Dreck erkennen!«, mischte sich Karen ein.
»Na jaaaaa!« Daniel Bufo lachte. »Mr. Reed dürfte sich darüber im Klaren sein, dass man ein bisschen Fantasie braucht, um das Beste aus diesem Ort herauszuholen, ganz zu schweigen von einer ordentlichen Stange Geld. Das Haus steht seit den 20er-Jahren leer, sagt mein Partner. Also machen wir uns nichts vor, nicht wahr, Mr. Reed? Sie werden hier neue Kabel verlegen müssen, Klempnerarbeiten durchführen lassen, das Dach ausbessern und isolieren und das Gebäude den örtlichen, bundesstaatlichen und landesweiten Vorgaben anpassen. Wer weiß, was sonst noch alles notwendig ist. Das ist das erste Mal, dass ich selbst hier bin.«
Jack sah sich um und räusperte sich. »Donald Trump hat es geschafft. Es gibt keinen Grund, warum es nicht auch mir gelingen sollte.«
Daniel Bufo sah Karen an und verzog unauffällig das Gesicht. Inzwischen war ihm klar geworden, dass es sich bei Karen nicht um Jacks Frau handelte, weshalb er sie beim Verkaufsgespräch weitgehend außen vor ließ. Außerdem war nicht zu übersehen, dass Jack in Gedanken bereits mit der Renovierung anfing und er das Haus unbedingt haben wollte. Mit einem Käufer wie Jack musste man sehr sensibel umgehen.
Jack trat auf die Statue zu, die am Fuße der Osttreppe postiert war. Ein groß gewachsener, unbeweglicher Koloss mit geschlossenen Augen. Was hast du alles miterleben müssen?, fragte er sich. Was ist hier passiert, dass du deine Augen für immer geschlossen hast?
»Da Sie gerade Donald Trump erwähnten«, warf Daniel Bufo ein. »Es ist möglich, dass der Bundesstaat Wisconsin Ihnen dieses Haus ohne Grundsteuer überlässt, weil Sie beabsichtigen, ein historisches Gebäude umzustrukturieren und den Ortsansässigen Arbeitsplätze zu verschaffen. Zumindest mal für einen begrenzten Zeitraum. Das ist der Deal, den Trump in New York schließen konnte. Erzählen Sie bloß niemandem in Madison, dass ich Sie auf den Trichter gebracht habe, sonst …«
Jack nickte. Karens Pfennigabsätze klapperten laut und hallten an sämtlichen Wänden wider, da ihre Schuhe so abgetragen waren, dass sie bereits auf den Metallspitzen lief. Randy drehte sich immer und immer wieder im Kreis, starrte an die Decke und an den riesigen, mit Spinnweben behangenen Leuchter. Irgendwann hörte er damit auf, weil ihm schwindelig wurde.
»Und? Wollen Sie sich noch ein bisschen genauer umsehen?«, erkundigte sich Daniel Bufo. »Tun Sie sich keinen Zwang an. Ich werde in der Zwischenzeit mal den Keller checken und nachsehen, in welcher Verfassung die Haustechnik ist.«
Er zog eine riesige, vergilbte Skizze des Kellers hervor und breitete sie auf dem Tisch im Korridor aus, während Randy die Treppe hinaufstieg und Jack und Karen sich Hand in Hand in der Halle umsahen.
»Jack, meinst du es wirklich ernst, dass du das hier kaufen willst?«, wollte Karen mit gerümpfter Nase wissen. »Es ist so alt. Und so schmutzig.«
Jack fuhr mit der Hand über die elfenbeinfarbenen Kleider der Marmorstatue, als ob er davon ausging, dass es sich um Leinen handelte. »Es wird verdammt teuer werden, Karen, aber denk mal drüber nach. Stell dir vor, wie es aussehen wird, wenn es renoviert ist. Die Leute werden aus aller Welt herbeiströmen. Der Merrimac Court Country Club, da muss man einfach mal gewesen sein.«
»Meinst du echt?« Sie sah sich in der Halle um und man merkte ihr deutlich an, dass sie es sich überhaupt nicht vorstellen konnte. Sie hatte fast ihr gesamtes Leben in einem Wohnwagen verbracht und besaß deshalb eine sehr pragmatische Einstellung.
Jack grinste und nickte. »Es ist wie ein Traum, der in Erfüllung geht, Karen. Glaub mir.«
»Und was ist mit Reed Muffler & Tire?«, wollte sie wissen. »Wirst du die Firma weiterhin am Laufen halten, hmm? Du wirst den Laden doch nicht etwa dichtmachen, oder? Hierfür, meine ich.«
»Das weiß ich noch nicht«, log er. »Es ist noch zu früh, um eine solche Entscheidung zu treffen. Aber ich will das hier durchziehen, Karen, das kannst du mir glauben. Dieser Laden hat was.«
»Ja, irgendwas von Friedhof!«, antwortete Karen, während sie demonstrativ auf ihrem Kaugummi herumkaute.
Randy erklomm die Stufen zum ersten Stock und spähte dann von der Galerie aus nach unten. Er winkte seinem Vater zu, verkniff sich aber das Rufen, weil es in den Gängen zu sehr hallte und ihm das Angst einjagte. Echos waren ihm unheimlich, denn er bekam dabei immer das Gefühl, dass Wildfremde ihm die eigenen Worte ins Gesicht zurückbrüllten.
Jack winkte zurück und Karen auch. Von oben sahen beide sehr klein aus. Randy mochte Karen. Sie war lustig, roch gut und gab ihm immer Kaugummi. Ihm war nicht ganz klar, was für eine Rolle sie im Leben seines Vaters spielte. Manchmal verhielt Jack sich Karen gegenüber viel liebevoller als gegenüber seiner eigenen Mutter. Randy hatte ein- oder zweimal gesehen, wie er sie geküsst hatte, mehr aber nicht. Sein Vater kam jeden Abend nach Hause und küsste auch seine Mutter und sagte ihr, dass er sie liebte. Manchmal schrie er sogar, dass er sie liebte. Randy wurde aus alledem nicht schlau, aber er sagte nichts, denn das schien sein Vater von ihm zu erwarten.
Er spähte in die langen Gänge mit Linoleum-Fußböden hinein, die von der Treppe nach Osten und Westen führten. Sie waren dunkel, aber irgendwie ging auch eine seltsame Verlockung von ihnen aus. Nie zuvor hatte er Dunkelheit als so verlockend empfunden. In der Regel nahm er Finsternis als Bedrohung wahr. Jede Nacht bestand er darauf, dass sein Vater das Licht im Gang eingeschaltet ließ (obwohl es doch merkwürdigerweise am Morgen immer gelöscht war). Er näherte sich dem östlichen Trakt und starrte lange Zeit in die Schwärze, die vor ihm lag. Zaghaft sagte er: »Hallo?«
Keine Antwort. Aber auch kein Echo. Er rief noch einmal »Hallo?«, ohne zu wissen, warum er auf eine Antwort wartete. Irgendwie empfand er eine gewisse Enttäuschung, als jegliche Erwiderung ausblieb.
Randy wollte sich gerade umdrehen, um wieder hinunter in die Halle zu laufen, als er aus den Augenwinkeln eine kleine, grau-weiße Gestalt erspähte, die aus seiner Richtung ans andere Ende des Ganges tapste. Schockiert drehte er sich zu ihr um. Sein Herz schlug babumm, babumm, babumm. Jetzt rührte sich nichts mehr. Doch da war ein anderes Kind gewesen, er war sich absolut sicher. Ein kleines Mädchen mit einer Kapuze und einem knisternden Regenmantel. Er hatte es nicht knistern hören, sondern es vielmehr knistern gefühlt – Sssssschhhhhh, ssssschhhhh, sssssschhhhhh, durch den Gang.
»Dad!«, rief er, doch da wurde ihm klar, dass er nur geflüstert und nicht laut gerufen hatte. »Dad!«, rief er erneut, doch es kam wieder nur ein leises Flüstern heraus.
Zögernd betrat er den Korridor und tastete sich mit den Fingern die Wand und die Türen an jeder Seite vorwärts. Die grau-weiße Gestalt war nicht mehr zu sehen, aber er war sich sicher, dass sie noch da sein musste, auf ihn wartete, irgendwo dort in der Dunkelheit. Er war davon überzeugt, dass er keine Angst vor ihr haben musste.
»Kleines Mädchen?«, rief er. »Kleines Mädchen?«
Er passierte ein Fenster nach dem anderen. Jedes war mit einem Metallnetz verbarrikadiert. Endlich erreichte Randy das Ende des Ganges und fand sich auf einem Podest wieder. Eine weitere Treppe erstreckte sich zu seiner Linken. Aus einem der vergitterten Fenster fiel ein schwaches Licht darauf. Randy konnte den Regen gegen die Scheibe trommeln hören. Er wartete und lauschte. Diesmal verzichtete er auf ein lautes Hallo. Vor ihm befand sich eine Doppeltür. Er wollte sie öffnen, aber sie war abgeschlossen. Das kleine Mädchen musste die Treppe hinaufgegangen sein. Er sah schnell zurück auf den Korridor und entschied sich dann, ihr zu folgen. Weit konnte sie nicht gekommen sein.
Während er die Stufen hochkraxelte, glaubte er, ein Lied aus weiter Ferne zu hören:
Lavendelblau, dideldei;
Lavendel, hier gehör ich hin.
Hier bin ich König, dideldei;
Und du wirst Königin.
Dieses Lied hatte Randy schon gefallen, als er noch ganz klein gewesen war. Aus irgendeinem Grund fand er es schön und traurig zugleich. Und jetzt hörte er, wie es jemand hier sang! Er erreichte den nächsten Treppenabsatz. Von dem kleinen Mädchen auch dort keine Spur, doch er konnte sich denken, dass sie weiter nach oben gelaufen war und er sie dort finden würde.
Als Randy den Dachboden erreichte, schnaufte er ziemlich heftig. Er stemmte die Arme in die Hüften und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dann sah er sich um und blinzelte, so wie Kinder blinzelten, wenn sie besorgte Erwachsene nachzumachen versuchten.
»Wo bist du bloß?«, wollte er wissen.
Er begann den Gang entlangzustapfen. Seine roten Schuhe quietschten auf dem Linoleum. Randy versuchte, eine der Türen zu öffnen, dann noch eine, aber sie waren beide fest abgeschlossen. Immer noch konnte er jemanden singen hören. »Lavendelblau, dideldei ... Lavendel, hier gehör ich hin ...«
Auf halbem Weg machte er halt. Vor ihm stand eine der Türen offen. Nur ein ganz klein wenig, doch weit genug, dass ein schwacher Lichtschein den Fußboden erhellte. Randy war verunsichert, verspürte aber keine Angst. Er lauschte auf die Geräusche im Haus. Es knarzte und ächzte überall um ihn herum wie auf der Arche Noah. Er hörte seinen eigenen Atem. Und die Stimme seines Vaters, die ganz dumpf von unten zu ihm drang. Und da vor ihm war die einen Spaltbreit geöffnete Tür, das schwache Licht auf dem Boden und ein unbestimmbares Gefühl: Ich bin hier, Randy! Wir sind hier!
Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Vorsichtig drückte Randy gegen die Klinke und ging ins Innere. Er hörte undeutliche Geräusche, sein Blick war wie benebelt. Ich bin hier, Randy! Wir sind hier! Ein kleines Zimmer. An der Wand eine Tapete mit braunen Blumen; ein Bett mit eisernem Rahmen, cremefarben lackiert, darauf eine durchgelegene Matratze, die während unzähliger Nächte, die der bettnässende Zimmerbewohner auf ihr verbrachte, hässliche Flecken bekommen hatte. Ein schief hängendes Bild an der Wand, Susanna und die Alten von Thomas Hart Benton, gezupfte Augenbrauen, wohlgeformte Brüste, eine deutlich sichtbare Vagina und Männer, welche die Frau betrachteten. Randy! Ich bin hier, Randy!
Randy sah zur Wand hin. Auf halber Höhe erkannte er im schwachen Morgenlicht, dass die Tapete sich gewölbt hatte. Die Wölbung sah aus wie das Gesicht eines Mannes – fast, als ob die Dekorateure die Tapete einfach darübergeklebt hätten. Die Augen des Mannes waren geschlossen, aber er lächelte. Er sah nett aus, aber besaß eine Ausstrahlung, die einen misstrauisch werden ließ; so wie einer dieser Witzbolde, die einem den Stuhl wegzogen, wenn man sich gerade hinsetzen wollte.
Randy starrte die Visage an und zitterte. Er wusste nicht, ob da wirklich ein Mann war oder nicht. Wie sollte er echt sein, wenn man ihn hinter einer Tapete eingekleistert hatte? Man konnte schließlich nicht atmen mit Tapete auf der Nase, oder? Außerdem bewegte er sich nicht, also war er nicht real, sondern nur eine Statue aus brauner Pappe.
Randy hielt auf ihn zu. Der Linoleumboden war grün gestreift und wies an manchen Stellen schwarze und weiße Quadrate auf, die an die geschlitzten Augen einer Katze erinnerten. Der Mann lächelte und rührte sich immer noch nicht. Erstaunlicherweise zeichnete sich jedes Detail seines Gesichts auf der Tapete ab: seine Augenlider, seine Lippen, das gespaltene Kinn. Randy starrte ihn an und wusste nicht, was er tun sollte.
Hast du Angst, Randy? Du brauchst keine Angst zu haben.
»Bist du echt?«, erkundigte er sich mit vor Furcht ganz brüchiger Stimme.
Es kam keine Antwort. Randy stand da, starrte das Gesicht des Mannes an und wusste nicht, was er davon halten sollte. Er konnte ja nicht echt sein, oder? Und doch schien er zu atmen. Man konnte ihn nicht wirklich atmen sehen und doch tat er das offensichtlich. Man konnte es hören und fühlen. Ein – aus. Ein – aus. Eine hastige, unauffällige Atmung wie bei jemandem, der sich vor einer Bedrohung in einem Schrank versteckte.
»Du bist nicht echt!«, rief er laut. »Du kannst nicht echt sein!«
Was ist denn für dich echt, Randy? Hältst du dich für echt, so wie du da draußen in der Kälte stehst?
Randy biss sich auf die Lippe. Er war kurz davor, aus dem Zimmer zu stürmen und wieder nach unten zu rennen. Aber obwohl der Tapetenmann ihm merkwürdig erschien, flößte er ihm doch keine Furcht ein. Er hatte etwas Kindliches an sich, wie der verrückte George, der für den alten Hamner im Laden an der Ecke arbeitete.
»Kannst du sprechen?«, fragte Randy ihn, während er einen zögerlichen Schritt nach vorne wagte. »Kannst du die Augen öffnen?«
Es gibt keinen Grund für mich, die Augen zu öffnen. Niemand ist so blind wie die, die nicht sehen wollen.
»Wer bist du?«, wollte Randy wissen. »Wieso ist dein Gesicht in der Wand eingemauert?«
Ich heiße Lester. Na ja, manchmal heiße ich Lester. Oft auch Belphegor. Ist ein cooler Name, oder? Belphegor.
»Warum ist dein Gesicht in der Wand?«
Warum bist du überhaupt hier, Randy? Du heißt doch Randy, oder? Ich habe gehört, wie dein Vater dich Randy genannt hat.
»Mein Dad will dieses Haus kaufen und zu einem Hotel umbauen.«
Will er das? Nun, da wird sich so mancher ziemlich drüber freuen. Manche nicht, denn manche wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Aber einige werden sich freuen.
»Ich weiß nicht. Mir gefällt dieser Ort nicht. Es ist alles so alt hier und es stinkt.«
Nun, das mag sein. Aber wenn du herkommen würdest, um hier zu leben, hättest du etliche neue Freunde.
»Aber wir sind doch mitten in der Pampa!«, protestierte Randy. »Wer lebt denn schon hier draußen?«
Wir. Wir alle. Und wir könnten deine Freunde sein. Und ich könnte dein ganz besonderer Freund werden.
Randy zögerte. Er konnte die Schritte seines Vaters hören, der die Treppe erklomm, gefolgt vom Klipp-Klapp von Karens abgewetzten Absätzen.
»Ich muss los!«, sagte er zu dem Gesicht.
Komm mal her, komm näher zu mir, bat ihn das Gesicht.
»Lieber nicht.«
Komm näher. Willst du, dass wir Freunde werden?
»Klar, aber …«
Dann komm näher.
Randy trat auf die Wand zu und legte vorsichtig eine Hand darauf, genau unter das Gesicht, das sagte: Magst du Geheimnisse, Randy? Magst du Zaubertricks? Magst du nackte Frauen?
Randy wusste nicht, was er darauf erwidern sollte.
Der Mund des Gesichts verzog sich langsam zu einem verschwörerischen Lächeln. Ich kann dir Geheimnisse verraten, Randy. Ich kann dir Zaubertricks beibringen, von denen du noch nicht einmal zu träumen gewagt hast. Und nackte Frauen kann ich dir auch zeigen.
Randy schauderte, ohne zu wissen, woran es lag.
Jacks Stimme hallte im Gang wider. »Randy? Bist du da? Randy, wo zum Teufel steckst du?«
Wenn du das alles willst, dann komm wieder hierher zurück, Randy, komm in dieses Zimmer und sprich mit mir. Aber erzähl niemandem, dass du mich gesehen hast. Überhaupt niemandem. Nicht deinem Vater, nicht deiner Mutter, niemandem. Und ganz besonders niemand anderem, der in der Wand ist.
»Randy!«, rief Jack, diesmal mit entschieden mehr Nachdruck.
»Was meinst du damit, niemand anderem, der in der Wand ist?«, beeilte sich Randy zu fragen.
Merk dir eins: Manche von uns sind nicht so nett wie ich. Manche sind regelrecht gemein. Und einige sind wirklich gefährlich. Man sollte sie hinter Schloss und Riegel bringen.
In diesem Moment stieß Jack die Tür weit auf und rief: »Randy? Bist du da drinnen?« Das Gesicht, das sich Lester nannte, zerschmolz, als ob es aus Gelee bestand. Als Jack das Zimmer betrat und Randy sah, war die Tapete wieder glatt, absolut eben.
»Kannst du nicht antworten, wenn ich dich rufe?«, wollte Jack wissen. »Ich hab überall nach dir gesucht.«
Von der Fußbodenleiste ertönte ein schwaches Sssssschhhhhhhh – ssssschhhhhhh. Jack legte Randy die Hand auf die Schulter, runzelte die Stirn und forderte ihn auf zu lauschen.
Randy sah erwartungsvoll zu ihm auf.
»Hast du das gehört?«, wollte Jack wissen. »So ein Pst-Geräusch.«
Daniel Bufo hatte zu ihnen aufgeschlossen. Seine Kreppsohlen schmatzten auf dem Linoleumboden. »Wahrscheinlich Ratten!«, bemerkte er, während er sich mit einem Taschentuch den Hals abwischte.
»Na ja, könnten auch Eichhörnchen sein!«, erwiderte Jack.
Daniel Bufo sah sich im Zimmer um und rümpfte die Nase. »Hier müsste man dringend mal ein bisschen sauber machen.«
Sie verließen den Raum. Randy drehte sich um, als er die Tür erreichte, und sah zurück zur Wand mit dem braunen Tapetenblumenmuster. Er wusste nicht, ob er seinem Daddy von Lester erzählen sollte oder nicht. Wenn er es sich genauer überlegte, klang es regelrecht verrückt. Und sein Daddy würde ein Riesendrama daraus machen, zuerst die Wände abtasten und, wenn er nichts finden konnte, die Hand auf Randys Stirn legen und sich erkundigen, ob er sich krank fühlte. Und wie sollte er das mit den nackten Frauen erklären? Sein Vater würde ihn keine nackten Frauen sehen lassen, das stand ja wohl fest.
Also entschloss sich Randy, sein Geheimnis für sich zu behalten, zumindest für den Augenblick. Vielleicht würden sie ja nie wieder hierhin zurückkehren. Und Lester hatte ihn schließlich gebeten, niemandem von ihm zu erzählen. Merk dir eins. Manche sind regelrecht gemein. Und einige sind wirklich gefährlich.
»Ich höre dann also bald von Ihnen?«, erkundigte sich Daniel Bufo. »Aber sicher doch!«, bestätigte Jack. Sie standen draußen im Regen, während Karen und Randy bereits im Auto warteten. Karen zog sich mithilfe des Rückspiegels die Lippen nach; Randy malte mit dem Finger Bilder auf die beschlagene Scheibe.
»Ich habe heute Morgen mit den jetzigen Eigentümern gesprochen«, erzählte ihm Daniel Bufo, während er die Augen leicht zusammenkniff. »Ich muss Ihnen sagen, dass sie ziemlich zugeknöpft sind.«
»Meinen Sie damit, dass sie nicht verkaufen wollen?«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Sie geben keine eindeutige Antwort, wenn Sie wissen, was ich meine. Ich habe ihnen mitgeteilt, dass ich Kundschaft aus Milwaukee habe, die an dem Objekt interessiert ist. Aber sie haben nicht darauf reagiert, nur ›hmmm‹ gemacht und dann aufgelegt.«
»Nur hmmm?«, vergewisserte sich Jack.
Daniel Bufo beugte sich zu ihm vor. Von der Nasenspitze des Immobilienmaklers hing ein Tropfen Regenwasser und sein Atem roch nach ungarischer Salami und Mundspray. »Es würde mir helfen, wenn ich ihnen einen Preis nennen könnte.«
»Wollen Sie damit sagen, dass sie keinen bestimmten Preis im Kopf haben?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich verkaufen wollen, um ehrlich zu sein.«
»Aber sie haben Ihnen auch nicht klar und deutlich gesagt, dass sie gar nicht verkaufen wollen?«
»Nein, Sir. Sie sagten ›hmmm‹.«
»Nun«, sagte Jack, »ich dachte an 500, vielleicht 550, etwas um den Dreh.«
Daniel Bufo verzog das Gesicht. »Das ist ein ziemlich niedriges Angebot, Mr. Reed«, sagte er ohne große Begeisterung. »Hier gibt es knapp sieben Hektar Wald und dann noch das Gebäude selbst.«
»Hat denn sonst noch jemand ein Angebot abgegeben?«
»Nein, Sir.«
»Also, dann ist das mein Angebot. Fragen Sie die Eigentümer und lassen Sie mich wissen, was sie davon halten. Schlimmstenfalls sagen sie dazu ›hmmm‹.«
»Ja, wahrscheinlich.« Daniel Bufo nahm sein Taschentuch heraus und putzte sich die Nase. »Das wäre wirklich etwas, wenn wir dieses Gebäude aus unseren Büchern streichen könnten, glauben Sie mir. Das ist bei uns im Büro ein Running Gag, wissen Sie? Immer wenn jemand sich beschwert, dass ein Objekt kaum an den Mann zu bringen ist, kommt als Antwort, dass es fast so schwierig läuft wie bei The Oaks.«
»So heißt das Anwesen? The Oaks – die Eichen?«
»So wurde es getauft, als es ein Pflegeheim war.«
»The Oaks!«, wiederholte Jack langsam. Er trat einen Schritt zurück und sah noch einmal auf das Gebäude, seine dunklen, im Regen glitzernden Türme. Er wusste nicht, weshalb es ihn dermaßen ansprach, aber er hatte sich in das Haus verliebt, in seinen baufälligen Charme und seine Geheimnisse. Er drehte sich zum Auto und Karen winkte ihm zu. Randy drückte sich gelangweilt die Nase am Fenster platt. Wahrscheinlich wünschte er sich gerade, doch lieber in die Schule gegangen zu sein.
»Also gut!«, sagte Jack und schüttelte Daniel Bufo die Hand. »Unterbreiten Sie den Eigentümern meine Offerte. Dann werden wir sehen, was sich tun lässt. Ach so, können Sie mir eigentlich sagen, wer die Eigentümer sind?«
Daniel Bufo schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Mr. Reed. Das würde ich gerne tun, glauben Sie mir. Aber die Verschwiegenheitspflicht, Sie wissen ja, wie es ist.«
»Es ist aber nicht die Mafia?«
Daniel Bufo gab ein Geräusch von sich, als spiele er Dudelsack und versuche gleichzeitig zu lachen. »Nein, Sir. Es ist nicht die Mafia.«
Jack stieg ins Auto und schlug die Tür hinter sich zu. »Wie wäre es mit einem Hamburger?«, schlug er vor, als er den Motor anließ.
»Was immer du willst«, antwortete Karen, die am Saum ihres Rocks zupfte. »Mein Gott, sieh dir mal meine Haare an!«
Im Schritttempo fuhren sie die Allee mit den regennassen Bäumen entlang. Randy drehte sich in seinem Sitz um, damit er das Gebäude noch einmal sehen konnte, das nach und nach hinter den schwarzen, schattigen Blättern verschwand. Sie hatten schon fast das Tor erreicht, als er die grau-weiße Gestalt des kleinen Mädchens noch einmal sah. Sie stand genau zwischen den Bäumen und hatte einen Arm erhoben, um ihm zu winken.
Komisch war nur, dass ihr Gesicht von einer Kapuze verborgen war, als ob es falsch herum am Kopf saß. Entweder das – oder sie hatte überhaupt kein Gesicht.