S I E B E N

Sie stiegen die Treppe hinauf. Pater Bell musste auf halber Höhe eine kleine Pause einlegen und Jack wartete geduldig, bis der alte Mann wieder zu Atem kam.

»Ich werde Ihnen Quintus’ Zimmer zeigen«, erklärte Pater Bell, als sie ihren Aufstieg fortsetzten. »Nachdem er diese Frau fast umgebracht hätte, war es immer verschlossen und er durfte nur für die Turnstunden herausgelassen werden. Und natürlich für die Therapiesitzungen mit Dr. Estergomy.«

»Dr. Estergomy hat ihn nach dem Vorfall weiterhin behandelt?«, erkundigte sich Jack.

Pater Bell räusperte seinen verschleimten Hals. »Oh ja, er brach die Therapie nicht ab. Elmer Estergomy vertrat die Auffassung, dass sich selbst das gestörteste Hirn heilen lasse. Ich war ein Priester, das wissen Sie ja. Ein Priester, den man als Exorzisten ausgebildet hatte – und ich vertrat eine völlig andere Meinung. Ich habe hier ein paar schreckliche Dinge erlebt, Mr. Reed. Ich sah Männer und Frauen, die der Herr ganz offensichtlich für immer aufgegeben hatte und denen nach ihrem Tode nichts weiter blieb als das ewige Fegefeuer. Die Hölle auf Erden und die Hölle im Jenseits.«

Sie schritten durch den Ostkorridor, bis sie das dritte Fenster erreichten. Pater Bell hielt an und lauschte. Im Gang war es schwül und stickig. Aus der Ferne konnten sie immer noch ganz schwach das Lavendelblau, dideldei … hören, leise und spöttisch wie eine unangenehme Erinnerung. Pater Bell sagte: »Er sang immer dieses Lied, immer und immer wieder, und er änderte stets die letzte Zeile in Hier bin ich König ab. Ich schätze mal, das war er in gewisser Weise auch. Es gab niemanden in The Oaks, der stärker oder entschlossener als Quintus Miller gewesen wäre.«

Er hob die Hand, als ob er etwas weihen wollte. Vor ihnen stand eine der Türen offen. Sie war wie alle anderen cremefarben lackiert, aber – wahrscheinlich durch Fußtritte – deutlich verbeulter und zerkratzter.

»Das war Quintus Millers Zimmer«, flüsterte Pater Bell. Er schien fast ein wenig erleichtert zu sein, es wiederzusehen. So als hätte er sein ganzes Leben lang damit gerechnet, eines Tages hierhin zurückzukehren.

Zumindest war das Warten vorbei.

»Die Tür war beim letzten Mal abgeschlossen. Ich habe sie alle überprüft«, stellte Jack fest.

Pater Bell sah ihn fast spöttisch von der Seite an. Dann stieß er die Tür auf, sodass sie einen Blick in Quintus Millers Zimmer werfen konnten.

Es gab keine Möbel, nur eine Matratze und eine heruntergekommene Toilette. Im Zimmer roch es säuerlich, faulig und irgendwie nach Unheil. Jack wollte gar nicht erst hineingehen.

»Dort! An der Wand!«, rief Pater Bell aus.

In der Dunkelheit erkannte Jack, dass ein riesengroßer sechszackiger Stern an der Wand prangte. Die bräunliche Farbe weckte bei ihm Assoziationen zu Brombeersaft, Blut oder Exkrementen.

»Was ist denn das?«, erkundigte er sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. »Ein Davidstern?«

Pater Bell näherte sich der Wand. »Nicht ganz. Es ist Salomons Hexagramm, ohne Zweifel das mächtigste Symbol des Okkultismus, sogar noch mächtiger als das Kreuz. Im heidnischen Kult ist es von großer Bedeutung, genauso wie im Juden- und im Christentum. Es wirkt auf den ersten Blick wie ein Stern, doch eigentlich handelt es sich um zwei übereinandergelegte Dreiecke. Das erste zeigt nach oben – sehen Sie? – und steht für Feuer und Luft. Das zweite symbolisiert Erde und Wasser.

Dort, wo sich die Dreiecke überlappen, verbinden sie sich zur Gesamtheit der uralten Macht, dem fünften Element, der sogenannten Quintessenz. Ich gehe davon aus, dass sich Quintus dieser Kräfte bediente, um in die Wand zu gelangen.«

»Quintus? Quintessenz? Sie meinen, das ist kein Zufall?«, fragte Jack ihn.

Pater Bell zuckte die Achseln. »Der fünfte Sohn und das fünfte Element? Sie könnten recht haben. Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass sich mein Wissen über Erdmagie und ihre Möglichkeiten in Grenzen hält. Ich war schließlich römisch-katholischer Priester, kein Druide.«

Pater Bell sah sich um. »Was für ein Höllenloch!«, bemerkte er. »Wie oft saß ich mit Quintus Miller hier und versuchte, vernünftig mit ihm zu reden und zu seinem gesunden Verstand durchzudringen. Doch daran scheiterte sogar Elmer Estergomy.«

»Und trotzdem sollten wir ihn vielleicht rufen«, schlug Jack vor.

Pater Bell erlaubte sich ein schwaches Lächeln. »Ich glaube nicht, dass wir ihn rufen müssen, Mr. Reed. Er weiß längst, dass wir hier sind, stimmt’s, Quintus?«

Der Regen prasselte hinter dem mit Staub bedeckten, im Laufe der Jahre wackelig gewordenen Schutznetz aus Stahl gegen das Fenster. Die Zeit hatte das Gebäude genauso bestraft wie seine Bewohner. Doch Quintus Miller drang mehr als je zuvor auf Freiheit und Rache, während Pater Bell ausgemergelt und zerbrechlich wirkte. Er wollte nichts weiter als seine Ruhe, seine Thriller vom Buchclub und sein langweiliges Zimmer in grellem Orange mit den schlichten Möbeln aus Kiefernholz. Selbst 60 Jahre voller Enttäuschungen und Langeweile hielt er für verlockender als 60 Sekunden Höllenqualen.

Es kam keine Antwort. Jack lauschte, doch diesmal rauschte kein Ssssschhhhh durch die Wand, kein verräterisches Schleppen menschlicher Körper durch Stein oder Zement.

»Vielleicht sollten wir es besser im Keller versuchen«, schlug Jack vor, obwohl er am liebsten einen riesigen Bogen um diesen schrecklichen Ort gemacht hätte. »Dort haben sie versucht, mich in den Boden hineinzuziehen, und da unten habe ich auch Randys Spielzeug entdeckt.«

Pater Bell bedeutete ihm mit einer Handbewegung, sich kurz zu gedulden. »Moment noch. Ich fühle etwas. Da bin ich mir absolut sicher.«

Jack wartete und lauschte. »Ich weiß nicht recht, Pater. Ich höre nichts.«

Einige Momente verstrichen in absoluter Stille. Nur ein leises Knistern war zu hören. So würde man es wohl auch auf einem verlassenen Platz mitten in der Nacht wahrnehmen, über den der Wind weggeworfene Zeitungen wehte. Der Regen und das nervenaufreibende Klappern einer Tür im Erdgeschoss komplettierten die Geräuschkulisse.

Pater Bell näherte sich dem auf die Wand gekritzelten Hexagramm. »Das ist der Eingang zur Unterwelt«, erklärte er. »Ein Portal, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das Hexagramm ist der Zugang zum Labyrinth, das einen an die Stelle führt, an der sich die Leylinien kreuzen. Von dort, mein Freund, können Sie überall hingelangen.«

Er legte die Hand auf das Symbol und untersuchte es mit konzentrierter Miene. »Im 15. Jahrhundert waren Okkultisten ziemlich pragmatisch, was Reisen von einem Element zum anderen betraf. Sie betrachteten die Elemente lediglich als eine Art Leiter, über die man von der steinernen Unterwelt ganz unten bis zum Himmelreich ganz oben kletterte. Waren alle Bedingungen erfüllt, konnte die menschliche Seele in all diesen Elementen existieren, so wie Fische überall in den Weltmeeren herumschwimmen.«

Jack sah ihn beunruhigt an. »Was mich interessiert, ist, wie Quintus Miller und der Rest der Patienten in die Wand gelangt sind. Sie behaupten, das wäre ein Portal. Aber wie öffnet man es? Man kann ja schließlich nicht einfach in massiven Stein hineinspazieren!«

Pater Bell ließ seine Hände immer noch auf der Zeichnung auf dem Gips ruhen. »Es wäre nicht das erste Mal. Sie kennen sicher die uralte Legende von Theseus, der ein Labyrinth auf Kreta betritt, um dem Minotaurus entgegenzutreten. Dann gibt es natürlich auch deutlich jüngere Schilderungen. Denken Sie etwa an den Rattenfänger von Hameln, der alle Kinder der Stadt mitten in einen Berg hineinführte.«

»Ja, aber wie funktioniert es?«

»Es gibt Rituale für den Eintritt in die Unterwelt, genau wie es Rituale gibt, um in den Himmel zu gelangen. Im Grunde ist das kein großer Unterschied. Im Kirchenschiff der Kathedrale im französischen Chartres befindet sich ein Irrgarten, den man durchlaufen kann. Die Bewegungen, die man dabei absolviert, sind ein ritueller Tanz und zugleich Teil einer Prozedur, mit der man sich in einen Zustand göttlicher Spiritualität versetzt.«

Jack schlug mit der Faust gegen die Wand. »Aber das ist massiver Stein, verdammt noch mal! Ziegel sind wohl kaum besonders spirituell. Kein Geisteszustand, sondern nichts weiter als gebrannter Lehm!«

»Wenn Quintus Miller es geschafft hat, schaffen wir es auch«, beharrte Pater Bell. »Wir sollten in Elmer Estergomys Bibliothek nachsehen. Wahrscheinlich finden wir dort einen Hinweis über das notwendige Ritual.«

Jack trat zurück. Er fragte sich, ob es wirklich so eine gute Idee gewesen war, den Geistlichen mit nach The Oaks zu bringen. Obwohl es in der Wand knisterte und kratzte und sich das ganze Gebäude in ständiger Bewegung zu befinden schien, hielten sich Quintus Miller und seine Anhänger gut versteckt. Von Randy fehlte weiterhin jede Spur und weder Lester noch sonst jemand schien ihm helfen zu wollen, seinen Sohn zurückzubekommen.

»Lester!«, brüllte er noch einmal. »Lester, ich habe euch den Priester gebracht!«

Wieder kam keine Antwort. Jack fühlte, wie sich kalte Verzweiflung in seinem ganzen Körper breitmachte.

»Lester!«, rief er erneut. »Lester, kannst du mich hören, verdammt noch mal? Du hast mir versprochen, dass ihr mir meinen Sohn zurückgebt!«

Fast unmittelbar nach seinem Rufen beulte sich die Wand in der Mitte des Hexagramms aus. Sie nahm die Form eines menschlichen Gesichts an. Das Gesicht eines Jungen – Randys Gesicht. Jack starrte es regungslos an. Er wusste nicht, ob er entsetzt oder erfreut sein sollte. Vielleicht hielt Lester ja doch Wort und ließ Randy gehen. Doch die große Frage war: Was verlangte er dafür als Gegenleistung?

Randys Gesicht, blass wie die Wand, öffnete die ebenfalls weißen Augen.

Daddy? Mir gefällt es hier nicht. Bitte hilf mir! Es klang wie eine ausgeleierte Kassettenaufnahme von Randys Stimme.

Jack trat vor, doch Pater Bell hielt ihn zurück.

»Nicht, Mr. Reed – noch nicht. Es könnte sich um eine Täuschung handeln. Quintus war schon immer ausgesprochen hinterhältig.«

Daddy!, flehte Randy. Du musst mir helfen! Bitte, Daddy, hilf mir!

»Was soll ich tun, Raumflieger?«, erkundigte sich Jack. ›Raumflieger‹ war ein Kosename, den Jack seinem Sohn verpasst hatte, als der noch ganz klein war und sich mit Vorliebe und unter lautem Kichern von seinem Vater durch die Luft werfen ließ.

Daddy, sie wollen frei sein!

Pater Bell packte Jacks Arm noch fester. »Nein!«, keuchte er. »Sie dürfen sie nicht freilassen! Das wäre absoluter Irrsinn! Sie würden morden und vergewaltigen! Sie haben ja keine Ahnung! Diese Geisteskranken sind inzwischen keine Menschen mehr!«

Bitte, Daddy!, flehte Randys maskenhaftes Gesicht.

Jack wandte sich an den Pater. »Hören Sie mal zu. Sie behaupten also, dass sie außer Rand und Band geraten, wenn wir sie freilassen. Aber was sollen sie denn großartig anstellen? Sie sind geistig zurückgeblieben. Sie sind seit über 60 Jahren hier gefangen. Essie Estergomy hat uns erzählt, dass einige auch körperlich behindert sind. Und die Hälfte von ihnen ist splitternackt. Was können sie also tun? Wenn sie flüchten, werden sie ganz schnell von der Polizei aufgegriffen. Besonders, wenn wir die Beamten darauf vorbereiten.«

Pater Bell wollte Jacks Ärmel immer noch nicht loslassen.

»Mr. Reed, Sie haben keine Vorstellung von ihrer Stärke und ihrer Bösartigkeit. Was glauben Sie denn, warum man sie damals nach The Oaks gebracht hat? Haben Sie das Metallgitter an den Treppenfenstern gesehen? Sind Ihnen die Beulen darin aufgefallen? Im einen Moment lächelten, lachten oder unterhielten sie sich damals miteinander – eine Sekunde später warf sich dann einer von ihnen gegen das Netz und kugelte die Treppe herunter, schrie und zuckte mit Schaum vor dem Mund.«

Jack deutete mit dem Kopf auf Randys Gesicht in der Wand. »Das ist mein Junge, Pater Bell«, erklärte er mit müder, vor lauter Emotionen ganz brüchiger Stimme. »Das ist mein Sohn.«

»Ich weiß, Mr. Reed, und ich kann mir gut vorstellen, wie Sie sich fühlen. Aber wir müssen einen anderen Weg finden, um Randy zu befreien. Wir dürfen nicht das Risiko eingehen, Quintus Miller auf freien Fuß zu setzen.«

»Sie meinen, Sie wollen das Risiko nicht eingehen.«

Pater Bells Nasenflügel blähten sich. »Na gut, wenn Sie es so ausdrücken möchten: Ich möchte das Risiko nicht eingehen. Aber was viel wichtiger ist: Ich werde keinerlei Verantwortung übernehmen.«

»Hab ich Sie darum gebeten?«, konterte Jack.

Daddy!, flüsterte Randy. Bitte, Daddy, sie werden mir wehtun, wenn du ihnen nicht hilfst.

Jack befreite sich abrupt aus Pater Bells Griff und lief auf die Wand zu. »Hier, Randy – nimm meine Hände. Kannst du das? Kannst du die Hände hinausstrecken? Komm, Raumflieger, ich zieh dich raus!«

»Nein!«, schrie Pater Bell und kam ihm hinterher. Er warf sich mit voller Wucht mit seinen knochigen Schultern gegen Jack, um ihn von der Wand wegzustoßen. Doch da schnellten zwei schneeweiße Hände hervor, die viel zu groß waren, um Randy zu gehören. Eine davon ergriff Pater Bell am rechten Handgelenk. Der alte Mann schrie vor Angst und versuchte, seinen Arm loszureißen, doch sein Gegner war viel zu stark.

Jack stolperte, fand im letzten Moment das Gleichgewicht wieder und schnellte sofort vor, um Pater Bell zu helfen. Doch da wandte ihm Randy das Gesicht zu und fletschte seine Zähne.

Hau ab, du blöder Scheißkerl! Musst du denn deine Nase wirklich in alles hineinstecken!, tobte eine bedrohliche Stimme aus dem Zement.

Jack schrak zurück. »Randy?«, rief er. »Randy?«

Doch er musste zusehen, wie Randys Gesicht urplötzlich wie trockene Kreide in sich zusammenfiel und in der Mitte auseinanderbrach. Hinter ihm erschien das Gesicht eines Mannes. Es war genauso weiß und maskenhaft, doch mit einer engen Stirn und zwei Augen, die sich fast berührten. Die Lippen waren zurückgezogen und gaben den Blick auf lange Zähne in geschwundenem Zahnfleisch frei.

»Holman«, flüsterte Pater Bell. »Gordon Holman!«

Genau der, Pater Bell, krähte die Fratze ihm entgegen. Sie besitzen wirklich ein großartiges Gedächtnis für Gesichter!

Jack trat vorsichtig hinter Pater Bell und wartete auf eine Gelegenheit, Holmans Arm zu packen, um den ehemaligen Geistlichen zu befreien. Doch der schrie hysterisch und schrill: »Nein, nicht! Bleiben Sie weg! Das ist viel zu gefährlich!«

Ach, kommen Sie, Pater Bell. Wir sind alle gefährlich!

»Gordon, lass mich los!«, befahl Pater Bell. »Ich hab mich um dich gekümmert, Gordon, weißt du das nicht mehr? Ich hab dir Kaugummi mitgebracht. Und die ganzen Fernsehzeitschriften.«

Holman lächelte bei der Erinnerung. Sie waren ein guter Priester. Wir haben Sie alle gemocht, ganz ehrlich. Bis kurz vor dem Ende! Wir haben Ihnen vertraut.

»Komm schon, lass mich gehen«, appellierte Pater Bell. »Sei ein braver Junge. Du tust mir an der Hand weh.«

Doch das schmale, kreideartige Gesicht in der Wand verengte die Augen zu Schlitzen und setzte ein wissendes, überlegenes Lächeln auf. Sie haben gehört, was ich gesagt habe, Pater Bell – bis kurz vor dem Ende. Dann haben Sie uns betrogen und haben uns in diese Falle eingesperrt. In die Falle, Pater Bell! Wir kommen nicht vorwärts, aber wir kommen auch nicht mehr zurück.

Mit Panik in der Stimme verlangte Pater Bell: »Lass mich gehen, Gordon. Das führt doch zu nichts Gutem.«

Das Gesicht brach in wieherndes Gelächter aus. Da haben Sie recht, Pater Bell! Zu gar nichts Gutem!

In diesem Moment griff Jack nach Holmans Arm und versuchte, Pater Bells Handgelenk aus der Umklammerung zu lösen. Doch der gänzlich unmenschliche Arm war hart, eiskalt und voller Muskeln. Jack war bei Weitem nicht stark genug. Kurz darauf hörte Jack unmittelbar über seinem Kopf die panische Stimme von Randy: Daddy! Daddy! Nicht!

Verwirrt und vor Schreck wie erstarrt, trat Jack einen Schritt zurück. Randys Kopf und Schultern ragten aus der Decke. Die Hand eines unsichtbaren Mannes musste ihn am Nacken gepackt und in das Zimmer hineingedrückt haben, als ob sie versuchte, einen Welpen zu ertränken.

»Randy!«, schrie Jack und streckte sich, sprang mehrmals in die Luft, doch die Decke war etwas zu hoch – ihm fehlten einige Zentimeter, um sie berühren zu können.

Daddy! Bitte! Rette mich! Daddy, sie tun mir weh! Daddy, sie werden …

Randy wurde gewaltsam in die Decke zurückgezerrt. Sie schloss sich über ihm wie ein Eimer mit frisch angerührtem Gips. Wütend und verzweifelt drehte sich Jack wieder zu Pater Bell und dem starrenden, weißen Gesicht in der Mitte des Hexagramms um.

»Ihr miesen Schweine! Ihr lasst meinen Jungen gehen, habt ihr mich verstanden? Ich habe euch doch den Priester gebracht, verdammt noch mal. Was wollt ihr denn noch? Lasst ihn sofort gehen!«

Doch die Stimme erwiderte leise und mit einem verschlagenen, hinterhältigen Unterton: Quintus sagt – nur wenn ihr uns rauslasst!

»Ihr wollt raus?«, wollte Jack wissen. »Dann lassen wir euch eben frei! Kommen Sie, Pater Bell! Was für einen Unterschied macht das jetzt schon noch?«

Doch Pater Bell war gänzlich anderer Meinung. »Mr. Reed! Sie sollten noch nicht einmal daran denken, sie gehen zu lassen! Niemals! Nicht in tausend Jahren! Mr. Reed – hören Sie nicht auf das, was er sagt. Ich bitte Sie, Mr. Reed! Auf keinen Fall!«

Mit einer wütenden Geste zeigte Jack auf die Decke. »Haben Sie das eben gesehen? Haben Sie den Jungen gesehen? Das ist mein Sohn! Und was macht es schon für einen Unterschied, ob wir ihnen die Freiheit schenken? Los, verraten Sie’s mir! Und hören Sie auf, mich so anzubrüllen. Ich kann sie sowieso nicht freilassen. Das können nur Sie! Und was tun Sie? Halten mir hier eine verfluchte Moralpredigt, dass es wichtiger ist, irgendeine theoretische ›Rache der Bekloppten‹ zu verhindern. Sie halten das für wichtiger, als meinen Sohn zu retten! Mann, Sie hätten in die Politik gehen sollen, nicht in die Kirche.«

»Mr. Reed«, setzte Pater Bell an. Er versuchte, an Jacks Vernunft zu appellieren, verzog zugleich aber das Gesicht vor lauter Schmerzen. »Nichts ist Theorie, was diese Leute betrifft, schon gar nicht ihre Verrücktheit. Sie schätzen sie völlig falsch ein. Wenn sie erst mal draußen sind, kann man sie weder aufhalten noch unter Kontrolle bekommen. Wenn man ihnen die Möglichkeit gibt, werden sie jeden abschlachten, der sich ihnen in den Weg stellt.«

Oh, aber zuerst werden wir unseren Spaß mit dem Opfer haben, mischte sich Holman ein. Etwa so!

Bei diesen Worten riss er Pater Bells rechten Arm nach hinten und schmetterte den alten Mann gegen die Wand. Pater Bell schrie auf der erbärmliche Schrei eines Menschen, der mit leeren Händen auf die Welt gekommen ist und sie mit leeren Händen wieder verlässt.

Sie haben unsere Flucht vereitelt, Pater Bell, flüsterte Holman. Wir hatten es durch das Labyrinth geschafft, kämpften ums Überleben und gegen die Panik. Keine leichte Übung. Einige der Frauen waren zu diesem Zeitpunkt völlig durchgeknallt! Aber da waren wir. Die Leylinien erstreckten sich vor uns – nördlich, südlich, östlich, westlich; wohin auch immer wir gehen wollten. Einfach wunderbar. Die meisten von uns hatten noch nie so etwas Schönes gesehen. Da standen wir nun, Huren, verrückte Massenmörder und Brandstifter, absolut einig über unsere Zukunft. Freiheit, Licht! Und Quintus Miller, was für ein Teufelskerl! Wir atmeten seinen Zauber ein, nahmen seinen Ruhm in uns auf.

Er schloss die Augen. Momente des Glücks! Momente der Hoffnung! Aber wissen Sie, was dann passierte? Schotten dicht! Eine Leylinie nach der anderen wurde abgeriegelt, von der Dunkelheit verschluckt – Dunkelheit, die mit tosendem Donnergrollen in die Erdoberfläche eindrang. Das waren Sie, Pater Bell! Das waren Sie mit Ihren verdammten Beschwörungsformeln und Ihrem Weihwasser! Und das war das Letzte, was wir von der Außenwelt zu sehen bekamen. Sie haben uns aufgehalten, Pater Bell, Sie haben uns in eine Falle gelockt! Aber nun wollen wir raus, mein Freund! Nun wollen wir raus!

Pater Bell hob den Kopf. Sein Adamsapfel hob und senkte sich langsam.

»Ich kann es nicht tun, Gordon. Ich kann euch nicht gehen lassen.«

Wollen Sie leiden?

»Ich leide seit mehr als 60 Jahren. Ich kann euch nicht freilassen.«

Das Gesicht öffnete die Augen. Unvermittelt schoss eine weitere Hand aus der Wand und schnappte nach Pater Bells Linker. Er wurde mit Gesicht und Körper gegen den Stein gedrückt, seine Arme überdehnten sich. Er drehte den Kopf zur Seite und starrte Jack schmerzerfüllt und ängstlich an.

»Holman!«, warnte Jack das kreidebleiche Gesicht. »Rühr ihn nicht an! Lass ihn los!«

Er braucht Schmerzen, entgegnete das Gesicht. Das Leid Christi. Quintus hat mich dafür ausgesucht. Ich bin gut darin, anderen Menschen Leid zuzufügen.

Es folgte ein ohrenbetäubender Knall, der Jack entsetzt zurückspringen ließ. Pater Bell schrie – und das in einer so hohen Tonlage, dass Jack sich anfangs nicht sicher war, ob er ihn wirklich gehört hatte. Der rechte Arm des alten Mannes war bis zum Ellbogen in der Wand versunken. Dann folgte ein weiterer Knall und sein linker Arm verschwand in derselben Weise.

Pater Bell brüllte unaufhörlich und versuchte verzweifelt, seine Arme aus der Wand zu befreien. Gordon Holmans Gesicht verschwand kurz, tauchte dann aber auf der anderen Seite des Zimmers wieder auf, direkt neben der Tür.

Die Kreuzigung von Pater Bell, freute sich Holman.

»Lass ihn gehen!«, forderte Jack. »In Gottes Namen, lass ihn gehen!«

In Gottes Namen? Wir tun gar nichts in Gottes Namen. Und warum sollte irgendeiner von uns Mitgefühl für Pater Bell empfinden? Denk mal daran, was er uns angetan hat – er hält uns seit über 60 Jahren hier gefangen.

Jack ging zu dem alten Mann, der wimmerte und am ganzen Körper zitterte. Er versuchte, Pater Bells Arme aus der Wand zu ziehen, doch genau wie Randys Wollpuppe waren sie untrennbar mit der Mauer verschmolzen. Fleisch und Stein waren eins geworden.

»Lass ihn gehen!«, wiederholte Jack an Gordon Holman gewandt.

Es gibt jetzt nur noch eine Möglichkeit, ihn herauszuholen, erklärte Holman. Dazu müsste man ihm die Arme amputieren.

»Er ist 88 Jahre alt!«, protestierte Jack. »Was auch immer er mit 25 getan hat, er ist jetzt ein alter, völlig hilfloser Greis!«

Das stimmt. Genauso hilflos, wie wir es die ganze Zeit waren.

»Oh Gott!« brabbelte Pater Bell. »Oh Gott, es tut weh, oh Gott, es tut so weh.«

»Bist du verrückt?«, brüllte Jack Gordon Holman an.

Holman kicherte. Selbstverständlich bin ich verrückt. Das sind wir hier alle. Was hast du denn in einem Irrenhaus erwartet?

»Lass ihn gehen!«

Wenn er uns gehen lässt, lassen wir ihn gehen.

»Und wenn nicht?«

Dann haben wir immer noch deinen Sohn, wir haben immer noch den kleinen Randy. Wenn Pater Bell uns also nicht ziehen lässt, musst du drei Kardinäle finden, um uns zu befreien, und das dürfte gar nicht so einfach werden. Wenn du dich weigerst, werden wir Randy in etwas verwandeln, was nicht mehr im Entferntesten an einen kleinen Jungen erinnert.

»Ich bitte dich, ich bitte dich«, wimmerte Pater Bell. Über seine eingefallenen Wangen kullerten Tränen.

Jack lehnte sich dicht neben ihm gegen die Wand. »Pater Bell, Sie müssen sie freilassen. Sie müssen den Bannkreis lösen. Um Himmels willen, Pater Bell, das ist Ihre einzige Chance, hier lebend herauszukommen.«

»Ich kann nicht!«, wimmerte Pater Bell. »Sie haben ja keine Ahnung, was dann passieren wird.«

Wird er uns helfen?, erkundigte sich Gordon Holman. Vielleicht ist noch etwas mehr Überzeugung nötig.

»Kannst du nicht sehen, dass er niemals nachgeben wird?«, wollte Jack wissen.

Oh … ich weiß nicht. Warte mal ab, bis wir seine Hände anzünden. Das können wir tun, weißt du? Alles, was mit den Elementen zusammenhängt. Erde, Wasser, Luft, Feuer. Schau dich mal im nächsten Zimmer um, dann wirst du sehen, wie er für Gott Kerzen anzündet.

Das weiße Gesicht löste sich erneut in Luft auf. Blind vor Wut stapfte Jack durch das Zimmer und hämmerte an der Stelle, wo es eben noch gewesen war, gegen die Wand.

»Er ist ein alter Mann, du Arschloch! Lass ihn gehen!« Sein Zorn war umso größer, weil er Pater Bell gegen seinen Willen und trotz zahlreicher Warnungen hergebracht hatte. Jack fühlte sich für Pater Bells Leiden voll verantwortlich.

»Vater im Himmel steh mir bei!«, flüsterte Pater Bell.

Jack wandte sich ihm zu: »Pater, hören Sie! Sie sind kein Priester mehr. Das haben Sie selbst gesagt. Sie müssen sich also nicht als Sünder fühlen, wenn Sie diese Menschen ziehen lassen! Das ist nicht mehr Ihre Baustelle! Sobald Sie das tun, sind Sie frei! Wollen Sie hier mit zwei in der Wand vergrabenen Armen jämmerlich krepieren? Wollen Sie das wirklich? Gefällt Ihnen die Vorstellung, als Märtyrer zu enden?«

Pater Bell drehte sich um und starrte Jack an. Da öffnete sich sein Mund zu einem lautlosen Schrei voller Höllenqualen. Er schauderte und schüttelte sich, stieß den Kopf gegen die Wand, konnte sich aber nicht befreien.

»Was ist denn los?«, fragte Jack voller Entsetzen. »Was tun sie Ihnen an?«

Schau dich mal im nächsten Zimmer um, dann wirst du sehen, wie er für Gott Kerzen anzündet.

Sofort rannte Jack aus Quintus Millers Zimmer zur benachbarten Tür. Sie war verschlossen. Verzweifelt rüttelte er am Griff, doch nichts tat sich.

Pater Bell jammerte: »Oh Gott, oh Gott, steh mir bei!«

Jack hob den Messingdeckel, der den Türspion bedeckte. Was er sah, ließ ihm die Haare zu Berge stehen und ihn würgte es. Pater Bells Hände ragten aus der Wand zu Quintus Millers Zimmer, als ob er an einem Pranger stünde. Sämtliche seiner Fingerspitzen brannten. Und obwohl Pater Bell hektisch damit herumfuchtelte, als ob er hoffte, dadurch die Flammen zu löschen, war Jack doch klar, dass das Feuer viel zu heiß, viel zu heftig war.

Mit aller Kraft rüttelte er so lange an der Tür, bis er den Rahmen knacken hörte. Doch die Zarge war viel zu robust und gab nicht nach. Man hatte sie konstruiert, um geistesgestörte Kriminelle ein Leben lang einzusperren. Selbst ein Mann in höchster Verzweiflung wäre daran gescheitert.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als zuzusehen, wie sich das Fleisch an Pater Bells Fingerspitzen rötete, Blasen schlug und dann schwarz wurde. Seine Fingernägel kringelten sich wie angesengte Zwiebelschalen.

Schon jetzt traten bei jeder verzweifelten Bewegung Pater Bells Fingerknochen aus der Haut. Wenn das Feuer so weiterloderte, würde er in weniger als einer Minute gar keine Hände mehr haben.

»Ich mach’s!«, schrie Pater Bell. »Gordon! Gordon! Aaaahhhhhhhh, Gordon! Gordon, ich mach’s! Aaaaahhhhh! Gordon! Bitte, Gordon, ich tue es! Ich tue es ja!«

Sofort erstickte das Feuer, obwohl Pater Bells geschwärzte Finger noch immer schwelten wie Holzkohle und eine dichte Rauchwolke in der Luft hing. Jack ging wieder in Quintus Millers Zimmer zurück und sah, dass Pater Bell vor Schmerzen und Angst zitterte. Blut troff ihm aus den Mundwinkeln, weil er sich seine Zunge vor lauter Panik halb durchgebissen hatte. Die rote Flüssigkeit rann an der vor Alter labbrigen Haut herunter.

Jack legte einen Arm um Pater Bells Schultern. Er fühlte sich hilflos, wütend und verspürte massive Übelkeit. Pater Bells Augen waren glasig. Der Schmerz in seinen Händen und Armen schien so heftig, dass er immer wieder kurz das Bewusstsein verlor.

In einer Ecke des Zimmers kochte und blubberte der Gips wie heißer Schlamm. Der Umriss eines Mannes erschien in einer Ecke. Ein kleiner, dünner Mann, bis auf einen Schal um den Hals völlig nackt. Er betrachtete Pater Bell aus seinen weißen Gipsaugen. Auf seiner Miene zeichnete sich eine merkwürdige, irrwitzige Art von Mitleid ab.

Pater Bell keuchte. »Die Schmerzen – die Schmerzen, ich kann sie nicht länger ertragen.«

Jack wandte sich an die nackte Gestalt in der Ecke.

»Komm schon, bei Jesus und allen Heiligen, lass ihn aus der Wand raus.«

Jesus litt mehr, erklärte die Gestalt mit dem Schal, ohne den Blick von Pater Bell abzuwenden. Zumindest ist es das, was ihr Heiden einem immer wieder weismachen wollt.

Jack atmete tief durch. »Dann eben um der Menschlichkeit willen, lass ihn gehen.«

Wenn wir gehen, geht er auch. So lautet die Vereinbarung.

Jack hielt Pater Bell fest. »Pater Bell? Können Sie mich hören? Nicken Sie einfach, falls ja. Sie müssen den Bann jetzt lösen. Sie müssen die Beschwörungsformel sprechen.«

Pater Bell nickte. Dann trat eine längere Pause ein, in der er seine blutleeren Lippen befeuchtete, anschließend flüsterte er:

»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes … Ich erkläre hiermit, dass dieser Ort, den ich geweiht und beschützt habe …«

Er zögerte und leckte sich über die Lippen, lehnte den Kopf an die Wand. »Ich kann es nicht tun«, sagte er. »Ich darf es nicht.«

Willst du noch mal das Feuer spüren?, erkundigte sich die Gestalt in der Ecke. Willst du, dass wir sie dir diesmal bis hinauf zum Handgelenk verbrennen?

»Pater Bell«, bedrängte ihn Jack, während er ihn noch fester packte, seine knochigen Schultern unter dem Mantel spürte. »Pater Bell, Sie müssen es tun. Es gibt keine andere Möglichkeit.«

Pater Bell nahm einen zittrigen Atemzug. Dann fuhr er fort. »Dieser Ort, den ich gegen die dunklen und teuflischen Mächte geweiht und vor denen ich ihn beschützt habe … möge hiermit entweiht werden und wieder den natürlichen Zustand der Schöpfung annehmen …«

Als er die Worte sprach, konnte Jack ein Schieben und Scharren im Haus spüren, als ob mehrere Tausend Kakerlaken in den Wänden aufgescheucht wurden. Die Gestalt mit dem Schal lächelte langsam und triumphierend.

»… und er möge vom Schutz seiner heiligen Vertreter entbunden werden …«

Das Schieben und Scharren wurde lauter. Wie das Geräusch einer großen, schweigenden Menschenmenge, die sich einem einzigen Ausgang nähert. Dann noch intensiver, überall um sie herum. Sssssschhhhh – sssssschhhhhh – sssssschhhhhh. Ein penetranter Laut wie von einem Betonmischer, der menschliche Moleküle aufwirbelte, die sich schleppend durch unnachgiebigen Stein bewegten. Die jahrzehntelang eingesperrten Insassen von The Oaks machten sich durch das Wandlabyrinth auf den Weg zurück zu dem uralten und schrecklichen Ort, an dem die mystischen Leylinien sich vereinten und alle vier Elemente zu einer Quintessenz verschmolzen.

»… für immer und ewig …«

Pater Bell beendete seine Rezitation. Sein Gesicht war feucht von Tränen und Schweiß. »Das war’s«, brachte er mühsam hervor. »Das war alles.« Doch kaum hatte er das gesagt, hörte das Schlurfen im Gebäude unerwartet auf. Jack trat einen Schritt von Pater Bell weg und lauschte mit erhobenem Kopf.

»Was ist?«, fragte er den gipsweißen Mann in der Ecke. »Warum ist es so still geworden?«

Wir sitzen immer noch in der Falle. Die Leylinien sind noch nicht geöffnet.

»Pater Bell?«, sagte Jack, doch dieser stöhnte lediglich.

Die Entweihung ist noch nicht vollendet, verkündete die Stimme in der Wand.

»Was meinst du damit? Er hat die Formel doch vollständig gesprochen, oder etwa nicht?«

Die Brachlandlinien sind noch nicht offen, beharrte die Gestalt. Wir sind nach wie vor Gefangene.

»Pater Bell?«, wiederholte Jack. »Pater Bell – Sie müssen etwas ausgelassen haben. Die Patienten sind immer noch im Haus gefangen. Pater Bell!«

Der Kopf des früheren Geistlichen rollte auf seinen Schultern hin und her. Er war nur halb bei Bewusstsein. Jack schüttelte ihn und wiederholte: »Pater Bell! Kommen Sie zu sich! Sie müssen etwas vergessen haben!«

Pater Bell starrte Jack aus trüben Augen an. »Ich muss – mich bekreuzigen.«

Jack wandte sich wieder an die Gestalt mit dem Schal. »Ihr müsst seine Hände freigeben! Er muss sich bekreuzigen, sonst werdet ihr niemals entkommen!«

Er muss sich bekreuzigen?

»So ist es, du hast schon richtig verstanden. Er muss das Zeichen des Kreuzes in die Luft machen, kapiert? Mit seiner Hand, du Dummbatz. Sonst Zauber nix wirke-wirke.«

Die Gestalt öffnete und schloss ihre puderweißen Augen wie eine Wüstenechse. Dann wölbte sich die Wand in der Zimmerecke und der Mann verschwand. Wahrscheinlich wollte er sich mit Quintus Miller beratschlagen, vermutete Jack, als er ihn mit einem eiligen Ssssschhhh-Geräusch durch das Mauerwerk rauschen hörte.

Jack wartete und stützte Pater Bells schlaffen Körper, so gut er konnte. Auch er war am Ende seiner Kräfte, sowohl geistig als auch körperlich. Ob es ihm wirklich gelingen konnte, diesen Albtraum zu beenden? Und was, wenn nicht? Würde er mit der Schuld leben können? Wie sehr er sich doch wünschte, Pater Bell aus dieser Wand herauszubekommen und Randy zu retten!

»Hilda?«, fragte Pater Bell im Schockzustand. »Bist du es, meine liebe Hilda?«

»Es ist alles gut«, versuchte Jack ihn zu beruhigen. »Hilda kommt gleich.«

Jack wartete fast fünf Minuten. Pater Bell mochte ausgemergelt sein, aber er besaß große, schwere Knochen, was dazu führte, dass Jacks Rücken aufgrund der Anstrengung, den alten Mann zu stützen, allmählich zu schmerzen begann.

»Herrgott noch mal!«, schrie er in Richtung Wand. »Lasst ihr ihn nun frei oder nicht?«

Er erhielt seine Antwort augenblicklich, wenn auch nicht wie erwartet.

Mit einem malmenden Geräusch, das an einen Fleischwolf erinnerte, wurden Pater Bells Arme dort abgeschnitten, wo sie die Wand berührten. Sein Körper sackte zu Boden – Jack schaffe es nicht, ihn rechtzeitig aufzufangen. Blut strömte am Ellenbogen aus dem Körper des alten Mannes. Jack sprang zurück, aber er war schon über und über mit klebrigem Rot besudelt. In dieser Sekunde schossen zwei blasse Hände so schnell wie Klapperschlangen aus der Wand, ergriffen Pater Bells blutenden rechten Armstumpf und bewegten ihn in einer höhnischen Parodie der Bekreuzigung in sämtliche Richtungen. Domine sancte, pater omnipotens, aeterne Deus.

Blut spritzte durch das Zimmer. Für einen Augenblick hing das blutige Symbol, das Pater Bell mit seinem verstümmelten Ellenbogen gezeichnet hatte, in der Luft wie bei einem Gartenschlauch, der statt mit Wasser mit geronnenem Blut eine Acht in die Luft malte. Dann war alles rot – der Boden, die Wände, die Decke – und Pater Bell rollte ohne einen Laut durch das Zimmer, während seine beschädigten Arme steif vor seinem Körper herunterbaumelten. Das Geräusch klang hohl und trommelnd.

Als er die Tür erreichte, war er bereits tot.

Jack stand da und hielt sprachlos vor Schock seine eigenen blutigen Hände von sich gestreckt.

»Herrgott im Himmel, was habe ich nur getan?«, hörte er sich selbst sagen, doch der Stress hatte ihn fast taub gemacht.

Er kniete sich neben Pater Bells reglosen Körper. Der ehemalige Priester lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden. Seine Augen standen offen – sie starrten ins Nichts. Jack hatte nicht einmal die Nerven, ihm die Lider zu schließen. Allmächtiger Gott, er war noch warm!

Jack sah sich im Zimmer um. Blut lief die Wände hinunter und klatschte vernehmlich auf den Boden. Die Luft roch nach einem gerade eingetretenen Tod, wie in einem Schlachthaus.

»Ihr habt versprochen, mir meinen Sohn zurückzugeben!«, sagte er ohne große Hoffnung.

Es kam keine Antwort. Nur der Regen und das langsame, zähflüssige Tropfen von Pater Bells Blut waren zu hören. Jack stand auf und atmete ein paarmal tief durch. Zum ersten Mal, seit er der grau-weißen Gestalt in das Tal nach The Oaks gefolgt war, wurde ihm bewusst, dass man ihn zum Narren hielt. Quintus Miller hatte ihn hergelockt und er hatte ihn indirekt auch dazu getrieben, zu Olive Estergomy zu gehen, die ihn dann auf Pater Bells Spur ansetzte.

An diesem allerersten Tag, als ihm die grau-weiße Gestalt vors Auto gelaufen war, musste Quintus Miller irgendwie gespürt haben, dass er seines bisherigen Lebens überdrüssig war, und hatte ihn deshalb an diesen Ort gelockt. Den Rest erledigten dann Angst, Schmeichelei, Erpressung und Gewalt. Das war Quintus Millers Art. So überzeugend konnte nur ein wahrer Verrückter sein!

Jack schrie die kahlen Wände an: »Ich will meinen Sohn zurück. Hört ihr mich, ihr verdammten Irren? Ich will meinen Sohn zurück! Ich will ihn zurück! Ihr habt es versprochen! Gebt ihn mir wieder!«

Es folgte ein lang gezogenes Schweigen. Dann dehnte sich die Wand aus und die Hälfte eines Frauenkörpers mit langem, gelocktem Haar erschien im Profil. Ihre Augen waren geschlossen und blieben es auch.

Quintus wird sein Versprechen halten. Das tut er immer. Ihre Stimme klang wie eine kleine Glocke, die durch den Nebel eines Sonntagmorgens drang.

»Ich will meinen Sohn jetzt!«, erklärte Jack.

Quintus wird dir dein Kind zurückgeben, sobald er frei ist.

»Quintus ist schon frei. Ihr seid alle frei. Los, öffne deine Augen! Schau dir die Leiche hier an! Das ist ein Mann, ein unschuldiger Mann! Ihr habt einen unschuldigen Mann gefoltert und getötet!«

Die Stimme der Frau klang kalt, als sie erklärte: Pater Bell war niemals unschuldig. Du hättest sehen müssen, was er einigen der Patientinnen angetan hat. Besonders den jüngeren. Sie waren erst zwölf oder dreizehn Jahre alt und konnten sich noch nicht wehren. Es gibt keinen Grund, um Pater Bell zu trauern.

»Hör mir mal gut zu«, echauffierte sich Jack. »Mir ist scheißegal, was 1926 vorgefallen ist. Quintus Miller interessiert mich einen feuchten Kehricht und für dich gilt das Gleiche. Ich will meinen Sohn zurück, mehr nicht. Ich will ihn hier bei mir haben, und zwar sofort. So lautete die Abmachung. Verstanden? Das war die verdammte Abmachung!«

Die junge Frau drehte ihren Kopf in Jacks Richtung, aber sie hielt die Augen weiter geschlossen. Sie wäre wunderschön gewesen, hätte ihre Stirn nicht ganz so weit vorgestanden. Und etwas an ihrem Mund kam ihm seltsam vor. Ihr Unterkiefer hing schlaff herab.

Quintus wird dir dein Kind zurückgeben, sobald er frei ist.

»Ich hab’s dir doch schon gesagt, verdammte Axt! Er ist bereits frei!«

Die junge Frau lächelte humorlos. Er ist nicht mehr an dieses Gebäude gebunden, das stimmt. Doch er kann sich noch nicht von der Erde lösen.

»Das verstehe ich nicht.«

Es braucht ein besonderes Opfer, um seine irdischen Fesseln zu lösen.

»Ach ja? Willst du damit etwa andeuten, dass er zwar durch die Wände und den Untergrund aus The Oaks entkommen kann, hinterher aber trotzdem noch im Boden festhängt?«

Ein spezielles Opfer ist notwendig, erklärte die junge Frau ihm. Nur so kann die Schuld beglichen werden.

Jack versuchte, die Augen von Pater Bell abzuwenden. Er bemerkte, dass dessen Blut noch immer an seinen Schuhsohlen klebte. Leise sagte er: »Ich will, dass du Quintus Miller sofort eine Nachricht von mir überbringst, verstanden? Entweder lässt er meinen Sohn gehen, und zwar sofort, oder ich werde dafür sorgen, dass ihm mehr Leid widerfährt als jemals zuvor in seinem Leben. Und damit eins klar ist: Ich bin kein freigeistiger Psychiater wie Elmer Estergomy und auch kein gutherziger Padre wie Pater Bell. Ich empfinde überhaupt kein Mitleid für Quintus Miller oder für dich – nicht die Bohne. Ich werde ihm kräftig Feuer unterm Arsch machen.«

Jack hielt inne und atmete tief durch. Dann erkundigte er sich: »Was meinst du übrigens mit speziellem Opfer?«

Schulden müssen beglichen werden, Jack. Nichts ist umsonst.

»Wovon redest du? Was für ein Opfer?«, schrie er sie an.

Ein Blutopfer. Was denn sonst? 800 Leben, eins für jeden Monat unserer Gefangenschaft.

»Was faselst du da? Das ergibt keinen Sinn!«

800 Leben müssen geopfert werden, Jack. Für jedes Leben, das aus der Erde zurückkehrt, erlöschen im Gegenzug 800 andere.

Jack stand da und starrte sie an, die Hände in die Hüfte gestemmt. Er war vor Ungläubigkeit wie gelähmt. »800 Menschen müssen getötet werden? 800 Opfer für jeden Patienten, der aus der Erde herauskommen will?«

Das weiße Gesicht nickte. 800 Leben für jedes unserer Leben.

»Aber das sind – Tausende von Menschen! Ihr könnt nicht einfach Tausende Menschen töten!«

Die Götter werden uns zu keinem geringeren Preis freigeben.

Jack hielt sich die Hand vor den Mund. Er begann allmählich zu verstehen, warum Pater Bell so verzweifelt versucht hatte, Quintus Miller nicht aus seinem Gefängnis zu entlassen.

800 für jeden von uns, beschwor die junge Frau ihn. Das ist nicht zu viel verlangt.

»Also wird Quintus Miller meinen Sohn nicht ziehen lassen, ehe er 800 Menschen umgebracht hat und sich damit aus der Erde befreien kann?«

Quintus Miller ist 8000 gewöhnliche Sterbliche wert. Quintus Miller ist so viel wert wie alles Leben auf der Welt.

Jack hatte sich noch nie so machtlos gefühlt wie in diesem Moment. »Was muss ich tun?«, wollte er von der jungen Frau wissen. »Darauf warten, dass Tausende Unschuldiger sterben? Und was passiert dann?«

Du hast einen Deal abgeschlossen, Jack. Ein Deal ist ein Deal. Die Freiheit deines Sohnes für die Freiheit von Quintus Miller.

»Aber Tausende Menschen, Gott im Himmel …«

Das war die Vereinbarung, Jack. Du hast dich darauf eingelassen. Damit musst du jetzt leben.

Jack eilte die Stufen hinab und stürzte durch die Halle in die Nacht. Blitze zuckten am Horizont in Richtung Baraboo und Mirror Lake auf. Er verließ The Oaks durch das Gewächshaus und rannte über den Kiesweg bis zur Vorderseite des Hauses. Als er um die Ecke des Gebäudes bog, erschütterte ein Donnerschlag sein Trommelfell und der Regen schoss in solchen Sturzbächen aus den Wolken, dass er sich unter dem Dachvorsprung des Küchenfensters Schutz suchte.

Jack stand da und schnaufte, während die Tropfen auf ihn herunterprasselten. Er betete darum, dass es sich lediglich um einen schrecklichen Albtraum handelte. Du wirst gleich aufwachen, Jack, zu Hause in deinem Bett. Maggie hat sich an dich gekuschelt und die Sonne dringt durch die rosafarbenen Schlafzimmervorhänge hinein. Du kannst das blecherne Geräusch des Fernsehers hören, den Randy im Wohnzimmer ganz leise eingeschaltet hat, um sich eine dieser Zeichentrickserien im Morgenprogramm anzuschauen. Speedy-bee, Speedy-bo, die schnellste Maus von Mexiko-o-hoo!

Er wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Sein Kombi stand am Ende der Allee. Sobald der Regen ein wenig nachließ, würde er schnell hinüberlaufen. Jack wurde das Gefühl nicht los, dass es seit dem Tag seiner Geburt ununterbrochen geregnet hatte. Er konnte sich nicht mehr an Sonnenschein oder Schnee erinnern. Nur an seinen Vater, der sich zu ihm beugte und ihm die Hand wie eine Pranke aufs Knie legte, während der Regen draußen auf den See klatschte. Und sein Vater sagte: »Wenn du nichts zu sagen hast – dann sag nichts. Das ist mein Motto.«

Jack fand später heraus, dass jemand namens Charles Colton genau das Gleiche gesagt hatte, nur etwa zwei Jahrhunderte früher. In diesem Moment verblasste die Erinnerung an seinen alten Herrn wie ein zu lange belichtetes Foto.

Er streckte eine Hand in den Regen. Da kam eine knochige Hand aus der Dunkelheit und hielt ihn am Handgelenk fest. »Wuaah!«, schrie er erschrocken auf und prallte schmerzhaft gegen die Mauer des Hauses.

Eine Taschenlampe blendete ihn. Dann erschien ein Gesicht. Es gehörte zu einer erschrockenen alten Dame, die eine Mütze wie Sherlock Holmes und einen braunkarierten Umhang trug.

»Mr. Reed? Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Es war Olive Estergomy – Essie. Jack hob abwehrend die Hände und sagte zu ihr: »Schon in Ordnung. Schon gut. Sie haben mich überrascht, das ist alles.«

»Mr. Reed, Sie sind ja voller Blut.«

Er blickte an sich hinunter. Sein Mantel war übersät mit Flecken von Pater Bells Blut. Es war inzwischen getrocknet und hatte eine rostige Färbung angenommen, aber es war Blut, daran bestand kein Zweifel.

»Es stammt nicht von mir«, erklärte er, »sondern von Pater Bell. Er ist … nun, es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber er ist tot.«

»Tot« erschien nach den Qualen, die Pater Bell erlitten hatte, wie ein Euphemismus. Das Feuer, die Schmerzen, dann die Amputation seiner Arme.

Essie leuchtete mit der Taschenlampe das Haus an. »Tot?«, fragte sie.

»Es ist alles meine Schuld!«, klärte Jack sie auf. »Er hat mich gewarnt, dass es gefährlich sein würde, aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben.«

Essie zielte mit dem Lichtkegel wieder auf ihn. Sie schien tief in Gedanken versunken. »Mr. Reed, ich konnte nicht schlafen. Also habe ich bei Ihnen im Motel angerufen, aber man sagte mir, Sie seien nicht da. Deshalb bin ich hergekommen, um hier nach dem Rechten zu sehen.«

Jack antwortete: »Bitte begleiten Sie mich zurück zum Auto. Es ist etwas vorgefallen, etwas Schlimmes.«

»Etwas Schlimmes? Was meinen Sie damit?«

Jack erklärte: »Ich habe Pater Bell oben in Green Bay gefunden. Er war kein Priester mehr, doch nach wie vor sprachen ihn alle als Pater an. Er bestätigte meine Theorie, dass die Patienten all diese Jahre in der Wand gefangen waren. Quintus Miller, Lester Franks, Gordon Holman und der ganze Rest. Sie sind durch eine Art Magie dort festgehalten worden. Es ist nicht ganz einfach zu beschreiben. Er sprach von Erdmagie. Etwas, woran die Druiden glaubten.«

Essie Estergomy starrte ihn unter ihrer tropfenden Hutkrempe an.

»Sie haben ihn getötet«, fügte Jack hinzu. Er versuchte, ihr die genaueren Umstände begreiflich zu machen. Berichtete, wie Randys Gesicht in der Wand erschienen war, dann das von Gordon Holman. Dass Pater Bell gepackt, gequält und schließlich verstümmelt worden war. Doch in der kühlen Gewitternacht mitten in Wisconsin, begleitet von Blitzen, die zuckten, und Regen, der auf die Bäume fiel, kamen ihm seine eigenen Worte hohl und unglaubwürdig vor.

Ängstlich erkundigte sich Essie: »Haben Sie die Polizei verständigt?«

Jack sah zur Seite. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre«, antwortete er ausweichend.

»Mr. Reed! Ein Mann ist ermordet worden!«

»Ja«, bestätigte er. Doch wie konnte er ihr offenbaren, dass Tausende weiterer Menschen geopfert werden mussten – 800 unschuldige Leben für jeden einzelnen Patienten, der aus The Oaks geflohen war? Und wie konnte er ihr beichten, dass dieses ganze Massaker allein dazu diente, sie wieder in die wahre Welt zurückzuholen, die Welt aus Luft und Feuer? Gott allein wusste, was sie anstellten, wenn sie ihre Freiheit wiedererlangt hatten.

Also sagte Jack nur: »Ich weiß, dass ich – Na ja, ich weiß, dass ich mich nicht wie andere in meiner Situation verhalte. Aber lassen Sie uns bis morgen warten, ehe wir die Polizei verständigen. Ich muss nachdenken, verstehen Sie? Die Polizei könnte die Lage noch verkomplizieren. Ich muss in Ruhe überlegen, was zu tun ist.«

»Sie steckten wirklich in der Wand? In den Backsteinen?«, hakte Essie nach. Sie leuchtete mit der Taschenlampe auf die Seite des Gebäudes. Der Lichtkegel fiel auf eine der Skulpturen mit ihren geschlossenen Augen.

»Ich glaube, hier draußen sind wir besser aufgehoben«, erklärte Jack ihr. »Sie sind nicht nur gefährlich, sondern auch ausgesprochen wütend. Die lange Gefangenschaft hat sie rachsüchtig gemacht.«

Essie zögerte, aber nur eine Sekunde lang, dann nickte sie. »Mein Auto parkt direkt neben Ihrem.«

Jack hakte sich bei ihr unter und gemeinsam gingen sie mit flottem Schritt durch die Eichenallee. Ihre Schuhe knirschten im Kies.

»Sicher wird uns die Polizei helfen können«, zeigte sich Essie überzeugt. »Wenn die Patienten tatsächlich entkommen sind, werden sie zur Fahndung ausgeschrieben und wieder eingefangen. Ich habe immer noch die Aufnahmeliste meines Vaters mit sämtlichen Fotos.«

»Sie glauben doch nicht ernsthaft, dass die Polizei uns Glauben schenken wird, oder? 137 Irre waren mehr als 60 Jahre lang in der Wand einer ehemaligen psychiatrischen Anstalt eingesperrt und nun sind sie entwischt? Ich höre sie jetzt schon lachen.«

»Aber wir können es ihnen doch sicher beweisen«, wandte Essie ein. »Wir finden bestimmt eine Möglichkeit, um sie zu überzeugen.«

»Was sollen wir ihnen denn zeigen?«, wollte Jack wissen. »Pater Bells Leiche? Und wie werden sie Ihrer Meinung nach darauf reagieren? Sie werden mich sofort hinter Schloss und Riegel sperren, und zwar ohne Chance auf Bewährung, während Quintus Miller und seine durchgedrehten Kumpane da draußen rumlaufen.«

Essie hielt inne und ergriff Jacks Hand. »Sie haben Pater Bell nicht umgebracht, oder? Ich meine … Sie sagen mir doch die Wahrheit?«

Jack sah sie an und versuchte sich an einem Lächeln. »Essie«, bat er, »Sie müssen mir einfach vertrauen.«

Sie hatten schon zwei Drittel des Weges zurückgelegt, als sie eine Gestalt am Gatter stehen sahen. Klein gewachsen und in einem grau-weißen Regenmantel mit Kapuze. Sie hielt die Arme ausgestreckt, als ob sie ihnen den Weg versperren wollte, rührte sich aber nicht vom Fleck und winkte auch nicht. Sie hatte kein Gesicht.

»Das ist ja ein Kind!«, bemerkte Essie ungläubig.

Jack hielt an – und brachte damit auch seine Begleiterin zum Stehen. »Nein, das denke ich nicht«, erwiderte er.

»Aber ja, das ist ein kleines Mädchen … Herrgott, was tut denn ein kleines Mädchen mitten in der Nacht hier draußen?«

»Ich habe sie schon mal gesehen«, erklärte Jack. »Ich habe es schon mal gesehen. Ich weiß nicht genau, worum es sich handelt, aber es muss eine Verbindung zu Quintus Miller geben.«

Essie ließ Jacks Hand los und ging weiter auf das Gatter zu. Die grau-weiße Erscheinung bewegte sich nicht, obwohl ihr Umhang wie eine vom Regen durchtränkte Zeitung im Wind flatterte.

»He, junge Dame!«, rief Essie. Sie beschleunigte ihre Schritte, bremste dann aber plötzlich wieder ab. Unsicher rief sie erneut: »Junge Dame?«

Essie hielt inne und starrte die Gestalt irritiert an. Jack war einige Schritte zurückgeblieben. Essie leuchtete ihr mit der Taschenlampe ins Gesicht. Obwohl die Füße des Mädchens in ihre Richtung zeigten und die Knöpfe auf der Vorderseite ihres Mantels erkennbar waren, fiel der Strahl der Maglite auf die Rückseite der Kapuze. Essie warf Jack einen unsicheren Blick zu. »Ihr Kopf ist falsch herum«, stellte sie fest. »Wie kann ihr Kopf …«

Jack warnte sie: »Seien Sie bloß vorsichtig. Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt ein Kind ist.«

Essie trat einige Schritte näher. »Junge Dame?«, rief sie. »Geht es dir gut, meine Kleine?«

Sie bewegte sich weiter nach vorne, doch dann tauchten zwei nackte Arme aus dem Kiesboden direkt vor ihr auf und umklammerten ihre Knöchel. Sie schrie auf und stürzte zu Boden. Zwei weitere Arme griffen nach ihr. Die Taschenlampe fiel aus der Hand der alten Dame und erlosch.

»Halten Sie durch!«, brüllte Jack und rannte zu ihr herüber. Er trat gegen einen Arm, der sich eilig in die Erde zurückzog. Jack hielt sie an der Hüfte fest und versuchte, sie wieder aufzurichten, doch weitere Hände stießen aus dem Boden und schleiften ihn von Essie weg. Verzweifelt schlug und trat er um sich und schaffte es schließlich, sich zu befreien. Er rollte über das nasse Gras.

Essie schrie vor Schmerzen, als zunächst ein Bein und gleich darauf das zweite unter die Erde gezogen wurden. »Helfen Sie mir! Meine Beine! Oh Gott, so helfen Sie mir doch!«

Zaghaft kam Jack wieder auf die Beine. Doch im gleichen Augenblick konnte er beobachten, wie sich unter dem Kiesweg Furchen bildeten, die sich rasant auf sie zubewegten. Arme tauchten aus dem Boden auf, mindestens fünf oder sechs von ihnen, und stürzten sich begierig und begleitet von einem schleifenden, mahlenden und knirschenden Geräusch auf den sich windenden Körper von Essie.

Indem er den Gliedmaßen auswich, die von allen Seiten versuchten, nach ihm zu greifen, packte er Essie unter den Achseln und hievte sie hoch. Der Widerstand war so gering, dass Jack rückwärts stolperte und sie auf ihn fiel. Sie kreischte laut und fuchtelte panisch mit den Armen, doch sie trat nicht länger um sich. Ihre Beine waren am oberen Ansatz der Schenkel abgetrennt worden. Aus ihren Oberschenkelarterien spritzten dunkle Blutfontänen auf den Boden und auch auf Jack.

Plötzlich rissen noch kräftigere Hände die alte Dame von ihm weg und schleiften sie über den Weg. Jack versuchte, sich aufzurappeln, doch sofort schoss ein weiterer Arm aus dem Boden und umklammerte seinen Hals. Halb würgte die Hand ihn, halb zog sie ihn in den Untergrund.

Er nahm wahr, wie weitere Hände ihn am Bein und an der Kleidung packten.

Sie haben mich! Diesmal haben sie mich! Sie werden mich zermalmen, genau wie Lovelittles Hund, um mich danach wieder auszuspucken.

Jack hörte, wie Essie einen letzten spitzen Schrei ausstieß. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie in den Untergrund gezogen wurde und verschwand. Voller Panik trat er nach den Händen, die versuchten, ihn am Knöchel zu packen. Gleichzeitig griff er nach dem Arm, der sich um seinen Hals gelegt hatte, und zog ihn mit aller Kraft nach unten. Dann biss er zu, so fest er konnte.

Der Arm zuckte und peitschte zurück. Keuchend purzelte Jack aufs Gras, kam stolpernd auf die Füße und rannte wie ein zum Tode Verurteilter auf das Gatter zu. Er hörte, wie der Kies direkt hinter ihm mit einem vernehmlichen Ssssschhhhhh! die Versuche von Quintus Millers Getreuen begleitete, ihn zu erwischen. Ihre Arme ragten wie die Flossen eines Hais aus dem Boden heraus.

Jack quetschte sich durch die Lücke am Rande des Tors. Die Zweige zerkratzten ihm das Gesicht. Er rannte auf sein Auto zu, riss die Tür auf und startete den Motor. Eine Hand schob sich direkt neben dem Fahrersitz aus dem Boden und packte ihn am Fuß. Er rammte ihr das Blech entgegen und spürte, wie sie sich krümmte und ihren Griff lockerte. Fluchend und vor Ekel zitternd, öffnete er die Tür erneut und kickte die Hand nach draußen. Dann trat er das Gaspedal durch. Die Hinterräder des Kombis drehten durch und schlingerten. Dann schoss der Electra nach vorne.

Seine Scheinwerfer tanzten durch den Regen. Vor ihm tauchten Bäume, Böschungen und regennasse Kurven auf. Immer wieder warf er einen Blick in den Rückspiegel, um sicherzugehen, dass ihm niemand folgte. Etwa eine halbe Meile weiter rutschte er in eine tiefe Pfütze hinein. Der Wagen geriet ins Schlingern und wäre beinahe von der Straße abgekommen. Er fuhr an den Randstreifen, stoppte den Wagen und klammerte sich mit ganzer Kraft ans Lenkrad. Wenn doch nur endlich dieses Zittern aufhören würde!

Beruhige dich und versuche, in aller Ruhe nachzudenken. Wenn du in Panik gerätst, wird es niemanden mehr geben, der sich Quintus Miller entgegenstellen kann. Und niemand wird Randy vor seinem grausamen Schicksal bewahren.

Jack schaltete das Radio ein. Sein erster Kontakt mit der heilen Welt an diesem Tag, wenn man es denn so nennen konnte. Eine Frau krähte: »… und all das verdanke ich allein Gott dem Allmächtigen! Gestern noch wäre ich fast an Magenkrebs krepiert und heute schlage ich mir den Bauch schon wieder mit Fleischwurst voll!« Er drehte am Regler, bis er eine Station mit Countrymusik entdeckte. »He got fishing lines strung across the Louisiana River …«

Zehn Minuten später zitterte er zwar immer noch, hatte sich aber halbwegs beruhigt. Jack ließ den Motor wieder an und setzte die Fahrt fort. Er wollte jetzt nur noch nach Hause in sein Bett, um auszuschlafen und danach einen Schlachtplan zu schmieden. Vor lauter Schock konnte er momentan kaum noch einen klaren Gedanken fassen.

»It takes him every bit of a night and a day … to even reach a place where people stay …«

Jack hatte die Kreuzung bei Lodi schon fast erreicht, als eine kleine, grau-weiße Gestalt genau in der Mitte der engen Straße vor ihm auftauchte.

Oh Gott, stieß er ein Stoßgebet aus. Bitte lass es kein Kind sein! Bitte nicht! Er näherte sich der Gestalt mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit. Sie machte keinerlei Anstalten, auszuweichen oder von der Fahrbahn zu verschwinden. Kurz bevor er sie erwischte, dachte er: Vielleicht ist sie taub und hat auch das Licht der Scheinwerfer nicht gesehen? Instinktiv trat er in die Eisen. Die Räder blockierten, die Reifen quietschten und er prallte frontal mit der Gestalt zusammen. Es tat einen ordentlichen Schlag. Die Windschutzscheibe war mit Blut bedeckt. Das Auto kam nach kurzem Schlingern zum Stehen und der Motor wurde abgewürgt.

Auf wackligen Beinen stieg er aus. Auf der Kühlerhaube des Autos lagen tropfende, sehnige, blutige Klumpen und Innereien sowie weitere gelblich glänzende, zermatschte Überreste eines menschlichen Körpers. Sie dampften im schwachen Licht, das von den Scheinwerfern reflektiert wurde. Jack hatte in den letzten zwei Tagen zwar mehr Tote gesehen als je zuvor in seinem Leben, aber das war nun einfach zu viel für ihn. Er hatte fahrlässig ein Kind umgebracht. Er fiel am Straßenrand auf die Knie und beförderte seinen halb verdauten Hummer wieder nach draußen.

Nach ein oder zwei Minuten wischte er sich den Mund und die Augen ab und stand auf. Er musste die Leiche von der Windschutzscheibe herunterbekommen. Im Kofferraum lag ein Pappkarton. Vielleicht konnte er den zu einer primitiven Schaufel umfunktionieren.

Es war also doch ein Kind gewesen und er hatte es überfahren. Es war ein lebendiges Kind gewesen, genau wie Randy.

Jack hob die Heckklappe des Autos an. Im selben Moment konnte er durch das Seitenfenster auf der anderen Seite der Straße einen Schemen erkennen. Etwas Verschwommenes, etwas Grau-Weißes. Stirnrunzelnd ging er um den Kombi herum, um es sich genauer anzusehen.

Die kleine Gestalt stand nicht weit entfernt, schweigend und unverletzt. Er stand da, starrte sie an und wusste instinktiv, dass sie zurückstarrte, obwohl sie kein Gesicht besaß.

Erst als er einen Klumpen rohes Fleisch aus dem Spalt unter seiner Windschutzscheibe geschabt hatte und ein Gewirr aus bernsteinfarbenen Perlen neben den Scheibenwischern entdeckte, wurde ihm klar, wessen entstellte Überreste da quer über sein Auto verteilt lagen.

Es handelte sich um die von Essie, von Olive Estergomy.

Das wiederum bedeutete, dass Quintus Miller und der Rest der Patienten ihn die ganze Zeit unterirdisch verfolgt haben mussten, während er die Straße entlangfuhr und dem Radio lauschte. Und das hieß vermutlich, dass sie in der Lage waren, ihm überallhin zu folgen.

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