E L F

Rund eine Stunde nach Mitternacht erhielt Geoff endlich die Erlaubnis, das Polizeihauptquartier von Milwaukee in der 749 West State Street zu verlassen und nach Madison zurückzukehren. Jack hingegen saß in einer Zelle im ersten Stock direkt neben einem Betrunkenen, der ununterbrochen »Oh baby, baby, it’s a world wide ...« zum Besten gab.

Jack kaute deprimiert auf einem Kaugummi herum, der seinen Geschmack längst verloren hatte, und tigerte unruhig in dem kleinen Raum auf und ab. Er stand körperlich und geistig kurz vor dem Zusammenbruch, aber er durfte jetzt nicht schlafen. Da er kein Intellektueller war, fiel es ihm schwer, sich auf andere Gedanken zu bringen. Einen spontanen Selbstdiskurs über die moralische Relevanz seiner Taten zu beginnen ober über die Religion der Druiden zu philosophieren, das war nicht sein Ding. Er konnte sich genau wie der Besoffene nicht mal fehlerfrei an irgendeinen Songtext erinnern, um sich abzulenken.

Aber er besaß ein für die Menschen in Wisconsin typisches Durchhaltevermögen und sprühte vor Energie, die von eisigen Wintern am Lake Michigan herrührte. Außerdem war er ein Mann, der die Sachen gern selbst anpackte und um sein emotionales Überleben kämpfte.

Er musste das jetzt durchziehen. Und er durfte nicht aufgeben. Jack glaubte nicht an Menschen, die durch Wände gingen. Zumindest fand er, dass Menschen nicht durch Wände gehen sollten. Es handelte sich um uralte Magie, die seit Jahrhunderten in Vergessenheit geraten sein sollte. Er lebte schließlich im 20., fast schon im 21. Jahrhundert.

Abgesehen davon hielt Jack nichts von Menschen, die anderen ihre Kinder wegnahmen und die Eltern vor lauter Sorge fast umbrachten.

»Oh baby, baby, it’s a world wide ...«

»Es heißt nicht ›world wide‹, sondern ›wild world‹!«, fuhr Jack den Sänger an.

»Hä?«, kam die undeutlich gebrabbelte Antwort.

»›It’s a wild world‹ – es geht verdammt stürmisch zu!«

Es folgte eine lange Pause – dann kam die fröhliche Antwort: »Ja, da hast du verdammt recht!«

Jack hockte auf der Bettkante. Seine größte Angst bestand darin, dass Quintus herausfand, wo er gerade steckte, ins Polizeigebäude eindrang und ihn in den Stahlbetonboden der Zelle zog. Außerdem befürchtete er, dass die Konfrontation auf dem Parkplatz dazu geführt hatte, dass Quintus wieder mit Feuereifer ans Werk ging, um die 800 Menschen abzuschlachten, die er brauchte, um wieder in die reale Welt zurückzukehren. Und dass Randy dann als letztes Opfer Awen zum Fraß vorgeworfen wurde.

Jack rieb sich die Augen. Er hatte seinen Anwalt, Maurice Lederman, angerufen, doch der war gerade nicht in der Stadt (sondern in Miami zum Angeln, verdammter Mist!). Laut seiner Frau gab es bis zum nächsten Morgen keine Möglichkeit, mit ihm in Kontakt zu treten. Jack war wegen Missachtung einer gerichtlichen Anordnung offiziell festgenommen worden, weil er Maggie den regelmäßigen Kontakt mit Randy verweigerte. Er sollte so lange hinter Schloss und Riegel bleiben, bis der Verbleib von Randy geklärt war.

Um etwa drei Uhr früh wurde die Tür zu seiner Zelle aufgeschlossen und ein elegant aussehender, dunkelhaariger Mann mit Drei-Uhr-Augenringen, dessen breite Schultern seinen grauen Anzugstoff arg strapazierten, betrat mit einem Klemmbrett unter dem Arm und zwei Plastikbechern voller Kaffee die Zelle.

»Na, wie geht es Ihnen, Mr. Reed? Ich bin Sergeant Charles Schiller. Dachte, Sie hätten vielleicht Lust auf ’nen Kaffee.«

»Wenn Sie mit mir plaudern wollen, müssen Sie sich leider noch ein paar Stunden gedulden. Mein Anwalt ist momentan leider damit beschäftigt, an der Küste von Miami Speerfische zu angeln«, klärte Jack ihn auf.

»Ja, Mr. Reed, das weiß ich«, entgegnete Sergeant Schiller.

In seiner Stimme schwang etwas so Schneidendes mit, dass Jack zu ihm hochschaute. Sergeant Schiller musterte ihn aufmerksam und gleichgültig, beinahe schon verächtlich.

»Stimmt was nicht?«, blaffte Jack ihn an.

»Stimmt was nicht?«, äffte Sergeant Schiller ihn nach. »Nun … sagen wir es mal so: Ich habe mein ganzes Leben in Milwaukee verbracht und bin stolz auf diese Stadt. Milwaukee versprüht ein Gefühl von Wärme und Freundschaft, wissen Sie, was ich meine? Gemütlichkeit, pflegte mein Vater immer zu sagen. Und bis jetzt hatte Milwaukee eine der niedrigsten Kriminalitätsraten des Landes.«

Er hielt kurz inne, um mit einem Plastikstäbchen in seinem Kaffee herumzurühren. Dann fuhr er fort: »Wir hatten eine ziemlich harte Woche. Überall in der Stadt sind Menschen verschwunden. Man munkelt schon, dass Milwaukee nicht mehr sicher ist. Die Leute kriegen Panik, sie werden aggressiv und misstrauisch. Das ist nicht das, was ich unter Gemütlichkeit verstehe, Mr. Reed. Das ist ein ziemlich unsoziales Verhalten. Und ich mache mir nicht besonders viel aus Leuten, die sich ›ziemlich unsozial‹ verhalten.«

Müde entgegnete Jack: »Man beschuldigt mich, meiner Frau das Recht zu verweigern, ihren neunjährigen Sohn zu sehen. Damit stehe ich wohl kaum auf der gleichen Stufe wie Al Capone, oder?«

»Verraten Sie mir, wo Ihr Sohn sich aufhält?«

»Erst wenn ich mit meinem Anwalt gesprochen habe.«

»Ist Ihr Sohn am Leben?«

»Natürlich ist er am Leben. Was zum Teufel wollen Sie mit Ihrer Frage andeuten?«

»Und Miss Olive Estergomy aus Sun Prairie, ist sie auch am Leben?«

Jack schluckte. Genau das hatte er befürchtet. Es sah ganz danach aus, als hätten ihn die schrecklichen Vorkommnisse aus The Oaks eingeholt.

»Sie kennen Miss Olive Estergomy also?«

»Ich möchte mit meinem Anwalt sprechen«, erklärte Jack.

»Aber Sie kennen sie?«

»Ja, ich kenne sie«, gab Jack zu.

»Wissen Sie, wo sie sich aufhält?«

Jack schüttelte den Kopf.

»Ist sie am Leben, Mr. Reed?«

»Ich will meinen Anwalt.«

Sergeant Schiller nippte an seinem Kaffee und blätterte in den Notizen auf seinem Klemmbrett. »Also gut«, lenkte er ein und fragte dann: »Und was ist mit Mr. Daniel Bufo aus Madison? Lebt er noch?«

»Das kann ich nicht sagen«, antwortete Jack.

»Wissen Sie, wo er ist? Das würde uns wirklich sehr interessieren.«

»Da kann ich Ihnen nicht helfen, tut mir leid.«

»Also gut … was ist mit Mr. William Bell aus dem Altenheim Bay Park in Green Bay? Lebt er noch?«

»Würden Sie mir bitte erklären, was das soll?«, bat Jack den Polizisten.

Sergeant Schiller ließ sein Klemmbrett sinken. »Aber sicher. Fakt ist, dass Ihr Sohn Randy, Miss Olive Estergomy, Mr. Daniel Bufo sowie Mr. William Bell alle zwei Dinge gemeinsam haben. Erstens sind sie alle verschwunden. Und zweitens waren Sie, Mr. Reed, nach unseren Informationen die letzte Person, die sie lebend zu Gesicht bekommen hat.«

»Und was soll das beweisen?«, wollte Jack wissen.

»Es beweist gar nichts«, erklärte Sergeant Schiller. »Aber es legt nahe, dass jeder Versuch der Aufklärung ihres mysteriösen Verschwindens bei Ihnen anfangen und vielleicht auch bei Ihnen enden sollte.«

»Werden Sie mich unter Anklage stellen?«

»Noch nicht. Morgen früh kommen ein paar Beamte aus Madison zu uns. Auch ich möchte mit Ihrem Anwalt sprechen und mit dem Sekretariat der Staatsanwaltschaft. Aber eines möchte ich hier und jetzt klarstellen, Mr. Reed: Falls Sie wissen, wo diese Menschen sich aufhalten, dann täten Sie gut daran, mir das möglichst bald mitzuteilen.«

»Kann ich jemanden anrufen?«, wollte Jack wissen.

»Sie wollen jetzt jemanden anrufen?«

Ein Beamter in Uniform eskortierte Jack durch den Gang in eines der Verhörzimmer. Jack wählte Geoffs Nummer und wartete, während es klingelte. Der uniformierte Beamte stand an der Tür und gähnte. Endlich hob Geoff ab. Er klang völlig fertig: »Hallo? Wer um alles in der Welt klingelt mich denn um diese Zeit aus dem Bett?«

»Geoff, ich bin’s, Jack.«

»Oh Gott. Jack, wie geht’s dir? Sie haben noch nicht angefangen, mit Gummiknüppeln auf dich einzuschlagen, oder?«

»Na ja, fast. Die Lage hat sich ziemlich verschlechtert. Sie haben mir Fragen über Olive Estergomy, Daniel Bufo und Pater Bell gestellt.«

»Jack, pass bloß auf, was du sagst«, warnte ihn Geoff. »Der Anruf hier wird ziemlich sicher abgehört.«

»Das ist mir scheißegal. Du musst mir helfen, Geoff. Sie werden mich hier tagelang festhalten, so wie ich das sehe. Bis dahin ist es vielleicht schon zu spät. Es wird sicherlich noch übler auf den Straßen werden. Mensch, Geoff, es hängt alles an mir! Ich muss da draußen sein und kämpfen.«

»Und was hat dein Anwalt bisher unternommen, um dich rauszuboxen?«, fragte Geoff ihn.

»Mein Anwalt befindet sich gerade auf der Rückreise aus Miami. Abgesehen davon glaube ich kaum, dass er mich auf Bewährung freikriegt. Nicht bis Randy wieder aufgetaucht ist und das Gericht sich davon überzeugt hat, dass er wohlauf ist. Und wenn die Polizei mich anklagt, all diese Menschen entführt zu haben, komme ich vielleicht gar nicht mehr auf freien Fuß.«

»Ich weiß nicht, was ich noch für dich tun kann, Jack«, entgegnete Geoff. »Ich werde nach dem Aufstehen versuchen, alles über Rituale herauszufinden, was ich kann … aber du musst bedenken, dass das alles vor über 2.000 Jahren passiert ist. Das meiste davon ist reine Legende und vieles ergibt überhaupt keinen Sinn.«

»Schon gut«, meinte Jack. Irgendwie fühlte er sich plötzlich völlig ermattet – und ihm war schlecht. »Lass uns später noch mal miteinander reden, sofern sie mir das erlauben. Momentan scheinen sie mich noch für eine kuriose Kreuzung aus Serienkiller David Berkowitz und Bruno Richard Hauptmann, den Entführer von Charles Lindberghs Sohn, zu halten.«

Jack wurde wieder zurück in seine Zelle geführt. Als er dort ankam, stellte er fest, dass Sergeant Schiller immer noch dasaß und auf ihn wartete.

»Wie wäre es mit einer Gutenachtgeschichte?«, erkundigte dieser sich.

Jack schüttelte den Kopf. »Morgen kommt mein Anwalt zurück. Bis dahin sage ich nichts.«

Sergeant Schiller verzog die Lippen zu einem dünnen Schlitz, der wohl ein Lächeln andeuten sollte. Es erinnerte Jack an den Abdruck eines sehr scharfen Meißels auf frisch gehobeltem Kiefernholz. »Eines verspreche ich Ihnen, Mr. Reed. Ich persönlich glaube, dass Sie etwas mit dem Verschwinden all dieser Menschen zu tun haben. Das gilt auch für Ihren Sohn. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass sie alle tot sind und Sie dafür verantwortlich sind. Wenn es so ist, dann verspreche ich Ihnen hoch und heilig, dass ich Ihren verdammten Arsch an die Wand nagle, Mr. Reed.«

Er ging zur Tür der Zelle und öffnete sie. »Sie werden dieses Gefängnis nie wieder verlassen.«

»Gute Nacht, Sergeant. Wir sehen uns morgen«, erwiderte Jack.

»Oh, sicher doch, keine Sorge. Darauf können Sie Gift nehmen«, beendete Schiller das Gespräch.

Jack schlief kaum mehr als zwei Stunden. Um 05:15 Uhr lag er hellwach auf seiner Pritsche und lauschte den Geräuschen, die aus dem Polizeigebäude zu ihm drangen, den verzerrten Schreien, ständig zufallenden Türen, dem Gepfeife und abrupt ausbrechenden Gelächter.

In der Ferne konnte er die Sirenen von Krankenwagen und Polizeiautos ausmachen. Er wollte gar nicht wissen, mit welcher Art von Notfällen sie es zu tun hatten. Noch mehr unschuldige Menschen, die in Gehsteige gezerrt oder gegen Wände geklatscht wurden. Noch mehr Seelen, die der grässlichen, glorreichen Wiederauferstehung von Quintus Miller zum Opfer fielen.

Er wühlte sich aus der Koje und klatschte sich am Waschbecken in der Ecke der Zelle kaltes Wasser ins Gesicht. Im Plastikspiegel sah er blass und verzerrt aus und seine Nase kam ihm riesig vor. Der Geist des Menschen, der einmal Jack Reed gewesen war.

Wenn er nur einfach hier rausmarschieren könnte, mitten durch die Wand, wie Quintus es zu tun pflegte.

Jack setzte sich wieder aufs Bett. Was, wenn er durch die Wand gehen konnte? Vielleicht gelang es Geoff ja, das komplette Druidenritual aufzuspüren. Quintus Miller hatte es ja schließlich auch geschafft und der war bekanntlich nicht ganz klar im Kopf. Ihr müsst die Musik spielen, so hatte Lester gesagt. Ihr müsst die Beschwörungsmusik spielen.

Es war ein Puzzle, bei dem bereits ein paar Teile zusammenpassten – etwa die Information, wie Quintus vom Druidentum erfahren hatte, und die Geschichte des Rattenfängers von Hameln. Aber es gab noch so viele offene Fragen und Unklarheiten. So viele Puzzlestücke, die sich anfühlten, als ob sie passten, es aber doch nicht taten.

Jack legte sich wieder hin und grübelte über die fehlenden Teile nach.

Sie kannten den Großteil des Rituals, das sie in den festen Felsen hineinbringen würde. Aber sie kannten die heilige Melodie immer noch nicht, die Melodie, die der Rattenfänger von Hameln den Kindern vorgespielt hatte, als sie in den Koppelberg liefen.

Seltsamerweise nahm Lester an, dass er und Geoff die Beschwörungsmelodie schon einmal gehört hatten. Ihr kennt sie, das waren seine Worte gewesen. Aber woher sollten sie die Melodie kennen? Sie hatten sie seines Wissens noch nie gehört, geschweige denn irgendwo etwas über sie gelesen. Doch dann musste Jack an ein weiteres Teil des Puzzles denken, ein bislang rätselhaftes Detail.

Geoffs Freund aus Harvard hatte ihm Auszüge aus Druggetts Druidenbuch vorgelesen. Wie war das gleich beim Höhepunkt des Rituals gewesen, als die Druiden in die Wände eindrangen?

»Sie spielten König.«

Doch Geoff war davon nur am Telefon erzählt worden. Er hatte die Passage nicht selbst gelesen. Was, wenn die Druiden nicht so taten, als wären sie Könige, wonach das Ritual ja eigentlich klang. Was, wenn sie vielmehr wörtlich »König« spielten, eine Melodie namens »Der König«?

Und wo hatte Jack vor Kurzem ein Lied über einen König gehört?

Schlagartig fiel es ihm ein. Die weit entfernte Stimme, von der er jetzt wusste, dass sie Quintus Miller gehörte – in den verlassenen Gängen von The Oaks. Das einfache Kinderlied, das er immer wiederholt hatte, bis Jack jedes Mal, wenn er es hörte, ein eisiger Schauer über den Rücken lief.

»Lavendelblau, dideldei;

Lavendel, hier gehör ich hin.

Hier bin ich König, dideldei;

Und du wirst Königin.«

Langsam setzte sich Jack auf. Wenn er sich richtig erinnerte, hatte Quintus die Melodie nicht ganz korrekt gesungen. Na ja, zumindest nicht so, wie man sie im Kindergarten lernte. Ein oder zwei Noten waren anders gewesen – schräger, in Ermangelung eines besseren Worts: barbarischer.

Das musste die Melodie sein, da war er sich mit einem Mal völlig sicher. Wie sonst hätte Lester annehmen können, dass sie ihnen bekannt war? Warum sonst hätte Quintus sie so oft singen sollen?

Weil er verrückt ist, entgegnete eine leise Stimme in seinem Kopf. Verrückte tun nie etwas aus den gleichen Gründen wie wir – und sie tun nie etwas Vorhersehbares.

Und dennoch, eine andere Möglichkeit kam Jack nicht in den Sinn. Er konnte es ja zumindest versuchen. Jetzt brauchte er nur noch eine Flöte und eine Rasierklinge, mit der er sich schneiden konnte, um das rituelle Hexagramm aus frischem Blut an die Wand zu zeichnen. Und er brauchte eine Liste von Geoff mit den Namen der Heiligen, die er rezitieren musste.

Gott, wenn das wirklich funktionierte, konnte Sergeant Schiller sich seinen Verdacht in den Arsch schieben.

Jack ging zur Tür seiner Zelle und begann zu schreien: »Wache! Wache!«

Die Tür am anderen Ende des Gangs wurde geräuschvoll aufgeschlossen, was seine Zellennachbarn mit verkatertem Stöhnen quittierten. Ein junger Beamter kam auf quietschenden Schuhen mit Kreppsohle den blitzblanken Boden entlanggelaufen.

»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte er sich.

»Ich muss mal telefonieren«, verlangte Jack.

»Ich soll Sergeant Schiller anrufen, sobald Sie wach sind.«

»Hören Sie, ich muss telefonieren, dauert doch nur zwei Minuten!«

»Ich muss erst den Sergeant anrufen, Sir.«

Es dauerte 20 Minuten, bis Schiller auftauchte.

Er hatte sich rasiert, geduscht, ein neues Hemd angezogen und roch nach Zahnpasta und billigem Aftershave. Doch seine Augen waren unverändert geschwollen wie überreife Pflaumen und sein Gesicht ganz grau vor Müdigkeit.

»Gut geschlafen?«, erkundigte er sich bissig.

»Was glauben Sie denn?«, konterte Jack. »Gibt es irgendwelche Einwände dagegen, dass ich das Telefon benutze? Ich muss ein paar Minuten mit meinem Freund in Madison sprechen.«

»Ihr Freund Geoffrey Summers, der Dozent an der Uni, meinen Sie den?«, erkundigte sich Sergeant Schiller.

»Geoff Summers, ganz genau.«

Sergeant Schiller schielte auf sein Klemmbrett. »Geoffrey Summers ist momentan nicht zu Hause. Er wird aufgrund des Todes eines gewissen Otto Schröder verhört, der gestern Abend um ungefähr 19 Uhr auf dem oberen Parkdeck des MECCA ums Leben kam.«

Der Polizist zog die Augenbrauen hoch. Er wirkte skeptisch und berechnend. »Augenzeugenberichten zufolge hielt sich Otto Schröder gestern Abend in Begleitung zweier Männer dort auf, von denen einer mithilfe von Fahndungsfotos identifiziert werden konnte. Es handelte sich um Sie, Mr. Reed. Der andere Mann war groß und trug einen Bart. Eines der Fahrzeuge, das beschädigt und verlassen auf dem Dach des Parkhauses stand, gehörte Mr. Geoffrey Summers, dem Freund, den Sie heute Morgen anrufen möchten. Mr. Geoffrey Summers ist, wie Sie sicherlich wissen, groß und trägt einen Bart.«

Jack erwiderte nichts, sondern wartete ab, was als Nächstes kam.

»Mr. Reed – Sie werden des Mordes an Otto Cornelius Schröder bezichtigt. Ihre Rechte hat man Ihnen bereits vorgelesen, als man Sie im Zusammenhang mit der Missachtung der Anweisung des Bezirksgerichts bezüglich des Sorgerechts festnahm. Was diese Anklage betrifft, möchte ich Sie noch einmal ausdrücklich daran erinnern, dass Sie das Recht haben zu schweigen …«

Jack schloss die Augen, während Sergeant Schiller seine Belehrung herunterratterte. Fast glaubte er, die Strafe für das, was man ihm zur Last legte, zu verdienen, weil bereits so viele Menschen ums Leben gekommen waren, seit er den Weg nach The Oaks gefunden hatte. Doch es ließ sich auch nicht leugnen, dass außer ihm niemand Quintus Miller und seiner Horde von Irren Einhalt gebieten konnte.

»Ihr Anwalt soll am frühen Nachmittag am Flughafen General Mitchell Field landen. Danach werden wir beide uns ein bisschen ausführlicher unterhalten, okay?«

Jack sagte nichts, sondern fuhr sich mit der Hand durchs Haar und starrte an die Wand. Er schlief tief und fest und träumte vom Regen, als ihn plötzlich jemand an der Schulter rüttelte und sagte: »Hey … Ihre Schwester ist hier, um Sie zu besuchen.«

»Meine Schwester?« Er runzelte angestrengt die Stirn, als er versuchte, seinen Blick zu fokussieren. Ein rothaariger Polizist blickte ihm aus weniger als 20 Zentimetern Entfernung ins Gesicht. Jack konnte jede Sommersprosse im Gesicht des Beamten erkennen.

»Sicher. Edna-Mae? Sie wartet im Verhörzimmer auf Sie. Sergeant Schiller gibt Ihnen aber nur fünf Minuten.«

Jack schwang sich aus dem Bett. Seine Schwester? Er hatte keine Schwester. Dennoch ließ er es sich gefallen, dass der Rothaarige ihm Handschellen anlegte und ihn ins Verhörzimmer am Ende des Gangs führte.

Als man ihn in den Raum schubste, sah er Karen nervös und unbehaglich am Tisch sitzen. Sie trug einen engen, türkisfarbenen Sweater mit einem kurzen, weißen Rock und dazu eine blonde Perücke, die so unecht wirkte, dass es fast schon absurd war. Als Jack sich setzte, sah sie sich um wie ein nervöses Eichhörnchen und sagte dann: »Sie haben Mike Karpasian angerufen und ihm erzählt, dass du wegen Mordverdachts verhaftet wurdest. Ich bin sofort gekommen. Oh Jack!«

»Du solltest nicht hier sein«, flüsterte Jack energisch. »Sie werden bald auch nach dir fahnden, falls das nicht längst schon der Fall ist.«

»Ich habe ihnen erzählt, dass ich Edna-Mae Schultz heiße. Bei mir in der Grundschule war ein Mädchen, das so hieß.«

»Schönes falsches Haar, gefällt mir«, sagte Jack. Er musste grinsen. »Du siehst Dolly Parton wirklich immer ähnlicher.«

»Geoff hat sich bei mir gemeldet«, erzählte ihm Karen mit ernster Miene.

»Was hat er gesagt? Wir beide stehen in Verdacht, den armen Otto Schröder umgebracht zu haben.«

»Ich weiß. Geoff …« Sie sah sich wieder um und flüsterte dann eindrücklich: »Geoff ist untergetaucht. Ich weiß wo, aber ich verrate es dir nicht. Könnte ja immerhin sein, dass man uns gerade abhört. Aber sie werden ihn bestimmt nicht finden.«

»Geht’s dir gut?«, wollte Jack von ihr wissen. Sie erschien ihm nicht so begehrenswert wie sonst – und das lag nicht nur an der Perücke. Sie sah aus wie die ehemalige Frau eines Brummifahrers mit großen Brüsten und schönen Beinen – und das war sie auch. Sie wirkte müde und zynisch, wie es sich kaum vermeiden ließ, wenn man gezwungenermaßen in einem einstöckigen, mit Schindeln verkleideten Haus am Rande Milwaukees wohnte und eine verzogene, vom Vater zurückgelassene Tochter aufziehen musste, endlose Stunden vor dem Fernseher verbrachte und wusste, dass sämtliche Kindheitsträume endgültig geplatzt waren.

Kommen Sie nach vorne. Der Preis ist heiß!

Doch im kargen Licht des spärlich eingerichteten Verhörzimmers erkannte Jack, dass er lieber den Rest seines Lebens mit einer Frau wie Karen verbringen wollte als mit allen Maggies dieser Welt. Sie war sexy, nett, temperamentvoll, fürsorglich und wahnsinnig individuell. Das alles verlieh ihr eine ungeheure Weiblichkeit. Und abgesehen davon hatte sie das Risiko und den Ärger auf sich genommen, ihn zu besuchen, jetzt, wo er in der Klemme steckte.

»Geht’s dir gut?«, wiederholte Jack seine Frage.

»Aber sicher geht’s mir gut.«

»Und Sherry?«

»Sherry auch.«

Jack beugte sich vor, so weit er sich traute. Er konnte sehen, dass ihn der rothaarige Polizist aufmerksam beobachtete, um sicherzustellen, dass Karen ihm nichts zusteckte. »Ich glaube, ich weiß, wie man in die Wand kommt«, verkündete er Karen.

»Was?« Sie sah ihn stirnrunzelnd an.

»Ich glaube, ich weiß, wie man in die Wand kommt … genau wie es all diese Geisteskranken geschafft haben. Ich glaube, ich kenne das Geheimnis.«

»Und was soll das jetzt bringen?«, fragte Karen skeptisch. »Schließlich bist du hier eingesperrt.«

»Karen, denk doch mal nach. Wenn ich in die Wand rein kann, dann komme ich hier auch raus.«

Plötzlich dämmerte es ihr. Sie hielt sich die Hand vor den hellrot geschminkten Mund. »Das würdest du wirklich tun?«

»Ich bin kein Anwalt, aber ich denke, meine Chancen, hier auf Bewährung rauszukommen, sind ähnlich groß wie eine Krönung zum Papst. Das Problem ist, dass Otto Schröder von einer enormen Energieladung getötet wurde, die völlig aus dem Nichts kam – du weißt schon, wie bei einem extremen elektrischen Schock. Quintus Miller muss irgendwie dafür verantwortlich sein, Gott weiß, wie er das wieder geschafft hat. Otto schlug sich den Kopf auf, als er fiel. Geoff und ich waren noch nicht mal in seiner Nähe. Also zumindest waren wir mindestens so weit entfernt wie der Bulle, der jetzt an der Tür steht. Aber die Polizei ist wohl der festen Überzeugung, dass wir ihm einen Betonklotz über den Kopf gezogen und den Schädel zertrümmert haben.«

Jack hielt inne und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Abgesehen davon sind sie der Überzeugung, dass ich all die anderen Menschen auf dem Gewissen habe – Pater Bell, Olive Estergomy, Daniel Bufo. Und ich will ihnen immer noch nicht verraten, was mit Randy passiert ist. Ich kann es ihnen nicht sagen. Mir bleibt also gar keine Wahl. Entweder verrotte ich hier drin oder ich versuche, durch die Wand rauszukommen.«

»Ich weiß, dass du Randy nicht entführt und Daniel Bufo nicht ermordet hast. Ich war dabei – ich könnte es ihnen sagen«, schlug Karen vor.

»Ich weiß, dass du das könntest, aber tu es bitte trotzdem nicht. Es wird nichts nützen. Sie werden dich höchstens auch noch einbuchten – als meine Komplizin. Jedenfalls halte ich es für besser, wenn du nicht noch einmal herkommst. Sieh besser zu, dass du dich für eine Weile irgendwo versteckst.«

»Oh, Jack …«, begann Karen. »Wenn dir etwas passiert … wenn etwas schiefgeht. Was, wenn du in die Wand hinein kannst, aber nicht mehr heraus?«

»Bleibt mir denn eine Wahl? Schließlich kann ich nicht einfach hier rumsitzen und tatenlos zusehen, wie Quintus Miller Hunderttausende Menschen in den Untergrund verschleppt, oder? Und was ist mit Randy? Karen, ich habe ihn gesehen. Er saß bei Quintus Miller auf der Schulter und war noch am Leben.«

»Was hast du jetzt vor?«, wollte Karen wissen.

»Ohne deine Hilfe kann ich gar nichts tun. Ich weiß, dass das komisch klingt, aber ich brauche dringend eine Flöte … die Art von Flöte, wie sie Druiden damals benutzt haben. Frag Geoff mal danach. Ich brauche außerdem eine Liste mit den verschiedenen Namen des Druidengottes Awen.«

»Jack …«, begann Karen.

Man konnte ihr deutlich ansehen, was sie dachte. Dass ihm der Stress und der Schock der letzten Tage zusetzten und er völlig am Ende war – und deshalb inzwischen genauso plemplem wie Quintus Miller.

»Karen«, flehte er sie an. »du warst so tapfer und so gut zu mir. Ich liebe dich, weißt du das? Das tue ich wirklich. Ich weiß nicht, was gerade mit mir passiert, und ich habe Todesangst. Aber ich muss jede Chance nutzen, die mir bleibt. Verstehst du das? Jede Möglichkeit nutzen, auch auf die Gefahr hin, dass ich völlig durchgeknallt klinge.

Die Flöte, Karen, bitte. Und die Liste mit den Namen. Gib beides meinem Anwalt mit. Er heißt Maurice Lederman. Seine Kanzlei befindet sich im achten Stock des First Wisconsin Centers. Lederman, Pfister und Lederman. Sag ihm, dass beides dringend in meine Hände gelangen muss.«

Karen schluckte, als ob ihr Mund völlig ausgetrocknet wäre. »Okay.« Sie nickte. »Ich werde versuchen, das heute noch zu erledigen.« Sie beugte sich über den Tisch und küsste ihn. »Ich liebe dich, Jack.«

»Hey, Schluss mit dem Geknutsche!«, blaffte der junge rothaarige Beamte.

Karen schob geräuschvoll ihren Stuhl zurück und eilte mit ihrem gewohnten Gang, der sie aussehen ließ, als ob ihr Körper gleichzeitig in fünf verschiedene Richtungen tänzelte, in Richtung Tür. Sie reckte ihr Kinn in die Höhe und erklärte dem Polizisten: »Sir, Sie wüssten nicht einmal, was Küssen heißt, wenn zwei Elefanten kämen und Sie am Arsch lecken würden.«

Mit diesen Worten stöckelte sie den Gang hinunter. Der Rotschopf schaute ihr nach und sah Jack dann merklich bedröppelt an.

»Was hat sie denn damit gemeint?«, wollte er wissen.

»Wer weiß das schon?«, entgegnete Jack. »Aber es hat Ihnen ziemlich die Sprache verschlagen, nicht wahr?«

Jack brachte den restlichen Vormittag mit Nachdenken zu. Sein Anwalt, Maurice Lederman, kam gegen 15:00 Uhr bei ihm vorbei und sprach über eine Stunde lang von nichts anderem als Vorverhandlungen und der Suche nach einem geeigneten Strafverteidiger. Maurice Lederman gab sich keine Mühe, seinen Unmut darüber zu verbergen, dass man ihn vorzeitig aus dem Angelurlaub zurückgeholt hatte. Das erste Mal seit fast neun Jahren war er seiner Frau Sheldra erfolgreich entkommen. Und er hasste Sheldra. Er nannte sie abfällig die Zofe des Rabbiners, weil sie so viel Zeit in der Synagoge verbrachte und um den Rabbi herumscharwenzelte.

Maurice Lederman war hoffnungslos übergewichtig, hatte wirres, graues Haar und eine krause Stirn. Seine tief liegenden Augen standen eng zusammen, sodass Jack bei seinem Anblick immer an eine Krabbe denken musste. Dieser Eindruck wurde durch seinen knallroten, halb abgeschälten Sonnenbrand noch verstärkt. Hautschuppen, die er von Zeit zu Zeit herunterschnippen musste, rieselten auf seinen Notizblock.

»Sie machen sich keine Freunde, wenn Sie die ganze Zeit den Mund halten, Jack«, beschwerte er sich. »Wenn Sie zumindest einen Ansatz von Kooperationsbereitschaft zeigen würden, könnten wir vielleicht irgendeine Übereinkunft mit der Polizei treffen. Und ein bisschen Kooperationsbereitschaft mir gegenüber würde sicherlich auch nicht schaden.«

»Maurice, ich habe keinen dieser Menschen angerührt und die Polizei hat auch keine Beweise gegen mich. Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe.«

Maurice zog ein Nasenspray aus seiner Hemdtasche und sprühte einmal in jedes Nasenloch. »Es gibt eine Zeugin, Mrs. Yvonne Cropper, die zuständige Pflegerin im Altenheim Bay Park. Sie sagt aus, dass Sie Mr. William Bell in der letzten Nacht, in der man ihn lebend gesehen hat, zum Essen ausführten. Kellner im ›Ship’s Lantern‹-Restaurant von Green Bay können ebenfalls bezeugen, dass Sie mit Mr. Bell dort waren, mit ihm sprachen und ziemlich animiert mit ihm diskutierten.«

»Animiert? Was soll das denn sein? Wie in einem Zeichentrickfilm?«

Maurice fixierte ihn mit seinen ausdruckslosen, dunklen Krebsaugen. »Verdammt, Jack, die Lage ist ernst. Sie werden wegen Kindesentführung, Kidnapping sowie mehrfachen Mordes angeklagt.«

»Maurice, ich bin unschuldig. Ich habe nichts verbrochen, nur einen alten Kerl zum Essen eingeladen. Das ist ja wohl keine Straftat.«

Maurice atmete tief und keuchend ein, zögerte kurz und fuhr dann fort: »Es gibt eine weitere Zeugin, Miss Helena Manfield, die behauptet, dass sie Sie auf Ihren ausdrücklichen Wunsch hin mit Miss Olive Estergomy bekannt gemacht hat. Miss Manfield sagt, dass Sie ein ungewöhnliches, fast schon morbides Interesse an der Familie Estergomy zeigten. Die Familie Estergomy leitete The Oaks, als es sich noch um eine Einrichtung für geistig verwirrte Kriminelle handelte. Sie sagt, dass Miss Estergomy in der Nacht, als sie zuletzt lebend gesehen wurde, bei ihr anrief und erzählte, dass sie versucht habe, mit Ihnen in Kontakt zu treten. Man habe Miss Estergomy mitgeteilt, dass Sie sich vermutlich in The Oaks aufhielten. Miss Estergomys leer stehendes Auto wurde später vor den Toren des Anwesens gefunden.

Und es gibt noch einen Belastungszeugen, Mr. Ned Pretty von Capitol Realtors, der aussagt, dass Daniel Bufo einen Tag später zu The Oaks fuhr, um den aktuellen Versicherungswert zu bestimmen. Mr. Bufo hatte ebenfalls gehofft, Sie dort anzutreffen, weil er sich Sorgen um die stockenden Verkaufsverhandlungen machte und sogar zu der Einschätzung gelangt war, dass Sie das Interesse an einem Erwerb des Grundstücks verloren hätten. Mr. Daniel Bufo kehrte von dieser Fahrt nicht zurück und später wurde auch sein Auto mit stark beschädigtem Innenraum in der Nähe des Haupthauses gefunden. Teile von Mr. Bufos Kleidung sowie Hautproben wurden im Fahrzeug sichergestellt.

Auch Ihr eigener Wagen wurde zur gleichen Zeit in der Nähe von The Oaks entdeckt – ebenfalls erheblich in Mitleidenschaft gezogen.«

Der Anwalt schwieg, als hoffte er, dass Jack sich dazu äußern würde, aber dieser zuckte nur die Achseln.

»Jack«, fuhr Maurice fort, »will es nicht in Ihren Kopf hinein, dass es hier um Leben und Tod geht? Das ist eine bitterernste Angelegenheit. Die könnten Sie bis zum St. Nimmerleinstag hier einbuchten.«

»Maurice«, antwortete Jack, »ich habe mich mit diesen Menschen getroffen, klar, das will ich gar nicht abstreiten. Aber ich habe sie nicht angerührt. Und Otto Schröder ebenfalls nicht. Kein Richter der Welt wird mich hinter Schloss und Riegel sperren, nur weil ich mich mit ihnen getroffen habe.«

»Da täuschen Sie sich«, entgegnete Maurice.

»Wir sind hier nicht bei Preston & Preston oder bei L.A. Law. Die Polizei hat Zeugen, die Sie und Geoffrey Summers zusammen mit Otto Schröder gesehen haben, und zwar wenige Minuten bevor dieser durch einen Schlag auf den Kopf ums Leben kam. Die Polizei hat genug Indizien gesammelt, um Ihnen jedes einzelne dieser Verbrechen anzuhängen. Jack, man braucht keine Augenzeugen, um Mord zu beweisen. Die Polizei muss keine rauchenden Pistolen oder blutige Betonbrocken vorweisen – oder was auch immer Sie benutzt haben, um sie zu töten. Selbst die Leichen sind dafür nicht notwendig.«

»Und was ist mit all den anderen verschwundenen Menschen und Morden?«, entgegnete Jack. »Die sind überall in Milwaukee passiert! Und passieren immer noch! Hat die Polizei nicht darüber nachgedacht, dass es da möglicherweise einen Zusammenhang gibt?«

Maurice schnaubte trocken. »Darauf würde ich nicht allzu viel herumreiten. Sonst gelangt man noch zu dem Schluss, dass Sie der gemeinsame Nenner für all diese Vorfälle sind. Und außerdem: Haben Sie Beweise dafür, dass diese Ereignisse miteinander zu tun haben? Haben Sie Beweise dafür, dass Sie nicht für die Tode der Menschen verantwortlich sind, die man Ihnen zur Last legt? Was haben Sie mit Randy gemacht? Kommen Sie, Jack, ich kenne Randy seit seiner Geburt. Wenn er noch am Leben ist, wo steckt er dann?«

Jack schwieg und senkte den Kopf.

»Wollen Sie mich bei meiner Arbeit unterstützen oder nicht?«, fragte Maurice.

»Ich kann nicht, Maurice, noch nicht.«

»Noch nicht? Die haben Sie auf dem Servierteller wie einen Thanksgiving-Truthahn, der jeden Moment in den Ofen geschoben wird, und Sie sagen ›noch nicht‹?«

»Tut mir leid, Maurice, aber so ist es nun einmal. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen. Sie würden mir sowieso nicht glauben.«

Maurice schnippte weitere Sonnenbrandschuppen weg. »Also gut, dann sollten wir, bevor wir irgendetwas anderes unternehmen, als Erstes einen erstklassigen Strafverteidiger finden. Ich werde, wenn ich wieder in der Kanzlei bin, mal mit Gerry Pfister sprechen. Ich dachte an Saul Jacob, wenn wir den kriegen können.«

Jack sah erstaunt auf. »Saul Jacob? Saul Jacob hat doch diesen Schwarzen – wie nannte er sich doch gleich? – verteidigt. Diesen Typen, der in Minneapolis all die Menschen im Burger King mit einer Maschinenpistole niedergemäht hat. Der Schwarze Rächer oder so ähnlich.«

»Aber sicher, und er hat ihn sogar freibekommen.«

»Freibekommen? Herrgott, Maurice, er plädierte auf Unzurechnungsfähigkeit! Der Typ wurde in die Psychiatrie eingewiesen! Ich bin doch nicht verrückt!«

Maurice schürzte seine von der Sonne wunden und ausgetrockneten Lippen und trommelte mit den Fingern auf seinen Notizblock, ohne Jack direkt anzusehen. Jack stützte sich mit einem Ellenbogen auf dem Tisch ab und starrte seinen Anwalt an. Plötzlich wurde ihm ganz flau im Magen. Saul Jacob? Saul Jacob war spezialisiert auf hoffnungslose Mordfälle, auf sichere Kandidaten für die Todesstrafe, denen ohne seine Unterstützung eine baldige Hinrichtung drohte. Saul Jacob hatte den verrückten Frank Maharis fast sechs Jahre vor dem elektrischen Stuhl bewahrt und Don Castigliani das Leben gerettet. Maurice würde nur dann auf die Idee kommen, Saul Jacob einzuschalten, wenn er von Jacks Schuld felsenfest überzeugt war – davon, dass er Essie Estergomy, Pater Bell, Daniel Bufo und Otto Schröder getötet hatte – und Randy ebenfalls.

»Sie glauben, ich hätte es getan«, sagte er zu Maurice. »Sie Hurensohn. Sie denken wirklich, ich hätte es getan.«

Maurice konnte ihm immer noch nicht in die Augen sehen. »Was ich glaube, spielt keine Rolle. Es zählt nur das, wovon sich die Geschworenen überzeugen lassen.«

»Herrgott, Maurice, Sie glauben, ich hätte es getan. Sie kennen mich doch seit Jahren.«

»Nun, jeder hat eine dunkle Seite. Ich habe erst letzte Woche herausgefunden, dass Gerry Pfister schwul ist.«

»Ach, und was macht das bitteschön für einen Unterschied?«

»Ich habe den Kaffeeautomaten so umrüsten lassen, dass er mit Wegwerfbechern funktioniert. Abgesehen davon ist er halt schwul, wen juckt’s?«

»Wissen Sie was, Maurice? Sie sind ein Volltrottel. Und das ist noch das Netteste, was mir zu Ihnen einfällt.«

Jack fühlte sich plötzlich in die Ecke getrieben. Sein einziger Trost bestand darin, dass es völlig egal war, was Maurice und Sergeant Schiller von ihm hielten, wenn Karen ihm nur die Flöte und die Liste der Namen des Druidengottes organisierte. Und wenn das Ritual, um in der Wand zu verschwinden, wirklich funktionierte. Denn dann würde er auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

»Also gut«, willigte er schließlich ein. »Reden Sie mit Gerry Pfister und tun Sie, was Sie für richtig halten.«

»Ich komme später wieder«, sagte Maurice. »vielleicht sind Sie dann ein wenig mitteilsamer. Ich kann Ihnen nicht helfen, Jack, wenn Sie mir nicht verraten, was wirklich vorgefallen ist.«

»Wollen Sie, dass ich die Morde gestehe?«

»Was auch immer … solange Sie mir überhaupt etwas erzählen.«

Jack wischte sich mit der Hand über das Gesicht. »Okay, Maurice, schon gut. Übrigens … jemand wird in Ihrer Kanzlei ein Päckchen für mich hinterlegen, vielleicht sogar schon heute. Können Sie sich bitte darum kümmern, dass ich es schnellstmöglich bekomme?«

»Kommt darauf an, was drin ist. Man wird Ihnen keine Drogen, keinen Alkohol und kein Essen erlauben.«

»Eine Flöte, Maurice, mehr nicht. Etwas, worauf man herumtröten kann, um sich die Zeit zu vertreiben.«

Maurice starrte ihn ungläubig an. »Sie wollen Flöte spielen?«

»In der Schule früher habe ich Tenorsaxofon gespielt.«

Maurice schüttelte langsam den Kopf und ging dann zur Tür, um zu klopfen, damit der Wärter ihn hinausließ.

»Bis dann, Maurice!«, verabschiedete sich Jack, doch der Anwalt verschwand aus dem Zimmer, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen.

Um 17:15 Uhr ließ man Maggie zu ihm herein. Ihre Augen waren ganz rot vom vielen Weinen. Sie zitterte und schien völlig aufgewühlt zu sein. Jack ging davon aus, dass Sergeant Schiller sie aufgetrieben hatte, damit sie ihm ins Gewissen redete und ihn dazu trieb, den Mord an Randy zu gestehen.

»Hallo, Margaret-Ann«, begrüßte er sie.

Maggie setzte sich und nestelte an ihrem durchnässten Taschentuch herum. Sie trug den breitschultrigen, orangefarbenen Anzug, den er besonders verabscheute. Darin wirkte sie immer leichenblass und kränklich, selbst wenn sie es nicht war. Und schlimmer noch: Sie glaubte allen Ernstes, dass sie damit Krystle aus dem Denver-Clan ähnelte, und benahm sich entsprechend. Wie eine Heilige, blauäugig und schrecklich pragmatisch.

»Hallo Jack«, flüsterte sie und räusperte sich.

»Wie geht es dir?«, erkundigte er sich bei ihr.

»Ich bin schrecklich mitgenommen, was dachtest du denn?«

»Wie geht’s der gesegneten Velma?«

»Ich wünschte, du würdest sie nicht so nennen.«

»Also gut, wie geht’s der unansehnlichen, überaus gewöhnlichen Velma?«

»Es geht ihr ganz gut, danke der Nachfrage«, erwiderte Maggie mit einer Höflichkeit, die nur mühsam den dahinter lauernden Hass kaschierte.

»Und Herman?«

»Dem geht es auch ganz gut.«

Jack nickte beifällig. »Das ist ja großartig. Herman und Velma, eine im Himmel geschlossene Ehe. Na ja, eigentlich wurden sie in Manitowoc vermählt. Aber das kommt wohl fast aufs Gleiche raus.«

Maggie schluckte und setzte dann zu einem leisen, dennoch mit gefasster Stimme vorgetragenen Monolog an, den sie wohl vorher auswendig gelernt hatte: »Jack, ich weiß, dass du mich nicht mehr liebst – und damit werde ich wohl umgehen können. Ich kann damit umgehen, denn ich habe meine Schwester und meine Schulungen zur Stärkung des Selbstbewusstseins und ganz viele Freunde, die mich unterstützen, aber ich habe genauso ein Recht auf Randy wie du, und ich muss wissen, wo er ist.«

»Ich kann dir nicht sagen, wo er ist«, entgegnete Jack.

»Aber warum? Ich habe ein Recht darauf, das zu erfahren! Er ist schließlich auch mein Sohn! Ich liebe ihn!«

»Ich kann dir einfach nicht sagen, wo er ist. Punkt«, wiederholte Jack. »Tut mir leid.« Es tat ihm tatsächlich leid. Was auch immer er von Maggie hielt, er wusste, dass sie wegen Randy schreckliche Ängste ausstand und die Ungewissheit sie fast verrückt machte, genau wie ihn. Und das war ein Schmerz, den er niemandem wünschte.

»Ist er in Sicherheit?«, fragte Maggie.

Jack nickte. »Ich glaube schon.«

»Was meinst du damit: ›Ich glaube schon‹? Weißt du es denn nicht sicher?«

»Nein!«, antwortete Jack. »Wenn du die Wahrheit hören willst: Ich weiß es nicht. Aber ich tue alles, was in meiner Macht steht, das kannst du mir glauben.«

»Während du hier eingesperrt bist? Was kannst du denn von hier aus tun?«

»Darüber bin ich mir noch nicht ganz im Klaren. Aber ich habe schon einige vielversprechende Ideen.«

»Jack, hör mal! Ich befehle dir, mir sofort zu sagen, wo er ist!«

»Sorry, Margaret-Ann«, entgegnete Jack.

Maggie schwieg eine Weile, während sie weiter an ihrem Taschentuch herumzupfte und sich auf die Lippen biss. Mit einem Satz stürzte sie sich unvermittelt auf ihn, schlug ihm ins Gesicht und riss an seinem Hemd.

»Ich hasse dich!«, brüllte sie. »Ich hasse dich! Ich hasse dich!«

Sofort flog die Tür zum Verhörzimmer auf und eine uniformierte Polizistin ergriff Maggie am Arm. Sie ließ von Jack ab, das Gesicht tränenüberströmt. »Wenn du unserem Sohn auch nur ein Haar gekrümmt hast«, schluchzte sie, »dann bringe ich dich um!«

Jack drehte ihr den Rücken zu. Er konnte ja sonst nichts weiter tun. Er hörte sie noch ein- oder zweimal schluchzen, ehe sie unter den tröstenden Worten der Polizisten den Raum verließ.

Als sie gegangen war, kam Sergeant Schiller herein. Er stellte sich eine Weile neben Jack und hielt dann etwas vor sich, das er die ganze Zeit hinter seinem Rücken versteckt gehalten hatte. Es waren eine einfache Holzflöte und dazu einige handbeschriebene Zettel. Jack erkannte den Namen »Awen«.

»Wollen Sie mir etwas dazu sagen?«, fragte er. »Das hat der Sekretär Ihres Anwalts soeben bei uns abgeliefert.«

»Folk-Musik«, erklärte Jack.

»Folk-Musik? Man wirft Ihnen Kidnapping und Mord vor und Sie wollen Folk-Musik spielen?«

»Na und, was geht Sie das an?«

Für Jack war es eine ziemliche Herausforderung, so knallhart zu tun, aber er wusste, dass er seine Chance, Quintus Miller aufzuhalten und Randy zu retten, verspielte, wenn er Sergeant Schiller ein Sterbenswörtchen verriet. Sergeant Schiller würde ihm niemals abnehmen, dass Menschen durch Wände sprinten und unter der Erde wandeln konnten – jedenfalls nicht, bevor es zu spät war. Und er würde Jack niemals gestatten, die Jagd auf Quintus Miller zu eröffnen.

Der Polizist unterbrach seine Gedanken: »Wie wäre es, wenn Sie mir verraten, wo Sie Ihren Jungen versteckt halten? Dann können Sie die Flöte haben.«

»Behalten Sie die verdammte Flöte«, entgegnete Jack und versuchte so zu klingen, als wäre es ihm völlig egal.

»Irgendwann müssen Sie es mir verraten«, warnte Sergeant Schiller ihn.

»Ich kann Ihnen nichts verraten, was ich selbst nicht weiß.«

»Sie haben ihn umgebracht, nicht wahr? Kommen Sie, das ist verständlich. Sie standen unter Stress. Ihre Ehe war kurz davor, in die Brüche zu gehen. Sie waren es leid, die Verantwortung für ihn zu übernehmen, weil er sie so sehr an ihre Frau erinnerte. Also haben Sie es sich leicht gemacht und ihn abgemurkst.«

Jack drehte Sergeant Schiller den Kopf zu und starrte ihm direkt in die Augen. »So ein Bullshit!«, entgegnete er.

Sergeant Schiller erwiderte seinen Blick gänzlich unbeeindruckt und überreichte ihm dann die Flöte. »Ich habe in den letzten elf Jahren bei meinen Ermittlungen eine Menge mitgemacht, Mr. Reed, und dabei eine ganze Reihe kranker Gestalten erlebt. Aber jemand wie Sie ist mir dabei noch nicht untergekommen.«

Mit diesen Worten gab er der Wache an der Tür das Zeichen, Jack wieder in seine Zelle zu eskortieren.

In dieser Nacht hinterließen Quintus Miller und seine irren Kumpane eine Spur der Verwüstung durch Milwaukee und Madison sowie entlang der Leylinien, die dazwischen verliefen.

Donner durchdrang die Stille der Nacht. Unnatürliche Blitze schlugen auf Pfeilern entlang der mystischen Linien ein und die Luft vibrierte vor Spannung und schien eine unmittelbar bevorstehende Katastrophe anzukündigen.

In der Nähe von Dousman wurde ein 15-jähriges Bauernmädchen namens Sarah Lee Kodiak in ein dunkelgrünes Kohlfeld hinabgezogen. Sie kreischte in einer schauerlich hohen Tonlage, als sie 60 Meter quer über das Feld schleifte und dabei immer tiefer in den Boden sackte, erst bis zu den Schenkeln, dann bis zur Hüfte und schließlich bis zum Hals. Dann versank sie vollständig im schwarzen, schweren Erdreich, als ihr Vater und ihr Bruder noch verzweifelt auf die Stelle zurannten, an der sie verschwand.

Im fahlen Scheinwerferlicht des Traktors pflügten Vater und Sohn noch über zwei Stunden lang mit Spaten und Hacken den Acker um, während der Regen ihnen ins Gesicht peitschte. Sie weinten vor seelischen Schmerzen und Erschöpfung, doch sie konnten sie nicht finden. Schwarzer Boden, einige Blutflecken, aber keine Sarah Lee.

Ein 55 Jahre alter Banker namens Lincoln Winter wurde fast zeitgleich in den Gehsteig gezerrt, als er mitten in Milwaukee aus einem Taxi stieg. Er öffnete die Tür und trat auf das Pflaster. Im selben Moment zog eine unbekannte Kraft seinen Fuß in den Boden. Er schrie einmal laut, doch niemand hörte ihn, und als der verwirrte Taxifahrer aus dem Fahrzeug stieg, um seine Fahrtkosten einzufordern, war Lincoln Winter bereits nicht mehr zu sehen.

Der Taxifahrer sah nicht nach unten – sonst hätte er die vier gepflegten Fingerspitzen gesehen, die verkrampft über den Gehsteig schabten wie rosa Schmetterlingspuppen. Sie schafften es gerade noch, einen weggeworfenen McDonald’s-Karton zu greifen, bevor auch sie unter die Oberfläche gerissen wurden.

Heidi Feldman, eine Kellnerin im Karl-Ratzsch-Restaurant in Milwaukee mit wunderschönen goldbraunen Locken, wurde von den Irren überrascht, als sie den Aufzug in ihr Apartment im vierten Stock in West Allis betrat. Sie beugte sich zum Spiegel an der Hinterwand, um sich ein störrisches Haar ihrer Augenbraue auszureißen, als zwei kräftige Hände das Glas zersplitterten und sie mit dem Kopf voran in die Ziegelsteinwand des Aufzugschachts zogen, während die Kabine ihre Fahrt nach oben unbeeindruckt fortsetzte.

In den letzten Sekunden ihres Lebens fühlte Heidi Feldman, wie ihr Kopf wie Getreide zwischen zwei enormen Mahlsteinen zermalmt wurde. Im vierten Stock stand ihr Mann mit einem Lächeln im Gesicht und einem Martini in der Hand vor der Aufzugtür und fand lediglich die Spuren der Verwüstung vor.

Ein 35-jähriger Fernsehtechniker namens Roy Truesho schlief in seinem Doppelhaus in Monona südöstlich von Madison friedlich neben seiner Frau, als eine glänzende Hand aus dem Sperrholz am Kopfende des Bettes herausschnellte und wie eine Gottesanbeterin zitternd auf sein Handgelenk losging. Roy wurde Zentimeter für Zentimeter in das Holz gezogen. Er schrie nicht. Seine Frau öffnete ihre Augen genau in dem Moment, als sein linker Fuß ins Holz hineinrutschte. Seine Zehen waren vor Schmerzen gekrümmt.

Dann war sie allein – und Witwe. Ihre zwei kleinen Kinder schliefen im Zimmer gegenüber.

Der Regen schwappte wie warmes Blut über die Bezirke Green, Dane und Jefferson.

Jack hockte in einer unbequemen Position im Schneidersitz auf seiner Pritsche im Gefängnis des Polizeihauptquartiers von Milwaukee. Er wartete darauf, dass die Stunde nach Mitternacht vorbeiging und der Mond seinen höchsten Stand erreichte, auch wenn er hinter den dichten Regenwolken derzeit gar nicht zu sehen war. Punkt 1, hatte Geoff in seinem merkwürdigen Kurzsteno geschrieben, in das ihn der Dozent glücklicherweise für die Lektüre seiner Notizen eingewiesen hatte. Leylinien maximal geladen. Leichter, dann durchzukommen, hoffe ich, entzifferte Jack mit einiger Anstrengung.

Die Notiz endete mit: Treffe dich am Hexagramm. Qs Zimmer, so bald wie möglich.

Jack schloss die Augen und atmete tief und gleichmäßig ein und aus. An Schlaf war ohnehin nicht zu denken. Das Problem war, dass er selbst nicht wirklich daran glaubte, in die Wand eindringen zu können, geschweige denn, sich nach The Oaks durchzuschlagen und dann mit der Lässigkeit eines Mannes, der aus einer U-Bahn steigt, vor Quintus Millers Hexagramm wieder aufzutauchen. Er hatte Quintus Millers schräge Version von Lavendelblau immer und immer wieder eingeübt (sehr zum Leidwesen des lärmenden, unter Drogen stehenden Punks in der übernächsten Zelle). Jack hatte außerdem die Rituale und die Namen komplett auswendig gelernt. Das alles klang mehr denn je nach abgefahrenem Hokuspokus. Hätte er diese Wahnsinnigen nicht mit eigenen Augen aus dem Boden kommen sehen und wäre er nicht Zeuge gewesen, wie Pater Bells Finger brannten und Essie Estergomy in den Kies hinabgezerrt wurde, hätte er es einfach bleiben lassen.

Kurz vor Mitternacht hatte er die Flöte wieder zur Hand genommen, um noch eine Reprise von Lavendelblau, dideldei, Lavendel, hier gehör ich hin zu spielen, als Sergeant Schiller unerwartet hereinkam, mit den Händen in den Taschen im Türrahmen stehen blieb und ihn beobachtete. »Meine Schicht ist zu Ende«, sagte er schließlich. »Ich gehe jetzt nach Hause. Wollte mal hören, ob Sie mir gerne etwas erzählen möchten, das mich leichter schlafen lässt.«

Jack sah ihn lange wortlos an.

»Na dann, viel Spaß noch«, verabschiedete sich Sergeant Schiller und wandte sich zum Gehen.

»Sergeant!«, meldete sich Jack doch noch zu Wort.

»Was ist denn?«

»Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich Ihnen nicht mehr so viel länger auf den Wecker gehen werde. Das verspreche ich.«

»Was für eine Art Versprechen soll das denn sein?«

»Das werden Sie schon sehen. Zumindest hoffe ich das.«

»Sie sind wirklich völlig geistesgestört, Mr. Reed. Gehen Sie schlafen.«

Um 01:15 Uhr, als es im Polizeihauptquartier relativ still wurde und man nur das Echo einiger Gespräche, vereinzelte hallende Schritte sowie einige Schnapsleichen und Drogensüchtige hören konnte, die im Schlaf brabbelten, hob Jack den Kopf, blickte sich um und lauschte. Zwei, drei Minuten später erhob er sich leise von seinem Bett und tappte auf Strümpfen zur Hinterwand der Zelle. Draußen regnete es immer noch. Die Tropfen prasselten leise, aber unablässig gegen das Fenster.

Jack dachte bei sich: Endlich ist der Moment gekommen. Jetzt vertraue ich auf die Geschichte und auf uralte Magie. Oh Gott, hoffentlich funktioniert es. Oh Gott, hoffentlich funktioniert es nicht.

Er verzog das Gesicht, als er die winzige silberne Rasierklinge, die Geoff hinter dem Blatt der Flöte befestigt hatte, aus ihrem Versteck hervorholte und sich damit über den Daumen fuhr. Blut strömte heraus. Jack konnte hören, wie es klebrig auf den Keramikfliesen der Zelle landete. Plitsch, platsch, plitsch, platsch. Er drückte sich das Handgelenk ab und ging zur Wand. Aus seinem Daumen tropfte immer noch Blut heraus. Die gewaltige Tragweite dessen, was er vorhatte, ließ ihn zittern. Oder vielleicht lag es auch einfach an der Verrücktheit des ganzen Unterfangens.

Es wird nicht funktionieren, es wird nicht funktionieren. Es ist viel zu spät.

Jack zögerte, schnaubte und zeichnete dann mit seinem eigenen Blut zwei große Dreiecke, ein normales und ein weiteres, das auf dem Kopf stand. Salomons Hexagramm. Erde, Wind, Wasser und Feuer – und an der Stelle, an der sie sich überschnitten: die Quintessenz; das fünfte Element.

Er stellte sich davor und berührte die Wand. Draußen vor dem Fenster seiner Zelle zuckte ein Blitz vom Himmel und Donner krachte wie Tausende Baumwolltücher, die gleichzeitig zerrissen wurden. Regen prasselte auf die Hausdächer von Milwaukee, als ob Gott sich vorgenommen hatte, die Stadt zu überfluten und in einen See zu verwandeln.

Jack nahm die von Geoff eng bekritzelten Blätter zur Hand und rezitierte die darauf notierten Druidenformeln. Da haben sich bestimmt Fehler eingeschlichen, sinnierte er. Es ist schon zu lange her. Wie kann man ein Ritual über eine Zeitspanne von 2.000 Jahren korrekt überliefern?

Aber Quintus Miller hatte es schließlich auch geschafft, oder nicht? Quintus Miller und all seine übergeschnappten Jünger. Und wenn Quintus Miller es fertigbrachte, dann würde es ihm auch gelingen.

»Dia dha mo chaim,

Dia da mo chuairt,

Dia dha mo chainn,

Dia dha mon smuain!«

Er kam sich vor wie ein Idiot. Wie ein Vollidiot sogar. Seine Aussprache war vermutlich entsetzlich. Selbst wenn es Keltengötter und druidische Einflüsse gab, dann konnten ihn die Gottheiten wegen seines schrecklichen Zungenschlags vermutlich trotzdem nicht verstehen.

Doch er las alles so exakt wie möglich ab, was Geoff aufgeschrieben hatte, bis zum letzten Wort. Dann nahm er sich die Liste der 50 Namen von Awen vor – Da und Yoghan, Mabo und Mabona, Lu und Lew, mab-Moi und Mabinos.

Jack zögerte, leckte sich die Lippen und spielte dann auf der Flöte mit höchster Konzentration die Melodie von Lavendelblau, dideldei. Anschließend sprach er die finalen rituellen Worte, die ihm den Zutritt in die Wand ermöglichen sollten:

»Caimich mi a nochd,

Eadar uir agus eare,

Eadar run do reachd,

Agus dearc mo dhoille.

Begrab mich des Nachts,

Unter Weiden und Herden,

Im Geheimnis deiner Gesetze.

Meine blinden Augen.«

Während Jack die Worte rezitierte, näherte er sich mit zitternden Händen dem Hexagramm an der Wand seiner Zelle. Er ging näher und immer näher, bis sein Gesicht das graue Mauerwerk berührte. Begrab mich des Nachts, flüsterte er. Begrab mich des Nachts.

Er hörte Schritte im Gang vor seiner Zelle. Die Wache kam. Er hörte Schlüssel klappern und einen der Besoffenen, der schrie: »Mutter! Mutter! Hol mich hier raus, Mutter!«

Jack schloss die Augen. Gott steh mir bei. Begrab mich des Nachts im Geheimnis deiner Gesetze.

Die Tür zu seiner Zelle öffnete sich. Der Wärter sagte: »Sie haben ja schon wieder auf der verdammten Flöte gespielt. Damit treiben Sie hier noch alle anderen Zelleninsassen in den Wahnsinn.«

Jack trat in die Wand hinein.

Загрузка...