Z W Ö L F

Er fühlte sich wie mit trockenem Sand überschüttet. Er konnte die Augen nicht öffnen, weil Ziegelsteine vor seinem Gesicht vorbeischrammten. Doch Jack bemerkte, dass er gar nicht auf seine Sehorgane angewiesen war. Er konnte sich im Geiste sehr gut vorstellen, wo er hinging, konnte es fast genauso deutlich visualisieren wie mit geöffneten Lidern. Die Wände des Polizeihauptquartiers erschienen ihm wie düstere, enge Pfade eines Labyrinths und er konnte sich in ihnen schnell und problemlos fortbewegen. Seine eigenen Moleküle durchdrangen die Moleküle des Mauerwerks und gaben dabei ein dunkles Sssssschhhhhh-Geräusch von sich.

Jack legte die gesamte Länge des Zellentrakts in der Wand zurück. Immer wenn er eine der Metalltüren passierte, fühlte es sich anders an, fast so, als ob ihn ein Rasensprenger erwischt hätte, wie ein plötzlicher Schwall eiskalten Wassers. Er erreichte die Treppe. Da wurde ihm klar, dass er sie wahrscheinlich gar nicht brauchte. Die Irren waren in ihrer erdigen Umgebung eher herumgeschwommen als gelaufen. Jack stellte sich vor zu schwimmen und ließ sich dabei tiefer in die Dunkelheit der Wände hineinsinken, hinab auf die Straße und dann unter die Straße.

Mit der merkwürdigen Eleganz eines unerfahrenen Tauchers bahnte er sich einen Weg durch Beton, Ziegelstein und Felsen. Ab und an musste er durch ein Abwasserrohr, eine Gasleitung oder ein elektrisches Kabel. Ohne dass er es wusste, verursachte sein Gang durch die Telefonleitungen ein kurzes, schattenhaftes Brutzeln, das die Gesprächspartner deutlich hören konnten.

Es war faszinierend für Jack, dass er beim Anheben seines Kopfes zumindest eine grobe Vorstellung davon bekam, was sich über der Oberfläche auf den Gehsteigen abspielte, genau wie ein Taucher undeutlich erkennen kann, was sich über der Wasseroberfläche eines Pools befindet. Er sah Autos von unten und die Schuhsohlen anderer Menschen. Alles wirkte verzerrt, quasi der umgekehrte Fall einer Unterwasser-Aufnahme. Doch wenn er bedachte, dass er von einem sehr dichten Medium in ein wesentlich weniger dichtes schaute – nun, er konnte sich nicht mehr genau an die Physikstunden in der High School erinnern, aber sein Erklärungsversuch erschien ihm wissenschaftlich einleuchtend.

Jack spürte die Erschütterung deutlich, als zahlreiche Turmglocken und Standuhren der Stadt Milwaukee nahezu synchron 01:45 Uhr schlugen. Er musste eine Leylinie finden, eine der mystischen Hauptverbindungsrouten, die es ihm ermöglichte, auf schnellstem Wege zurück nach The Oaks zu gelangen. Eine Art Druiden-Autobahn, schmunzelte er über seine eigene Wortschöpfung. Er konnte den Magnetismus der Erdlinien um sich herum spüren, ähnlich wie sensible Naturen das Herannahen eines Gewitters erahnten. Es war ein seltsames, kitzelndes Gefühl, als ob die Schnurrhaare einer Katze einen streiften. Die Nervenenden in seinen Handflächen prickelten.

Er bewegte sich tief unterhalb des Milwaukee River und glitt durch den schlammigen Untergrund in Richtung Osten. Unter dem Fluss war es viel schwärzer und kälter und er spürte das Gewicht der Erde auf sich lasten. Merkwürdigerweise fühlte er sich aber weder eingesperrt noch hatte er Anfälle von Klaustrophobie, obwohl ihn normalerweise in engen Räumen häufig die Panik übermannte. Jack blieb ganz ruhig und arbeitete sich zielstrebig und zunehmend geübter durch die Erde vor.

Immerhin war er dem Polizeigewahrsam entkommen. Sergeant Schiller würde ausflippen! Jack fragte sich, ob der Wachposten noch gesehen hatte, wie er in der Wand steckte. Nun, selbst wenn, der arme Mann würde vermutlich seinen Augen nicht trauen und es schon gar nicht wagen, seine Beobachtung an Sergeant Miller weiterzugeben.

Jack befand sich ganz nah am Fundament des East-West-Freeway. Mit einem energischen Ssschhh! Ssschhh! Ssschhh! wie jemand, der eine Schaufel in den feuchten Zement stößt, durchdrang er die Betonpfeiler, welche die Straße über ihm stützten. Jack erkannte instinktiv, dass er sich in unmittelbarer Nähe einer Leylinie aufhalten musste. Es fühlte sich an, als würde er durch die Erde gezogen. Sein ganzes Nervensystem brodelte in Reaktion auf den natürlichen Magnetismus. Die Linie verlief unter der Autobahn nach Südwesten, etwa in Richtung des Messegeländes der Wisconsin State Fair.

Jack war schier überwältigt von den mächtigen Kräften, die unter der Oberfläche auf ihn einwirkten. Natürlich war ihm immer bewusst gewesen, dass die Gezeiten durch die Anziehungskraft des Mondes hervorgerufen wurden. Aber die pulsierenden Muster in der Erde empfand er ebenfalls als enorm stark, wenn nicht sogar als noch stärker. Sie hatten ihn als Mann aus Fleisch und Blut in einen Mann aus bröckelndem Erdreich verwandelt und konnten ihn mit der Kraft eines großen Flusses mitreißen.

Jetzt war ihm auch klar, warum sich so viele Legenden darum rankten, dass der Mensch aus Lehm geformt wurde. Als Kind hatte er in einem seiner alten Buffalo-Bill-Bücher gelesen, dass Gitche Manitou, der große Gott der Indianer, den ersten Menschen auf diese Weise erschuf – der erste Versuch brannte an und wurde schwarz, der zweite war zu kurz im Ofen und bildete den Archetypus des Weißen, doch im dritten Anlauf gelang ihm schließlich ein perfekter Indianer.

Selbst in der Bibel stand Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden. Und es stimmte. Genau das war tatsächlich passiert. Die Druiden hatten es begriffen, genau wie ein rundes Dutzend weiterer Kulturen. Und Jack hatte heute Nacht nichts anderes getan, als diesen Prozess kurzerhand umzukehren – nicht Erde in einen Menschen, sondern einen Menschen in Erde verwandelt.

Es war eine Metamorphose so alt wie das Universum selbst: eine Metamorphose, welche das Band zwischen der Menschheit auf der einen sowie Gott und der von ihm erschaffenen Welt auf der anderen Seite noch verstärkte. Gott und der Mensch waren aus denselben Elementen hervorgegangen – Erde, Wind, Feuer und Wasser. Alles, was diese Elemente umfassten und einschlossen, verschmolz letztlich zu der mystischen und omnipräsenten Quintessenz.

Jack war sich darüber im Klaren, dass er – sofern er diese Verwandlung überlebte, Quintus Miller fand und ihn besiegte – nicht mehr derselbe Mensch sein würde wie vorher. Er hatte die ganze Bedeutung der biblischen Schöpfungsgeschichte erfasst und die Rolle, die Adam darin übernahm, durchschaut. Und er war tief in das Wesen seiner eigenen Menschlichkeit vorgedrungen.

Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit schrecklicher Angst, aber gleichzeitig vermittelte sie ihm auch ein Gefühl von unbegrenzter Macht. Die meisten Menschen hatten den Glauben an den Planeten verloren, auf dem sie lebten. Doch einzelne wie Adolf Krüger hatten ihn wiedergefunden – auch Quintus Miller gehörte in diesen erlauchten Kreis. Kein Wunder, dass die frühen Christen die Druiden gefürchtet hatten. Kein Wunder, dass sie mit aller Macht versucht hatten, sie auszulöschen.

Jack schwebte immer näher an die Leylinie heran und erreichte sie schließlich. Er konnte ihre Präsenz überall um sich herum wahrnehmen, so wie einen singenden, widerhallenden unterirdischen Fluss. Er hielt die Augen immer noch geschlossen, doch er spürte, dass die Linie jetzt genau vor ihm lag. Sie verlief kerzengerade bis nach Wisconsin, dann weiter bis zum Nordpol. So waren die Kelten also vor etlichen Jahrhunderten durch die Welt gereist und hatten ihre Druidenkultur nach Nordamerika gebracht. Nicht mit Booten oder Schiffen und auch nicht, indem sie die nördliche Meerenge zu Fuß durchquerten.

Jack musste lediglich der Leylinie folgen, dann würde er automatisch nach The Oaks gelangen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit würde Quintus Miller dort die letzte Opferzeremonie durchführen, um sich und seine Anhänger aus der Erde zu befreien und wieder unter anderen Menschen zu leben.

Jack reiste die Linie entlang, rannte wie ein Mann in einem Traum. Der Boden und die Felsen strömten um ihn herum, strömten durch ihn, als ob er überhaupt keine physische Substanz besäße. Und doch konnte er die Stärke seines Körpers und die Stärke seines Geistes deutlich spüren. Er war zurück in dem Element, aus dem vor Urzeiten der Mensch entstanden war und Form und Kraft gewonnen hatte.

Jack konnte nicht einschätzen, wie schnell er sich voranbewegte, doch im Vergleich zu der Geschwindigkeit, mit der ein Mensch normalerweise rannte, wenn er nicht in seinem Element war, schien es unglaublich schnell zu sein. Er ließ seine geschlossenen Augen zum Himmel schweifen und die nächtlichen Gewitterwolken zogen an ihm vorbei wie bei den Zeitrafferaufnahmen in Spielbergs Unheimliche Begegnung der dritten Art.

Jack hörte nichts als das dumpfe Rauschen des Bodens, sssschhhhhh – ssssschhhh – ssssschhhh, und seinen eigenen, leicht keuchenden Atem.

Er ließ die Städte Okauchee, Waterloo, De Forest und Morrisonville hinter sich. Jack war höchstens noch 20 Meilen von The Oaks entfernt, als ihm ein anderes Geräusch auffiel. Schritte direkt hinter ihm. Noch jemand, der durch die Erde rannte. Kraftvoll und offenbar wild entschlossen, ihn einzuholen.

Jack drehte sich um. Weniger als eine Meile entfernt sah er vor seinem geistigen Auge einen Mann, der ihn verfolgte. Zwei Männer, drei. Sie hielten die Köpfe gesenkt und rannten mit erschreckender Beharrlichkeit. Wir kommen, um dich zu holen, Arschloch. Wir werden dich in Stücke reißen.

Jack erkannte die Stimme. Es war Gordon Holman, der Irre, der die Zunge seiner Frau an den Tisch und seinen eigenen Penis an einen Baum genagelt und Pater Bells Hände in Brand gesetzt hatte. Gordon Holman war hinter ihm her und der war mindestens genauso wahnsinnig wie Quintus Miller.

Jack holte tief Luft und lief weiter, so schnell ihn seine Beine trugen. Es wunderte ihn nicht sonderlich, dass er atmen konnte. Schließlich konnten Fische ebenfalls unter Wasser atmen, und wie er hier die Luft in seine Lungen sog, schien ihm damit vergleichbar zu sein. Jack fühlte Lehm über sein Gesicht rieseln. Er bewegte sich inzwischen mit einem solchen Tempo voran, dass ihn gelegentlich kleine und größere Steine mit fast derselben Wucht trafen, als wenn sie jemand gezielt auf ihn geworfen hätte.

Doch Gordon Holman und seine beiden Begleiter machten Boden gut. Sie hielten sich bereits deutlich länger hier unten auf, sodass ihre Körper regelrecht von der elementaren Energie der Erde durchtränkt waren. Jack begann die Schwingungen ihrer Bewegung an den Fußsohlen zu spüren. Sie waren hinter ihm her und hatten die feste Absicht, ihn abzufangen.

Das ist unser Tag!, grölte Gordon Holman durch das dichte Erdreich. Das ist unser Tag!

Jack spürte, dass er The Oaks fast erreicht hatte. Die Strömung der Leylinie verstärkte sich wie bei einem Fluss, der sich einem Wasserfall näherte. Der Boden, der Himmel, die Welt, alles rauschte an ihm vorbei. Jack wurde den Eindruck nicht los, dass er hilflos mitgerissen wurde, einen tiefen Berg hinunterstürzte und nicht mehr bremsen konnte.

Unser Tag, Arschloch! Unser Tag! Unser Tag!

In The Oaks trafen die Leylinien aus Westen, Osten, Südwesten und Norden aufeinander. Das Gelände, auf dem The Oaks errichtet worden war, sammelte seine Kraft aus allen vier Himmelsrichtungen, aber es war auch selbst ein Ausgangspunkt energetischer Machtballungen. Wie eine unterirdische Sonne große Anziehungskraft hat, die zugleich Impulse in alle Richtungen aussandte.

Jack konnte spüren, dass The Oaks in unmittelbarer Nähe war. Er rannte durch einen Wald. Die Wurzeln der Bäume rankten sich düster durch den Boden wie Tentakel von Quallen im Ozean. Er konnte The Oaks summen hören wie einen starken Dynamo. Doch gleichzeitig spürte er auch Gordon Holman im Nacken, der sich inzwischen weniger als zehn Meter hinter ihm befand. Jack dachte bei sich: Dreh dich um – stell dich der Auseinandersetzung – hau ihm ordentlich eins über die Rübe – du bist jetzt so stark wie er, ihr kämpft in der gleichen Gewichtsklasse.

Doch als er abbremste und sich gerade umwandte, sprang etwas auf seinen Rücken; etwas Schweres und Weiches. Dann packte ihn jemand an den Armen und ein anderer an den Beinen und ehe er sich versah, hatte man ihn auf die Knie heruntergezogen. Jack wehrte sich verzweifelt. Da tauchten sie vor seinem inneren Auge auf. Frauen, zehn oder elf wild aussehende Körper mit Haaren, die in alle Richtungen abstanden. Einige von ihnen trugen einfache Anstaltskittel, andere liefen barbusig herum, trugen lediglich Baumwollröcke oder waren sogar komplett nackt.

Sie schoben seinen Kopf nach vorne, bis sein Gesicht zwischen die Knie gedrückt wurde. Seine Arme zogen sie rücklings nach oben. Er versuchte, sich tiefer in den Boden sinken zu lassen, um ihnen zu entkommen, und stöhnte dabei vor Anstrengung. Doch eine von ihnen schob sich unter ihn – eine stämmige Nackte mit breiten Schultern, riesigen Brüsten und Blasen zwischen den Beinen, wo sie ihre eigenen Schamhaare in Brand gesetzt hatte.

Komm runter, mein Schatz!, neckte sie ihn mit einem zahnlosen Grinsen. Komm runter, du willst es doch auch!

Jack warf sich herum und wand sich verzweifelt, doch er kam nicht frei. In diesem Moment erreichte ihn Gordon Holman und baute sich über ihm auf. Er war nackt bis auf eine Zwangsjacke, die um seine Hüfte gebunden war wie ein weißer Schottenrock. Seine beiden Helfer standen ein Stück weit hinter ihm. Einer der beiden nickte ununterbrochen. Der andere bewegte sich überhaupt nicht. Er trug eine Dornenkrone auf dem Kopf und bedachte alles und jeden mit einem leeren, verklärten Lächeln wie ein verrückt gewordener Geistlicher. Aber das Merkwürdigste von allem war, dass dieses Aufeinandertreffen etwa sieben Meter unterhalb des Waldes in der Dunkelheit des mit Wurzeln durchzogenen Bodens stattfand, irgendwo zwischen Lodi und Okee unweit des Lake Wisconsin.

Quintus hat gesagt, dass du uns davon abhalten willst, unser Opfer darzubringen, erklärte Gordon Holman. Quintus sagt, du willst, dass wir bis in alle Ewigkeit in der Erde verrotten.

Quintus ist verrückt, entgegnete Jack. Das sogenannte Opfer, das ist mein Sohn.

Quintus hat gesagt, wir sollen dich töten. Töten und zum Trocknen aufhängen, das waren seine Worte! Bringt mir seine Haut! Bringt mir seine Leber!

Die fette Frau rekelte sich lasziv unter seinem Körper und leckte Jack über die Augenlider und Lippen. Angewidert drehte er sein Gesicht weg.

Ich will mit dir schlafen, während du stirbst, flüsterte sie. Ich will dich in mir spüren, während sie dich töten.

Eine der Frauen lachte, schrie gellend auf und brüllte dann immer wieder Pandora! Pandora! Pandora!, bis eine andere ihr heftig an den Haaren zog, um sie zum Schweigen zu bringen.

Lasst ihn gehen!, befahl Gordon Holman.

Zuerst zögerten die Frauen, doch als Holman einen warnenden Schritt nach vorne machte, gaben sie Jacks Arme frei, traten zurück und ließen ihn dort kauern, wo er war. Nur die fette Frau blieb für den Fall, dass er versuchte, sich durch einen Tauchgang in die Tiefen des Erdreichs in Sicherheit zu bringen, unter ihm liegen.

Willst du ein letztes Gebet sprechen?, erkundigte sich Gordon Holman.

Jack verharrte, wie er war, in der Hocke und dachte angestrengt nach. Wie lauteten noch einmal die Worte des Rituals? Der Text für die Verwandlung und für das Darbringen der Opfer? Als Geoff sie auf dem Parkplatz Lester entgegengeschmettert hatte, war dieser fast ausgeflippt.

Caimich mi a nochd,

Eadar uir irgendwas,

Eadar run do reachd,

Bei der vierten Zeile hatte er einen völligen Blackout.

Er war erstaunt, dass er sich überhaupt noch an so viel erinnern konnte. Für gewöhnlich ließ sein Gedächtnis eher zu wünschen übrig. Wenn man ihn anrief, versprach er, in ein paar Minuten zurückzurufen und das war’s dann – sofort hatte er es wieder vergessen. Wie sollte er sich in so einer Stresssituation das Gälische wieder in Erinnerung rufen – besonders ein Gälisch, das er nur einmal gehört und zweimal gelesen hatte?

»Caimich mi a nochd,

Eadar uir agus eare,

Eadar run do reachd,

Agus dearc mo dhoille.«

Unter der Erde herrschte absolute Stille. Jack blieb mit erhobenem Kopf weiter in der Hocke. Zuerst dachte er, dass Gordon Holman einfach auf den richtigen Moment wartete, um ihm den Garaus zu machen, doch dann ging ein Zittern durch den lehmigen Boden und er sah sich vorsichtig um. Da stand Gordon Holman. Er zitterte am ganzen Körper, schien wie gelähmt vor Entsetzen.

Jack warf einen Blick auf die Frauen. Die meisten von ihnen waren auf die Knie gesunken und zitterten ebenfalls. Der irre Mönch hatte jetzt die Stirn gerunzelt und lächelte nicht mehr, während der Kopfnicker so heftig nickte, dass er Gefahr lief, sich den Kopf von den Schultern zu schütteln.

Das Opfer, die Verwandlung. Das Ende eines Lebens, der Beginn eines neuen Lebens. Das war es, was diese elenden Geisteskranken so sehr ängstigte. Die Worte standen für Tod, für Veränderung und für Verunsicherung. Der Sieg der Magie über den menschlichen Willen. Es waren die Worte, welche die Druiden in Stonehenge, Carnac und Mystery Hill an ihre Anhänger gerichtet hatten; zu einer Zeit, da die ganze Welt noch von Magie beherrscht wurde.

Jack selbst konnte sich der Macht der Worte, die er soeben gesprochen hatte, kaum verschließen. Er fühlte, wie sich die Kraft der Leylinie um ihn konzentrierte und auf das Ritual zu warten schien, das er in Gang gesetzt hatte.

Und was nun?, überlegte Jack. Soll ich versuchen, einfach abzuhauen? Werden sie mich verfolgen? Wird die Wirkung der Worte nachlassen, sobald ich mich bewege?

Langsam und vorsichtig kam er auf die Beine. Gordon Holman, der immer noch zitterte, folgte seinen Bewegungen mit geschlossenen Augen, machte aber keine Anstalten, ihn aufzuhalten.

Es ist noch nicht an der Zeit, beklagte sich Gordon Holman.

Was meinst du damit, es ist noch nicht an der Zeit?

Ich habe mir noch nicht alle 800 genommen. Höchstens 50! Es ist nicht an der Zeit! Es kann noch nicht so weit sein!

Jack sah vor seinem inneren Auge Blitze vorbeiziehen, die durch die Bäume zuckten. Es regnete stark. Er nahm wahr, wie das eiskalte Wasser von den Zweigen tropfte und in die schwarzen, haarigen Wurzeln der Eichen eindrang.

Außerdem, ergänzte Gordon Holman dann mit deutlich größerer Zuversicht, außerdem hat Quintus uns noch nicht gerufen. Quintus hat uns noch nicht zurückgerufen. Quintus wird wissen, wann es an der Zeit ist! Quintus wird wissen, wann jeder von uns sich 800 genommen hat.

Gordon Holman lachte und die Frauen stimmten mit ein, wenn auch kläglich leise und wenig überzeugend. Jack hatte die ersten Worte des Opferrituals gesprochen. Was jetzt schon begonnen worden war, würde sich nicht mehr so leicht aufhalten lassen. Nicht, ohne ein Opfer darzubringen, nicht ohne einen Toten. Das Opferritual, das Geoff auf dem Parkdeck initiiert hatte, war erst abgeschlossen worden, als Quintus Miller Lester abschlachtete. Blut war nötig, menschliche Tonerde.

Doch Gordon Holman schnüffelte und bellte wie ein Hund. Keine Sorge! Keine Sorge!, schrie er seinen wahnwitzigen Begleitern zu. Quintus wird uns rufen, wenn es an der Zeit ist! Quintus wird seine Musik erklingen lassen und wir werden Bescheid wissen! Quintus wird uns mit seiner Flöte zu sich rufen! Der Ruf! Der Ruf! Wir haben den Ruf noch nicht vernommen! Wenn wir ihn gehört hätten, wäre uns keine andere Wahl geblieben! Wir hätten gehen müssen! Aber noch ist es nicht an der Zeit! Keine Panik! Es ist noch nicht an der Zeit!

Was redete er denn da? Der Ruf?, fragte sich Jack. Quintus musste sie also mithilfe von Flötenmusik zu sich holen, wenn der richtige Moment für die Opfergabe gekommen war?

Jack hielt seine eigene Flöte hoch. Es war ein gerades, glattes Rohr, in das Löcher hineingebrannt waren. Vielleicht lag die Antwort in der Musik verborgen. Vielleicht gab sie den Ausschlag. Schließlich hatte sie auch bei dem Ritual, das ihn selbst in die Wand geholt hatte, eine wichtige Rolle gespielt. Vielleicht war sie dann auch ausschlaggebend für das Opferritual.

Quintus würde Musik machen, wenn es an der Zeit war, die Wahnsinnigen am heiligen Ort zu versammeln … und sie würden kommen. Nach dem zu urteilen, was Gordon Holman gesagt hatte, würden sie gezwungen sein, ihm zu gehorchen, ob sie nun wollten oder nicht. Genau wie die Kinder dem Rattenfänger von Hameln mitten in den Berg hinein hatten folgen müssen. Wenn Jack das Ganze richtig interpretierte, war das Flötenspiel viel mehr als nur Musik – viel mehr als ein einfaches Signal. Es war ein direkter Ruf des Gottes, der die Quintessenz war; ein Ruf, der nicht nur an die sterbliche Hülle, sondern auch an den Sinn für Hingabe appellierte.

Eine Einladung des Gottes, der die Quintessenz ist, schlägt man nicht einfach so aus, dachte Jack. Selbst wenn es bedeutet, dass das eigene Leben dadurch auf den Kopf gestellt wird. Selbst wenn jeder, den man kennt, auf Folterinstrumenten gequält und ihm das Rückgrat gebrochen wird, damit die entsprechende Seele auf immer verloren geht.

Man geht, weil man keine andere Wahl hat.

Zögernd hob Jack seine Flöte. Er hatte keine Ahnung, ob er unter der Erde überhaupt spielen konnte, doch er blies trotzdem in das Rohr und ausreichend Luft strömte durch das Instrument. Etwas, das weniger ein Ton als vielmehr eine Vibration war, kam zitternd zum Vorschein und durchdrang den Boden: »Lavendelblau, dideldei, Lavendel, hier gehör ich hin. Hier bin ich König, dideldei …«

Die Wirkung auf Gordon Holman und den Rest seiner Truppe war unmittelbar – und beängstigend. Sie standen auf, versammelten sich um Jack herum und streckten flehend ihre Hände aus. Sie sprachen nicht, doch ihre Gliedmaßen gaben ein Scharren von sich. Es erinnerte ihn an die Tauben, die sich auf den Dächern von The Oaks versammelten. Ihre Körper ließen hier tief unter der Erde das inzwischen auf schreckliche Weise vertraute Sssschhhhhhh-Geräusch ertönen.

Jack zog sich auf die Leylinie zurück und schritt langsam in Richtung The Oaks. Er wandte sich um. Die Geistesgestörten folgten ihm nicht. Sie standen immer noch an Ort und Stelle und hielten die Hände vor sich. Ihre Augen waren geschlossen und ihre Gesichter vor Sehnsucht verzerrt.

Nach was kann man sich bloß so verzweifelt sehnen?, fragte sich Jack. Was ist es, das ihnen so viel bedeutet?

Er ging weiter und hielt dann inne. Seine Verfolger standen in unveränderter Haltung an der gleichen Stelle. Er zögerte, nahm dann erneut die Flöte und spielte die Melodie immer und immer wieder.

Jetzt folgten sie ihm. Sie schienen spontan erblindet zu sein, als ginge ihnen jeglicher Sinn für das Visuelle ab, mit dem sich Jack in der Schwärze der Erde orientierte. Sie schlurften blass, ängstlich und stumpfsinnig hinter ihm her wie Aussätzige aus dem Mittelalter. Obwohl Jack sich ziemlich sicher war, dass sie ihm nichts antun würden, sahen sie so verstört, wirr und seltsam aus, dass er zur Sicherheit immer schneller lief, wobei er weiter auf der Flöte spielte und stets darauf achtete, dass sie ihn nicht einholen konnten.

Lavendelblau, dideldei … die Musik drang durch den Boden und glitt die Leylinien entlang. Wo sie sich kreuzten, schwebte sie in alle Richtungen, so weich und hell wie Quecksilber.

Die Klänge erreichten The Oaks und verteilten sich überall. Sie waren hoch und schwingend wie das Lied eines Spinnennetzes, das vom Wind gestreichelt wird. Die Melodie drang nach Janesville und Watertown, nach Mineral Point, Monona und Waukesha vor.

Im ganzen südöstlichen Wisconsin hob die restliche Armee der Wahnsinnigen den Kopf, lauschte und runzelte tief unter der Erde, tief unter den Bürgersteigen in ihren Verstecken in Wänden, Decken und Möbeln die Stirn.

Der Ruf. Aber der Ruf kam viel zu früh. Tausende weiterer Leben mussten noch genommen werden, 800 von jedem. So lautete das Gesetz, das war als Preis für ihr Entkommen festgelegt.

Doch obwohl die Verwirrten ein ungutes Gefühl wegen des frühen Rufs hatten, sie konnten ihm nicht widerstehen. Der Ruf. Die gleiche traurige Flötenmusik, die immer und immer wieder ertönte. Lavendelblau, dideldei … Das älteste der heiligen Lieder des Gottes Awen, des großen Schöpfers.

Die Melodie war eine mystische Abfolge von Tönen analog zur mystischen Abfolge von Symbolen des Hexagramms. Jene, die sie hörten, fühlten sich körperlich davon angezogen und strömten durch den Boden die Leylinien entlang, auf dem gleichen Weg waren einst die Blausteine von Stonehenge aus dem alten Wales nach Salisbury Plain gelangt. Eine Reise, zu der es keine Alternative gab. Eine Reise, die angeordnet wurde.

Sie kamen, weil sie gerufen wurden.

136 von ihnen kehrten auf diesem Weg nach The Oaks zurück. Einige hinterließen Furchen auf Äckern und Straßen, einige wanderten ohne sichtbare Spuren, aber deutlich hörbar durch Läden, Wände und Apartments. Sie tanzten nicht und sie redeten nicht, im Gegensatz zu den Kindern, die dem Rattenfänger von Hameln gefolgt waren. Aber sie rannten, sie rannten mit geschlossenen Augen, als ob ihr Leben davon abhinge.

Als er am Fundament von The Oaks anlangte, hatte Jack begriffen, dass es ihm gelungen war, sie alle herbeizurufen. Er nahm sie überall um sich herum wahr, als ob er auf einer Erhebung im Boden stünde. Sie drängten von allen Seiten durch die Nacht heran – kamen mit entschlossener Miene auf ihn zu. Auf den letzten paar Kilometern hatte er genügend Selbstbewusstsein erlangt, sodass er es wagte, Gordon Holman und seinen grausigen Freunden den Rücken zuzukehren und in eigenem Rhythmus weiterzumarschieren. Er begab sich auf die Suche nach Quintus Miller.

Über dem Erdreich, in dem sie sich aufhielten, tobte ein heftiges Gewitter und Regen ging unablässig auf The Oaks nieder. Aus den kaputten Dachrinnen spritzte das Wasser heraus. Das Schwimmbad war überflutet und die Übelkeit erregende schwarze Brühe aus dem Becken sickerte über den halben Tennisplatz.

Unter der Kellertür stand Jack schließlich in der Mitte eines schweigenden Kreises, der aus den letzten Bewohnern von The Oaks bestand. Alle waren da – bis auf Quintus Miller.

Du hast uns zu dir gerufen und wir sind gekommen, sagte ein großer Mann mit einem überdimensionierten und von einer Hirnhautentzündung gezeichneten Kopf. Wo ist das Opfer?

Ich habe euch gerufen, weil wir heute Nacht Awen huldigen müssen. Jack improvisierte munter drauflos, während er verzweifelt versuchte, Quintus Miller ausfindig zu machen.

Soll das heißen, dass wir ein Opfer bringen?, erkundigte sich ein Schwarzer mit einer extrem fliehenden Stirn. Soll das heißen, dass jemand sterben wird?

Nun – ähm – ganz genau!, antwortete Jack. Jemand wird sterben. Einer von euch – um Awen zu beweisen, dass ihr dazu bereit seid, alles für ihn zu geben – einschließlich eures eigenen Lebens. Einschließlich eurer Seelen.

Die Versammlung der Wahnsinnigen stieß einige haarsträubende Angstschreie aus. Sie hörten sich an wie die Passagiere eines abstürzenden Flugzeugs. Sie hatten keine Angst davor, ihr Leben zu lassen. Schließlich bestanden sie in ihrer momentanen Erscheinungsform lediglich aus Lehm – sie waren nichts weiter als Erde. Und damit war es möglich, ihre körperliche Präsenz wiederherzustellen … vorausgesetzt, ihre Seele hatte überlebt. Wenn hingegen ihre Seele vernichtet wurde, dann blieb nur das Nichts – Schlimmeres als das Nichts: das ewige Bewusstsein der Abwesenheit von allem …

Mein Freund weiß alles über die heiligen Bräuche der Druiden …, sagte Jack. Und mein Freund sagt, dass nach der heiligen Tradition euer Anführer geopfert werden sollte. Falls ihr euch weigert, werdet ihr nie wieder erfahren, wie es ist, als freie Menschen auf der Erde herumzulaufen. Ihr werdet niemals die Erlaubnis von Awen erhalten, den Untergrund zu verlassen. Habt ihr mich verstanden? Euer Anführer steht für alle von euch … wenn ihr ihn opfert, erbringt ihr Awen den eindeutigen Beweis, dass ihr ihn verehrt … dass ihr ihm treu ergeben seid.

Jack atmete tief durch. Die feuchte Luft im Boden roch säuerlich. Jack konnte den essigartigen Geruch ausmachen, der The Oaks durchdrang. 135 grundverschiedene Gesichter blickten ihn mit geschlossenen Augen an – sie sahen ihn nicht, sondern sie spürten ihn. Einige von ihnen waren unglaublich schön, andere wiederum besaßen groteske Fratzen, die ihn an die Wasserspeier auf dem Grundstück erinnerten. Wiederum andere wirkten gewöhnlich. Für Jack ein sicheres Zeichen, dass sie umso gefährlicher waren.

Also gut …, sagte er und hob die Arme. Zuerst müssen wir Quintus Miller ausfindig machen. Habt ihr das verstanden? Und wenn ihr ihn gefunden habt, müsst ihr ihn opfern. Sonst habt ihr keine Chance – ihr werdet für immer unter der Erde gefangen sein.

Und was ist mit den 800 Leben, die eigentlich jeder von uns auslöschen sollte? Ich habe bisher erst 6 erwischt. Die Menschen über der Erde lassen sich gar nicht so leicht fangen, gab der Mann mit dem übergroßen Kopf zu bedenken.

Vergesst die 800 Leben. Es ist Quintus Miller, um den ihr euch zuallererst kümmern müsst.

Eine Frau trat vor. Ihr langes aschblondes Haar berührte wie bei Botticellis Venus fast den Boden, doch sie war ein Kind der Erde und nicht des Meeres. Sie schien auf den ersten Blick nicht älter als 30 zu sein, tatsächlich war sie aber über 90. Sie hob die Arme und flüsterte: Wieso sollten wir dir trauen? Wir haben Quintus Miller immer vertraut. Du verlangst von uns, dass wir Quintus opfern, aber willst du das vielleicht nur, weil Quintus deinen Sohn für Awen vorgesehen hat? Wer garantiert uns, dass du uns nicht betrügst und wir letztendlich niemals entkommen?

Jack antwortete: Ihr habt Quintus vertraut – und was ist passiert? Ihr seid mittlerweile seit über 60 Jahren in diesen Wänden gefangen. Quintus wird nur sich selbst retten, glaubt mir. Ihr seid Quintus völlig egal. Er will hier raus, und das ist alles, was ihn interessiert.

Er ist hier, stellte sie fest.

Was meinst du damit, ›Er ist hier‹? Wo? Ich kann ihn nicht sehen.

Er ist hier im Gebäude. Er ist hier in The Oaks. Oben. Ich kann es fühlen.

Jacks Haut prickelte. Also war Quintus schon da. Aber warum? Jack hatte eigentlich erwartet, dass er die Straßen auf der Suche nach weiteren Menschen durchkämmte, die er töten konnte, um wieder in die wahre Welt einzutreten. Er sah durch die tragende Wand nach oben, erkannte aber nichts als absolute Dunkelheit.

Wartet hier, befahl er der versammelten Gemeinde von Geisteskranken. Bereitet euch auf das große Opfer für Awen vor. Betet. Denkt an die Zeit, die ihr in der realen Welt verbracht habt. Diese Zeit kommt wieder. Aber geht nicht weg, verstanden? Ich brauche euch hier.

Wohin gehst du, Flötenspieler?, fragte Gordon. Seine Stimme klang seltsam ausdruckslos und abwesend, als ob er immer noch von der Musik wie betäubt war.

Hoch, antwortete Jack. Ich gehe nach oben.

Er stemmte sich durch das dunkelgraue Mauerwerk wie ein Taucher, der zur Oberfläche eines verschlammten Teichs durchdrang. Seine hohlen Hände bahnten ihm den Weg durch den kalten, feuchten Zement – ssssschhhhh – ssssschhhhh – ssssschhhhh. Als er durch eine Holztür glitt, spürte er gelegentlich ein Prickeln, als ob ihn Kiefernnadeln piksten.

Jack näherte sich exakt der Stelle in Quintus Millers Zimmer, an der das Hexagramm an die Wand gezeichnet worden war. Sein Gefühl sagte ihm, dass Quintus sich wohl am ehesten dort aufhalten würde, um nach einem Ausweg zu suchen.

Die Bauweise von The Oaks war extrem vertrackt. Jedes Mal, wenn Jack sich zum ersten Stock vorgekämpft hatte, fand er sich in Wänden wieder, die sich zu Torbögen krümmten und ihn zurück ins Erdgeschoss brachten. Immer, wenn er sich Quintus Millers Zimmer näherte, führten ihn die Wände mit großer Entschlossenheit wieder von dort weg.

Am Ende eines Korridors in der zweiten Etage hielt er inne und versuchte, das Gebäude in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und seinen Symbolgehalt zu erfassen. Das Labyrinth, hatte Adolf Krüger es genannt – und das war es in der Tat.

Du bist ein Geschäftsmann, du leitest eine sehr erfolgreiche Autowerkstatt, redete Jack sich gut zu. Setz doch mal etwas Know-how aus deinem Job ein. Versuch’s mit logischem Denken. Diese Druiden lebten vor Tausenden von Jahren, aber ganz sicher sind auch sie nicht auf Ideen gekommen, die ein cleverer amerikanischer Geschäftsmann nicht durchschauen könnte.

Jack versuchte es damit, dass er von Quintus’ Zimmer wegging, so wie Alice immer in die entgegengesetzte Richtung gelaufen war, als sie versuchte, sich im Spiegelland zurechtzufinden. Doch mit dieser Methode gelangte er auf die andere Seite von The Oaks in eine der schäbigsten Ecken direkt neben der Besenkammer.

Nein, es musste eine andere Methode geben, die zum Erfolg führte, beschloss Jack. Er versuchte noch einmal, direkt zu Quintus’ Zimmer vorzudringen, doch wieder verfehlte er es um einige Meter. Es kam ihm vor, als würde er für jeden Schritt nach vorne gleichzeitig zwei zurück machen.

Vielleicht war es das. Ein Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück. Er probierte es aus und überraschenderweise gelang es ihm so, das Ende des Gangs im ersten Stock zu erreichen. Er nahm einen weiteren Anlauf, doch diesmal verfehlte er sein Ziel wieder deutlich. Vielleicht war es eine kompliziertere Abfolge. Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück. Und dann zwei Schritte vor und drei Schritte zurück. Dann drei Schritte vor und vier Schritte zurück.

Nach vier oder fünf Minuten hatte er des Rätsels Lösung gefunden. Ein Schritt vor und zwei Schritte zurück. Dann zwei Schritte vor und ein Schritt zurück. Er wiederholte diese Abfolge wieder und wieder und drehte sich dabei nach rechts und links, bis er ziemlich abrupt die dem Hexagramm gegenüberliegende Wand von Quintus Millers Zimmer erreichte.

Jack konnte gerade noch einen entsetzten Schrei unterdrücken.

Quintus Miller war bereits da – und Randy ebenfalls.

Miller kniete in der Wand auf der Seite des Zimmers. Er sah nicht in Jacks Richtung und war außerdem viel zu beschäftigt mit dem, was er tat.

Jack rührte sich nicht, war wie gelähmt vor Schreck und versuchte, nicht zu laut zu atmen. Quintus hatte sein Kommen offenbar nicht bemerkt – und wenn doch, dann traute er Jack so wenig zu, dass er ihn kurzerhand ignorierte.

Quintus war Jack schon unheimlich gewesen, als er ihn zum ersten Mal im Glas von Geoffs Windschutzscheibe gesehen hatte. Doch jetzt in der Wand stieß ihn seine Erscheinung sogar noch mehr ab. Quintus war klein, besaß einen monströsen Kopf, einen Stiernacken, zurückgekämmtes Haar und ein Gesicht, das so kalt aussah wie eine Maske aus lackiertem Stahl. Er trug eine schmutzige, graue Flanellhose und einen Sam-Browne-Gürtel mit Hämmern und Zangen, die daran befestigt waren. Quintus’ Rücken war übersät von krausem, grauem Haar und auf seinen Ellenbogen zeichneten sich rosa-weiße Ekzeme ab.

Doch was Quintus tat, war noch weitaus beängstigender. Er hatte Randy gezwungen, sich direkt hinter dem Hexagramm aus Blut nackt in die Wand zu stellen. Randys Arme und Beine waren gespreizt, sodass sie die Sternform, die Erde, Wind, Wasser und Feuer symbolisierte, genau nachzeichneten. Seine Handgelenke und Knöchel steckten fest, weil Quintus sie in die reale Welt gezwungen hatte – kleine Hände und Füße, die aus dem Putz herausragten.

Randys Kopf war nach vorne gesunken und ruhte an der Innenseite der Wand. Er wirkte verdreckt, strubbelig und erschöpft. Hätte Jack nicht um die Gefahren gewusst, die von Quintus Miller ausgingen, wäre er auf der Stelle losgerannt, hätte sich Randy geschnappt und ihn in die Arme geschlossen.

Und es gab einen weiteren Grund für seine Zurückhaltung: Jack rätselte nach wie vor, warum es Quintus und den anderen Wahnsinnigen gelang, durch Wände und Böden hindurchzugreifen, während Pater Bell und Randy offensichtlich in die Falle gegangen waren, als ihre Hände von einem Element in das andere übertraten. Und Jack hatte hautnah mitbekommen, was mit denjenigen passierte, die von den Psychopathen unter die Erde gezogen wurden.

Denkbar, dass Quintus und seine Anhänger aufgrund all der Jahre, die sie in den Wänden von The Oaks zugebracht hatten, zusätzliche Energien aus der Erde in sich aufgenommen hatten. Vielleicht lag es auch einfach an einem abweichenden Ritual. Laut Geoff existierten zahllose Varianten druidischer Riten, um sich von einem Element in ein anderes zu versetzen. Die meisten von ihnen waren allerdings über die Jahrhunderte in Vergessenheit geraten. Vielleicht hatte Quintus eine dieser verschollenen Methoden in Adolf Krügers Büchern wiederentdeckt – den Büchern, die mittlerweile zu Asche zerfallen waren.

Jack regte sich nicht. Er wusste nicht, was er tun sollte. Er fragte sich, ob es sinnvoll war, Quintus in das Erdreich unter dem Keller zu locken, wo sein Gefolge darauf wartete, ihn als Opfer darzubringen.

Das Problem war, dass er sich in dem Labyrinth aus Wänden immer noch nicht blind zurechtfand und Quintus ihn mit ziemlicher Sicherheit auf halber Strecke einholen würde. Selbst wenn es ihm gelang, Quintus in Richtung Keller zu locken, besaß Jack keine Garantie dafür, dass seine Anhänger ihrem langjährigen Anführer nicht in einem plötzlichen Anflug von Loyalität dabei halfen, ihn selbst in Stücke zu reißen.

Seine einzige Verteidigung war seine Flöte, doch ob die Wirkung des Lavendelblau-Lieds anhielt, wusste er nicht … und er kannte keine weitere druidische Musik oder andere Rituale.

Jack stand immer noch mucksmäuschenstill in einer Ecke des Zimmers, als Quintus sich so weit vorbeugte, dass er mit seinem Kopf den Boden berührte und mit dumpfer Stimme eine lange Litanei herunterbetete. Jack verstand nur einige Worte, aber es handelte sich definitiv um Gälisch.

»Failt ort fein, a gheallach ur,

Ailleagan iuil nan neul!«

Randy wimmerte und warf den Kopf wie in Trance von einer Seite zur anderen. Seine Augen waren geschlossen, genau wie die von Jack und von Quintus selbst.

»Failt ort fein, a gheallach ur …«

Uuuuuh …, stöhnte Randy.

»Ailleagan iuil nan neul!«

Während Quintus die Worte rezitierte, hörte Jack vor dem Zimmer Geräusche. Nicht in den Wänden, sondern im Korridor selbst. Schritte und Stimmen. Er sah wieder zu Quintus hinüber, nahm dessen kniende Gestalt vor seinem inneren Auge wahr, doch Quintus selbst war zu beschäftigt mit seinem Ritual, um die akustische Störung zu bemerken.

Plötzlich erkannte Jack die Stimmen und das Klackern von Absatzschuhen. Es waren Geoff und Karen. Endlich! Gott sei Dank!

Geoff sagte gerade: »… können unmöglich wissen, ob er entkommen ist. Ich kann ja schließlich schlecht bei Sergeant Schiller anrufen und nachfragen.«

»Er wird es schon schaffen, zu The Oaks zu gelangen«, zeigte sich Karen überzeugt. »Wenn es auch nur den Hauch einer Chance gibt, dann nutzt er sie. So ist Jack.«

»Na ja, lass uns einfach mal einen Blick reinwerfen«, schlug Geoff vor, als sie die Tür zu Quintus’ Zimmer erreichten. »Das Hexagramm ist Ein- und Ausgang des Labyrinths. Wenn er irgendwo rauskommt, dann mit Sicherheit an dieser Stelle.«

»Aber wieso sollte ausgerechnet Jack es schaffen, aus der Wand herauszukommen, wenn Quintus Miller es nicht fertigbekommt? Zumindest nicht, ohne all diese Menschen zu töten?«

Geoff öffnete die Tür, betrat das Zimmer und leuchtete es kurz mit der Taschenlampe ab. »Ich weiß es nicht sicher, um ehrlich zu sein. Aber laut Druggetts Buch war es in der Regel so, dass für jeden Monat in der Erde ein Opfer dargebracht werden musste. Awen verlangt es so. Ich schätze, es ist eine Art Entschädigung für all die Kraft und Energie, die eine Person dem Boden abverlangt, wenn sie darin lebt. Der Magnetismus der Erde muss wieder regeneriert werden, genau wie ihre Mineralien. Awen ist der Beschützer der Erde und für ihn ist sie ungleich wertvoller als das Leben einzelner Menschen.«

»Wenn du mir so was erzählst, bekomme ich eine Gänsehaut«, stellte Karen fest.

Jack presste seine Fingerkuppen gegen das Gemäuer und versuchte, sie durch die Wand hindurchzudrücken, um Geoffs Aufmerksamkeit zu erregen. Doch das Mauerwerk gab nicht nach und er war noch nicht stark genug, um die mystische Grenze zu überwinden, die die Welt aus Erde von der Welt aus Luft trennte.

Er zögerte. Quintus sang immer noch leise vor sich hin und wippte dabei vor und zurück, als ob er langsam in Trance verfiel. Vielleicht würde Quintus es gar nicht mitbekommen, wenn Jack nach Geoff rief.

Randy stöhnte und warf den Kopf zurück. Gleichzeitig bewegte er seine Hände und Füße. Geoff leuchtete mit der Taschenlampe auf das Hexagramm.

Weil Jack seine Umgebung allein durch die Kraft seiner Vorstellung wahrnahm, ohne die Augen zu öffnen, hatte er beinahe vergessen, dass es immer noch dunkel war und Geoff eine Taschenlampe brauchte, um zu wissen, was vor sich ging. Der Lichtkegel glitt über die Wand, leuchtete auf Jacks Gesicht und blendete ihn – nicht das Licht selbst, denn das konnte nicht durch die Wand dringen, sondern die ionisierten Teilchen, die aus der Taschenlampe strömten.

»Karen!«, rief Geoff. »Sieh dir das an! Da sind Hände und Füße an den Ecken des Hexagramms! Die Hände und Füße eines Kindes!«

Geoff!, zischte Jack. Geoff, um Himmels willen!

Doch Geoff hörte ihn nicht. Er kniete sich vor das Hexagramm, berührte einen von Randys bloßen Füßen und sagte: »Das ist Randy! Er muss es sein! Es gab keine minderjährigen Patienten in The Oaks!«

»Aber warum ragen seine Hände und Füße aus der Wand?«, wollte Karen wissen. Jack nahm die blonde Farbe der Perücke wahr, die sie gekauft hatte, um sich als seine Schwester Edna-Mae ausgeben zu können. »Ist er da drin?«

»Ja, das ist er«, bestätigte Geoff besorgt. »Und er wird auf diese Weise dort festgehalten, weil er geopfert werden soll. Das ist das letzte Opfer, das Opfer eines Kindes, das es dem Erdenläufer erlaubt, sich endgültig aus der Wand zu lösen.«

»Aber sie haben doch noch gar nicht genug Menschen getötet«, stellte Karen fest. »In den Nachrichten war die Rede von nur 216. Damit kommt nicht mal einer der Bekloppten aus der Wand!«

Geoff!, sagte Jack, lauter diesmal.

Quintus Miller hatte nach der Hälfte seines Rituals aufgehört zu singen und erhob sich langsam aus der Hocke. Sein Gesicht war ausdruckslos, seine Augen bewegten sich nicht, doch Jack spürte, wie verärgert er über die Unterbrechung war. Aus seiner Schulter und seinem Rücken traten die Muskeln deutlich sichtbar hervor. Seine Arterien waren angeschwollen und die Sehnen seines riesigen Halses so gespannt wie Stahlkabel.

»Kannst du Randy rausholen?«, wollte Karen von Geoff wissen.

Geoff!, schrie Jack. Quintus Miller ist da! Geh weg von der Wa…

Ohne Vorwarnung schob Quintus einen Arm aus dem Mauerwerk und packte Geoff am Bart, versuchte ihn mit dem Kopf in die Wand hineinzuziehen.

Geoff brüllte vor Schmerz. Karen schrie ebenfalls. Sofort rannte Jack die Wände entlang durch das Zimmer, packte Quintus Miller an den Schultern und schüttelte ihn, so fest er konnte.

Quintus ließ Geoff los, der mit blutigem Gesicht zurück ins Zimmer fiel, und wandte sich zu Jack um. Jetzt waren seine Augen geöffnet und kalt wie Stahl. Sein Brustkorb hob und senkte sich vor Wut und jetzt, wo er in Jacks Richtung sah, erkannte dieser das grauenvolle Tattoo auf dem Bauch des Geistesgestörten.

Zwei tätowierte Hände schienen Quintus an der Hüfte zu packen und ihm die Haut aufzureißen, sodass seine inneren Organe sichtbar wurden. Wer auch immer dieses grässliche Meisterwerk der Illusion geschaffen hatte, musste besessen und gleichzeitig perfektionistisch ans Werk gegangen sein, denn Jack musste zweimal hinschauen, um sich zu vergewissern, dass Quintus nicht wirklich ausgeweidet worden war.

Die Leber in Dunkellila, die glänzende beige Bauchspeicheldrüse, die blassen Schleifen des Dickdarms – alles war bis ins kleinste Detail nachempfunden.

Mit erzwungen ruhiger Stimme sagte Quintus: Ich hab dich gewarnt, du mieses, aufdringliches Arschloch. Ich hab dich gewarnt.

Ich will meinen Sohn, verlangte Jack.

Quintus kam näher und Jack wich zurück. Dein Sohn gehört jetzt mir. Dein Sohn ist mein Passierschein.

Ich werde nicht zulassen, dass du ihn mir wegnimmst, Quintus. Da musst du erst mich töten.

Mit dem größten Vergnügen. Quintus grinste und kam rasch näher.

Scheiße, das war’s dann wohl!, dachte Jack und wappnete sich für den Angriff. Quintus war noch viel stärker, als er erwartet hatte. Er prallte mit der unbändigen Wucht eines Lastwagens weit jenseits des Tempolimits gegen Jack, umklammerte seine beiden Handgelenke und verpasste ihm einen derart heftigen Kopfstoß, dass Jack für kurze Zeit völlig benommen war. Dann schlug Quintus ihm mit der Faust zweimal in die Magengrube und einmal gegen die Brust. Jack hörte eine seiner Rippen brechen, doch in seinen Lungen war keine Luft mehr, um zu schreien.

Quintus hob ihn unsanft in die Höhe und schleuderte ihn die ganze Länge der Wand entlang, sodass Jack auf seiner Schulter aufkam – genau neben Randy.

Jetzt werde ich dir die Arme ausreißen, schwor ihm Quintus. Ich reiß dir die Arme aus und stopf sie dir in den Hals hinein. Mit erhobenen Händen kam er auf Jack zu. In seinem Gesicht zeigte sich ein solch berechnender Wahnsinn, dass Jack das Blut in den Adern gefror.

Quintus packte ihn am rechten Arm, doch in diesem Moment zuckte er zusammen und drehte sich wütend um. Dann zuckte er erneut und schlug sich auf die Schulter, als ob ihn etwas gestochen hätte, und ließ Jack los.

Verdutzt und völlig außer Atem sah sich Jack im Zimmer um. Geoff stand in der Mitte und bespritzte die Wände mit seiner Perrier-Flasche voller Weihwasser.

»Ab insidiis diaboli, libera nos, Domine!«, proklamierte er laut, trotz seiner geschwollenen, blutigen Lippen. »Audi nos!«

Quintus schäumte vor Wut und stieß einen harschen, durchdringenden Laut aus, der Jack unfreiwillig zusammenzucken ließ.

Die christlichen Priester hatten die mächtigen Rituale der Heiligen Kirche eingesetzt, um die Druiden zu verdrängen, und jetzt benutzte Geoff die gleichen Rituale, um Quintus Miller aufzuhalten.

Jeder Spritzer des Weihwassers zischte auf der Haut des Wahnsinnigen wie Säure. Das Haar auf seinem Rücken vertrocknete und begann zu brennen. Doch Quintus ging erneut auf Jack los, während er weiterhin wie von Sinnen brüllte. Stücke! Hol dich der Teufel! Stücke! Mehr wird nicht von dir übrig bleiben! Stücke!

Quintus’ Umriss musste sich auf der Oberfläche der Wand abgezeichnet haben, denn jetzt spritzte Geoff das Weihwasser wie eine Dusche aus heiligem Salzwasser direkt auf ihn. Das Gesicht von Quintus schlug Blasen, sein Ohrläppchen zischte, die Haut rollte sich zusammen und war auf einer Seite seines Armes bereits versengt.

»Ut inimicos sanctae Ecclesiae humiliare digneris, te rogamus, audi nos!«

Mit vor Kraft und Schmerz zitternden Händen packte Quintus Jack am Arm. Er starrte ihm direkt ins Gesicht. In diesem Moment war Jack fest davon überzeugt, dass Quintus ihn töten würde. Doch dann knallte eine neue Dusche aus Weihwasser wie eine mehrsträngige Peitsche auf Quintus’ Rücken, woraufhin er Jack mit einem entsetzlich schrillen Schrei von sich stieß.

Jack stolperte rückwärts und verlor das Gleichgewicht. Doch er schaffte es gerade noch, Randy am Arm zu packen, während er sich überschlug.

Vater und Sohn purzelten aus dem Hexagramm an der Wand und rollten als vereintes Knäuel über den Boden.

Hinter ihnen wütete und brüllte die immer noch gefangene betongraue Wandfigur von Quintus Miller ihnen ihre Frustration entgegen. Geoff machte einen Schritt auf Quintus zu und besprenkelte ihn immer und immer wieder im Zeichen des Kreuzes mit dem Wasser, bis der irre Anführer plötzlich verschwand.

Karen kniete auf dem Boden und hielt Jack fest im Arm. Sie zitterte vor Schock und Erleichterung. Jack hatte seinen Arm um Randy gelegt und hüllte seinen Körper in sein staubiges Hemd ein. Sein Gesicht und seine Haare waren über und über mit getrocknetem Putz bedeckt und unter seinen Fingernägeln war braune Erde zu sehen.

»Du hast es geschafft, ich kann es kaum glauben!«, schluchzte Karen. »Du bist durch die Wand gegangen und hast es geschafft!«

Jack sah Geoff an. Geoff hielt ein blutgetränktes Taschentuch seitlich an sein Gesicht, aber er lächelte.

»Danke dir, mein Freund«, ergänzte Jack.

»Du hattest den Mumm, es durchzuziehen, Kumpel«, antwortete Geoff. »Und deinen Sohn hast du auch gerettet.«

»Tut’s arg weh?«, erkundigte sich Jack, als Geoff seine Wange abtupfte.

Geoff schüttelte den Kopf. »Ist bloß ein Kratzer.«

»Randy? Wie geht es dir? Geht’s dir gut?«, erkundigte sich Jack bei seinem Sohn.

Randy hustete, rieb sich die Augen und starrte seinen Vater benommen an. Er konnte noch gar nicht glauben, dass er endlich frei war. »Hast du ein Malzbier für mich?«, erkundigte er sich schließlich.

Karen drückte ihn an sich. »Schätzchen, ich wünschte, wir hätten eins. Aber wir werden dir etwas Wasser besorgen.«

Jack rappelte sich mühsam vom Boden auf. »Ich glaube, dieser Hurensohn hat mir eine Rippe gebrochen. Ich hatte Glück, dass er mich nicht umgebracht hat.«

Geoff erwiderte: »Ich würde sagen, wir machen hier so schnell wie möglich die Fliege. Quintus braucht noch ein letztes Opfer, um aus der Wand herauszukommen, vorzugsweise Randy, doch Karen wäre vermutlich eine gute zweite Wahl. Im Notfall täte es wahrscheinlich jeder von uns – also glaubt bloß nicht, dass er uns einfach so gehen lässt.«

»Ich dachte, er muss erst 800 Menschen töten, um aus der Wand zu kommen«, wandte Jack ein.

»Tja, das dachte ich auch«, stimmte Geoff zu. »Lester hat es so gesagt und so stand es auch in Druggetts Buch. Aber es scheint, als wäre er jetzt schon bereit dazu. Und glaubt mir, er ist zu allem fähig. Ich habe mir mal seine Krankenakte angesehen. Seit die Polizei anfing, mich zu suchen, hielt ich mich hier in The Oaks versteckt. Ich hab Elmer Estergomys Unterlagen durchforstet und einige Notizen zu Quintus Miller gefunden. Seine eigene Akte ist allerdings nicht mehr da … die Polizei muss sie wohl vernichtet haben, als die Patienten damals verschwunden sind. Doch Estergomy hat ziemlich viele Randbemerkungen an anderen Stellen gemacht und auch ein Tagebuch geführt, das so einiges offenbart.«

Geoff half Randy auf die Füße. Dann kämpfte er sich aus seinem faserigen braunen Pullover und stülpte ihn Randy über den Kopf. »Da! Besser so? Der sollte dich warm halten, bis wir zurück im Auto sind.«

Sie verließen Quintus Millers Zimmer und traten ihren Rückzug durch den dunklen Gang an, indem sie Geoffs hin- und herwanderndem Taschenlampenschein folgten. Jack hatte einen Arm um Karen und den anderen um seinen Sohn gelegt. Er war entschlossen, keinen von beiden wieder zu verlieren – erst recht nicht an Quintus Miller.

Er erzählte Geoff so viel wie möglich von seiner surrealen Reise entlang der Leylinien und darüber, wie er die Wahnsinnigen nach The Oaks zurückgerufen hatte.

»Ich gehe davon aus, dass sie immer noch dort unten auf mich warten.«

»In diesem Fall«, warf Geoff ein, »tun wir genau das, was Pater Bell damals getan hat: Wir ziehen einen Bannkreis aus Weihwasser um das Gebäude und hoffen, dass sie nicht ein zweites Mal nach draußen gelangen.«

»Es ist Quintus Miller, mit dem wir fertigwerden müssen«, stellte Jack fest.

»Ja«, bestätigte Geoff. Sie näherten sich jetzt der großen Treppe, die in die Halle führte. »Elmer Estergomys Notizen zu ihm waren faszinierend. Quintus ist ein klassischer Paranoiker, der durch das Lesen von Adolf Krügers Druidenbüchern zu der Schlussfolgerung gelangte, der einzig wahre Sohn von Awen, dem Druidengott, zu sein. Er litt sowohl unter Größen- als auch unter Verfolgungswahn. Deshalb rächte er sich an seiner Familie, indem er ihnen erst das Augenlicht nahm und sie dann erstach.

Laut Elmer Estergomy konnte er aber auch sehr charismatisch sein, obwohl er dieses Wort natürlich nicht benutzte. Quintus verlangte ständig nach Aufmerksamkeit, sowohl von den Angestellten als auch von den anderen Patienten, und manchmal sprengte seine Ausstrahlung die Grenzen des logisch Erklärbaren. Einige der Angestellten wollen gesehen haben, wie er Stifte allein durch Willenskraft über den Tisch bewegte, und einmal soll er eine Zeitung zerrissen haben, indem er sie einfach nur anstarrte. Merkwürdig, oder? Elmer Estergomy schrieb in seinem Tagebuch mehrfach, dass Quintus vermutlich der gefährlichste Patient war, mit dem er es je zu tun hatte.«

Jack zog eine Grimasse und presste sich die Hand auf die Rippen. »Das kann ich nur bestätigen. Aber was ist mit Schwächen? Besitzt er keine Schwächen? Karen hat vorgeschlagen, dass wir herausfinden sollen, was ihm Angst macht, ob er überhaupt irgendetwas fürchtet. Das könnten wir uns dann zunutze machen.«

Sie hatten die Treppe schon fast erreicht, als Geoff vorsichtig die Taschenlampe von einer Seite des Gangs zur anderen schweifen ließ.

»Elmer Estergomys Tagebücher lassen darauf schließen, dass Quintus Miller schreckliche Angst vor Hunden hatte. Er riss alle Bilder von Hunden aus Zeitschriften heraus und zerfetzte sie. Und wenn jemand anfing, von Hunden zu sprechen, bekam er einen regelrechten Anfall. Elmer Estergomy vermutet, dass es etwas mit der Nacht zu tun hatte, als er seine Brüder und seine Mutter tötete. Sein Vater kam nach Hause, fand ihn und hetzte ihm den Wachhund der Familie auf den Hals … offenbar wurde er dabei fast getötet. Er ließ sich tätowieren, um die Narben zu überdecken, aber auch, um seinem Vater höhnisch vorzuhalten, dass er beinahe zerfleischt worden wäre. Aber das ist die einzige Phobie, die Estergomy erwähnte.«

An Karen gewandt sagte Jack: »Das ist vermutlich der Grund, weshalb Joseph Lovelittle so lange überlebt hat. Quintus Miller wollte sich ihm nicht nähern, nicht solange er den Dobermann besaß.«

Sie erreichten die Treppe. Jack erkannte die blassen, blinden Statuen, den wie ein Skelett herabhängenden Leuchter und den schwachen Schimmer des Marmorbodens. Gott, er hasste diesen Ort und er fürchtete sich auch vor ihm. Noch nie in seinem Leben hatte er ein Gebäude so sehr verachtet wie The Oaks. Irgendwo prasselte der Regen durch ein Loch in der Decke auf den Boden und in der Ferne grollte der Donner.

Sie wollten gerade die Treppe hinuntergehen, als eine Taschenlampe sie blendete, die jemand von unten im Gang auf sie richtete. »Wer ist da?«, fragte eine schrille Frauenstimme.

In der Dunkelheit runzelte Jack die Stirn. »Geoff, gib mir mal die Taschenlampe!«, forderte er.

»Wer ist da?«, wiederholte die Frauenstimme. »Jack? Bist du das?«

»Herrgott im Himmel. Es ist Maggie!«, rief er.

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