In der grauen Morgendämmerung erreichte er Karens Haus und parkte den Wagen. Jack stieg aus und streckte sich. Er fühlte sich, als hätte man ihn windelweich geprügelt und sein ganzer Körper sei mit blauen Flecken übersät.
Jack beugte sich über die Motorhaube und untersuchte sie sorgfältig, um sicherzugehen, dass er keine verräterischen Blutspuren übersehen hatte. Es war ihm gelungen, den Großteil von Essies sterblichen Überresten in die Böschung zu schaffen, wo ihr hoffentlich Würmer und wilde Tiere den Rest gaben. Der Regen hatte anschließend seinen Teil dazu beigetragen, die letzten Rückstände vom Auto abzuwaschen.
Er befürchtete, dass die Polizei bereits nach ihm suchte. Pater Bell war bestimmt schon von seinem Altenheim in Green Bay als vermisst gemeldet worden und auch nach Olive Estergomy würde man in ihrem Haus in Sun Prairie bald vergeblich Ausschau halten. In beiden Fällen war er derjenige gewesen, den man zuletzt in ihrer Begleitung gesehen hatte.
Jack musste viermal klingeln, bis Karen endlich die Tür öffnete. Sie trug ein schwarzes Babydoll-Nachthemd und ihre Haare waren in Lockenwickler eingedreht. In ihrem Wohnzimmer war es düster und die Luft roch abgestanden. Auf dem neumodischen Couchtisch in Form einer Malerpalette standen neben der Porzellanfigur eines weinenden Kindes eine fast leere Flasche Smirnoff-Wodka und ein mit Lippenstift verschmiertes Glas.
Karen schlang ihm die Arme um den Hals und küsste ihn. Ihr Atem stank nach Alkohol. »Ich habe mir solche Sorgen um dich gemacht«, begrüßte sie ihn.
Jack pellte sich aus seinem Mantel und setzte sich auf das weiße Kunststoffsofa. »Ich weiß nicht mehr weiter, Teufel noch mal«, verriet er ihr. »Überall Leichen, es ist entsetzlich.«
»Ich koche uns erst mal einen Kaffee«, schlug sie vor. »Dann kannst du mich auf den neuesten Stand bringen. Wozu sind Freunde schließlich da?«
Jack erzählte ihr die ganze Geschichte und bemühte sich, nicht hysterisch, sondern gefasst und vernünftig zu klingen und keine wichtigen Details auszulassen. Karen saß neben ihm und hatte ihre Hand auf seine gelegt. Der knallrote Nagellack war teilweise abgebröckelt. Gelegentlich machte sie »Hm-mm, hm-mm« oder »Hm-mm?«, doch sie unterbrach ihn nicht und stellte keine Fragen. Jack war unsicher, ob sie ihm wirklich glaubte.
»Tja, jetzt solltest du besser nicht mehr die Polizei einschalten«, riet sie ihm, als er geendet hatte. »Das wäre – na ja – fast schon Selbstmord. Als würdest du dir selbst die Kehle durchschneiden.«
»Ich weiß aber nicht, was ich sonst machen soll.«
»Jack, Schatz, konzentrier dich drauf, Randy zurückzubekommen.«
»Aber Karen, sie werden Tausende Menschen töten, Tausende im wahrsten Sinne des Wortes. Wenn sie nicht längst damit angefangen haben.«
»Jack, es ist nicht deine Schuld. Du hast getan, was du konntest.«
Doch er schüttelte den Kopf. »Es ist meine Schuld, verdammt noch mal, ja? Es ist meine Schuld, dass Joseph Lovelittle sterben musste, und ebenfalls meine Schuld, dass Pater Bell sein Leben ließ, und auch, dass es Olive Estergomy erwischt hat. Karen, es ist ganz und gar meine Schuld! Sie hätten ja niemals auch nur einen Fuß auf das Gelände gesetzt, wenn ich nicht in ihrem Leben aufgetaucht wäre.«
»Aber warum bist du dorthin gegangen? Weil Quintus Miller es so wollte. Denn wer immer dieses kleine, blasse Mädchen ist, er muss die Kontrolle über sie besitzen. Es kommt mir fast so vor, als könnte er ihre Gedanken steuern.«
»Das macht mich aber nicht weniger verantwortlich für das, was geschehen ist.«
»Na ja, vielleicht doch, vielleicht nicht. Aber eins sag ich dir: Um Cecil unter Kontrolle zu bekommen, musste ich erst herausfinden, wie viel stärker er war als ich. Und als ich das wusste, wurde mir bewusst, dass ich einfach klüger sein musste als er. Ich ließ einen Angestellten seiner Spedition immer dann bei mir anrufen, wenn Cecil sich mit den Jungs einen hinter die Binde kippte. In diesen Nächten hielt ich mich dann von zu Hause fern und kam selbst erst sehr spät zurück. Irgendwann wurde es ihm zu dumm, weil er niemanden mehr hatte, den er als menschlichen Sandsack missbrauchen konnte. Du kannst Quintus Miller besiegen, wenn du ihm einen Schritt voraus bist. Mensch, Jack, er ist geistesgestört. Du wirst doch wohl einen Irren übertrumpfen können?«
Jack nippte an seinem Kaffee. »Nein, ich glaube nicht.«
Karen kuschelte sich an ihn heran und meinte: »Du musst mehr über ihn herausfinden, weißt du? Wer er war, warum sie ihn eingebuchtet haben und so weiter. Finde heraus, was für eine Art Spinner er genau war, ob er vielleicht vor irgendetwas Angst hatte. Vor Spinnen oder davor, das Haus zu verlassen.«
Jack küsste sie. »Hey! Du bist gar nicht so blöd, wie du aussiehst!«, lobte er.
»Du hast mir noch nie gesagt, dass ich blöd aussehe.«
»Sorry, so hab ich das nicht gemeint. War doch nur eine Redewendung, mehr nicht.«
»So, so. Wie dem auch sei, du solltest auch mehr über diesen Hokuspokus mit der Erdmagie herausfinden«, schlug Karen vor. »Vielleicht muss dieser Quintus Miller ja nicht Hunderte von Menschen umbringen. Vielleicht ist das ja einfach eine Art Legende, wäre das nicht möglich?«
»Klar!«, pflichtete Jack bei. »Pater Bell hat mir erzählt, dass Adolf Krüger sich auch mit Erdmagie beschäftigte. Und dass Quintus Miller seine Informationen vielleicht aus Adolf Krügers Bibliothek bezogen hat.«
»Na also!«, triumphierte Karen. »Also musst du einfach nur in Adolf Krügers Bibliothek die passenden Bücher finden.«
»Bei dir klingt das alles so einfach.« Jack lächelte.
»Jack, Schätzchen, nichts ist einfach, das weißt du. Das Leben ist schließlich kein Ponyhof.«
Jack schloss die Augen. Karen strich ihm mit der Fingerspitze über die Stirn. »Mike hat sich gefragt, was aus dir geworden ist«, erzählte sie. »Ich habe ihm gesagt, dass er sich keine Sorgen machen soll, dass alles in Ordnung ist. Oh, und Maggie hat auch in der Firma angerufen. Sie plapperte die ganze Zeit irgendwas von wegen Frauenwochenende.«
Ohne die Augen zu öffnen, sagte Jack: »Ich habe Menschen sterben sehen. Zum ersten Mal in meinem Leben.«
»Du brauchst erst mal eine Mütze Schlaf«, entschied Karen.
Jack schlief drei Stunden auf der Couch. Als er aufwachte, dröhnte sein Kopf und er hatte einen fauligen Geschmack im Mund. Auf dem Wohnzimmertisch hatte Karen eine Nachricht hinterlassen: Bin auf Arbeit. Bis später!
Er öffnete die dünnen, lichtdurchlässigen Vorhänge. Es sah aus, als hätte es wenigstens aufgehört zu regnen, obwohl die Straßen immer noch nass waren. Er ging in die kleine Küche, öffnete den Kühlschrank und nahm sich ein Bier. Heineken. Karen hielt es für angesagt, Importprodukte zu kaufen. Jack öffnete die Dose, ging ins Badezimmer und drehte den Wasserhahn der Dusche auf. An die Kabine gelehnt, zog er seine Unterhose und Socken aus. Er roch nach Schweiß und nach etwas anderem: nach dem kalten, essigdurchtränkten Muff von The Oaks.
Nachdem seine Lebensgeister zurückgekehrt waren, rief er Karen im Büro an und bat sie darum, im Bierkeller gegenüber auf ihn zu warten. »Aber sag niemandem, dass du dich mit mir triffst. Sicher ist sicher, falls die Bullen schon nach mir suchen.«
»Im Kleiderschrank sind noch ein paar alte Hemden, Shorts und Jeans von Cecil, glaube ich. Schau mal ganz im unteren Fach nach«, forderte ihn Karen auf.
Jack fand ein riesiges, rot-weiß-kariertes Holzfällerhemd aus Schurwolle. Er musste die Ärmel hochkrempeln. Die Shorts waren so groß wie die aufgeblähten Segel eines Schiffes mitten auf dem Meer und die Jeans mit ihrer 56er-Bundweite groß genug für ihn und Karen zusammen, wenn jeder in eines der Hosenbeine stieg.
Er borgte sich den am wenigsten mit Rüschen besetzten Slip von Karen, den er finden konnte – ein weißes Satinhöschen mit einer Schleife vorn – und versuchte, möglichst viel Blut und Schmutz von seiner eigenen Hose zu entfernen. Dann glättete er sie mit Karens Reisebügeleisen, das er in der Küche fand. Während er bügelte, sah er fern. In den Nachrichten wurde über ein Feuer auf der Fähre von Milwaukee nach Ludington berichtet. Dann kam eine Meldung über ein paar Pfadfinderinnen, die auf mysteriöse Weise von einem Campingplatz am Mirror Lake verschwunden waren.
»Die Polizei fand die Zelte und die gesamte Campingausrüstung inklusive der Kleidung und persönlichen Besitztümer der Mädchen … doch auch am heutigen Morgen gibt es nach wie vor keine Spur von den 23 Mädchen und ihren vier Betreuerinnen … keine Anzeichen für einen Angriff oder etwas, das sie erschreckt oder zur Flucht bewogen hat … tatsächlich gab die Kriminalpolizei vor Kurzem bekannt, dass sie zwar Fußspuren der Mädchen fand, die in das Camp führen, aber keine in entgegengesetzter Richtung aus dem Camp heraus. Das macht den Fall noch mysteriöser und ist zudem äußerst merkwürdig, weil die letzten Regenschauer den gesamten Boden um den Zeltplatz herum aufgeweicht haben.«
Jack ließ das Bügeleisen sinken. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand ins Gesicht geschlagen. Es hat schon angefangen, dachte er. Sie haben die Mädchen erwischt und in den Untergrund gezerrt, genau wie Essie Estergomy. Sie haben begonnen und meinen es todernst: 800 Opfer für jeden von ihnen. Und dann …
Jack zog die grob gereinigte Hose an, schaltete Bügeleisen und Fernseher aus, warf sich den Mantel über die Schultern und verließ das Haus. Es war noch kühl draußen, aber der Himmel klarte langsam auf. Jack stieg in seinen Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen zurück in Richtung West Good Hope Road.
Er raste die mit Pfützen bedeckten Straßen entlang, bis er bei Reed Muffler & Tire ankam. Sein Kombi schepperte über die betonierte Auffahrt. Mike Karpasian stand neben der Werkstatt und sprach mit einem Kunden, doch als er Jack aus dem Auto steigen sah, entschuldigte er sich kurz und eilte zu ihm.
»Jack? Ist alles in Ordnung?«
»Nicht direkt. Ich habe einige dringende Familienangelegenheiten zu klären, aber sonst ist alles okay.«
»Du siehst ziemlich scheiße aus. Kann ich irgendetwas für dich tun?«
Jack klopfte ihm auf die Schulter. »Mach einfach die Kunden glücklich.«
»Klar, kein Problem. Aber ich brauche ein paar Unterschriften. Goodrich wird keine weiteren Reifen liefern, bis wir die letzte Rechnung bezahlt haben. Allwetterreifen sind gar keine mehr da.«
»Such einfach die Schecks raus, okay? Ich zeichne sie dir schnell ab.«
Jack durchquerte die Werkstatt, aus der laute Arbeitsgeräusche drangen, mit Mike Karpasian im Schlepptau. Als er das Büro betrat, sah Karen überrascht auf. Sie trug einen roten Sweater, den einer von Jacks Kunden »lebende Götterspeise« getauft hatte, dazu einen engen schwarzen Lederrock mit Korsettschnüren an der Seite.
»Was ist los?«, erkundigte sie sich und ließ die Finger über der Tastatur schweben.
»Wir müssen sofort los. Kannst du die Agentur anrufen und einen Zeitarbeiter bestellen? Und Mike will die Schecks unterschrieben haben.«
»Okay, kein Problem«, antwortete Karen. Sie reichte ihm einen Plastikschnellhefter, auf dem »Bitte abzeichnen!« stand, und wählte die Nummer von Milwaukee Office SOS, der Zeitarbeitsfirma, mit der sie meistens zusammenarbeiteten.
»Was ist passiert?«, erkundigte sie sich leise, während sie darauf wartete, dass jemand abnahm. »Ich dachte, wir wollten uns im Bierkeller treffen? Maggie hat heute Morgen dreimal angerufen und wollte wissen, wo du steckst. Sie meint, dass sie die Bullen ruft, wenn du Randy nicht bis zum Mittagessen nach Hause bringst.«
»Sie haben die ersten Menschen getötet«, erklärte Jack und warf einen vorsichtigen Blick auf Mike Karpasian, um sicherzugehen, dass er nicht zuhörte.
»Was? Was meinst du damit?«
»Eine ganze Gruppe Pfadfinderinnen ist heute Morgen am Mirror Lake verschwunden.«
»Bist du dir da sicher?«
»Es kam in den Nachrichten, als ich meine Hose gebügelt habe.«
»Vielleicht haben sie sich verirrt?«, schlug Karen vor.
Nachdem Jack alle Schecks unterschrieben hatte, hob er die Hand, um anzudeuten, dass er genau wusste, was Sache war. »Glaub mir, es ist Quintus Miller. Wir müssen zu dieser Bibliothek und herausfinden, wie zur Hölle wir ihn aufhalten können.«
Mike Karpasian drehte sich plötzlich um und sagte:
»Hey, Jack. Da ist Maggie!«
»Ach herrje«, entfuhr es Jack. Doch da war sie schon in ihrem breitschultrigen, braunen Anzug, der ihn immer an den Denver-Clan erinnerte, und stürmte durch die Werkstatt direkt auf ihn zu. Alle Mechaniker und Monteure drehten sich nach ihr um. Hey, das ist ja Jacks Alte … sieht so aus, als würde sie ihm gleich die Hölle heißmachen.
Maggie riss die Tür zum Büro so heftig auf, dass das Glas zitterte. »Wo ist Randy?«, wollte sie wissen.
Jack versuchte, sie zu ignorieren. »Hast du die Zeitarbeitsfirma schon erreicht?«, fragte er Karen.
»Wo ist Randy?«, wiederholte Maggie.
Ohne sie anzusehen, antwortete Jack: »Ihm geht’s gut, er ist bei einem Freund in Wauwatosa.«
»Was hat er denn in Wauwatosa zu suchen? Er muss doch in die Schule! Ich habe dort angerufen und sie haben ihn weder gestern noch heute dort gesehen.«
»Maggie, hör mal, er ist ganz leicht erkältet. Nichts Schlimmes, er schnieft nur ein bisschen. Ich konnte ihn schlecht allein zu Hause lassen und zur Arbeit mitnehmen konnte ich ihn auch nicht, also ist er bei einem Freund in Wauwatosa. In Ordnung? Man kümmert sich dort gut um ihn. Er kann mit anderen Kindern in seinem Alter spielen. Du musst dir also gar keine Sorgen machen.«
»Wo warst du gestern Nacht? Ich habe die ganze Zeit immer wieder bei dir angerufen.«
»Vielleicht hat das Telefon nicht funktioniert, keine Ahnung.«
»Ich will ihn sehen!«, beharrte Maggie.
»Na klar willst du das. Geht aber nicht. Du würdest Randy wahrscheinlich verärgern und meine Freunde ganz sicher auch. Und abgesehen davon: Woher soll ich wissen, dass du ihn mir nicht wegnehmen willst?«
»Weil ich dir mein Wort drauf gebe.«
Jack drehte sich zu ihr um und sagte: »Liebstes Weib, du hast mir früher auch schon dein Wort gegeben, dass du mich liebst, ehrst und zu mir stehst, in guten wie in schlechten Zeiten.«
»Und was ist mit Samstag?«, wollte Maggie wissen.
»Was soll sein?«, erkundigte sich Jack.
»Da ist die Gala, zu der ich Randy mitnehmen wollte.«
»Ich werde es mir überlegen. Wer wird eigentlich ausgezeichnet? Lesben?«
»Gott, du bist ein Arschloch, Jack. Das bist du schon immer gewesen. Es geht darum, das Selbstvertrauen von Frauen zu stärken. Zu lernen, dass wir uns nicht immer hirnlosen Chauvischweinen wie dir unterwerfen müssen.«
»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du mich bei Randys Geburt hirnloses Chauvischwein genannt hättest. In der Nacht, in der er gezeugt wurde, übrigens auch nicht.«
Karen hielt die Hand vor den Mund, um sich das Lachen zu verkneifen, und Maggie warf ihr einen vernichtenden Blick zu.
»Kann ich heute Abend vorbeikommen, um ihn zu sehen?«, erkundigte sich Maggie.
»Wenn du willst«, antwortete Jack.
»Passt dir 20:00 Uhr?«
Jack nickte.
»20:00 Uhr, hast du mich verstanden?«, wiederholte Maggie.
»Sicher, sicher, um acht«, versicherte Jack ihr. Er wandte sich ab, weil er ganz genau wusste, was Maggie als Nächstes tun würde, nämlich die Tür zuschlagen und in voller Montur wutentbrannt durch die Werkstatt poltern.
»Ach du Scheiße!«, bemerkte Karen. »Mensch, es tut mir leid. Ich wollte nicht lachen.«
»Hast du eine Sekretärin bei der Zeitarbeitsfirma auftreiben können?«, wollte Jack wissen.
Sein Herz schlug schneller als gewöhnlich und sein Mund fühlte sich ein wenig trocken an, dabei war es gar nicht Maggie, die ihn so sehr auf die Palme gebracht hatte. Randy zu retten und Quintus Miller aufzuhalten, war ihm momentan viel wichtiger, als sich mit seiner Noch-Ehefrau zu streiten. Und doch schoss ihm durch den Kopf: Warum kann Maggie nicht einfach …
»Er wird in einer Stunde hier sein«, antwortete Karen ihm, während sie ihre Textverarbeitung beendete und nach der Handtasche griff.
»Er wird in einer Stunde da sein?«
»Na ja, Sekretäre gibt es doch auch«, belehrte ihn Karen. »Du bist viel zu altmodisch, das ist dein Problem.«
»Willst du etwa, dass ich mich alt fühle?«
Jack öffnete die Tür zum Büro und folgte Karen nach draußen. Wenn es nach den anzüglichen Blicken seiner Mechaniker ging, glaubten sie wohl, er würde Karen für einen Quickie zur Mittagspause entführen. Aber momentan war es ihm reichlich egal, was die Leute über ihn dachten. Im Untergrund trieben sich 137 entflohene Irre herum und niemand außer ihm und Karen wusste davon. Alle anderen, die dem Geheimnis auf die Spur gekommen waren, lebten nicht mehr.
Sie fuhren wieder zurück in Richtung Madison. Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch die dichte Wolkendecke. Karen stellte fest: »Mein Gott, ich wünschte, du hättest dieses Haus niemals zu Gesicht bekommen. Es ist verflucht.«
»Sowohl ich als auch das Haus«, antwortete ihr Jack.
Es war das erste Mal, dass er The Oaks im Sonnenschein sah, doch irgendwie wirkte das Gebäude so noch verwahrloster und weniger einladend. Seine Türme flirrten im Nebel des nachmittäglichen Hitzeschleiers und Hunderte von Tauben saßen auf dem Dach und wimmelten wie Läuse auf den Zinnen und Dachrinnen.
Jack konnte nicht mehr nachvollziehen, warum ihn das Haus bei seinem ersten Besuch regelrecht in Ekstase versetzt hatte. Mit seinem jetzigen Kenntnisstand schien ihm selbst das Staatsgefängnis ein geeigneterer Kandidat für den Umbau in ein Ferienressort zu sein als dieses Anwesen.
Vielleicht waren es die immer noch lebenden Insassen gewesen, die ihn angezogen hatten, die verführerische Verrücktheit von Quintus Miller. Jetzt, wo das wegfiel, war The Oaks nichts weiter als eine leere Hülle.
Jack hatte ein Stemmeisen aus dem Kofferraum für den Fall mitgenommen, dass man sie angriff. Doch er bezweifelte, dass es ihnen im Ernstfall weiterhelfen würde. Er hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, sich eine Knarre zu besorgen, dann aber doch darauf verzichtet. Das eiserne Werkzeug in seiner Hand reichte ihm im Moment völlig und verlieh ihm ein deutlich größeres Selbstvertrauen.
Karen erkundigte sich: »Glaubst du, dass einige von ihnen im Haus zurückgeblieben sind?«
»Nein, das denke ich eher nicht«, antwortete Jack. »Zumindest hoffe ich es. Du musst ja bedenken, dass sie mehr als 60 Jahre lang eingesperrt waren. Die wollten alle raus, und zwar so weit weg wie möglich. Außerdem sind sie ja auf der Suche nach neuen Menschenopfern. Die dürften sie hier kaum finden.«
»Von uns mal abgesehen«, merkte Karen an.
Die Tür zum Gewächshaus stand halb offen. Jack zögerte, doch dann stieß er sie vollständig auf und trat ein.
»Gott, ich hasse diesen Ort«, meinte Karen.
Sie betraten die Halle durch die Lounge. Die blinden Statuen am Fuß der Treppe hießen sie willkommen. Die Sonne, die durch die oberen Fenster hereinschien, leuchtete auf sie herab. Karens Stöckelschuhe klackerten auf dem Marmorboden.
»Riechst du was?«, wollte Jack wissen.
Karen schnüffelte. »Ich habe entzündete Nebenhöhlen – ich rieche nichts.«
»Irgendwie verbrannt«, erklärte Jack. »Wie brennendes Papier.«
Sie stiegen die Westtreppe hinauf und liefen dann den Gang zum Turm hinüber. Karen hielt sich dicht bei Jack. Sie war eindeutig nervös. »Jetzt kann ich es auch riechen«, bemerkte sie. »Wie eine brennende Zeitung, findest du nicht?«
Jack schwieg. Er musste an Maggie denken. Er hatte sie nicht so anschreien wollen. Sie konnte nichts dafür, dass sie nicht miteinander klarkamen. Und natürlich machte sie sich Sorgen um Randy, schließlich war sie seine Mutter. Der einzige Grund, weshalb er so gebrüllt hatte, war sein Schuldgefühl, weil er Randy verloren hatte. Er hasste es, lügen zu müssen. Aber was hätte er ihr schon sagen können? Tut mir leid, unser Sohn wurde von einem mörderischen Irren gekidnappt und in den Untergrund gezogen. Mach dir keine Sorgen, ich werde ihn rechtzeitig für deine Emanzen-Gala am Samstag zurückholen?
Sie erreichten den Zugang zum Westturm, eine schwer verriegelte Doppeltür, genau wie bei seinem Konterpart im Osten.
»Oh Mann, hier riecht es aber ganz besonders stark verbrannt«, stellte Karen fest und musste prompt zweimal niesen.
Gesundheit, dachte Jack.
»Wie sollen wir da reinkommen?«, fragte Karen. »Wir besitzen ja keinen Schlüssel. Nur der dicke, fette Immobilientyp hat einen.«
Jack rammte das spitze Ende seines Stemmeisens hinter dem Schließband in die Tür. Dann hebelte er sie auf. Das Eichenholz knarzte und die Schrauben lockerten sich. Er setzte das improvisierte Werkzeug noch einmal an. Nach fünf anstrengenden und verschwitzten Minuten sprang die Halterung plötzlich aus dem Holz und die Tür stand offen.
Doch bereits bevor sie eintraten, bemerkten sie, weshalb es so verbrannt roch. Sie befanden sich in einer riesigen Bibliothek. Genau wie Elmer Estergomys Klinik erstreckte sie sich über zwei Ebenen. An jeder Wand waren bis unter die Decke vollgestopfte Regale mit Büchern zu finden, Tausende und Abertausende von Bänden auf engstem Raum. Doch mindestens hundert von ihnen lagen in der Mitte des Raums auf einem Teppich und waren angezündet worden. Beißender, blauer Rauch machte ihnen das Atmen schwer. Jack kniete sich neben die brennenden Bücher und fuhr mit der Hand durch ihre schwärzlichen Überreste. Ein Wunder, dass nicht das ganze Gebäude abgefackelt war. Der Rauch hatte die Fenster braun gefärbt und der Bibliothekssessel aus Pferdehaar schwelte nach wie vor. Im Teppich prangten riesige Löcher.
Jack stocherte mit dem Stemmeisen in der Asche herum und zog ein halb verbranntes Buch heraus.
»Wirf mal einen Blick auf den Titel!«, sagte er zu Karen. »Awen, der Göttliche Name.«
Er griff nach einem weiteren Lederband aus dem Scheiterhaufen und blätterte eine Reihe verkohlter Seiten durch. »Ursprung und Geschichte der Druiden. Oder das hier: Die Kuldeer im christlichen Britannien. Und hier haben wir Die Druiden im Gallischen Krieg.«
Karen streifte die Bücher nur mit einem kurzen Blick und konzentrierte sich dann darauf, mit der Hand den Rauch wegzufächeln und Kaugummi zu kauen. »Mensch, stinkt das hier. Ekelhaft!«
»Druiden«, sagte Jack und hob weitere zerfallende, schwarze Seiten vom Boden auf. »All diese Werke haben etwas mit Druiden zu tun. Und sie sind absichtlich verbrannt worden, damit wir kein unbequemes Wissen zu diesem Thema sammeln können.«
»Was ist ein Druide?«, wollte Karen wissen.
Jack richtete sich auf. »Nun … Druiden waren so was Ähnliches wie Priester. Im alten Britannien. Das ist alles, was ich in der Schule darüber gelernt habe.«
Karen sah ihn lange schweigend an und meinte dann: »Und was hast du jetzt vor, wo sie alle Bücher verbrannt haben?«
Jack sah sich in der Bibliothek um. »Ich weiß es nicht. Ich schätze, ich muss eine andere Möglichkeit finden, mir Wissen über Druiden anzulesen. Eins steht jedenfalls fest: Sie haben uns mit der Nase auf ihre Schwäche gestoßen.«
»Das verstehe ich jetzt nicht, Jack. Welche Schwäche meinst du?«
»Denk doch mal nach! Warum hat Quintus Miller wohl all diese Bücher verbrannt? Weil er nicht wollte, dass wir sie lesen. Denn mit diesem Wissen könnten wir ihn vielleicht aufhalten, verstehst du? Und dann würden wir ihn dahin zurückschicken, wo er hergekommen ist. Zurück in die Wand oder wohin auch immer. Eigentlich sollte er ja schon seit Jahren tot sein.«
»Wie lautet also dein Plan?«
Jack schnappte sich drei der weniger verbrannten Exemplare. »Ein guter Ausgangspunkt wäre die Universität. Es muss jemanden auf dem Campus geben, der sich mit Druiden auskennt. Immerhin sind dort Gastprofessoren aus aller Welt zu finden.«
Karen streckte ihm die Hand entgegen. »Jack?«, sagte sie.
»Was denn?«
»Na ja, du weißt schon, dass das vielleicht schiefgeht, oder? Ich meine, wenn Quintus Miller wirklich so schlimm ist, wie der Priester dir prophezeit hat, dann ... na ja … dann könnte Randy längst tot sein.«
Jack hatte diese Option schon seit der Entdeckung der halb mit der Kellerwand verschmolzenen Kackwurst in Betracht gezogen.
»Ja«, erwiderte er. »aber das sollte uns nicht davon abhalten, es zumindest zu versuchen, oder?«
Sie verließen die Bibliothek und kehrten in den Gang zurück.
Karen hakte sich bei ihm ein. »Jack, hör mal, Schatz, egal wie das hier ausgeht, ich möchte, dass du weißt, dass ich dich liebe – und wenn du bei mir einziehen willst, also … das kannst du herzlich gern tun.«
Jack küsste eine ihrer Haarsträhnen und drückte ihre Hand. »Ich weiß nicht, ob ich in Cecils Fußstapfen treten kann. In seine Jeans passe ich ja schon mal nicht.«
Ihre Schritte hallten im Treppenhaus. Sie verließen The Oaks durch den hinteren Anbau und liefen wieder die Allee hinunter, wo Essie Estergomy ums Leben gekommen war. Jack sah sich immer wieder nervös um, aber der Kies blieb völlig eben und nichts rührte sich. Blut war auch keines zu sehen.
»Wir sollten schleunigst Nachrichten hören«, schlug Jack vor. »Ich will sichergehen, dass sie nicht schon wieder jemanden erwischt haben.«
»Und wenn doch?«, fragte Karen.
»Dann kann ich es auch nicht ändern.«
Sie küsste ihn auf die Wange. »Na dann hör auf, dir ständig Schuldgefühle zu machen, und lass uns zur Universität fahren.«
Als sie das Tor erreichten, sahen sie Daniel Bufos Cadillac neben ihrem Kombi parken. Der Makler saß im Wagen und wirkte verstimmt und unglücklich. Als sie sich durch die Lücke am Gatter quetschten, hievte er seinen massigen Körper heraus und kam mit entschlossenem Blick auf sie zu.
»Mr. Reed, ich habe ein Hühnchen mit Ihnen zu rupfen.«
»Ach ja?«, fragte Jack vorsichtig.
Daniel Bufo nickte Karen grüßend zu und zog eine Grimasse. »Mrs. Reed?«, sagte er und ließ seine Augen kurz auf der lebenden Götterspeise ruhen.
Karen erwiderte nichts. Jack öffnete ihr die Wagentür, sodass sie einsteigen konnte.
»Bevor Sie gehen, Mr. Reed«, begann Daniel Bufo, während er seine Oberarme auf das Dach des Kombis legte und Jack dadurch am Einsteigen hinderte: »Ich bin nicht glücklich über den Verlauf unserer Gespräche, was den Verkauf dieses Hauses angeht. Gar nicht glücklich. Ich glaube fast, Sie sind gar nicht mehr so sicher, ob Sie wirklich kaufen möchten.«
»Ach ja? Wie kommen Sie denn auf die Idee?«
»Nun, bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Mr. Reed, ich möchte Sie nicht verärgern. Anfangs haben Sie großes Interesse an The Oaks gezeigt und auch wenn Sie ein Angebot unterbreitet haben, das weit unter dem Marktwert für das Anwesen lag …«
»Moment mal«, unterbrach ihn Jack. »sprechen wir jetzt über den Marktwert oder den Seltenheitswert?«
»Mr. Reed«, antwortete Daniel Bufo. »Ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber ich würde gerne wissen, ob Sie immer noch Interesse daran haben, dieses Gebäude zu kaufen. Falls nicht, könnten Sie uns beiden viel Zeit und Arbeit ersparen. Sagen Sie’s einfach und wir lassen es gut sein.«
»Natürlich bin ich noch interessiert«, versicherte ihm Jack. »Alles im grünen Bereich. Ich werde heute Nachmittag mit meinem Anwalt telefonieren.« Daniel Bufo stand so dicht neben Jack, dass dieser den Schweiß auf der Oberlippe des Maklers erkennen konnte. Tatsächlich hätte er nach allem, was passiert war, nicht im Traum daran gedacht, The Oaks zu kaufen. Doch wenn er jetzt schon die Bombe platzen ließ, würde der Zugang zu The Oaks deutlich schwieriger. Bis er Quintus Miller erwischt hatte, wollte er nach Belieben kommen und gehen können.
»Nun, ich bin froh, das zu hören«, erklärte Daniel Bufo sichtlich erleichtert. »Nachdem Sie gestern gefordert haben, den Verkäufer persönlich zu treffen …«
»Ach, das wird nicht mehr nötig sein«, sagte Jack gönnerhaft. »Ich war wahrscheinlich etwas zu pedantisch. Ich habe in letzter Zeit ziemliche Zahnschmerzen – da neige ich dazu, über die Stränge zu schlagen.«
»Oh, das tut mir leid«, bemerkte Daniel Bufo, der nun, da er seinen Verkauf in trockenen Tüchern sah, wieder ganz dienstbeflissen tat. »Hoffentlich wird es bald wieder besser. Meiner Schwester machen ihre Zähne auch immer zu schaffen.«
Er lehnte sich in Jacks geöffnetes Fenster und schielte lüstern auf Karens Beine. »Schön, Sie wiederzusehen, Mrs. Reed.«
Jack schüttelte ihm widerstrebend die Hand und sagte: »Ich melde mich, ja? Sobald ich mit meinem Anwalt gesprochen habe.«
Daniel Bufo watschelte zurück zu seinem Auto. Sein Mantel wehte im Wind. Jack sah ihm hinterher. Karen erkundigte sich vorsichtig: »Du willst es doch nicht wirklich kaufen, nach allem, was passiert ist?«
Jack versicherte ihr: »Selbst wenn es das letzte Grundstück auf der ganzen Welt wäre, bekämen mich keine zehn Pferde dazu.«
Bufo winkte Jack ein letztes Mal zu, ehe er sich wieder in sein Auto quetschte. Jack wollte sich gerade abwenden, als er eine Bewegung im Gras neben der Straße wahrnahm. Er sah erneut hin und runzelte die Stirn. Es musste der Wind gewesen sein, weiter nichts. Doch dann sah er es erneut. Es konnte nicht der Wind sein, denn es huschte am Straßenrand entlang wie ein unsichtbarer Iltis und hielt direkt auf Daniel Bufos Auto zu.
»Was ist denn, Schatz?«, wollte Karen wissen, doch Jack war schon losgerannt.
»Mr. Bufo!«, schrie er. »Mr. Bufo! Hauen Sie ab so schnell Sie können!«
Daniel Bufo sah ihn fragend durch die Windschutzscheibe an und tat dann das Schlimmste, was er tun konnte. Er schaltete den Motor ab. Jack brüllte: »Weg mit Ihnen! Mr. Bufo! Weg!«
Die Wellen griffen vom Grünstreifen auf die Straße über. Plötzlich schoss ein Arm aus dem Boden und der harte Straßenbelag riss auseinander. Daniel Bufo kurbelte das Fenster herunter, lehnte den Kopf nach draußen und rief: »Was haben Sie gesagt, Mr. Reed? Stimmt etwas nicht?«
Jack hatte Daniel Bufos Wagen fast erreicht. »Weg hier!«, schrie er ihn an. »Sie sind da!« Plötzlich dämmerte ihm, dass sein Verhalten die Situation wahrscheinlich noch verschlimmerte. Hätte er nicht geschrien, um Daniel Bufo zu warnen, wäre dieser längst in Sicherheit.
Daniel Bufo sah ihn aus großen Augen geduldig an. »Tut mir leid, Mr. Reed, ich glaube, ich verstehe nicht ganz …«
Panisch spähte Jack um das Auto herum, wo sich der Boden nun ebenfalls wölbte. Die Straßenbelag hatte sich wieder geschlossen, als wäre alles nur Einbildung gewesen.
»Wer ist hier, Mr. Reed?«, wollte Daniel Bufo wissen.
Unter seinem Auto erklang ein lautes, metallisches Scheppern. Es folgte ein Geräusch, als ob jemand ein Stahlblech bearbeitete. Das ganze Auto wurde durchgeschüttelt und knarrte an seiner Aufhängung.
»Was zum Teufel ist das denn?«, fragte Daniel Bufo verärgert.
»Mr. Bufo, wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich …«
Etwas explodierte. Zumindest hörte es sich so an. Metall, Stoff und Federn zerbarsten und Daniel Bufo zuckte auf seinem Sitz zusammen. Eine geballte Faust mit roten, blanken Knöcheln schoss durch das braune Sitzleder direkt zwischen seine Schenkel.
»Was zum Teufel!«, schrie er mit schriller Stimme. Es war ein Quietschen, das an ein Schwein erinnerte, welches erst auf dem Schlachthof bemerkte, dass seine letzte Stunde geschlagen hatte.
Ein Arm kam aus dem Sitz, dann ein weiterer. Daniel Bufo wurde an der Kehle gepackt und mit Gewalt nach unten gezogen. Seine Nase schlug gegen das Lenkrad und Jack hörte, wie die Knochen brachen.
»Graaaaaaaaaaahhh!«, keuchte Daniel Bufo und streckte Hilfe suchend einen Arm aus dem Autofenster. Jack zerrte am Türgriff, doch es gab eine Zentralverriegelung. Als er versuchte, den Knopf hochzuziehen, packte ihn Daniel Bufo am Arm und ließ ihn nicht mehr los.
Die beiden starken Hände hatten den Kopf des Maklers zwischen seine Knie gezogen, sodass er vornübergebeugt war. Er gurgelte und kämpfte, doch er kam nicht lang genug zu Atem, um schreien zu können. Jack brüllte: »Mein Arm, lassen Sie meinen Arm los!«, doch Daniel Bufo war so panisch, dass er eher noch fester zupackte.
Zwei weitere Hände – diesmal gehörten sie einem Schwarzen – wühlten sich durch die Verkleidung und packten Daniel Bufo an der Hüfte. Sofort versuchten sie, ihn durch den Sitz nach unten zu ziehen.
Jack leistete Widerstand, so gut er konnte. Doch Zentimeter für Zentimeter verschwand Daniel Bufo, Zug um Zug ohne Hoffnung auf Rettung, immer weiter in den Tiefen des Sitzes. Die Hinterseite seines Mantels wölbte sich und der Mann begann sich plötzlich vor schier unerträglichen Schmerzen aufzubäumen. Sein bloßer Rücken schabte gegen das aufgerissene Metall an der Unterseite des Autos.
Jack versuchte, die Hände der Angreifer vom Hals des Mannes zu lösen, doch sie waren so kräftig, dass sie keinen Deut nachgaben. Die ganze Zeit behielt er die Umgebung im Auge, um sicherzugehen, dass sich nicht weitere Furchen in der Straße auftaten und weitere von Quintus Millers Anhängern die Jagd auf ihn eröffneten.
Dann kam der Moment, als das Tauziehen zwischen Jack und Daniel Bufo und den Händen, die ihn nach unten zogen, einen schauderhaften Stillstand erreichte. Daniel Bufo klammerte sich mit einer Hand an Jack, mit der anderen an das Steuer des Cadillacs, um zu verhindern, dass er in den Boden gezogen wurde. Seine Knöchel traten weiß hervor und sein ganzer Körper zitterte vor Schmerz und Anstrengung.
»Aaaaahhhhhh!«, gurgelte der dicke Makler. Dann nutzte er einen kostbaren Atemzug, um zu flehen: »Helfen Sie mir!«
Das waren seine letzten Worte. Sein Brustkorb wurde zertrümmert und sein Becken zerbarst mit einem Geräusch, das Jack nie mehr vergessen würde. Es klang wie ein großes Serviertablett, das von einem Kissen gedämpft in der Mitte durchgebrochen wurde.
Blut schoss aus Daniel Bufos Mund auf seine Füße. Mit einem letzten Kraftakt wurde er in die Tiefen seines Sitzes, dann weiter durch den Unterboden des Autos in den Abgrund gezogen. Nur zerrissene Kleidung und ein paar Streifen blutiges Fett, die noch an den Sprungfedern des Sitzes hingen, blieben zurück.
Jack ging zitternd und keuchend in die Knie, um unter das Auto zu schauen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde war der Boden aufgewühlt wie ein Meer, in dem sich kurzzeitig ein Strudel bildet, wenn ein Hai sein Opfer einfordert.
Karen rief: »Jack? Jack? Was ist los? Was tust du da?«
Jack kam wieder auf die Beine und lehnte sich gegen Daniel Bufos Auto. Er wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
Ohne Vorwarnung schnellte eine Hand aus der harten Erde vor ihm und klammerte sich um seinen Schuh.
Er trat nach ihr und wich einen Schritt zurück, als er erkannte, dass es sich gar nicht um die Hand eines der Geisteskranken handelte. An den speckigen weißen Fingern prangten schwere Goldringe. Es war Daniel Bufo, der einen letzten verzweifelten Versuch unternahm, sich zu retten.
Jack griff nach der Hand, doch sie wurde von ihm weggezogen und entfernte sich über die Straße hinweg – erst ganz langsam, dann immer schneller. Sie rauschte mit einem wuseligen Rascheln ins Gras der gegenüberliegenden Böschung, dann war sie verschwunden.
Schnell, aber irgendwie hölzern ging Jack zurück zu seinem eigenen Wagen. Karen wartete mit vor Angst geweiteten Augen und offenem Mund auf ihn. Ihr Kaugummi hing bewegungslos im Mund.
»Was ist denn passiert? Wo ist Mr. Bufo?«
Jack kletterte auf den Fahrersitz und sagte: »Mach die Tür zu. Los, schnell. Wir müssen hier weg.«
Als er den Zündschlüssel drehte, sah er, dass die Straße links von ihnen Risse bekam. Der Motor heulte auf, doch der Wagen wollte nicht anspringen. Jack versuchte es erneut, aber es tat sich nichts.
»Komm schon, du blöde Karre!«, rief er verärgert.
»Ach ja, ich wollte dir noch sagen, dass deine Innenbeleuchtung die ganze Zeit gebrannt hat«, meldete sich Karen zu Wort.
»Was?«, rief er. »Meinst du das Lese- und das Türlicht? Das habe ich angelassen?«
»Ich habe es für dich ausgeschaltet«, erklärte Karen Beifall heischend.
Ach du Scheiße, die Batterie war sowieso schon die ganze Zeit am Schwächeln. Der Ersatz liegt längst im Schreibtisch in der Werkstatt. Wieso kümmern sich ausgerechnet Leute, die ihr Geld mit Autos verdienen, immer als Letzte um solche Macken?
Jack versuchte noch einmal, den Wagen zu starten. Diesmal stotterte der Motor zweimal und erstarb dann wieder. Die Furche in der Straße bewegte sich immer näher auf sie zu. Ein Arm brach durch den Asphalt, dann ein weiterer. Jack drehte sich um. Im Wald sah er Büsche, die erzitterten, und Blätter, die aufgewirbelt wurden, und weitere Spuren im Boden, die sich in ihre Richtung ausbreiteten.
»Zieh deine Schuhe aus!«, befahl er Karen.
»Was?«
»Zieh deine Schuhe aus, wir müssen rennen.«
»Willst du mich verarschen?«
»Zieh einfach deine Schuhe aus, steig aus dem Auto und renn so schnell du kannst weg von den Rissen im Boden! Jetzt! Los!«
Karen stand wie versteinert da und starrte ihn an. Doch dann fing der Kombi wie wild an zu ruckeln und sie hörten, wie das Seil der Handbremse riss. Fäuste bearbeiteten eifrig das Metall unter den Sitzen.
»Was ist das?«, schrie Karen. »Jack, was ist das?«
»Lauf!«, brüllte Jack und sie schleuderten die Türen auf und rannten los. Vorbei an Daniel Bufos Cadillac und der Mauer, die The Oaks umgab, hinauf zur Straße.
»Wovor … rennen wir … weg?«, keuchte Karen.
Jack streckte ihr die Hand entgegen. »Nicht … reden … rennen!«
Nur einmal drehte er sich um. Sein Kombi wackelte wild hin und her und er konnte hören, wie Metall auseinanderriss. Dann platzte einer der Reifen mit einem ohrenbetäubenden Knall, der die Krähen krächzend von den nächstgelegenen Eichen aufscheuchte.
Der schwarze Tankwart hatte sie bereits aus einer halben Meile Distanz kommen sehen: Sie liefen die von Bäumen gesäumte Straße entlang wie in der Schlussszene aus Der dritte Mann. Der einzige Unterschied war, dass Karen auf Strümpfen und in einem viel zu engen Minirock die Straße vorwärtshumpelte und kein Trevor Howard zur Stelle war, um sie mitzunehmen.
Als sie endlich die Exxon-Tankstelle erreichten, sagte der Tankwart nur: »Hi!«, erst zu Jack, dann zu Karen, und fragte anschließend: »Autopanne?«
»Wir müssen nur kurz Ihr Telefon benutzen, wenn das möglich ist«, bat Jack ihn.
»Ich kann Ihnen einen Abschleppwagen organisieren«, schlug ihm der Tankwart vor.
»Nein danke. Ein Telefon reicht. Und die Dame hier könnte ein paar vernünftige Schuhe gebrauchen, falls Sie etwas haben.«
Der Tankwart streckte seinen Unterkiefer vor und schielte auf Karens Füße. »Wir verkaufen die offizielle Fankleidung der Milwaukee Brewers. Bestimmt ist auch was in ihrer Größe dabei.«
Jack besorgte zwei Sprite aus dem Getränkeautomaten und ging zum Münzfernsprecher, während Karen sich auf der Toilette frisch machte. Er öffnete den Deckel einer Dose und trank fast die Hälfte in einem Schluck. Dann rief er bei der Auskunft an und fragte nach der Nummer der University of Wisconsin in Madison.
Man hatte ihn gerade mit dem Sekretariat verbunden, als Karen wieder auftauchte. Er musste grinsen, als sie in einem Paar Baseball-Schuhe in Größe 41 auf ihn zustakste.
»Ich finde das gar nicht witzig«, stellte sie klar, als sie die Falttür öffnete und sich neben ihm in die Telefonzelle drängte.
»Bist du für die Rückrunde ins Team aufgenommen worden?«, witzelte Jack.
Karen deutete mit dem Kopf in Richtung Telefon. »Wen rufst du an? Doch nicht etwa die Bullen, oder?«
»Aber nein. Die Universität. Wie gesagt, ich will mich mit einem Experten für Druiden unterhalten. Sie versuchen, mich zum Institut für Religionswissenschaften durchzustellen.«
»Glaubst du wirklich, dass das was bringt?«
»Es kann zumindest nichts schaden. Wir müssen wissen, auf was wir uns da eingelassen haben.«
Sie warteten fast fünf Minuten. Karen leerte in der Zeit geräuschvoll ihren Softdrink und Jack warf immer wieder Münzen nach. Endlich meldete sich eine geistesabwesende Stimme: »Institut für Religionswissenschaften?«
»Hallo!«, grüßte Jack. »Haben Sie jemanden, der sich mit Druiden auskennt? Nein, nein, Druiden. Ganz genau. Es ist dringend.«
Der Minibus-Fahrer ließ sie am Campus neben dem Lake Mendota aussteigen. Riesige Gewitterwolken brauten sich am Himmel zusammen. »Dieses Institut, das Sie suchen, befindet sich genau dort drüben, Kumpel«, erklärte ihnen der Minibus-Fahrer. Er musste Mitte 40 sein, hatte langsam ergrauendes, schulterlanges Haar und trug eine schwarze John-Lennon-Sonnenbrille sowie eine geschmacklose Batikhose. Den ganzen Weg von Waunakee bis hierher hatte er sie in ein Gespräch verwickelt. Er redete sogar irgendwie breit – typisch für Kerle wie ihn, die einfach nicht von den Doors, Jefferson Airplane oder Headshops lassen konnten. Er klang, als wäre er bekifft.
Jack verabschiedete sich von ihm: »Alles Gute und vielen Dank.«
»Peace«, rief ihm der Minibus-Fahrer hinterher.
Jack und Karen eilten Hand in Hand über den frisch gemähten Rasen. »Das ist das erste Mal seit über 25 Jahren, dass mich jemand mit ›Kumpel‹ angesprochen hat«, stellte Jack fest. Er hatte es sehr eilig, nicht weil er sich vor dem Regen fürchtete, sondern weil er sich außerhalb des Autos so schutzlos vorkam.
Karen fragte ihn: »Bringt das denn überhaupt was? Sollten wir nicht besser versuchen herauszubekommen, wohin sich dieser Quintus Miller aus dem Staub gemacht hat?«
»Schalt doch mal deinen Verstand ein«, schlug Jack ihr vor. »Wenn wir ihn finden, was machen wir dann mit ihm?«
»Na ja, können wir ihn nicht erschießen oder so? Du hast doch ein Jagdgewehr?«
»Ich glaube, du hast zu oft Rambo gesehen. Der Typ lebt im Untergrund, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Oder in Wänden und Fußböden. Wie soll man denn so jemanden erschießen?«
»Ich weiß es nicht«, gab Karen zu. Sie musste sich wirklich sputen, um mit ihm Schritt halten zu können. »Solche Unterredungen mit Dozenten … die finde ich einfach ätzend, weißt du?«
Sie passierten den geschwungenen, steinernen Torbogen mit dem Schild INSTITUT FÜR RELIGIONSWISSENSCHAFTEN und bahnten sich ihren Weg durch die schwere Drehtür. Im Gebäude war es kalt und die Luft roch abgestanden. In dem grün gestrichenen Gang lag überall Kopierpapier auf dem Boden. Jack hielt ein hageres blondes Mädchen mit Hakennase und Brille an.
»Ich suche Mr. Summers.«
»Er ist im Aufenthaltsraum direkt am Ende des Gangs«, verriet das Mädchen mit seltsam verträumter Stimme, als ob sie von Gott oder zumindest Robert Redford redete.
Jack und Karen gingen durch den Korridor und klopften an die bezeichnete Tür. Niemand antwortete. Also drückte Jack einfach die Klinke herunter und sie traten ein. Auf einem der vielen bunt zusammengewürfelten Sofas hatte ein schlaksiger Mann mit schwarzem Bart seine Füße hochgelegt. Er trug eine schlabbrige grüne Cordhose und einen zu großen braunen Sweater, rauchte Pfeife und schmökerte abwesend in einem Kochbuch.
»Mr. Summers?«, vergewisserte sich Jack.
»Der bin ich«, antwortete der Mann mit britischem Akzent, ohne zu ihm aufzusehen.
Jack streckte ihm die Hand entgegen. »Ich bin Jack Reed. Wir haben telefoniert.«
Mr. Summers musterte ihn. Seine Augen traten leicht hervor. Sie besaßen die Farbe von frisch gehäuteten weißen Trauben. »Richtig, Sie hatten angerufen. Wegen der Druiden, richtig? Weil Sie dringend etwas über Druiden erfahren wollen?«
»So ist es. Können wir reden?«
»Selbstverständlich. Auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich Ihnen wirklich weiterhelfen kann.« Er schwang seine Füße, die in brauen Velourslederschuhen steckten, vom Sofa und stand auf. »Ich wollte herausfinden, weshalb mein Schmorfleisch immer so abscheulich schmeckt.«
»Wahrscheinlich kochen Sie es nicht lange genug«, mutmaßte Karen. »Den Fehler machen die meisten. Sie müssen es ganz langsam köcheln lassen, etliche Stunden lang, sonst wird es zu zäh und schmeckt wie Schuhsohlen.«
»Ah! Das wird vermutlich das Problem sein«, antwortete Mr. Summers. »Zu wenig Geduld! Man sollte nicht meinen, dass jemand, der sich dem Studium komparativer Religionswissenschaften verschrieben hat, ungeduldig ist, oder? Aber so ist es wohl.«
Er sah Jack stirnrunzelnd an und fragte dann: »Sie haben mich von einer Werkstatt aus angerufen, oder?«
»Aus einer Tankstelle, das stimmt. Aus Waunakee. Das Sekretariat hat mich zu Ihnen durchgestellt. Die Dame sagte mir, Sie seien ziemlich bewandert, was alte Kulte betrifft.«
»Verzeihen Sie mir«, sagte Mr. Summers, »aber wer ruft schon aus einer Werkstatt – entschuldigen Sie, einer Tankstelle – an und bittet um einen dringenden Termin, um über Druiden zu sprechen? Nicht dass ich etwas dagegen hätte, glauben Sie mir. Ich kann über Druiden reden, bis ich schwarz werde, aber warum ist die Angelegenheit so dringend für Sie?«
»Mr. Summers«, antwortete Jack, »ich möchte gleich zur Sache kommen. Haben Sie schon einmal etwas von Menschen gehört, die durch Wände gehen? Ich nehme an, dass es etwas mit den alten Druiden zu tun hat, aber ich bin mir nicht ganz sicher. Menschen, die sich unter der Erde bewegen?«
Mr. Summers musterte Jack interessiert. »Wer hat Ihnen davon erzählt?«, erkundigte er sich.
»Niemand hat es uns erzählt, wir …«, begann Karen, doch Jack gab ihr mit einem Händedruck zu verstehen, dass sie still sein sollte.
»Wir haben es herausgefunden, ganz einfach.«
»Nun, das ist wirklich sehr interessant«, bemerkte Mr. Summers. »Eines der klassischen Mysterien der vorchristlichen Zeit. Es gibt Hunderte alter Erzählungen von Menschen, die durch Stein wandeln konnten, und von Priestern, die in Baumstümpfen lebten, aber auch von Männern und Frauen, die durch Wände gingen.
Ob das nun tatsächlich möglich war oder nicht, es gibt so viele Berichte und so viele Inschriften, die es bis ins kleinste Detail beschreiben, dass zumindest die Druiden davon überzeugt zu sein schienen, dass es funktioniert.«
Mr. Summers spähte auf seine Armbanduhr. »Ich bin fertig für heute und es gibt eine nette kleine Bar nicht weit von hier. Wollen wir dort etwas trinken gehen?«
»Eine sehr gute Idee«, willigte Jack ein.
»Nennen Sie mich Geoff«, bat Mr. Summers. »Wenn mich jemand ›Mr. Summers‹ nennt, drehe ich mich immer um und schaue, ob mein Vater hinter mir steht.«
Jack, Karen und der Gelehrte liefen über den zugigen Parkplatz zu Geoff Summers altem Plymouth Valiant. Dann fuhr der Dozent sie zwei, drei Meilen aus der Stadt heraus zu einem kleinen, weiß gestrichenen Gebäude mit angeschlossenem Restaurant, das sich Lindstrom’s Farm nannte. Sie quetschten sich in eine unbequeme rustikale Nische mit Bänken aus massivem Eichenholz und bestellten ein Bier. Eine Kerze flackerte in einer roten Glaslampe. Jack bemerkte Geoff Summers’ Interesse an der vollbusigen, deutschstämmig aussehenden Bedienung, die er kaum aus den Augen ließ. Sie war vermutlich der Hauptgrund für sein Interesse an dieser Bar. Jack hatte da so einiges über Akademiker gehört.
Geoff Summers trank einen Schluck Bier. Der Schaum blieb an seinem Schnurrbart hängen. Er zog seine Pfeife aus der Tasche und sagte: »Diese ganze Geschichte mit dem Durch-die-Erde-Gehen ist schon uralt – sie stammt aus der Zeit vor den Druiden, und zwar aus der Ära der Megalith-Kulturen. Sie wissen schon, die Menschen, die Stonehenge und all die anderen mysteriösen steinernen Stätten erschaffen haben. Wir sprechen also von der Zeit um 2700 vor Christus.
Die Menschen entdeckten damals die magnetischen Kraftlinien, die unter der Erde liegen … tellurische Ströme nennt man sie, manchmal auch Leylinien. Und an Stellen, wo diese Linien sich kreuzen, findet man Orte mit außergewöhnlichem telekinetischen Einfluss.«
»Und das ist es, was Erdmagie genannt wird?«, fragte Jack.
Geoff Summers hatte ein Streichholz entfacht, um seine Pfeife anzuzünden, doch er ließ es zwischen seinen Fingern ausgehen. »Ich würde zu gerne wissen, weshalb Sie sich dafür interessieren, Mr. Reed.«
»Nenn mich Jack. Aber es ist ziemlich schwer für mich, dir das zu erklären.«
»Nun, Jack, hast du irgendwo einen Geist gehört, ist es das? Das ist der übliche Grund, warum Menschen plötzlich anfangen, sich für Erdmagie zu interessieren. Sie hören es an der Wand oder der Decke klopfen und vermuten, dass es sich um einen unsichtbaren Geist handelt. Fakt ist – in den allermeisten Fällen zumindest – dass ihr Haus auf einer Leylinie steht und sie tatsächlich hören, wie jemand durch ihre Wand geht. Ein sogenannter Erdenläufer.«
Unter dem rot-weiß karierten Tischtuch hielt Jack Karens Hand. »Das ist ziemlich genau unser Problem«, sagte er vorsichtig.
»Ich will euch mal was verraten«, meinte Geoff Summers. »Diese Leylinien sind weit mächtiger als moderne Wissenschaftler vermuten, besonders während bestimmter Zeiten im Jahr. Zum Beispiel stammten die Blausteine, die von den alten Britanniern beim Bau von Stonehenge verwendet wurden, aus den Preseli-Bergen im walisischen Pembrokeshire. Das liegt fast 200 Kilometer entfernt von dem Ort, an dem die Steine aufgestellt wurden. Und dabei wiegen einige von ihnen mehr als 50 Tonnen.
Die moderne Wissenschaft vermag nicht zu erklären, wie die alten Britannier diese schweren Steine überhaupt von der Stelle bewegen konnten, erst recht nicht über eine so große Distanz. Doch wenn man den Druiden Glauben schenkt, wurden die Steine einfach herbeigerufen und bewegten sich ganz von alleine auf den Leylinien unterirdisch von Wales nach Stonehenge.«
»Sehr merkwürdig«, bemerkte Karen. »Das ist wirklich sehr merkwürdig.«
»Leider lässt sich das nicht beweisen«, stellte Geoff Summers, der die Augen immer noch auf die Kellnerin gerichtet hielt, fest. »Doch so was ist auch in Amerika geschehen. Auf dem Mystery Hill in New Hampshire und in Arizona ebenfalls. Bei den Pima-Indianern gibt es eine Legende über Tcu-Wutu-Makai, den Erdmagier, der sich unter der Erde fortbewegen konnte. Und auch in unserer modernen Zeit wurde eine beachtliche Anzahl von Erdenläufern gesichtet.
1881 beobachtete eine Frau in Applebachsville, Pennsylvania, einen nackten Mann, der in der Wand ihres Bauernhauses verschwand. Und 1903 schwor ein Farmer in Pewamo, Michigan, Reportern der Lokalzeitung, dass er ein Feld gesehen hatte, in dem Dutzende Arme von Menschen aus dem Boden ragten. Er schwor Stein und Bein, dass sie seinen weißen Prachtbullen geschnappt und unter die Erde gezogen hätten.«
»Glaubst du das denn?«, erkundigte sich Jack vorsichtig.
»Ich weiß nicht so recht«, sagte Geoff Summers, entzündete ein weiteres Streichholz und setzte den frischen Tabak in seiner Pfeife in Brand. »Aber wir Religionswissenschaftler sind nicht so skeptisch wie etwa Anthropologen oder reine Historiker. Wir glauben an den mystischen Aspekt des Lebens. Und im Übrigen passt das, was der Farmer aus Michigan behauptet hat, wie die Faust aufs Auge zu den Überlieferungen der Druiden. Wenn ein Priester in die Erde eindrang, war ein Blutopfer notwendig, damit er an die Oberfläche zurückkehren konnte. Manchmal auch mehrere Blutopfer.«
Der Dozent stieß Rauch aus und fügte dann hinzu: »Die Druiden hielten ihre Rituale streng geheim, daher weiß niemand so genau, wie viele Menschen geopfert wurden. Es fanden sich auch kaum noch menschliche Überreste an einer ihrer Opferstätten, nur zwei oder drei Schädel und ein paar Hüftknochen. Daher nahmen die meisten Historiker an, dass sie nur wenige oder vielleicht gar keine Blutopfer brachten.
Doch die Geschichten und Legenden sind da schon eindeutiger. Die frühen Druiden haben angeblich Hunderte Männer und Frauen auf sehr unschöne Weise beseitigt. Quellen schildern, wie sie die Männer kastrierten und den Frauen ihre Gebärmutter herausrissen. Die Druiden rupften ihren Opfern Arme und Beine aus und verspritzten ihr Blut auf dem Boden. Ganze Dörfer wurden auf diese Weise fast ausgelöscht. Angeblich studierten sie die Schmerzen der Sterbenden, um mit ihrer Hilfe die Zukunft vorherzusagen.«
Karen fasste sich in instinktivem Entsetzen mit der flachen Hand an die Stirn. Geoff Summers sagte: »Oh, tut mir leid … ich wollte nicht, dass jemandem übel wird.«
Karen sah Jack an und dieser wusste ganz genau, dass sie nicht aus Überempfindlichkeit so bestürzt reagierte, sondern aus Angst vor Quintus Miller und seinen Anhängern. Diese kämpften sich durch die Dunkelheit mit einer Gier nach Blut, die gleichermaßen von Steinzeit-Mystik und kriminellem Wahnsinn entfacht wurde.
An Geoff Summers gewandt, sagte Jack: »Gibt es denn ein Mittel – kennst du irgendeine Möglichkeit, mit der man diese Erdenläufer aufhalten kann?«
Geoff Summers beobachtete ihn eine Weile aus seinen traubengrünen Augen. »Aufhalten? Was meinst du mit ›aufhalten‹?«
»Ich meine, sie töten. Könnte man sie jagen und töten?«
»Jack«, erwiderte Geoff Summers zögerlich. »Ich frage mich langsam, in was du dich da hineingeritten hast.«
»Ich finde das Thema nur interessant, nichts weiter. Wie tötet man sie?«
Geoff Summers schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ich sage gar nichts mehr, bis du mir erklärt hast, was hier los ist.«
Jack atmete tief durch. »Ich kann dir nichts verraten, noch nicht. Es könnte jemand zu Schaden kommen. Ich habe einen kleinen Jungen. Ihm könnte etwas zustoßen. Können wir eine Abmachung treffen? Du erzählst mir das, was du über Erdenläufer weißt, und dafür werde ich, sobald ich kann, wieder herkommen und dir ausführlich berichten. Ich schreibe es dir sogar auf.«
»Du Schlawiner«, erwiderte Geoff Summers fröhlich. »Hast du etwa einen Erdenläufer gefunden?«
»Nein, nein«, antwortete Jack. »Ich weiß nicht genau, was ich gefunden habe. Aber deine Hilfe wäre mir sehr wichtig. Ich möchte gar nicht, dass du es umsonst tust. Ich werde dich dafür bezahlen. Klingen 2.500 in Ordnung? Bar auf die Kralle, gleich hier.«
»Hast du denn nun einen Erdenläufer gefunden?«, wiederholte Geoff Summers.
Jack schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, stand mühsam auf und kassierte dabei einen blauen Fleck von der Armlehne an seinem Schenkel. »Ich habe es dir doch gesagt, Geoff, ich brauche deine Hilfe. Ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann. Aber ich kann dir im Moment noch nichts Genaueres sagen, weil ich selbst nichts Genaues weiß. Wenn du mir nicht hilfst, nun, dann muss ich eben jemand anders finden.«
Geoff Summers nahm mit einer schnellen Bewegung seine Pfeife aus dem Mund und hob die Hand. »Warte, Jack – Halt! Komm schon, lass uns nicht im Streit auseinandergehen. Beantworte mir einfach diese eine Frage – sag mir, ob du einen Erdenläufer gefunden hast. Egal, ob die Antwort Ja oder Nein lautet, ich werde dir dann erzählen, was ich über die Druiden weiß, das verspreche ich. Es ist allerdings nicht gerade viel – das meiste könntest du selbst herausfinden, wenn du die richtigen Bücher liest. Danach werde ich dir keine weiteren Fragen stellen, es sei denn, du forderst mich dazu auf. Was hältst du von diesem Vorschlag?«
Jack zögerte. Halb Amerika würde hinter ihm her sein, wenn die Polizei herausfand, was mit Joseph Lovelittle, Pater Bell, Essie Estergomy und Daniel Bufo geschehen war – ganz zu schweigen von den Pfadfinderinnen und all den anderen Menschen, die Quintus Miller und seine Bande von Verrückten vielleicht schon umgebracht hatten. Doch bevor er jemandem gestand, dass er in die Sache verwickelt war, wollte Jack zuerst Quintus Miller finden und alles versuchen, um ihn zu vernichten.
Und wenn Randy noch am Leben war, wollte er ihn um jeden Preis retten.
»Es ist eine ziemlich komplizierte Angelegenheit«, begann Jack und ließ sich wieder auf die Bank zurücksinken.
»Die Druiden waren auch sehr komplizierte Menschen«, versicherte ihm Geoff Summers. »Sie verstanden die Welt, in der sie lebten, sie verstanden ihre Kräfte und setzten sie mit verheerender Wirkung ein. Da sind wir nun, 4.700 Jahre später, und haben immer noch keine vernünftige wissenschaftliche Erklärung für die Errichtung von Stonehenge, die Osterinsel, Carnac in Frankreich oder Mystery Hill. Weder, warum sie all diese mystischen Stätten errichten, noch wie.«
»Geoff, es ist wahr, wir haben einen gefunden. Einen Erdenläufer. Na ja, eigentlich sogar mehr als einen«, mischte sich Karen ein.
»Karen«, protestierte Jack, doch sie entgegnete: »Es war doch nicht deine Schuld, Jack! Es war nicht deine Schuld! Was willst du denn sonst tun? Jemand muss davon erfahren. Sie machen mir Angst, Jack. Sie jagen mir echt verfluchte Angst ein.«
Geoffs Augen begannen zu glänzen. Er stützte sich auf den Tisch und blies in seine Pfeife wie eine alte Lokomotive. »Das ist ja großartig! Ihr wollt mich einweihen? Auf so was habe ich immer gewartet! Hör mal, Jack, falls das stimmt, falls du wirklich einen Erdenläufer entdeckt hast, dann ist das die mystische Sensation der letzten Jahrzehnte. Dann habe ich meinen Doktortitel in der Tasche.«
»Dein Doktortitel ist mir scheißegal!«, entgegnete Jack aggressiv. »Diese Menschen haben meinen Sohn in ihrer Gewalt!«
Betroffen lehnte sich Geoff wieder zurück. »Tut mir leid. Wirklich, es tut mir leid. Ich hatte ja keine Ahnung.« Doch dann beugte er sich erneut vor und war vor Begeisterung kaum noch zu bremsen. »Wenn du mich einweihst, werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um dir zu helfen, ihn wiederzubekommen, Jack.«
Mit erzwungener Geduld wiederholte Jack: »Sag mir einfach, wie man sie töten kann.«
»Tja …«, begann Geoff, »es ist eigentlich nur eine Legende. Es gibt keine historischen Nachweise dafür. Aber pah! Was soll’s? Es gibt ja schließlich auch keine historischen Beweise für die Erdenläufer selbst. Um einen Erdenläufer zu töten, musst du ihn nach Meinung der Druiden mit Beschwörungsformeln an einen Ort locken, an dem die Erde zu Ende ist. So ähnlich wie am Rand einer Klippe. Du musst ihn an eine Stelle bringen, von wo er nicht entkommen kann. Dann musst du die Erde oder den Stein, in dem er sich versteckt hält, sprengen und ihn im Rahmen eines exakt festgelegten Druidenrituals töten.«
»Verzeih mir meine Unwissenheit, aber was für ein Druidenritual soll das genau sein?«, wollte Jack wissen.
Geoff lächelte. »Du musst seinen Körper nach hinten biegen, bis die Wirbelsäule bricht.«
Jack schwieg sehr lange, zückte dann das Streichholzbriefchen, auf dem »Lindstrom’s Farm« stand, und ließ es wieder fallen. »Und diese, wie nennt man sie noch gleich, diese Beschwörungsformeln? Welche Beschwörung soll man denn genau dabei murmeln?«, hakte er nach.
»Das weiß niemand so genau. Tut mir leid. Die Druiden hatten wohl eine Schriftsprache, aber, na ja, du weißt schon. Wie bei so vielem gingen die Aufzeichnungen und das Wissen darum im Laufe der Geschichte verloren.«
»Gingen im Laufe der Geschichte verloren, hmm? Das hilft uns ja wirklich sehr weiter«, merkte Jack sarkastisch an.
»Tja, tut mir leid. Aber mehr weiß ich leider auch nicht. Das ist alles über 4.000 Jahre her. Es gibt keine Druiden mehr, die man fragen könnte. Nun ja, es gibt einen modernen Druidenorden, aber das ist lediglich ein Haufen von exzentrischen Walisern, die sich am Wochenende gerne mal ein Bettlaken überstreifen.«
Karen hatte wie wild Kaugummi gekaut und angestrengt nachgedacht. »Jack – hör mal – das Weihwasser hat sie doch dort festgehalten, oder?«
»Das Weihwasser hat wen wo eingesperrt?«, fragte Jack müde.
Karen schob ihren Kaugummi auf die andere Seite. »Hast du mir nicht erzählt, dass die Irren nicht aus dem Haus konnten, weil überall Weihwasser verspritzt war? Hast du das nicht erwähnt? Und weil der Priester die richtigen Formeln gesprochen hat. So was wie ›bleibt an Ort und Stelle, ihr unreinen Geister, sonst …‹«
Jack nickte. »Das stimmt!«, sagte er. »Stimmt ganz genau. Also, wenn sie nicht aus einem Bannkreis mit Weihwasser entkommen können … vielleicht klappt das dann auch damit und wir brauchen diese druidischen Beschwörungsformeln überhaupt nicht.«
In ihrer Erregung hatten sie Geoff Summers völlig vergessen, der sie immer faszinierter und mit wachsendem Erstaunen beäugte.
»Es muss Bücher mit den richtigen Gebeten und Ähnlichem geben«, sagte Jack zu Karen. »Also müssen wir nur etwas Weihwasser auftreiben – aus einem Taufbecken oder so – und dann können wir uns auf die Jagd nach diesen Schweinen machen.«
Geoff Summers mischte sich höflich ein: »Da kann ich helfen.«
Jack wandte sich zu ihm um. »Tut mir leid, glaub mir. Aber du solltest eigentlich gar nicht zuhören.«
»Ich kann helfen!«, insistierte Geoff. »Ich habe alle Bücher, die du brauchst. Alle Rituale, die nötig sind, alle Zaubersprüche, um Dämonen auszutreiben. Sogar ein Gebet, um eine Gemeinschaft von Menschen loszuwerden, die eine unorthodoxe Sicht auf die Bedeutung der Heiligen Schriften hat. Lass es mich so sagen – ich glaube nicht, dass ›bleibt an Ort und Stelle, ihr unreinen Geister, sonst …‹ in so einer Situation besonders wirkungsvoll wäre.«
Jack zögerte kurz und zeigte dann mit dem Finger auf ihn. »Du willst also wirklich dabei sein?«
»Selbstverständlich!« Geoff grinste. »Du brauchst einen Experten, ich bin ein Experte. Zumindest was komparative Religionswissenschaft betrifft.«
Da war etwas an Geoff Summers’ britischer Art, das Jack dazu brachte, sich mehr denn je wie Dick Van Dyke zu fühlen.
»Also gut«, entschied er. »Du bist dabei! Aber ich warne dich. Erstens: Wir wollen die Polizei noch nicht über die Vorkommnisse ins Bild setzen. Wenn wir das tun, wird alles nur noch schlimmer, als es ohnehin schon ist. Und zweitens: Es ist sehr gefährlich, und ich meine wirklich gefährlich. Ich kann also nicht garantieren, dass du heil aus der Sache rauskommst.«
»Nun … damit kann ich leben«, erklärte Geoff. »Ich lebe gern gefährlich. Motorrad fahren ohne Helm, Segeln ohne Schwimmweste, Ficken ohne Kondom und solche Sachen.«
»Eins noch«, unterbrach ihn Jack. »Das Ganze ist letztlich mein Bier. Es ist mein Sohn. Es ist meine Angelegenheit. Das bedeutet, dass du tust, was immer ich sage, und zwar sofort und ohne Widerworte.«
»Schon gut, schon gut«, versicherte Geoff Summers ihm. »Also … wirst du mich nun endlich einweihen?«
»Als Erstes brauche ich ein Auto«, stellte Jack fest. »Dann müssen wir einen Unterschlupf suchen, um zu schlafen und Nachrichten zu schauen.«
»Die Nachrichten? Erwartest du darin ernsthaft Berichte über Druiden?«
»Geoff«, begann Jack und sah ihm dabei tief in die Augen. »Du hast ja keine Ahnung, wie ernst die Lage ist.«
»Nein, scheinbar nicht.« Er grinste Karen an, zog die Augenbrauen hoch und sagte: »Krass!« Da wurde Jack bewusst, wie jung Geoff noch war.