S E C H S

Jack fuhr zurück ins Motel, duschte und zog eines der drei neuen Hemden an, die er in Madison gekauft hatte. Er rief in seinem Büro an. Es war bereits nach Geschäftsschluss, doch er ging davon aus, dass Mike Karpasian noch dort sein würde. Laut Mike hatten sie einen Haufen Schalldämpfer auszutauschen. Der Mechaniker fragte ungehalten, wann zum Teufel Jack gedachte, die Schecks für B. F. Goodrich zu unterschreiben, weil B. F. Goodrich sie ganz sicher erst mit neuen Reifen beliefern würde, wenn sie die letzte Rechnung beglichen. Abgesehen davon sei aber alles im grünen Bereich.

Karen war nicht zu Hause. Bessy erklärte Jack, Karen sei mit Sherrywine beim Arzt, weil die Kleine ihre Fischstäbchen mitten auf Mamis kleinen Lieblings-Flokati gekotzt hatte.

Er rief Maggie an. Maggie war stinksauer, weil er sich den ganzen Tag nicht gemeldet hatte und sie Randy am Samstag zu einer speziellen Gala zur Steigerung des Selbstwertgefühls von Frauen mitnehmen wollte. Jack erklärte ihr, dass er nicht besonders viel davon hielt, seinen leicht beeinflussbaren neunjährigen Sohn Zeit mit Lesben, Atomkraftgegnern und Frauen, die nichtsexistische Strickwaren herstellten, verbringen zu lassen. Doch dann musste er plötzlich an die Kackwurst denken und an Randy, dessen Körper aus dem Boden emporstieg. Seine Kehle wurde trocken und er musste den Hörer auflegen, ohne sich zu verabschieden.

Maggie konnte ihn natürlich nicht zurückrufen, weil sie nicht wusste, wo er sich gerade befand. Doch er wäre jede Wette eingegangen, dass sein Telefon zu Hause klingelte und klingelte und wahrscheinlich die ganze Nacht weiterklingeln würde. So war Maggie.

Er rief Daniel Bufo an, doch der hatte auch schon Feierabend.

Jack bestellte sich ein Steak und eine Flasche Rotwein aufs Zimmer und schaute mit dem Teller auf dem Schoß eine Folge der Bill Cosby Show. Es war das erste Mal, dass er dabei kein einziges Mal lachen konnte.

Er wusste nicht genau, wann er eingeschlafen war, doch er schreckte um kurz nach 22 Uhr auf und seine Kehle fühlte sich wie ausgetrocknet an. Sein halb aufgegessenes Steak lag auf dem Teller neben ihm auf dem Bett. Er rieb sich die Augen und setzte sich auf. So ging das nicht weiter. Er musste dringend mal ein paar Stunden richtig schlafen! Jack zog sich aus, putzte sich die Zähne, schaltete den Fernseher aus und kletterte wieder ins Bett.

Dann lag er schier endlos wach, starrte an die Decke und dachte an die Menschen, die mit ihren eigenen amputierten Fingern Kaspertheater spielten, und an Männer, die versuchten, Frauen auf so abscheuliche Art umzubringen, dass man es kaum mit Worten beschreiben konnte.

Jack dachte an Lester, das Gesicht auf der Statue. Lester kam einem immer so normal vor. Er dachte an Quintus Miller.

Es war fast drei Uhr morgens, als er sich einbildete, in seinem Zimmer ein Geräusch zu hören. Er hob den Kopf vom Kissen und starrte stirnrunzelnd in die Dunkelheit. Ihn umfing die absolute Stille der Nacht. Der Verkehr auf der 94 reduzierte sich zu dieser Zeit auf einen gelegentlichen Lastwagen, der in der Ferne vorbeirauschte. Im Motel war alles still.

Doch da war es wieder. Sssssschhhhhhh – sssssschhhhhhh – sssssschhhhhhh: genau wie das Geräusch in den Wänden von The Oaks.

Jack lief es eiskalt den Rücken hinunter. Vorsichtig hob er die Decke an und schob sich so leise er konnte seitwärts über das Bett. Doch das schleifende Geräusch war immer noch da – und es kam unaufhaltsam näher.

Sssssschhhhh – sssssschhhhh – sssssschhhhhh.

Jack erstarrte und versuchte, den Atem anzuhalten. Vielleicht würde man ihn auf diese Weise nicht bemerken. In der Hoffnung, dass das Schleifen verstummen würde, schloss er die Augen, öffnete sie dann aber direkt wieder, weil er vermeiden wollte, dass sich der Eindringling unbemerkt an ihn heranpirschte.

Bitte, Gott, mach, dass es wieder verschwindet.

Da sah er, wie sich etwas Dunkles neben dem Bett erhob. Es war der braune Teppich in seinem Zimmer, in Form eines Jungen. Es war Randy, der da aus dem Boden kam.

Jack ließ sich zurück aufs Bett fallen und starrte ihn entsetzt an.

»Randy?«, vergewisserte er sich fast tonlos. »Randy?«

Der Priester, Daddy. Wir wollen den Priester.

»Randy – bist du das? Randy!«

Bring uns den Priester. Wir brauchen ihn. Wir wollen ihm die Finger abhacken und seine Knochen abnagen.

Vor Furcht fast gelähmt fasste Jack mit beiden Händen nach den Teppichschultern seines Sohnes.

Du solltest mich nicht anfassen, Daddy. Du weißt nicht, was dann passiert.

»Randy, mein Gott, du fehlst mir so!«

Jack versuchte, seinen Sohn hochzuheben und aus dem Teppich zu ziehen. Doch da fiel Randys Teppichkopf ab und kugelte schwerfällig über das Bett. Eiskaltes Blut triefte aus seinem Hals und durchnässte die Laken.

Jack schrie und schrie. Er war starr vor Angst.

Er schrie so laut, dass er davon aufwachte. Tatsächlich glich es eher einem Krächzen. Er hatte um sich geschlagen und dabei das Glas Wasser neben seinem Bett umgeworfen. Die Feuchtigkeit breitete sich auf der Matratze aus. Es gab keinen enthaupteten Randy, der schwankend neben seinem Bett stand, und es lag auch kein Teppichkopf auf der Decke. Es war 06:10 Uhr, regnete immer noch, wurde aber langsam hell.

Jack blieb noch fünf Minuten lang auf dem Rücken liegen, um wieder zur Ruhe zu kommen. Er musste mindestens drei Stunden geschlafen haben und fühlte sich schon wesentlich besser. Er hatte noch nie viel Schlaf gebraucht. Schließlich erhob er sich aus dem Bett und rief den Zimmerservice, um Toast und Kaffee zu bestellen.

Jack zog die Vorhänge auf. Regentropfen bedeckten die Fensterscheiben. Hinter dem Parkplatz des Motels konnte er Lastwagen erspähen, die durch das Spritzwasser brausten, um ihre Fracht nach La Crosse, Eau Claire, Duluth oder nach Südosten Richtung Chicago zu bringen.

Heute würde er sich Randy zurückholen. Das schwor er sich. Koste es, was es wolle. Sobald die Abenddämmerung hereinbrach, würde er seinen Sohn sicher in seinen Armen wiegen.

Während er seinen Kaffee schlürfte, blätterte er das Telefonbuch durch. Es gab 22 Einträge unter dem Namen Bell, aber keinen einzigen in Portage. Immerhin fand er die Nummer für den Anschluss der Saint-Ignatius-Kirche. Als er dort anrief, meldete sich niemand. Aber hier in der Provinz konnte man wohl auch kaum damit rechnen, dass sich jemand bereits um sechs Uhr morgens hinter das Telefon klemmte. Die beste Lösung war wohl, einfach hinzufahren. Es waren ja nur knapp 30 Meilen bis dorthin.

Der Regen war schuld daran, dass er doch über eine Stunde benötigte, um Portage zu erreichen. Als er auf den teilweise rissigen Betonparkplatz vor St. Ignatius einbog, waren seine Augen müde vom konzentrierten Dauerstarren durch die regennasse Scheibe, sein Hals ganz steif und sein Rücken fühlte sich an, als hätte ihn jemand in einen Schraubstock eingespannt.

Jack stellte den Motor ab, löste den Gurt und streckte sich.

St. Ignatius war eine kleine Kirche am südlichen Rand von Portage, ein unscheinbares graues Betonziegelgebäude mit einem Dach aus Wellblech. Seitlich davon befand sich ein Holzlager und auf der anderen Seite eine Tankstelle. Die Kirche konnte einen Turm mit einer einzelnen Glocke sowie eine bogenförmige Holztür mit Fenstern aus Buntglas vorweisen, doch sonst hätte man sie ohne Weiteres mit einem Schuppen verwechseln können, in dem man Malerarbeiten verrichtete oder ein Boot aufbewahrte.

Jack stieg aus dem Wagen und eilte mit aufgestelltem Kragen über die betonierte Einfahrt. Er wollte gerade die Stufen zur Tür erklimmen, als eine Stimme ertönte: »Niemand da! Hey, Mister! Niemand da!«

»Was?«, fragte Jack, während er innehielt. Ein pickliger Teenager mit einer riesigen blonden Schmalztolle lehnte sich aus dem Kassenhäuschen der Tankstelle.

»Niemand da!«, wiederholte er, als Jack näher kam.

Der Junge verstummte, als ihm dämmerte, dass Jack möglicherweise einfach nur zur St. Ignatius gekommen war, um zu beten. »Na ja«, fügte er hinzu. »außer vielleicht Gott selbst.«

»Ich suche einen Priester«, verriet ihm Jack.

Der Kassierer schnaubte. »Pater Dermot, das ist Ihr Mann. Aber der ist heute nicht da.«

»Ich suche einen Pater Bell.«

»Pater Bell? Von dem hab ich noch nie etwas gehört. Sind Sie sicher, dass Sie die richtige Kirche erwischt haben?«

Jack nickte. »Pater Bell war der Priester, der vor dem Krieg hier gepredigt hat.«

»Mein Vater war im Krieg im 4. Marineinfanterie-Regiment.«

»Ich meine den Krieg zwei Kriege davor.«

»Hä?«, machte der Junge verwirrt und rümpfte die Nase.

In diesem Moment tauchte ein rundköpfiger Mann in einem öligen Overall auf, der sich die Hände an einem alten Lappen abwischte.

»Hey, was ist mit meinem Kaffee, Pickelgesicht?«, wollte er wissen. Mit einem Blick auf Jack fügte er hastig ein »Guten Tag!« hinzu.

»Ich hab’s vergessen!«, gestand der Junge.

»Er hat’s vergessen!«, wiederholte der Rundköpfige. »Er würde seinen eigenen Arsch vergessen, wenn er nicht zufällig an ihm festgewachsen wäre.«

Der Junge verschwand im Kassenhäuschen. Jack sagte: »Ich bin auf der Suche nach einem Priester, den es mal hier in St. Ignatius gegeben haben soll. Ich frage mich, ob Sie schon mal von Pater Bell gehört haben?«

»Aber sicher«, bestätigte der Rundköpfige ohne Zögern. »Ich kenne Pater Bell.«

»Lebt er noch?«

»Na klar, er wohnt jetzt in Green Bay in einer dieser Seniorenresidenzen. Seine Tochter Hilda ist mit meiner Frau befreundet – sie tauschen regelmäßig Kochrezepte aus.«

»Seine Tochter?«, hakte Jack nach.

»Aber ja. Er hat das Priesterdasein schon lange, bevor ich ihn kennenlernte, aufgegeben, aber trotzdem sprach ihn jeder noch als Pater Bell an. Eine Art Spitzname, wissen Sie? Wenn Sie aus der Armee austreten, nennen Sie die Leute ja auch weiterhin Colonel.«

Der Mann unterbrach seine Unterhaltung mit Jack, um zu brüllen: »Wie lang brauchst du denn noch, um eine verdammte Tasse Kaffee zu machen? Was zum Teufel treibst du denn? Züchtest du die Bohnen erst, oder was?« Er hörte auf, sich die Hände abzuwischen, knüllte den Lappen zusammen und pfefferte ihn mit beeindruckender Zielgenauigkeit in die Mülltonne auf der anderen Seite des Hofes. »Das verdammte Wetter, das bringt einen fast um, oder?«

Jack erkundigte sich zögerlich: »Pater Bells Tochter … können Sie mir sagen, wo sie lebt?«

Der Mann ergriff Jack am Arm. »Sie fahren hier entlang, bis zur nächsten Kreuzung. Da biegen Sie rechts ab. Direkt vor Ihnen befindet sich ein gelbes Haus. Na ja, ich sage aus Höflichkeit ›gelb‹. Sieht eher so aus, als ob einer das Abendessen beim Mexikaner drübergekübelt hätte. Das ist das Haus.«

Der Junge erschien mit einer dampfenden Tasse Kaffee.

»Mein Sohn«, erklärte der Mechaniker. »Was zum Teufel habe ich verbrochen, um so einen Sohn zu bekommen?«

»Ich bin dieses Jahr 88 geworden«, verriet Pater Bell. »Ich wurde am 6. September 1901 geboren, am gleichen Tag, als Präsident McKinley angeschossen wurde. Gestorben ist er natürlich erst acht Tage später.«

Der alte Mann drehte sich vom Fenster weg und blickte Jack aus traurigen, glänzenden Augen an. »Meine Kindheit steht mir bis ins kleinste Detail noch so deutlich vor Augen, als ob ich sie durch ein hell erleuchtetes Fenster betrachten würde. Und doch ist es schon über 80 Jahre her! So lange her und für immer verloren.«

»Ihre Tochter bat mich, Ihnen das hier mitzubringen«, sagte Jack.

Er hielt ein weiches, in rotes Papier eingewickeltes Päckchen hoch.

»Ah, Bettsocken!«, erklärte Pater Bell. »Ach, das ist ja nett von ihr. Sie schickt mir immer kleine Geschenke und bemüht sich, den Kontakt aufrechtzuerhalten. Ein nettes Mädchen, meine Hilda. Ein gutes, nettes Mädchen. Kennen Sie sie schon lange?«

»Ich habe sie heute zum ersten Mal getroffen«, antwortete Jack.

»Wirklich?«, vergewisserte sich Pater Bell überrascht und fragte dann noch einmal nach: »Wirklich?«

Pater Bell war ein großer und hagerer Mann ohne ein überflüssiges Gramm Fett am Körper. Seine runzlige Haut schien auf seinem Schädel zusammengeschrumpelt zu sein, wodurch seine Augenhöhlen und Wangenknochen tiefschwarz und eingefallen wirkten. Er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf, doch seine Augenbrauen waren markant und buschig und seine Nase besaß die Form der ausgebreiteten Schwinge einer Fledermaus. Sie war von Adern und Knochen durchzogen.

Er trug einen maulwurfgrauen Rollkragenpullover und eine weite braune Schlaghose, die in den 70er-Jahren sicher einmal hochmodern gewesen war. »Imagine me and you, I do, I think about you day and night …«

»Gestern habe ich mit Miss Olive Estergomy gesprochen«, eröffnete Jack ihm.

»Essie! Wirklich? Das ist aber eine Überraschung! Ich nenne sie Essie, wissen Sie?«

»Ja«, antwortete Jack und konnte der Versuchung nicht widerstehen, ein »Ich auch!« hinzuzufügen. Nach kurzem Schweigen fügte er hinzu: »Essie hat mir verraten, dass Sie früher den Sonntagsgottesdienst in The Oaks abhielten, als es noch eine psychiatrische Anstalt war.«

Pater Bell sagte nichts, doch er betrachtete Jack aufmerksam, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. Vor dem Fenster seines schattigen Zimmers fiel der Regen über den Bay Beach Park. Die Bucht verbarg sich hinter einem Schleier aus Sprühnebel.

Das Zimmer war sauber und modern eingerichtet. Ein orangefarbenes Schlafsofa stand darin, außerdem ein Tisch aus Kiefernholz, ein Sessel und ein penibel sortiertes Bücherregal. Aber abgesehen von dem gerahmten Schwarz-Weiß-Foto einer mondgesichtigen Frau, die in einem Haus lebte, das aussah, als hätte jemand sein mexikanisches Abendessen darüber entleert, fanden sich keine persönlichen Besitztümer. Wäre hier um 08:56 Uhr morgens jemand gestorben, hätte um 09:11 Uhr der nächste Bewohner einziehen können.

Auch die Büchersammlung verriet wenig über den Bewohner des Zimmers: alte Bestseller wie Der Holcroft-Vertrag oder Die Unersättlichen. Wenn man in Betracht zog, dass Pater Bell ein ehemaliger Priester war, schien es merkwürdig, dass im Regal keine Bibel stand.

Jack wagte einen Vorstoß: »Essie hat mir auch erzählt, dass Sie in der Nacht dort waren, als die Patienten verschwunden sind.«

Pater Bell atmete ein und aus, ein und aus, als ob es ihn besondere Mühe kostete, das zu tun, um am Leben zu bleiben.

Jack fuhr fort: »Pater Bell – ich weiß, dass ich mich ziemlich anmaßend verhalte. Aber Fakt ist, dass mein Sohn ebenfalls verschwunden ist. In The Oaks.«

Pater Bell drehte den Kopf zur Seite. Quälend lange Sekunden sagte er gar nichts und fuhr sich lediglich mit der Zunge über die Lippen.

»Pater Bell«, sagte Jack. »Ich weiß genau, dass mein Sohn noch dort ist. Und ich brauche Ihre Hilfe, um ihn zurückzubekommen.«

Endlich regte sich Pater Bell in seinem Sessel und verknotete die Hände in seinem Schoß wie zwei bis aufs Skelett abgemagerte Katzen. »Der Vorfall, den Sie da ansprechen, Mr. Reed … er liegt schon sehr lange zurück.«

»Sie sind immer noch da!«, verkündete Jack.

Man konnte erkennen, dass Pater Bell für einen Augenblick überlegte, ob er sich dumm stellen und so tun sollte, als wüsste er nicht, wen Jack mit »sie« gemeint hatte. Doch Jack war so direkt und mit Nachdruck zur Sache gekommen, dass Ausflüchte unmöglich schienen.

»Sie sind noch da?«, wiederholte er ungläubig.

»Sie wissen, was mit ihnen passiert ist, oder?«, fragte Jack. »Sie wissen, wohin sie verschwunden sind.«

»Ja, ich weiß, wohin sie verschwunden sind«, gab Pater Bell zu.

»Möchten Sie es mir erzählen?«

Plötzlich wurde Pater Bell bewusst, was für schreckliche Neuigkeiten er da gerade erfahren hatte. »Sie sind immer noch da drinnen, sagen Sie? Nach all diesen Jahren? Mein Gott … ich hätte nie geglaubt, dass sie das überleben. Sie müssten doch längst verhungert sein. Sie hätten innerhalb weniger Tage sterben sollen. Immer noch da! Mein Gott, immer noch da!«

»Erzählen Sie mir davon!«, insistierte Jack. »Das müssen Sie.«

»Oho, mein Freund, da bin ich mir nicht so sicher. Ich weiß nicht, ob ich es kann. Wenn sie immer noch dort sind … Der Herr stehe uns bei!«

»Pater Bell, ich muss meinen Sohn retten.«

»Ich bin kein Priester mehr, Mr. Reed. Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen zu helfen.«

»Was meinen Sie damit, verpflichtet?«, wollte Jack wissen. »Er ist noch ein Kind!«

»Sie kennen sie nicht, Mr. Reed. Sie kennen sie nicht so gut wie ich.«

»Versuchen Sie mir gerade zu erklären, dass Sie mir Ihre Unterstützung verweigern wollen? Sie sind 88, mein Sohn ist 9. Zählt das überhaupt nicht? Er hat noch sein ganzes Leben vor sich!«

Ohne Vorwarnung klammerte sich Pater Bell an die Lehnen seines Sessels, wand sich von einer Seite zur anderen und bellte heiser: »Ich habe schreckliche Angst, Mr. Reed! Ich habe Todesangst! Mein Gott, wissen Sie, um was Sie mich da bitten? Sie sind verrückt! Sie sind verrückt! Sie sind fast schon so verrückt wie sie!«

Jack stand auf, ging durchs Zimmer und beugte sich über den alten Mann. Pater Bell sah zu ihm auf, mied dann aber hastig seinen Blick. Mit mühsam erzwungener Geduld sagte Jack: »Es tut Ihnen doch nicht weh, wenn Sie mir einfach nur davon berichten.«

»Ah, nein. Aber wenn sie es herausfinden …«

»Sie werden es nicht herausfinden. Wie zum Teufel sollten sie auch?«

Pater Bell schüttelte den Kopf. »Sie werden es wissen. Sie werden es spüren! Niemand außer mir weiß, was damals vorgefallen ist. Einer von ihnen hat es mir gebeichtet. Deshalb konnte ich es auch der Polizei nicht verraten. Es ist der Grund, weshalb ich meine Priesterschaft aufgegeben habe. Ich musste mit ansehen, wie der arme Elmer Estergomy vom Staat an den Pranger gestellt und seine ganze Familie in den Ruin getrieben wurde. Und ich konnte nichts zu seiner Verteidigung vorbringen, weil ich dann das Beichtgeheimnis verletzt hätte.«

»Verdammt, Pater Bell, Sie müssen es mir jetzt erzählen«, forderte Jack den ehemaligen Priester unwirsch auf. »Denn, bei Gott, wenn Sie es nicht tun, wird mein Sohn von diesen Irren umgebracht und dann werde ich Sie töten. Das verspreche ich, so wahr ich hier vor Ihnen stehe!«

Niemals zuvor hatte Jack jemanden derart bedroht und auf ihn wirkten seine eigenen Worte fast ebenso furchteinflößend wie auf Pater Bell. Doch als der alte Mann flüsterte: »Sie werden sie nicht freilassen, oder? Egal was passiert, Sie werden sie nicht freilassen?«, wusste er, dass Pater Bell ihm verraten würde, was er wissen musste.

Jack zog seinen Stuhl etwas näher heran und setzte sich wieder. »Der Patient, dem Sie damals die Beichte abgenommen haben, war das vielleicht Quintus Miller?«

»Woher wissen Sie das?« Pater Bells Stimme bebte vor Angst.

»Nur geraten. Essie Estergomy erzählte mir, dass er vermutlich der Härteste und auch der Intelligenteste der ganzen Gruppe war.«

»Ja, das war er eindeutig. Quintus Miller, mein Gott. Er war ein außergewöhnlicher Mann. Klein, aber ziemlich breit, unheimlich muskulös. Er sah aus wie ein Bodybuilder. Sein Hals war so dick wie der eines Stiers! Schwarzes, streng zurückgekämmtes Haar mit einem sorgfältig gezogenen Mittelscheitel. Das war damals gerade modern. Gesichtszüge hart wie Stein. Ein stechender Blick, völlig ausdruckslose Augen ohne jede Spur von Mitleid. Und ein Tattoo auf der Brust, wie Sie noch nie eins gesehen haben. Zwei tätowierte Hände, die von hinten nach ihm zu greifen schienen und dabei seinen Bauch weit aufrissen. Seine Eingeweide waren in Rot, Gelb und Blau tätowiert; sein Magen, seine Leber, seine Gedärme. Mir fuhr es eiskalt den Rücken runter, wenn ich es angesehen habe.«

Pater Bell atmete durch ein Nasenloch pfeifend aus. »Es war die Art, wie er seine eigene Sterblichkeit zur Schau stellte, die mich so sehr verängstigte. Es gibt nichts, was so furchteinflößend ist wie der Umgang mit einem Mann, der sich nicht darum schert, ob er lebendig oder tot ist. Es gab in The Oaks so einige von ihnen, sowohl Männer als auch Frauen, doch sie waren in der Regel eher selbstzerstörerisch. Keiner von ihnen weckte ein solches Gefühl der Furcht in mir wie Quintus Miller. Man konnte spüren, dass er alles Erdenkliche unternehmen würde, um so viele Menschen wie möglich mit in den Abgrund zu ziehen, wenn seine letzte Stunde einmal geschlagen hatte. Der Mann besaß die Moralvorstellungen eines Hammerhais.«

Jack schwieg für eine Weile, um Pater Bell Gelegenheit zu geben, sich wieder zu beruhigen. Dann forderte er ihn auf: »Sagen Sie mir, was Quintus Miller Ihnen gebeichtet hat.«

»Er legte viele Beichten ab. Zwei Jahre lang fast jede Woche. Ich warnte Dr. Estergomy einige Male, dass ich Quintus für hochgradig gefährlich hielt. Doch natürlich war das Dr. Estergomy längst bewusst. Schließlich bemühte er sich ja darum, ihn zu resozialisieren.

Es brachte einen ziemlich aus dem Gleichgewicht, wenn man Quintus zuhörte. Er machte zunächst einen so vernünftigen Eindruck, bis man plötzlich erkannte, dass er einem den scheußlichsten, von Wahnvorstellungen untermalten, absurdesten Unsinn erzählte. Während der Beichte gestand er mir belanglose Sünden wie das Stehlen von Süßigkeiten von anderen Patienten, Masturbieren, Lügen oder Gotteslästerung. Dann berichtete er im gleichen Atemzug, wie er die anderen Patienten gequält hatte, indem er ihnen die Finger brach oder ihre Hoden mit der Faust zerquetschte. Ihm fehlte das moralische Empfinden. Eine Zigarette auf dem Augenlid eines anderen auszudrücken war für Quintus Miller nicht schlimmer als der Diebstahl eines Schokoriegels.

Er hat sogar versucht, eine Patientin umzubringen, wussten Sie das? Er ging mit bloßen Händen auf sie los. Doch da er schon lebenslänglich erhalten hatte und das Gericht ihn als unzurechnungsfähig eingestuft hatte, war das Schlimmste, was sie ihm antun konnten, eine isolierte Unterbringung.«

Pater Bell zögerte und fuhr dann fort. »Nach einem Jahr in The Oaks fing Quintus plötzlich an, über Freiheit zu reden und dass er einen Ausbruch plante. Als ich nachhakte, gestand er mir, dass er eine Fluchtmöglichkeit gefunden hatte. Ich wies Dr. Estergomy an, die Gebäudesicherheit überprüfen zu lassen, doch er versicherte mir, selbst dem willensstärksten Patienten würde es nicht gelingen, aus The Oaks zu entkommen. Damals war das gesamte Gelände noch von einem drei Meter hohen Stacheldrahtzaun umgeben.

Dennoch hörte Quintus nicht auf mit seinem Gerede von Flucht. Er sagte, dass er etwas am Gebäude entdeckt hätte, das ihm dabei behilflich sein würde. Er faselte ständig von einem Labyrinth und von etwas, das er ›Erdmagie‹ nannte. Er war so besessen von der Vorstellung, dass ich die Pfleger manchmal bitten musste, ihn zurück auf sein Zimmer zu bringen, weil seine Tiraden manchmal bis zu einer halben Stunde andauerten.«

»Und dennoch glaubten Sie nicht, dass er wirklich entkommen könnte?«, wollte Jack wissen.

Pater Bell schüttelte den Kopf. »Ich glaubte nicht an diese sogenannte ›Erdmagie‹.«

»Und was meinte er mit ›Erdmagie‹? Hat er Ihnen das erklärt?«

»Ich wusste es schon vorher«, gestand Pater Bell. »Erdmagie ist die Magie der Urzeit, die Magie der Druiden. Heidnische Priester sind der Überzeugung, dass der Erde selbst spirituelle Kräfte innewohnen. Sie glauben, dass sich diese Energien an mystischen Stätten, die auf der ganzen Welt verteilt sind, besonders stark bündeln. In Großbritannien etwa in Stonehenge und Glastonbury. Hier in den Vereinigten Staaten haben wir Mystery Hill in New Hampshire, Gungywamp in Connecticut und die Stadt North Salem im Bundesstaat New York und – ach, es gibt noch etliche andere.«

»Zum Beispiel The Oaks, Wisconsin«, mutmaßte Jack.

Pater Bell nickte. »All diese magischen Orte sind dem Glauben zufolge durch ein Netz kerzengerader Linien miteinander verbunden. Man spricht auch von Leylinien. Quintus erklärte mir, dass man The Oaks absichtlich genau auf dem Kreuzungspunkt einiger dieser Linien errichtet habe. Dass es sich dabei um das Epizentrum der Erdmagie auf dem nordamerikanischen Kontinent handele.«

Jack dachte einen Moment lang nach und lehnte sich im Stuhl zurück. »Daraus schließe ich, dass … wie hieß der Kerl noch gleich? … dass sich dieser Bierkönig Adolf Krüger auch mit Erdmagie auskannte?«

»Mit ziemlicher Sicherheit«, bestätigte Pater Bell. »Es kann sich kaum um Zufall handeln, dass er The Oaks genau an der Stelle erbaut hat. Ich habe mir oft den Kopf darüber zerbrochen, wie Quintus Miller überhaupt etwas von Erdmagie wissen konnte. Er wollte es mir natürlich nicht verraten. Die einzige logische Erklärung schien mir, dass er ein Buch in Adolf Krügers Bibliothek entdeckt haben musste. Ich weiß nicht, ob Ihnen das bereits jemand erzählt hat, doch Krüger selbst hat das Haus unter sehr mysteriösen Umständen verlassen.«

»Aber wie zum Teufel konnte sich Quintus Miller Erdmagie für seine Flucht zunutze machen?«, fragte Jack.

Pater Bell beobachtete eine Weile, wie der Regen am Fenster hinabtropfte. Dann sagte er: »Damals, als er es mir erzählte, klang es wie das Gebrabbel eines Wahnsinnigen, weshalb ich nur mit halbem Ohr hinhörte. Doch ich erinnere mich noch gut daran, dass er das Gebäude selbst einmal als Schlüssel zur Unterwelt bezeichnete. Es sei ein Labyrinth, behauptete er, und wenn er dessen Mittelpunkt fand, an dem die Leylinien zusammenliefen und die vier Elemente des Universums sich vereinten, dann bekäme er Zugang zu diesen Linien und könnte entkommen, als ob er eine Landstraße entlangliefe. Das waren seine exakten Worte damals: ›Als ob man eine Landstraße entlangläuft‹.«

Jack fragte weiter: »Mich interessiert noch etwas. Wie kommt es, dass Sie sich in der Nacht, als alle verschwanden, in The Oaks aufhielten?«

»Das war eigentlich Zufall«, antwortete Pater Bell. »Ich rief Dr. Estergomy um etwa 19 Uhr an, um ihm mitzuteilen, dass ich am kommenden Sonntag etwas später kommen würde, weil ich einige der Kinder der Sonntagsschule zu einem Picknick fahren musste. Er sagte: ›Sie werden es nicht glauben, Pater, aber sie sind alle weg.‹ Nun, ich erinnerte mich sofort an das, was Quintus Miller mir erzählt hatte, also setzte ich mich ins Auto und fuhr hin.«

Etwas leiser fuhr er fort: »Was ich dort zu Gesicht bekam, beunruhigte mich ungemein. Die Zimmer der Patienten waren allesamt abgeschlossen, die Fenster immer noch verriegelt, und trotzdem war kein Einziger von ihnen zu sehen. Sie können sich vielleicht vorstellen, wie mir zumute war. Doch in meiner Bestürzung erinnerte ich mich an das, was Quintus mir erzählt hatte; dass das Gebäude ein Labyrinth sei – und dass er sein Zentrum finden müsse, bevor er mittels einer Leylinie daraus entkommen konnte. Ich betete, dass ihm und seinen Anhängern das noch nicht gelungen war.

Ich lief nach draußen, umrundete das Haus, weihte die Grenzlinie des Grundstücks und besprengte sie mit Weihwasser, während ich ein Gebet sprach, um böse Geister fernzuhalten. Ich war gerade damit fertig, als ich ein Geräusch hörte, ein schreckliches Schleifen wie von Hunderten Barfüßiger, die unter der Erde auf mich zuschlurften.

Sie waren es, die Insassen von The Oaks – und sie flüchteten, davon war ich überzeugt. Ich hatte schreckliche Angst. Doch das Schlurfen hörte abrupt auf, als sie den heiligen Bannkreis, den ich um das Gebäude gezogen hatte, erreichten. Es war mir zwar nicht gelungen, sie an ihrer Flucht zu hindern, doch ich konnte sie zumindest davon abhalten, das Anwesen zu verlassen.

Aus dem Boden erscholl ein Heulen, das mich bis zum heutigen Tag in meinen Albträumen verfolgt. Dazu erklang ein Trommeln von Fäusten gegen die Erde, bumm-ba-bumm-ba-bumm-ba-bumm, wie bei einem Erdbeben.«

Der alte Mann atmete mit einem ähnlichen Schnaufen wie der Dobermann von Joseph Lovelittle tief ein. »Ich rechnete damit, dass die Patienten nach einer Weile in ihre Zimmer zurückkehren würden, wenn sie erst erkannten, dass sie nicht entkommen konnten. Doch sie kehrten nie zurück. Vielleicht konnten sie das Labyrinth lediglich betreten und nicht wieder verlassen. Nachdem einige Wochen verstrichen waren, ging ich davon aus, dass keiner von ihnen überlebt hatte. Ein weiterer Grund für mich, das Priesteramt niederzulegen. Ich war der festen Überzeugung, für den Tod von 137 hilflosen Menschen verantwortlich zu sein, was schwer auf meinem Gewissen lastete.«

»Und was ist mit dem Kreis, dem heiligen Bannkreis? Ist der noch da?«, wollte Jack wissen.

»Natürlich ist er das. Und das wird er auch bleiben. Er kann ausschließlich von dem Priester aufgelöst werden, der ihn geschaffen hat, oder von drei Kardinälen gemeinsam.«

»Und Sie würden nicht im Traum daran denken, das zu tun?«

Pater Bell starrte ihn an. »Wenn ich Quintus Miller und den Rest dieser Kreaturen auf die Welt loslassen würde – so durchgedreht, wie sie schon immer gewesen sind, so rachsüchtig und verbittert, wie sie jetzt sein müssen – nun, das wäre völlig unverantwortlich. Damit würde ich mich wohl der Beihilfe zu einem Massaker schuldig machen.«

Die Tür ging auf und eine sommersprossige Schwester steckte ihren Kopf hinein. »Bereit fürs Abendessen, Billy?«

Pater Bell sah auf. »Was gibt’s denn heute?«

»Fischfrikadellen.«

»Verdammt, ich hasse Fischfrikadellen.«

»Lassen Sie sich nicht zu lange Zeit damit«, antwortete die Pflegerin fröhlich und schloss die Tür hinter sich.

»Billy, ist das Ihr Name?«, erkundigte sich Jack.

Pater Bells Mund verzog sich zu einem zynischen Lächeln.

»Mein Vater fand es wohl besonders witzig, seinen Sohn Bill Bell zu nennen. Das war die Art von Scherz, die sich Eltern damals mit ihren Kindern erlaubten. Nicht dass sie heutzutage wesentlich besser dran wären, wenn sie sich mit Namen wie Wentworth oder Chevy herumschlagen müssen.«

»Möchten Sie mit mir etwas essen gehen?«, fragte ihn Jack. »Ich habe den ganzen Tag noch nichts Ordentliches in den Bauch bekommen. Es muss hier in Green Bay doch ein paar anständige Restaurants geben?«

»Warum sollten Sie einen 88-jährigen Mann zum Essen ausführen wollen?«, erkundigte sich Pater Bell misstrauisch.

»Weil ich Hunger habe. Und weil ich es hasse, alleine zu essen. Und weil ich mehr über The Oaks erfahren will. Brauchen Sie noch weitere Gründe? Außerdem schmeckt Hummer bestimmt deutlich besser als Fischfrikadellen.«

Zum ersten Mal lächelte Pater Bell. »Sie sind ganz schön stur, Mr. Reed.«

»Das wären Sie auch, wenn Ihr Sohn mit Quintus Miller in einer Wand gefangen wäre.«

Pater Bell öffnete die Augen. »Wo sind wir?«, wollte er wissen, während er sich aufrecht hinsetzte. »Ich muss eine Weile weggedöst sein.«

Jack zog den Autoschlüssel aus der Zündung. »Ich habe mich entschlossen, die Route mit der besseren Aussicht zu nehmen«, antwortete er müde.

Pater Bell wischte mit der Hand über die beschlagene Fensterscheibe.

»Wo um alles in der Welt sind wir? Das ist nicht Green Bay!«

»Nein, da haben Sie recht, das ist es nicht. Wir sind in The Oaks.«

Pater Bell starrte ihn empört an. »The Oaks? Sie besitzen die Unverfrorenheit, mit mir einfach den ganzen gottverdammten Weg nach The Oaks zu fahren?«

»Sie sind eingeschlafen nach dem ganzen Hummer und Chablis. Ich bin einfach mal davon ausgegangen, dass Sie nichts dagegen haben.«

»Sind Sie wahnsinnig? Sind Sie absolut übergeschnappt? Sie haben mich gekidnappt, um Himmels willen! Lassen Sie mich sofort hier raus!«

Jack entriegelte die Tür des Kombis. »Nur zu! Es schüttet wie aus Eimern, es ist 03:30 Uhr morgens und wir befinden uns zehn Meilen von der nächsten menschlichen Siedlung entfernt. Einen Regenmantel haben Sie auch nicht dabei, wenn ich mich recht erinnere. Mal ganz davon abgesehen, dass Sie 88 Jahre alt sind und an einer Schleimbeutelreizung leiden.«

»Woher wissen Sie das?«, fragte Pater Bell gereizt.

»Das haben Sie mir beim Abendessen erzählt. Beim Abendessen haben Sie mir sehr viel über sich erzählt.«

»Das können Sie nicht tun«, protestierte Pater Bell. »Sie haben kein Recht dazu.«

»Mein Sohn gibt mir das Recht.«

Pater Bell entgegnete: »Hören Sie, mein Freund, es tut mir wirklich leid wegen Ihres Jungen. Aber ich kann Ihnen nicht helfen. Ich kann nichts für Sie tun. Ich bin seit 63 Jahren kein Priester mehr. Und ich habe auch nicht das geringste Interesse daran, zum Märtyrer zu werden.«

»Dass Sie einmal Priester werden wollten, beweist mir jedenfalls, dass Sie anderen Menschen Mitgefühl entgegenbringen.«

»Oh, sicher, und jetzt sehen Sie ja, wohin mich das gebracht hat.«

»Es hat Sie hierher gebracht, Pater Bell. Dorthin, wo Sie damals der Glaube an das Gute im Menschen verlassen hat. Wenn Sie Ihre Lektion lernen möchten, was es bedeutet, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen, dann sind Sie genau am richtigen Ort.«

»Halten Sie mir keine Moralpredigt!«, tobte Pater Bell. »Ich habe getan, was ich konnte. Ich habe verhindert, dass diese Biester entkommen! Ich kann nichts mehr tun! Sie können wohl kaum noch mehr von mir verlangen! Herrgott im Himmel, das war 1926! Ich war damals erst 25 Jahre alt! Ich habe getan, was ich konnte!«

»Bitte – Sie können wenigstens mit ihnen reden!«, beschwor ihn Jack. Er wusste, dass Pater Bell schreckliche Angst hatte. Er wusste, dass es falsch gewesen war, ihn den ganzen Weg hierher zu bringen. Einen betagten Ex-Priester gegen seinen Willen mitten in der Nacht durch den halben Bundesstaat zu karren, war vermutlich eine Straftat, auf die 20 Jahre Knast standen, wenn das denn reichte; und wahrscheinlich verdiente er die auch.

Doch er war zu müde und zu verzweifelt, um deshalb ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Er wusste nur, dass Lester ihm befohlen hatte, den Priester nach The Oaks zu bringen, weil er Randy sonst genau wie den armen Lovelittle zermalmen würde.

Pater Bell beugte sich in seinem Sitz nach vorne und spähte durch das Dunkel in Richtung des Anwesens. »Ich kann nichts erkennen. Die Bäume müssen inzwischen ziemlich gewachsen sein.«

»Ich glaube nicht, dass sich viel verändert hat«, erwiderte Jack. Er öffnete seine Tür. »Kommen Sie mit?«

»Bleibt mir denn eine andere Wahl?«

Jack beugte sich ins Auto. »Sie sind hier, Pater Bell. Sie können das, was Sie damals begonnen haben, zu Ende bringen. Zumindest können Sie es versuchen.«

Pater Bell hockte auf dem Beifahrersitz wie ein Häufchen Elend und wirkte äußerst zerbrechlich und müde. Seine Haut hatte eine gelbliche Färbung angenommen. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Mr. Reed, ich bin nicht sicher, ob ich die Kraft dazu habe.«

»Werden Sie mit ihnen reden? Mehr verlange ich nicht von Ihnen. Wenn außer Ihnen niemand den Bannkreis um das Haus entweihen kann, worüber machen Sie sich dann Sorgen? Sie befinden sich in einer Machtposition.«

»Ich weiß nicht.« Pater Bell zögerte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Quintus Miller noch einmal begegnen möchte … nicht nach all den Jahren.«

Jack lief um den Kombi herum und öffnete die Tür. »Kommen Sie, Bill Bell. Tun wir ihnen etwas an, bevor sie uns etwas antun.«

Pater Bell zögerte einen Moment, doch dann schwang er seine Beine aus dem Electra und stützte sich auf Jack, der ihm beim Aussteigen behilflich war.

»Was für eine schreckliche Nacht!«, bemerkte er.

Die beiden liefen gemeinsam über die mit Schotter bedeckte Einfahrt. Pater Bell lehnte sich gegen Jack. Es wehte ein starker Wind und der Regen peitschte fast horizontal in die Dunkelheit hinein, wie eine eisige Heuschreckenplage. Jack hatte neue Batterien für seine Maglite besorgt und leuchtete mit ihrem Strahl mal hierhin, mal dorthin, um Pater Bell einen näheren Blick auf das Gebäude zu gestatten, um das er seit über 60 Jahren einen großen Bogen machte.

»Es ist alles ein wenig heruntergekommen«, bemerkte Pater Bell. »Aber abgesehen davon könnte ich nicht behaupten, dass es sich großartig verändert hat. Es sieht gleich aus, es riecht sogar gleich. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich diesen Ort hasse.«

»Sie genauso wie ich inzwischen«, antwortete Jack.

Jack führte den früheren Geistlichen um das Gebäude herum bis zum Gewächshaus. Er öffnete die Tür und sie traten ein. Pater Bell spähte in der Finsternis umher.

»Alles kaputt«, stellte er fest, während er die zerbrochenen Blumentöpfe und die vertrockneten Pflanzen inspizierte. »Sie hätten es damals sehen sollen! Jede Art von tropischer Pflanze, die sie sich vorstellen können! Und Trauben wuchsen hier auch!«

»Kommen Sie!«, drängte Jack und lotste ihn in die Lounge.

Pater Bell zögerte, hielt an und sah sich um.

»Ich kann es nicht glauben. Es hat sich nichts verändert. Man hat es nicht mal angerührt. Können Sie sich vorstellen, wie es sich anfühlt, in ein Haus zurückzukehren, in dem Sie vor 60 Jahren ein und aus gingen, und festzustellen, dass es darin noch genauso aussieht wie an dem Tag, an dem Sie es verlassen haben? Das ist beunruhigend!«

Sie gingen durch die Halle. Jack leuchtete mit seiner Taschenlampe kurz die beiden Marmorstatuen an, doch sie waren so blind wie die Gerechtigkeit. Ihre eigenen Schritte knirschten auf dem dreckigen Marmorboden. Über ihren Köpfen knarzte der riesige eiserne Leuchter im frühen Morgenwind, der teilweise ins Innere des Hauses drang.

Plötzlich lief es Pater Bell eiskalt über den Rücken, und zwar nicht nur aufgrund der frostigen Temperaturen im Gebäude. »Wissen Sie, was für eine Nacht es war, in der sie alle entkamen? Der 21. Juni, Mittsommernacht. Das fiel mir erst einige Jahre später auf. Das ist die Zeit, in der die Erdkräfte am stärksten wirken. Sommersonnenwende. Ein besonderer Abschnitt des Jahres für die Druiden. Eine Phase, in der die Leylinien zum Leben erwachen und eins mit der Welt werden.«

»Ich repariere Schalldämpfer«, verriet Jack, um seinem Begleiter zu verdeutlichen, dass sein Vorstellungsvermögen relativ begrenzt war, wenn es um Magie ging.

»Aber sicher«, sagte Pater Bell. »Und ich verbringe meine Zeit damit, aus einem Fenster in Green Bay zu starren. Doch nur weil ich und Sie, mein Freund, eher praktisch und pragmatisch veranlagt sind, kommt die Sommersonnenwende trotzdem, denn die Elemente lassen sich von uns nicht beeinflussen. Erde, Feuer, Wasser und Luft. Und das fünfte Element, das sie alle in sich vereint – die Quintessenz.«

Sie kamen in der Mitte der Halle zum Stehen. Im Haus war es dunkel und totenstill. Doch Jack wusste jetzt, dass es sich um ungleich mehr als nur um ein Gebäude handelte. Es war vielmehr ein mystisches Labyrinth, erbaut an einem der magischsten Orte des ganzen Landes – einem Ort, der vermutlich damals, als Kelten, Wikinger und die alten Ägypter Amerika erforschten, eine unglaublich große Bedeutung besessen hatte. Jack verspürte eine Angst, die ihm völlig fremdartig erschien.

»Sie haben recht, sie sind hier«, flüsterte Pater Bell. »Ich kann sie fühlen.«

»Ich frage mich, ob sie umgekehrt auch wissen, dass wir hier sind?«, meinte Jack, während er den Kegel der Taschenlampe auf die Kellertür lenkte. Sie stand leicht offen.

Pater Bell bekreuzigte sich und rezitierte: »Crux sacra sit mihi lux; non draco sit mihi dux; vade retro, Satana; numquam suade mihi vana; ipse venena bibas.«

Jack sah ihn erstaunt an. »Sie haben offenbar nichts verlernt.«

»Es ist nichts, was man vergisst, nur weil man den Beruf an den Nagel hängt.«

Die Kellertür knarrte leise. Jack versuchte zu erkennen, ob sich dort etwas in der Dunkelheit versteckt hielt.

»Vielleicht sollte ich sie besser rufen«, schlug er vor.

Pater Bells Lippen wurden schmal, doch er sagte nichts. Er war zu sehr damit beschäftigt, sich umzusehen und mit alten Erinnerungen und Ängsten auseinanderzusetzen.

»Was meinen Sie?«, hakte Jack nach. »Soll ich nach ihnen rufen?«

Pater Bell nickte.

»Lester!«, schrie Jack. »Lester, bist du da?«

Seine Stimme hallte über die Treppe in den ersten Stock. Er wartete, doch es erfolgte keine Reaktion. Nicht die geringste Regung; keine Augen, die sich öffneten; keine schleifenden Geräusche.

»Lester, du hast verlangt, dass ich dir den Priester bringe. Nun, hier ist er!«

Immer noch keine Antwort. Pater Bell packte Jack am Ärmel und flüsterte nervös. »Sie haben es von Ihnen verlangt? Das haben Sie mir aber verschwiegen!«

»Wären Sie mitgekommen, wenn ich es Ihnen gesagt hätte?«

»Macht das einen Unterschied? Sie haben mich ohnehin gegen meinen Willen hergebracht.«

Jack hielt sich eine Hand wie einen Trichter vor den Mund und rief: »Lester! Lester, wo bist du?«

In diesem Moment flog die Kellertür auf und ein großer schwarzer Umriss raste auf sie zu.

Pater Bell schrie: »Herrgott!«, während Jack viel zu erschrocken war, um überhaupt etwas zu sagen.

Doch fast im gleichen Moment erkannte er, dass es sich bei der Erscheinung um Boy, den Dobermann von Joseph Lovelittle, handelte. Seine gelben Augen glühten und starrten in den Strahl der Taschenlampe. Aus seinen Lefzen quoll weißer Schaum hervor.

Das Tier hatte sie fast schon erreicht, als es abrupt abbremste. Seine Pfoten schlitterten über den Marmorboden. Es stieß einen gequälten Schrei aus. Jack hatte noch nie einen Hund schreien hören und der Laut erschütterte ihn bis ins Mark.

Eine kräftige, marmorweiße Hand war aus dem Boden geschnellt und hatte den Hund an einer Pfote gepackt. Langsam zog sie das Tier mit Gewalt in die Tiefe. Boy bellte, jaulte und scharrte verzweifelt auf den Fliesen, doch die Hand versank langsam im Marmor und riss ihn mit sich.

Jack drückte Pater Bell seine Maglite in die Hand, rannte zu dem sich windenden Hund und unternahm den Versuch, ihn zu retten. Beim ersten Anlauf zerkratzte ihm Boy noch mit den Krallen die Hand. Dann griff Jack erneut nach ihm und bekam ihn zu fassen.

»Domine sancte, Pater omnipotens, aeterne Deus …«, murmelte Pater Bell, während er sich in einem fort bekreuzigte.

Jack zog so fest er konnte an dem Dobermann. Er merkte, wie sich dessen Muskeln vor lauter Schmerzen und Angst verkrampften und er ihm beinahe das Rückgrat ausgerenkt hätte. Die Hand, die aus dem Boden ragte, besaß eine ungeheure Kraft. Jack konnte lediglich den verzweifelten Versuch unternehmen, nicht lockerzulassen, als der geschmeidige Körper des Hundes in den Untergrund gezogen wurde.

»Ab insidiis diaboli, libera nos, Domine!«, schrie Pater Bell in frommer Verzweiflung. Doch seine Gebete wurden nicht erhört, denn Boy sackte zunehmend tiefer in den Boden hinein.

Schließlich verschwand der Kopf des Tiers unter der Oberfläche. Sein Mund stand offen und die Augen quollen hervor. Er stieß ein letztes keuchendes Bellen aus. Dann war er verschwunden und der Boden lag glatt und unberührt vor ihnen wie vor dem grausamen Spektakel.

»Per Dominum nostrum Iesum Christum Filium tuum, qui tecum uiuit, et regnat in unitate Spiritus sancti Deus, per omnia saecula saeculorum, amen«, flüsterte Pater Bell. Vergeblich.

»Eine Warnung«, bemerkte Jack schaudernd. »Ich könnte schwören, dass es eine Warnung war. Macht keinen Unsinn, das wollten sie uns damit sagen, sonst wird etwas ganz Ähnliches auch mit euch passieren.«

Jack trat zurück. In diesem Moment drang ein Gurgeln und Schmatzen aus dem Boden vor ihm. Aus dem Marmor quollen die Überreste des Hundes hervor. Gräuliches Fleisch, Eingeweide in allen Farben des Regenbogens, Streifen abgerissener Haut. Ein einzelnes abgetrenntes Bein, dessen noch immer aktive Nerven dafür sorgten, dass es zitterte und unkoordiniert um sich trat.

Und irgendwo im Haus erscholl von weit her und doch deutlich der Klang eine Liedes:

Lavendelblau, dideldei;

Lavendel, hier gehör ich hin.

Hier bin ich König, dideldei;

Und du wirst Königin.

»Quintus Miller«, keuchte Pater Bell.

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