Z E H N

Sie trafen Otto Schröder im Watertower Park neben dem knapp 50 Meter hohen gotischen Wasserturm, der diesen Teil des Ostens von Milwaukee verdächtig nach Disneyland aussehen ließ. Der Himmel war strahlend blau, doch es wehte ein kräftiger Wind. Otto Schröder trug eine gefleckte Wollmütze, die auch seine Ohren bedeckte, und eine lederne Fliegerjacke mit einem Kragen aus Lammwolle. Er trat hektisch auf der Stelle, um sich warmzuhalten.

»Ich friere unheimlich schnell«, sagte er zur Begrüßung. »Ich hätte mir besser einen Bürojob suchen sollen, glaube ich. Schlechte Durchblutung. Aber jetzt ist es zu spät dafür.«

»Kommen Sie, lassen Sie uns eine Tasse Kaffee auftreiben«, forderte Jack ihn auf.

»Schon gut. Ich habe gerade erst zu Mittag gegessen. Ich sollte mich sowieso nicht mit Ihnen treffen. Mein Vorarbeiter hat mir verboten, mit jemandem über die Angelegenheit zu sprechen.«

»Na ja, wir sind ja nicht irgendjemand«, klärte Geoff ihn auf. »Wir wissen zufällig ganz genau, was mit Ihrem Freund passiert ist.«

Otto Schröder schniefte und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. »Er ist im Asphalt versunken. War einfach weg. Keine Ahnung, ob die Bullen mir das abgekauft haben oder nicht.«

»Wir glauben Ihnen jedenfalls«, bestätigte ihm Jack. »Und abgesehen davon können wir wahrscheinlich sogar die Verantwortlichen ausfindig machen.«

Otto Schröder starrte Jack aus dem Auge, das er nicht wegen der Kälte zugekniffen hatte, misstrauisch an. Er war stämmig und breitschultrig und mindestens zehn Zentimeter kleiner als sein Gegenüber. Er hatte wettergegerbte, rote Wangen, hellgraue Augen und eine ausgeprägte germanische Nase.

»Sonst haben Sie niemanden dort gesehen?«

Otto Schröder schüttelte den Kopf. »Nein, Sir. Niemanden. Es war keiner auch nur ansatzweise in der Nähe, als er verschwand.«

»Haben Sie Hände gesehen, die ihn festhielten?«, erkundigte sich Jack.

»Was meinen Sie damit? Ich hab’s Ihnen doch gerade schon mal gesagt: Da war absolut keiner weit und breit.«

»Was Mr. Reed meint, ist, ob Sie Hände aus dem Beton ragen sahen?«, klärte Geoff den Mann auf.

Otto Schröder sah erst Jack, dann Geoff, dann wieder Jack an. »Was soll das? Wollen Sie mich verarschen? Oder sind Sie meschugge?«

Jack antwortete: »Wir meinen es absolut ernst. Es gibt da draußen einige sehr gefährliche Menschen, die eine Möglichkeit gefunden haben, sich unter der Erdoberfläche fortzubewegen. Sie können durch Wände, sogar durch Türen gehen. Durch Ziegelsteine, Beton oder sogar massive Felsen. Für sie macht das keinen Unterschied.«

»Sie sind meschugge«, stellte Otto Schröder fest. »Ich habe extra früher gegessen, um Sie zu treffen, eine volle Stunde meines Lebens verschwendet und jetzt stellt sich heraus, dass Sie verrückt sind.«

»Aber Sie haben doch selbst gesehen, was passiert ist. Wie Ihr Freund direkt vor Ihren Augen verschwand.«

»Eine optische Täuschung«, wich Otto Schröder aus. »Mehr war es nicht.«

Jack öffnete seinen Geldbeutel, nahm zwei 100-Dollar-Scheine heraus und steckte sie in Otto Schröders Jackentasche. Dieser erstarrte vor Verblüffung, nahm dann die Scheine heraus und strich sie sorgfältig glatt.

»Sie bekommen einen Tausender, wenn Sie uns helfen«, erklärte Jack. »Sie können ruhig weiterhin denken, dass wir verrückt sind. Tatsächlich ist mir völlig egal, was Sie glauben. Diese Leute haben Ihren Freund erwischt und sie haben Dutzende weiterer Menschen auf dem Gewissen – und damit noch nicht genug. Sie haben sich auch meinen neun Jahre alten Sohn geschnappt.«

Otto Schröder sah Geoff fragend an. »Es ist wahr, Mr. Schröder«, bestätigte der ihm. »Deshalb wollten wir mit Ihnen sprechen.«

»Und was kann ich tun?«, wollte Otto Schröder wissen.

»Sie wissen, wie man Wünschelruten einsetzt?«

»Aber sicher. Das hat mir mein Großvater beigebracht. Es ist nichts Besonderes, wenn man ein bisschen Gespür dafür hat.«

»Kurz bevor Ihr Freund verschwand, stellten Sie fest, dass die Wünschelruten außer Kontrolle gerieten, stimmt das? Sie haben im Fernsehen erzählt, dass sie verrückt gespielt hätten.«

Immer noch misstrauisch nickte Otto Schröder.

»Also«, fuhr Geoff fort, »ob Sie uns nun glauben oder nicht: Der Grund, weshalb Ihre Wünschelruten verrückt spielten, war, dass einer oder mehrere Menschen sich dort, wo Sie arbeiteten, unter der Erde aufhielten und die Magnetfelder durcheinanderbrachten. Was genau taten die Wünschelruten denn?«

»Sie drehten sich. Sie drehten sich wie verrückt. Die linke im Uhrzeigersinn, die rechte entgegengesetzt.«

»Haben Sie eine Veränderung an den Wünschelruten bemerkt, als Ihr Freund verschwand?«

»Ich schätze schon«, bestätigte Otto Schröder nickend. »Sie hörten auf, sich zu drehen. Sie bewegten sich gar nicht mehr. Das habe ich noch nie zuvor gesehen. Und sie berührten sich an ihren Enden, als ob sie sich küssen wollten. Ich hatte das merkwürdige Gefühl, dass da etwas war. Das kann man jemandem, der keine Wünschelruten einzusetzen weiß, schlecht erklären. Aber es fühlte sich so ähnlich an, als wenn man sich sehr dicht an einem großen Reservoir befindet, etwa einem unterirdischen Wasserspeicher oder einem Tunnel.«

Jack sagte: »Otto – ich darf Sie doch Otto nennen?«

»Na klar.«

»Otto, es gibt 137 von ihnen. 137 verrückte, kriminelle Schizophrene. Wir müssen sie finden, so schnell wie möglich, bevor sie mit noch mehr Menschen das anstellen, was sie Ihrem Freund angetan haben. Momentan können sie nicht aus der Erde oder aus den Wänden heraus. Und sie können nicht in der Gegend herumlaufen wie wir. Aber wenn es ihnen gelingt, genügend Opfer zu töten … tja, dann kommen sie frei … und dann sind sie gar nicht mehr aufzuhalten.«

Otto wischte sich erneut die Nase ab. »Was haben Sie mit ihnen vor, wenn Sie sie erwischen?«

»Um die Wahrheit zu sagen: Wir müssen sie …«, begann Jack, doch Geoff fiel ihm ins Wort.

»Wir haben eine ganz besondere Methode, mit ihnen fertigzuwerden«, erklärte er mit vertrauenerweckender Gelassenheit. »Mehr braucht Sie nicht zu interessieren. Sie müssen bei diesem Teil der Geschichte überhaupt nicht involviert sein. Also, helfen Sie uns nun oder nicht?«

Otto zögerte, überlegte sehr lange. »Ist das alles wirklich wahr?«, fragte er.

Jack nickte. »Wenn Sie mehr Geld wollen, zahle ich Ihnen das Doppelte. Und sehen Sie es mal so – wenn es nicht stimmt und da niemand ist, was haben Sie dann zu verlieren?«

»Da haben Sie wohl recht!«, gestand Otto.

Geoff lächelte und schlug dem Mann auf die Schulter. »Großartig. Und es freut mich ganz besonders, dass Sie uns helfen, denn wir brauchen noch etwas von Ihnen.«

»Ach ja?«, fragte Otto.

»Einen Kompressor und einen Presslufthammer«, spezifizierte Geoff. »Ihre Firma hat doch sicher nichts dagegen, wenn Sie sich beides für eine Weile ausleihen, oder?«

»Einen Kompressor und einen Presslufthammer? Wofür zum Teufel brauchen Sie das Zeug?«

»Zum Graben«, antwortete Geoff kurz und bündig. »Für den Fall, dass wir sie finden, wissen Sie? Wir müssen sie ausgraben wie Kartoffeln.«

Um 18 Uhr trafen sie sich erneut mit Otto, diesmal unter dem East-West-Freeway, nachdem sie Karen nach Hause gebracht hatten. Geoff parkte seinen lahmen Valiant gegenüber von Ottos ausgebeultem alten GMC-Kompressorwagen und hupte. Schröder kletterte vom Fahrersitz und überquerte die Straße.

»Ich weiß nicht, warum zur Hölle ich das überhaupt mache«, brüllte er über den Verkehrslärm der Schnellstraße hinweg, während er hinten in Geoffs Auto kletterte und die Tür zuknallen ließ. »Meine Güte, ich muss den Verstand verloren haben.«

»Würden Sie es bitte unterlassen, die Tür so laut ins Schloss fallen zu lassen?«, forderte Geoff ihn auf. »Diana ist ziemlich empfindlich.«

»Diana?«, fragte Otto stirnrunzelnd.

»Sein Auto«, klärte Jack ihn auf und fügte dann erklärend hinzu: »Er ist Brite.«

»Oh«, machte Otto, als ob damit alles gesagt sei.

»Der Laster da sieht ziemlich mitgenommen aus«, bemerkte Geoff.

»Ja, sorry. Es ist der einzige, den mir der Vorarbeiter leihen wollte. Ich hab ihm erzählt, ich will einen Swimmingpool in meinem Hinterhof anlegen. Er erklärte mich für verrückt. Da bin ich ganz seiner Meinung.«

»Haben Sie Ihre Wünschelruten dabei?«, erkundigte sich Geoff unbeeindruckt.

Otto griff in seine Lederjacke und präsentierte zwei jeweils etwa 30 Zentimeter lange Kupferruten mit gebogenen Enden. »Wunderschön, nicht wahr? Hab ich selbst gemacht. Manch einer benutzt Eisen oder Messing, aber mein Großvater schwor auf Kupfer. Er meinte, das sei viel feinfühliger.

Ich sag Ihnen mal was: Mit diesen Wünschelruten kann ich ein Rohr mit Nennweite 15 auf weniger als drei Zentimeter genau lokalisieren. Und das kann mir niemand mit einem Haselzweig nachmachen.«

»Könnte ich sie mir mal ansehen?«, wollte Jack wissen, woraufhin Otto sie ihm mit einer beinahe feierlichen Geste überreichte. Jack schwang sie in der Hand hin und her, aber er konnte gar nichts spüren. »Wie funktioniert das genau?«, erkundigte er sich bei Otto.

Geoff antwortete: »Das ist wissenschaftlich nicht zu erklären. Es funktioniert – selbst die skeptischsten unter den Wissenschaftlern müssen das zugeben. Aber niemand weiß, wie oder warum.«

»Und Sie, Otto, wissen Sie es denn?«, fragte Jack.

Doch Otto schüttelte nur den Kopf und sagte: »Absolut keine Ahnung. Es ist ein Gefühl, mehr nicht. Eine Art Vibrieren.«

»Es hat etwas mit den natürlichen Magnetfeldern der Erde zu tun«, erklärte Geoff. »Das habe ich heute Nachmittag gelesen. Die Druiden schnitzten Wünschelruten aus Weiden- oder Ebereschenzweigen, um die Leylinien zu lokalisieren. Und ich hab noch etwas Interessantes herausgefunden. Bis ins Mittelalter hinein wurden Wünschelruten eingesetzt, um Mörder zu stellen. Offensichtlich sind deren Körper nämlich von Natur aus stärker magnetisch aufgeladen als bei anderen Menschen. Niemand weiß, warum – aber es könnte uns helfen, Quintus Miller und den Rest dieser Verrückten aufzuspüren.«

»Und wie wollen Sie das anstellen?«, fragte Otto, während er seine Wünschelruten wieder entgegennahm und ihre Griffe sorgfältig mit einem Taschentuch polierte.

»Wir wissen, wo die letzten Menschen verschwunden sind«, verriet ihm Jack, während er einen Atlas von Milwaukee öffnete. »Da werden wir ansetzen … einfach mal schauen, ob Sie Vibrationen spüren können.«

»Und wenn das so ist?«

»Dann ziehen wir mit Weihwasser einen Kreis um das Areal und sprechen ein exorzistisches Gebet, das die bösen Mächte davon abhält, von diesem Ort zu verschwinden. Das sollte unseren mörderischen Freund an der Flucht hindern.«

»Und dann?«

»Graben wir den Schweinehund aus«, erklärte Geoff und rieb sich bei dem Gedanken voller Vorfreude die Hände.

»Und dann?«

»Den Rest brauchen Sie nicht zu wissen«, stellte Geoff klar. »Da können Sie dann wegsehen.«

»Hey – mit Mord will ich nichts am Hut haben«, protestierte Otto.

»Denken Sie an Ihren Freund Norman«, rief ihm Geoff in Erinnerung. »Haben Sie mit Normans Witwe gesprochen?«

»Er war nicht verheiratet. Ich habe mit seiner Schwester geredet.«

»Gut, dann denken Sie in diesem Fall eben an seine Schwester. Und an all die anderen Menschen, die auf die gleiche Art ums Leben kommen werden, wenn Sie, Jack und ich nichts dagegen unternehmen.«

Otto verzog unglücklich den Mund. »Meine Frau glaubt, ich sei bowlen. Ich habe sie bisher noch nie angelogen. Vielleicht sollte ich all diesen Irrsinn vergessen und wirklich ’ne ruhige Kugel schwingen.«

»Otto – das ist Ihre Chance, ein Held zu sein.«

»Danke, kein Interesse. Hab ich jemals gesagt, dass ich ein Held sein will?«

Jack sah auf die Uhr. »Es ist 18:10 Uhr. Wir sollten uns besser beeilen. Der erste Ort, an dem wir es versuchen, ist die North Fifth einen Block nördlich vom MECCA.«

Otto zögerte, doch Geoff sagte: »Kommen Sie, Mann! Lassen Sie es uns versuchen! Man weiß ja nie, vielleicht macht es Ihnen sogar Spaß!«

»Ich setze meine Wünschelrute für Psychos ein«, murmelte Schröder, während er sich aus dem Auto hievte. »Ich glaub’s nicht. Ich glaub’s nicht mal ansatzweise.«

»Hauen Sie nicht die …«, rief Geoff, gerade als Otto die Tür mit einem ordentlichen Krachen zufallen ließ.

»Tür zu«, beendete Geoff den Satz leise.

Fast zehn Minuten lang rannten sie auf dem Bürgersteig der North Fifth Street auf und ab, während Otto seine zwei Kupferwünschelruten vor sich hielt und auf das kleinste Zittern wartete, das als Indiz dafür gewertet werden konnte, dass sich einer dieser Irren aus The Oaks irgendwo in der Nähe befand.

Der Wind war noch unangenehmer geworden und Jack wünschte sich, er hätte einen Mantel dabei. Außerdem wünschte er sich, sie hätten sich einen weniger auffälligen Ort ausgesucht. Sie standen schräg gegenüber des Milwaukee Exposition and Convention Centers mit der angrenzenden Arena und gerade trafen elf Busladungen mit Teilnehmern für das Jubiläumstreffen der Bäcker und Konditoren ein. Einige von ihnen hielten ebenso wie eine Reihe Geschäftsleute und Einkaufende auf dem Heimweg inne, um Otto mit verhaltener Begeisterung zu beobachten, als er kreuz und quer über den Gehsteig lief und seine Wünschelruten schwang.

»Und, finden Sie was?«, erkundigte sich Jack bei ihm.

Otto schniefte. »Eine Abwasserleitung, die hier durchführt, ein Telefonkabel dort drüben. Aber sonst rührt sich nichts. Zumindest nichts, das am Leben sein könnte.«

»Versuchen Sie es weiter«, drängte ihn Jack.

»Und wenn ich dann immer noch nichts finde?«

»Dann versuchen wir es woanders noch mal.«

Ein Mann mit Hut, grauem Anzug und Hornbrille trat auf Jack zu und sprach ihn an: »Entschuldigen Sie, Sir?« Er sah aus, als wäre er gerade aus dem Jahr 1962 eingetroffen und hätte nur keine Zeit gehabt, sich umzuziehen. »Entschuldigen Sie, Sir, darf ich fragen, was Ihr Freund da macht?«

»Aber sicher«, antwortete Jack. »Er testet eine neue Art von Einkaufswagen. Nun ja, nur die Griffe, der Rest ist noch nicht ganz fertig.«

Der Mann beobachtete Otto ernst und respektvoll und mit offensichtlichem Interesse. »Die Leute aus den Entwicklungsabteilungen lassen sich wirklich was einfallen!«, sagte er schließlich und ging dann weiter.

Bald darauf erklärte Otto: »Dieser Ort ist eiskalt. Hier gibt es gar nichts.«

»Was meinst du?«, wollte Jack von Geoff wissen. »Aufgeben und es woanders versuchen?«

»Na gut«, stimmte Geoff zögerlich zu. »Ich hatte gehofft, dass wir zumindest auf eine Spur stoßen. Selbst, nachdem sie schon lange weg sind. Ich war davon ausgegangen, dass sie eine Art energetischen Fußabdruck hinterlassen, über den wir sie verfolgen können.«

»Nichts«, betonte Otto nachdrücklich.

Sie stiegen wieder in ihre Fahrzeuge, passierten den Milwaukee River im Osten und fuhren weiter nach Süden zu den großen, weißen Betonklötzen, bei denen es sich um Teile des Performing Arts Centers handelte. Eine 27-jährige Schauspielerin namens Millicent Horowitz war kurz nach 15 Uhr am gleichen Tag vom Dachgeschoss des Parkhauses verschwunden.

Sie parkten den Kompressorwagen und den Valiant Seite an Seite rückwärts ein, sodass die Fahrzeuge mit der Rückseite zum Fluss zeigten. Dann näherten sie sich auf dem oberen Parkdeck der Stelle, an der sich Millicent Horowitz scheinbar in Luft aufgelöst hatte. Der Bereich war noch immer weiträumig abgesperrt. Auf den flatternden Absperrbändern stand ZUTRITT POLIZEILICH UNTERSAGT, doch da war niemand, der Jack, Geoff und Otto daran hindern konnte, unter dem Band hindurchzukriechen und dorthin zu gehen, wo die junge Frau zuletzt gesehen worden war. Der Punkt war mit rotem Klebeband markiert.

»Ich war noch nie als Rutengänger in einem Parkhaus im Einsatz«, erklärte Otto, während er seine Wünschelruten wieder zur Hilfe nahm. Er stellte sich breitbeinig über die rote Markierung und bewegte sie sanft von einer Seite zur anderen.

»In den Nachrichten hieß es, dass sie mit ihrem Freund hier war«, berichtete Jack. »Er hat sich irgendwann kurz umgedreht, um einem Boot auf dem Fluss hinterherzuschauen, und als er sich wieder zurückdrehte, war sie weg. Spurlos verschwunden. Zuerst dachte er, sie hätte sich vom Dach gestürzt.«

»Ich hab was!«, warf Otto ein.

Geoff hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sich gegen den Wind gestellt. »Ganz ehrlich, ich glaube so langsam, dass diese Idee mit der Wünschelrute nichts taugt. Besonders, wenn unser Spezialist nur Abwasserleitungen aufspürt. Vielleicht sollten wir unsere Verrückten lieber unter der Erde suchen gehen.«

»Hattest du denn Erfolg bei der Recherche nach dem Ritual?«, wollte Jack wissen.

»Ich habe einen Teil des Rituals gefunden. Ein Freund von mir aus Harvard hat Nestor Druggetts Buch Druidentum und die Bedeutung der Megalithen in der Universitätsbibliothek von Harvard aufgetrieben. Es handelt sich um eines der ältesten und ausführlichsten Werke über das Druidentum, die noch erhalten sind. Er hat mir alle wichtigen Passagen am Telefon vorgelesen. Anscheinend malten die Druiden ein großes Hexagramm aus Blut auf einen aufrecht stehenden Stein und rezitierten dann sämtliche geheiligte Namen von Awen. Ich weiß aber nicht, was danach kommt, was den Stein letztlich dazu brachte, sich zu öffnen und die Druiden leibhaftig in die Unterwelt einzulassen. Druggett sagt dazu nur, dass sie ›König spielten‹ und auf diese Weise das unterirdisch gelegene Königreich betreten konnten.«

»Ich hab was!«, wiederholte Otto aufgeregt. »Hier – hier, da ist was!«

»Was?«, wollte Jack wissen. »Was ist da?«

Die Wünschelruten bewegten sich jetzt ganz deutlich. Sie wiesen auf eine weit entfernt liegende Seite des Dachs. Noch während Jack sie beobachtete, schlugen sie nach links aus, als ob sie etwas aufspürten, das sich bewegte.

»Was spüren Sie?«, fragte Geoff und legte Otto neugierig die Hand auf die Schulter.

»So was habe ich noch nie gehabt. Es ist wie ein Kreisen irgendwo hier oben auf dem Dach. Es bewegt sich auf allen Seiten um uns herum. Als ob es uns beobachtet oder so. Wie ein Hai, der einen Schwimmer einkreist, verstehen Sie?«

»Können Sie einschätzen, ob es menschlichen Ursprungs ist?«, erkundigte sich Geoff.

Otto zog eine Grimasse: »Da bin ich mir nicht so sicher. Aber es bewegt sich unter der Erde. Es macht Lärm. Als ob es etwas zermahlen würde, wissen Sie, was ich meine? Als ob man am Strand Sand zwischen die Zähne bekommt, der dann im Mund knirscht.«

Sie beobachteten mit sorgenvollen Mienen, wie die Wünschelruten sich einmal komplett im Kreis drehten. Nirgendwo auf dem Parkplatz rührte sich etwas im Beton, doch Jack wusste, dass einer der Wahnsinnigen da war, sie umkreiste, sie beobachtete und auf eine geeignete Gelegenheit wartete.

»Ich fühle mich wie eine Ziege, die jemand als Lockvogel benutzt, um einen Tiger zu fangen«, bemerkte Geoff.

»Es kommt näher«, sagte Otto. »Ich spüre eine sehr tiefe Vibration. Wie der unterste Ton einer Orgel! Ich habe so was noch nie erlebt. Es fühlt sich eiskalt an und gibt dieses malmende, knirschende Geräusch von sich.«

»Teufel noch mal, ich wünschte, ich könnte das selbst nachvollziehen«, bemerkte Jack.

»Besser nicht, glauben Sie mir«, antwortete Otto. Die Wünschelruten schwangen wieder herum und ihre Spitzen bewegten sich zitternd näher aufeinander zu, als ob sie auf etwas deuteten, das mit jeder Umdrehung näher kam.

»Du kennst das Gebet sicher?«, vergewisserte sich Jack.

Geoff nickte und starrte auf den Beton. »Ich habe es auswendig gelernt, sind nur ein paar Zeilen.« Das unaufhaltsame Herannahen des Wahnsinnigen war jetzt deutlich hörbar. Das haarsträubende Ssssschhhhhh – sssssschhhhhhh –ssssschhhhhh, das er zum ersten Mal in The Oaks gehört hatte.

»Hast du auch das Weihwasser dabei?«, fragte Jack.

Geoff klopfte mit der Hand auf die Seitentaschen seines Mantels, dann auf die Brusttasche und schließlich auf die Innentasche. »Ach du Scheiße, ich hab’s im Auto gelassen!«

»Na dann geh es holen, verdammt noch mal!«, brüllte Jack ihn an. »Der Irre kann uns jeden Moment angreifen!«

Geoff sah auf die Wünschelruten. Sie zeigten nach rechts auf die gegenüberliegende Seite des Parkplatzes. Schnell machte er einen Satz nach links auf das Absperrband zu, duckte sich darunter durch und lief über das Dach auf sein Auto zu.

Im selben Moment schwangen die Wünschelruten ebenfalls nach links, als ob ihr Gegner unter der Erde durch die Vibration, die Geoff beim Rennen verursachte, aufgeschreckt worden war.

»Geoff!«, schrie Jack. »Er verfolgt dich! Renn!«

»Ach herrje, schauen Sie, wie schnell es sich bewegt!«, warf Otto ein.

Geoff erreichte sein Auto. Die Gummisohlen seiner Turnschuhe schlitterten über den Betonboden. Er riss die Fahrertür auf und griff nach der Flasche Perrier, die er mit Weihwasser gefüllt hatte. Doch im selben Moment krachte eine Faust wie eine Granate von unten durch den Beifahrersitz und packte ihn am Handgelenk.

»Jack!«, brüllte Geoff panisch. »Jack!«

Jack wand sich unter der Absperrung hindurch und spurtete über das Parkdeck auf Geoffs Auto zu.

»Es hat mich am Handgelenk erwischt!«, schrie der ihm zu.

Jack sprang zur Beifahrertür und riss sie auf. Obwohl Geoff sich am Türrahmen festkrallte, wurde seine Hand in den Sitz hineingezogen und die Haut von den kaputten Schrauben durchbohrt. Jack zögerte nur einen Moment, dann steckte er seinen Kopf ins Auto und biss dem Irren seitlich in den Daumen. Er zertrennte Muskeln und schabte gegen Knochen.

Für den Bruchteil einer Sekunde lockerte die Hand ihren Klammergriff. Das reichte Geoff, um sich zu befreien. Jack entfernte sich Blut spuckend vom Wagen.

»Das Wasser!«, ermahnte er Geoff lautstark. »Zieh mit Wasser einen Kreis um das Auto!«

Geoff öffnete die Perrier-Flasche und verteilte die Flüssigkeit großzügig um seinen fahrbaren Untersatz. Sein Gesicht war noch ganz blass vor Schock. Während er das tat, sprach er die Worte des Exorzismusgebets: »Ab insidiis diaboli, libera nos, Domine; ut Ecclesiam tuam secura tibi facias libertate servire, te rogamus, audi nos; ut inimicos sanctae Ecclesiae humiliare digneris, te rogamus, audi nos.«

Der Beton unter dem Fahrzeug bebte bei jedem Wort, als ob jemand mit einem Presslufthammer zu Werke ging. Doch als Geoff das Gebet beendet hatte, hörte das Beben auf. Nur das Pfeifen des Windes auf dem Parkplatz, das vom Lake Michigan herrührte, sowie das Hupen und Lärmen von den Straßen waren noch zu hören.

Otto kam mit den Wünschelruten zu ihnen herüber.

»Was ist passiert? Sitzt er in der Falle?«

Mit düsterer Genugtuung verkündete Jack: »Da können Sie Gift drauf nehmen, dass wir ihn in die Falle gelockt haben. Lasst uns das Auto hier wegschaffen und dann fangen wir an zu graben. Ich habe die leise Hoffnung, dass es Quintus Miller persönlich ist.«

Geoff kletterte vorsichtig zurück in den Valiant, startete den Wagen und fuhr ihn ein paar Meter weiter. Dann standen die drei Männer da und betrachteten den Beton an der Stelle, wo gerade noch das Auto geparkt hatte. Der Boden war an einigen Stellen aufgewühlt, sonst deutete nichts darauf hin, dass sich der Angreifer immer noch dort unten befand.

»Das ist bombenfester Stahlbeton«, stellte Otto fest. »Keine leichte Arbeit, den mit dem Presslufthammer aufzuhebeln.«

»Na dann sollten wir besser loslegen«, schlug Geoff vor.

»Und wenn uns jemand fragt, was wir hier machen?«, warf Otto ein. »Die Bullen zum Beispiel.«

»Wir erledigen dringende Wartungsarbeiten«, erklärte Geoff. »Das ist ein offizieller Lastwagen eines Versorgungsunternehmens, oder etwa nicht? Und Sie sind ein offizieller Angestellter eines Versorgungsunternehmens.«

»Herrgott, hoffentlich ist es das wenigstens wert«, knurrte Otto. Er ging um den Laster herum und hievte den Presslufthammer von der Ladefläche. Dann startete er den Kompressor, setzte sich einen Ohrenschutz auf und begann, den Betonboden zu malträtieren.

Der Lärm war ohrenbetäubend und die Vibration vernebelte Jack die Sicht. Doch Otto kam schneller voran, als Jack vermutet hätte. Der Presslufthammer hackte mit seiner meißelförmigen, großen Spitze auf den Belag ein und sprengte ihn auf. Jack und Geoff räumten die entstandenen Bruchstücke mit bloßen Händen aus dem Weg. Innerhalb von nur einer Viertelstunde legte Otto eine ovale Öffnung frei, die etwa in dem Bereich endete, wo Geoff den Bannkreis mit Weihwasser gezogen hatte. Nach 30 Minuten war der Rand des Ovals gründlich ausgehoben, eine weitere halbe Stunde später konnte er mit der Tiefenbohrung beginnen.

Wenn man bedachte, was sie mit dem Presslufthammer für einen Höllenlärm verursachten, der auch noch von den Wänden des Performing Arts Centers widerhallte, war es wirklich erstaunlich, dass niemand kam, um sie zu fragen, was sie da eigentlich veranstalteten. Dutzende Menschen fuhren in das obere Deck des Parkhauses, um dort ihr Auto abzustellen – das Ballett von Milwaukee führte an dem Abend Schwanensee auf –, doch niemand würdigte sie eines Blickes. Jeder, der mit so viel Lärm so ungeniert den Boden bearbeitete, musste einen öffentlichen Auftrag haben.

Mitten in ihrer provisorischen Ausgrabung stellte Otto den Presslufthammer ab, zog den Gehörschutz vom Kopf und sagte: »Der Teufel soll mich holen, wenn da irgendwas ist. Wir graben hier ganz umsonst.«

Geoff sah zu Jack und meinte: »Was meinst du? Glaubst du, dass wir ihn verpasst haben?«

Aber Jack kickte die letzten Betonreste zur Seite und entgegnete: »Hier kann sich ein Mann sehr gut verstecken, wenn er sich nur klein genug macht und ordentlich krümmt. Kommt, vielleicht haben wir Glück. Lasst uns weitermachen!«

»Sie sind der Boss«, bestätigte Otto seufzend und setzte den Gehörschutz wieder auf.

Der Presslufthammer schlug ein Betonstück nach dem anderen heraus und plötzlich spürte Jack, wie sich seine Nackenhaare vor lauter Angst und Anspannung aufrichteten. An einer Seite des Betonhaufens wurde die nackte Ferse eines Mannes erkennbar. Jack sprang in das Loch hinunter, zupfte Otto am Ärmel und deutete triumphierend auf das Körperteil.

»Wir haben ihn!«, brüllte er über den Lärm des Kompressors hinweg. »Wir haben ihn doch noch erwischt!«

Otto trat ein paar Schritte zurück: »Heilige Mutter Gottes!«, keuchte er.

»Los doch, Otto, graben Sie ihn aus!«, drängte Jack ihn. »Beeilen Sie sich! Bevor es dunkel wird!«

Doch Schröder schüttelte den Kopf. »Sie wollen ihn da raus haben? Dann müssen Sie das schon selbst erledigen. Herrgott. So was hab ich ja noch nie gesehen.« Er legte den Presslufthammer ab, zog sich die überdimensionierten Kopfhörer von den Ohren und kletterte aus der Grube.

»Kommen Sie, Otto, seien Sie vernünftig! Sie sind doch schon so weit gekommen!«, versuchte Geoff ihn zu überreden.

»Aber sicher«, entgegnete Otto. »Und ich bin derjenige, der sowieso schon viel zu viele Risiken eingegangen ist. Ich habe diesen Laster ausgeborgt, ich habe Stadteigentum beschädigt. Wer soll denn das Loch später wieder zuschütten, hm? Verraten Sie mir das mal! Und wer hält seine Rübe dafür hin, dass hier überhaupt gebuddelt wurde? Sie etwa? Mein Gefühl sagt mir nach allem, was ich bisher so mitbekommen habe, dass Sie abhauen, sobald die Situation brenzlig wird.«

»Meine Güte, geben Sie das Ding schon her. Ich mach es ja«, bot sich Jack an. Er setzte die überdimensionierten gelben Muscheln auf die Ohren, brachte den Presslufthammer in Position, was gar nicht so einfach war, und betätigte den Hebel. Mit einem ohrenbetäubenden brrr-brrrr-brrr-brrrrrrrrpp! sprang das Werkzeug zur Seite, hätte sich beinahe Jacks Griff entwunden und fiel um.

Jack wollte sich gerade bücken, um die Höllenmaschine wieder aufzuheben, als er Geoffs warnenden Ruf hörte: »Jack!«

Er sah auf. Mit einem dumpfen, schabenden Geräusch schälte sich ein betonfarbener Kopf gefolgt von betonfarbenen Schultern aus dem Boden. Der Kopf wirbelte herum und starrte ihn trotz geschlossener Augen an. Jack erkannte ihn auf Anhieb. Es war Lester – der Gefangene, der als Erster nach Pater Bell verlangt hatte.

Du Schweinehund!, fauchte Lester. Dafür wird dich Quintus umbringen.

Otto starrte Lesters Schädel ungläubig an und schluckte. »Da ist ein Kopf«, brachte er schließlich heraus. Er zog Geoff am Ärmel. »Sehen Sie das? Da ist ein Kopf!«

»Schon okay, Otto«, versuchte Geoff ihn zu beruhigen. »Keine Panik. Deshalb sind wir ja hier.« Und doch war es auch für Geoff das erste Mal, dass er einen der Irren aus The Oaks zu Gesicht bekam. Er konnte es selbst kaum glauben.

Lass mich frei!, forderte Lester an Jack gewandt. Lass mich frei oder Quintus wird deinen Sohn töten.

»Willst du damit sagen, dass er noch am Leben ist?«, fragte Jack.

Natürlich ist er am Leben. Er ist besonders wertvoll, dein lieber Sohn! Er wird unser letztes Opfer sein; der Unschuldige, den die alten Götter verlangt haben! Derjenige, dessen Leben uns alle befreien wird!

Jack stand auf und umfasste den Presslufthammer mit beiden Händen. »Du kommst nicht frei, Lester. Du kannst mir drohen, so viel du willst, aber ich denke nicht daran, dich aus deinem Gefängnis herauszuholen. Stattdessen werde ich deinen Scheißkopf mit dem Presslufthammer in Stücke zerfetzen.«

Du kannst meinen Körper ruhig auseinandernehmen, erwiderte Lester trotzig. Meinen Körper kannst du zerstören, aber nicht meine Seele! Quintus wird mich wiederherstellen! Das wirst du schon sehen! Solange meine Überreste noch auf dieser Erde zu finden sind, wird Quintus mich regenerieren können! Und Quintus sorgt dafür, dass dein Sohn langsam und qualvoll umkommt, glaub mir! Er zermalmt ihn wie ein wehrloses Vogelbaby in seinem Nest!

Da rief Geoff: »Jack?«, wandte sich dann an Otto und sagte: »Schalten Sie den Kompressor ab, Otto, ja? Wir brauchen den Presslufthammer nicht mehr.«

Der Kompressor kam ruckelnd zum Stehen. Auf einmal kam es ihnen auf dem Dach des Parkhauses so still wie auf einem Friedhof vor. Der Wind blies schwach, aber eisig, wie er einst über Stonehenge, die Osterinsel und die Steine in Carnac geweht hatte. Die meisten Parkplätze waren besetzt, aber niemand befand sich in der Nähe. Die Aufführung von Schwanensee musste bereits begonnen haben.

An Jack gewandt sagte Geoff: »Du musst mir jetzt vertrauen, Jack. Quintus Miller wird deinen Sohn nicht anrühren – noch nicht. Das traut er sich nicht, nicht, wenn Randy als letztes Opfer auserkoren wurde. Diese Verrückten kommen nicht frei, bevor sie dieses letzte Opfer dargebracht haben, so steht es zumindest in Druggetts Buch. Und wenn sie erst einmal ein Kind erwählt haben, müssen sie auch bei ihrer Entscheidung bleiben. Sie können nicht nachträglich ein anderes Opfer bestimmen. Randy ist sicher, zumindest für den Moment.«

Wenn du mich auch nur anrührst, du Dreckskerl, dann wird sich Quintus an dir rächen, knurrte Lester. Du wirst dir wünschen, deine Mutter hätte nie die Beine breitgemacht, um dich rauszulassen.

»Da wäre ich mir nicht so sicher, mein Freund. So wie Quintus Miller mit dir umgesprungen ist, tippe ich bei ihm auf einen klassischen Fall von Schizophrenie. Er ist offensichtlich ziemlich überzeugt davon, Awen zu sein, der Gott der Druiden. Awen war ein grausamer Gott, ein extrem unerbittlicher Gott. Insofern dürfte es ihn nicht sonderlich kümmern, was mit dir passiert.«

Ich bin unsterblich, flüsterte Lester. Was immer ihr mir antut, ihr könnt mich niemals vernichten.

»Na ja, auch in dieser Hinsicht gehe ich davon aus, dass du falsch liegst«, antwortete Geoff. Er wischte sich nervös die Hände an seiner Jeans ab, ging zu seinem Auto und schloss den Kofferraum auf: »Hilf mir mal, Jack«, bat er seinen Auftraggeber. Jack war klar, dass Geoff nicht halb so zuversichtlich war, wie er vorgab.

Geoff wuchtete einen dreieckigen Holzrahmen aus seinem heruntergekommenen Auto. Jedes der drei Bretter war etwa anderthalb Meter lang und grob aus schwerer Eiche gesägt. Anschließend hatte man sie provisorisch zusammengenagelt. Jack half Geoff, das Dreieck auf den Boden zu legen. Es wog fast 140 Kilo.

»Was zum Teufel ist das?«, erkundigte sich Otto misstrauisch.

»Die Schreinerei der Universität hat das für mich angefertigt«, erklärte Geoff lächelnd. »Kein besonders schwieriger Job. Es handelt sich um eine exakte Kopie eines druidischen Folterinstruments. Jedenfalls haben die Handwerker versucht, sich so genau wie möglich an die Skizze zu halten.«

»Ein was?«

»Ein Folterinstrument. Die Druiden bogen die Körper ihrer Opfer nach hinten über eine Seite des Dreiecks – siehst du das hier? – und banden ihre Hand- und Fußgelenke zusammen. Dann zogen sie die Knoten mithilfe von Aderpressen immer enger, bis die Opfer so weit nach hinten gezogen wurden, dass ihnen das Rückgrat brach. Anschließend sprachen die Druiden die Opferworte und sorgten so dafür, dass der Geist ihrer Opfer in Vergessenheit geriet, als ob er nie existierte.«

Jack starrte auf Lesters Kopf, der aus dem aufgerissenen Beton ragte. Der Wahnsinnige sah sie aufmerksam an.

»Es war gar nicht so einfach, die notwendigen Opferworte in der Literatur zu finden«, erklärte Geoff.

»Aber sie stehen in Druggetts Buch über die Druiden. Man fand sie auf einem Grabstein in Wales.

Caimich mi a nochd

Eadar uir agus eare,

Eadar run do reachd,

Agus dearc mo dhoille.«

Kaum hatte Geoff seine Rezitation beendet, fing Lester ohne Vorwarnung zu schreien an. Der Schrei war für menschliche Ohren zwar unhörbar, doch er erklang in ihren Köpfen wie eine Messerschneide, die über eine Schieferplatte gezogen wurde.

»Seht ihr?«, bemerkte Geoff triumphierend. »Es funktioniert! Wir haben den Dreh raus! Wir können diesen Schweinehunden ein vorzeitiges Ende bereiten!«

Lesters Kopf versank wieder im Boden. Doch Geoff sprang in das Loch, trommelte mit den Fäusten auf den Beton und schrie: »Hörst du mich? Wir haben dich! A Righ nan reula runach!«

Sofort erschien Lesters Gesicht erneut. Er schrie sogar noch schriller in ihrem Geist.

»Hab dich!«, schrie Geoff zurück. Er war ganz aufgeregt wegen der Durchschlagskraft seiner Magie und weil das, was sie hier taten, so spannend und gleichzeitig auch gefährlich war. »Hab dich, du mörderisches Stück Scheiße! A Dhe mheinnich nan dula!«

Mit seinem Betongesicht brabbelte Lester: Nicht, nicht! Schlag mich zusammen, wenn du willst! Aber 60 Jahre! 60 Jahre des Wartens! Ich will raus hier, ich will frei sein!

»Oh, es gibt nur einen Weg für dich in die Freiheit, mein Freund«, klärte Geoff ihn auf. »Und zwar solltest du uns restlos alles erzählen, was du über Quintus Miller und deine anderen irren Freunde weißt. Wenn du es nicht tust, dann geht’s ab aufs Foltergerät mit dir. Und dann wartet die völlige Vernichtung mit freundlicher Unterstützung von Awen, dem heiligen Namen, und von Bel, dem Sonnengott, auf dich. Für immer und ewig, Amen.«

Ihr könnt sie kriegen! Ihr könnt sie kriegen! Ich verrate euch, wie!

»Na dann los!«, forderte Geoff ihn auf. »Mir reißt heute Abend schnell der Geduldsfaden und ich habe verdammt Lust darauf, geistig Umnachtete wie dich zu vernichten.«

Es stand alles in den Büchern … in Krügers Bibliothek … er schrieb auch Tagebuch. Krüger hatte die Druiden ein Leben lang studiert. Quintus brach in die Bibliothek ein und stahl die Aufzeichnungen … er verriet uns, dass wir alle entkommen könnten. Monatelang planten wir unsere Flucht. Am schwierigsten war es, eine Flöte zu finden, die richtige Art von Flöte. Wir taten so, als wollten wir eine eigene Folk-Gruppe gründen … also kaufte uns Mr. Estergomy eine.

»Flöte? Wovon redest du da?«, fragte Geoff.

Ein Instrument, mit dem man rituelle Musik spielen kann, um das Hexagramm zu öffnen … um zu fliehen. Und genau das haben wir getan … Quintus ging zuerst, kam dann wieder durch die Wand und spielte Musik. Dann folgten wir ihm. Einer spielte, der Rest folgte, so funktionierte das Ritual. Und wir schafften es! Mitten in die Wand hinein!

Geoff stand reglos da. Der spätnachmittägliche Wind zerzauste ihm die Haare. »Einer spielte, der Rest folgte«, wiederholte er nachdenklich. Dann zitierte er:

»Als plötzlich die Schar sich seitwärts schob,

Dorthin, wo der Koppelberg sich erhob.

Steil stehet der Berg; die Kinder davor –

Da öffnet sich plötzlich ein weites Tor;

Hinein geht der Spielmann, die Kinder ihm nach;

Dann schließet der Berg sich mit lautem Krach.«

Selbst Otto erkannte das Gedicht wieder. »Der Rattenfänger von Hameln«, sagte er mit heiserer Stimme. »Herrgott, das hat sich niemand ausgedacht. Es ist wahr. Und ich erlebe es hier mit eigenen Augen.«

»Ja«, bestätigte Geoff. »Die verdammte Legende ist wahr. Und es ist im Laufe der Geschichte immer wieder passiert. Es gibt keine Geister, Poltergeister oder Dämonen, sondern nur Erden- und Wandläufer – Menschen, die wahrhaftig in der Unterwelt leben.«

Lass mich frei!, insistierte Lester. Ich hab dir alles gesagt, was ich wusste. Lass mich frei!

»Jack? Was meinst du dazu?«, wollte Geoff wissen.

Jack sah Lesters Betongesicht an und dachte an Randy, Pater Bell, Essie Estergomy, Daniel Bufo und Joseph Lovelittle. Er verspürte große Lust, Lesters Gesicht mithilfe des Presslufthammers zu zertrümmern. Und er hätte es auch wirklich getan, wenn es eine Garantie dafür gewesen wäre, dass Lesters unausgeglichene Seele dadurch vernichtet wurde.

»Ich bin dafür, dass wir ihn opfern«, antwortete er. »Zeigen wir Quintus Miller, dass wir es wirklich ernst meinen.«

Ihr habt mir euer Wort gegeben!, protestierte Lester.

»Und Pater Bell starb unter den schlimmsten Schmerzen, die man sich nur vorstellen kann«, konterte Jack.

Er wollte nicht nachgeben! Er wollte uns nicht gehen lassen! Es war nicht meine Schuld!

»Wie kriegen wir ihn aus dem Beton raus?«, fragte Jack.

Geoff hielt das Weihwasser hoch. »Weihwasser gemischt mit Weihsalz. Damit obsiegten die frühen Christen letztendlich über die Druiden. Der Weg des Geistes gegen den Weg des Fleisches.«

Nein!, schrie Lester. Nein, rührt meine Seele nicht an!

Geoff öffnete die Perrier-Flasche und hob sie hoch.

Nein!, kreischte Lester. Ich verrate euch, wie ihr sie findet! Ich verrate euch, wie ihr sie findet!

Jack ging zum Betonblock herüber und starrte Lester direkt ins Gesicht.

»Jack – geh nicht zu nah ran«, warnte Geoff ihn, doch dieser war zu wütend, um auf die Warnung zu hören.

»Also gut, Lester«, begann Jack. »Du sagst uns, wie wir sie finden, und wir werden dich dafür ziehen lassen. Aber ich warne dich, Freundchen. Wenn du versuchst, uns zu verarschen … dann werde ich dich höchstpersönlich aufspüren und dein Rückgrat auf dieser Foltervorrichtung brechen – und dabei werde ich mir alle Zeit der Welt lassen.«

Also hört zu, ich sage euch die Wahrheit … Ihr müsst zurück zum Portal gehen … dorthin, wo Quintus Miller damals zum ersten Mal in die Wand eingedrungen ist … Ihr müsst die Musik spielen … die Musik wird sie alle wieder zurücklocken. Sie müssen der Musik folgen, ob sie nun wollen oder nicht. Ihr kennt sie, es ist die Beschwörungsmusik für Grian-stad.

»Grian-stad?«, wiederholte Jack. »Was ist denn Grian-stad?«

»Das keltische Wort für ›Mittsommernacht‹«, klärte Geoff ihn auf. »Ich weiß nicht, ob unser Freund hier die Wahrheit sagt, aber er kennt zumindest die druidischen Sagen. In der Mittsommernacht spielten die Druiden Musik, um alle zu den heiligen Stätten zu rufen.«

»Also müssen wir sie nicht einzeln einfangen«, stellte Jack fest. »Wir können sie alle zurück nach The Oaks beordern und uns dann dort um sie kümmern.«

Er hatte keine präzise Vorstellung davon, wie er und Geoff sich um 137 durchgeknallte Kriminelle ›kümmern‹ würden, aber vielleicht half ihnen Druggetts Druidenbuch weiter. Und selbst, wenn es Ihnen nicht gelang, sie zu vernichten, sondern sie die Entflohenen lediglich wieder in die Mauern von The Oaks einsperren konnten, war das immer noch besser, als sie auf die Stadt loszulassen, wo sie unschuldige Menschen unter die Erde zerrten.

»Diese Musik – was für eine Musik soll das denn sein? Ist es eine besondere Melodie?«, erkundigte sich Geoff.

Flötenmusik, erklärte Lester. Musik aus einer Flöte. Sie geht ungefähr so …

»Ja, schon gut, Flötenmusik, aber wie geht die Melodie genau?«

Doch in diesem Moment schrie Lester lauter als je zuvor. Ein heiserer, greller Schrei, der nach Todesangst und Verzweiflung klang. Zwei riesige Hände schoben sich an beiden Seiten seines Kopfes aus dem Beton und zerrten ihn zurück in den Abgrund.

Sie sahen, wie Lesters Hände in einer verzweifelten Geste kurz wieder aus dem Boden auftauchten, als er mit allen Mitteln versuchte, sich an der Luft festzuhalten. Doch dann verschwanden sowohl sie als auch der Rest seines Körpers endgültig unter der Erdoberfläche.

»Was ist passiert?«, fragte Jack entsetzt. »Wo ist er hin?«

Geoff schrie: »Otto! Die Wünschelruten!«

»Was ist damit?«, fragte Jack.

»Raus aus dem Loch!«, befahl ihm Geoff. »Ich verwette meinen Arsch, dass das Quintus Miller war!«

Sie kletterten aus der Spalte und eilten zum Kompressorwagen zurück.

Otto fuchtelte mit seinen Wünschelruten herum, versuchte sie parallel voneinander zu halten und murmelte dabei in sich hinein: »Nichts als Ärger hat man hier. Ich wünschte, ich wäre nie mitgekommen.«

Jack suchte den Parkplatz in Windeseile mit den Augen ab, hielt Ausschau nach Wölbungen im Boden und nach Armen, die wie Haifischflossen aus dem Untergrund ragten.

»Irgendetwas stimmt nicht!«, stellte Otto entsetzt fest. »Sie spielen total verrückt!«

Die Wünschelruten drehten sich hektisch wie ein Kompass am Nordpol. Otto versuchte, sie ruhig zu halten, aber es gelang ihm nicht. »Die Kräfte sind zu stark! Sie kommen von überall! Ich kann nichts dagegen tun!«

Ganz abrupt hörten die Wünschelruten mit ihrem wilden Karussellspiel auf und berührten einander. Es folgte das laute, heftige Knistern einer elektrischen Entladung. Otto wurde heftig gegen die Seite seines Wagens geworfen. Sein Kopf schmetterte mit einem dumpfen, knirschenden Geräusch, das an ein überfahrenes Eichhörnchen erinnerte, gegen den Wagen. Er fiel zu Boden, zitterte und grummelte etwas in sich hinein.

Jack kniete sich neben ihn. Ottos Wollmütze war blutbefleckt und seine Augen nach oben verdreht.

»Fass ihn nicht an«, warnte Geoff ihn. »Natürlicher Magnetismus hat ihn erwischt … und zwar ziemlich heftig. Du würdest wohl selbst einen ziemlich starken elektrischen Schlag bekommen, wenn du ihn berührst.«

»Hast du noch Weihwasser?«, fragte Jack ihn, während er weiterhin den Parkplatz im Auge behielt. Sein Herz pochte fast so stark in der Brust, wie Lester gegen sein Betongrab geschlagen hatte.

»Klar, aber ich bin mir nicht mehr so sicher, ob es uns wirklich nützt«, antwortete Geoff. »Wer auch immer Lester da in den Boden hineingezogen hat … der Bannkreis schien ihn nicht davon abzuhalten.«

»Du musst bedenken, dass du kein Priester bist«, warf Jack ein. »Vielleicht hängt es damit zusammen. Vielleicht fehlt dir die nötige spirituelle Kraft.«

»Na gut, ich bin kein Priester«, bestätigte Geoff verärgert. »Aber verdammt noch mal, so ein großer Sünder bin ich nun auch wieder nicht.«

»Vielleicht sollten wir besser sehen, dass wir von hier wegkommen«, schlug Jack vor.

»Damit könntest du recht haben. Manchmal ist ein würdevoller Rückzug besser als eine Niederlage.«

Sie standen auf und gingen vorsichtig auf Geoffs Valiant zu. Doch genau in diesem Moment kam es zu einer ohrenbetäubenden Explosion. Der Betonberg, in dem sie Lester gefangen hatten, stob in einer Fontäne aus Kies und Schotter auseinander. Betonsteine prasselten gegen die um sie herum geparkten Autos, ließen die Scheiben zu Bruch gehen und zerbeulten das Blech.

Während er seine Augen mit den Händen gegen den entstandenen Staub abschirmte, warf Jack einen Blick auf das Loch, das sie gegraben hatten. Der Berg in der Mitte war komplett weggesprengt worden, doch genau an seiner Stelle stand jetzt ein gänzlich gehäuteter, nackter Mann, dessen Körper blutrot glänzte. Seine Adern pochten wild und unkontrolliert.

Im allmählich schwindenden Tageslicht sah er fast schön aus, wie eine surrealistische Skulptur, bei der Muskeln und Sehnen deutlich hervortraten. Arterien wanden sich um seinen Körper wie Schlangen. Trotz der Tatsache, dass seinem Gesicht die Haut fehlte, erkannte Jack sofort Lester in ihm wieder.

Dieser versuchte sich zu bewegen, zu schreien, doch die Schmerzen, die er erleiden musste, schienen zu stark. Er gab ein einziges gequältes Blöken von sich, das mehr nach einem Tier auf der Schlachtbank als nach einem Menschen klang. Dann griff eine Hand aus dem Boden nach oben an seine Füße, packte ihn an den Knöcheln und zog ihn in einer grässlichen Detonationswelle aus Fleisch und Blut wieder in den Schlund herab.

»Allmächtiger Gott!«, keuchte Jack.

»Jack, das Auto!«, erinnerte ihn Geoff mit einer Stimme, in der so viel Schock mitschwang, dass sie fast schon überdeutlich klang. »Lass uns hier abhauen, schnell!«

Sie rannten die letzten paar Schritte zum Valiant, rissen die Türen auf und kletterten hinein. Geoff holte mit zitternden Fingern seinen Schlüssel aus der Tasche und ließ ihn prompt fallen.

»Scheiße!«, rief er panisch, während er auf dem Boden herumtastete und versuchte, ihn wiederzufinden.

Im selben Moment hörte Jack ein Pochen und wandte sich nach rechts. Das in ihrer Reihe am weitesten entfernte Auto hob sich einen ganzen Meter in die Luft und kollidierte bei seiner Landung lautstark mit dem benachbarten Fahrzeug. Schon kam das nächste Auto, das hochgehoben wurde und mit dem Nachbarauto zusammenstieß, dann das übernächste und dann das daneben. Es sah aus, als ob etwas Großes, Starkes sich den Weg zu ihnen bahnte – eine Flutwelle aus Beton, die unweigerlich alles mitriss, was ihr in die Quere kam.

»Geoff, beweg diesen Blechhaufen hier raus!«, rief Jack ihm zu.

Geoff fand endlich den Schlüssel und stocherte ihn ins Zündschloss. Doch da spürte er bereits, wie der Valiant erbebte und das Metall am Boden der Karosserie auseinanderbrach. In Jacks Kopf überschlugen sich die Erinnerungen an Daniel Bufo. Er trat die Tür auf und sprang aus dem Auto. Geoff tat es ihm gleich.

Fast in der gleichen Sekunde hörte das Auto auf zu wackeln. Sie wichen einige Schritte zurück und verharrten.

»Der hier ist echt stark«, stellte Geoff fest, während er sich mit der Hand über die Stirn wischte. »Das ist Quintus Miller, daran gibt es keinen Zweifel.«

Vor ihren Augen begann sich die Windschutzscheibe von Geoffs Auto zu biegen und zu verformen. Ein Gesicht aus Glas erschien. Es war nur sichtbar, weil die Lichter der MECCA sich auf seinen Wangen, seiner Nase und seinen Lippen spiegelten. Es war eine scharfkantige, grausame Fratze; genau wie Pater Bell sie Jack damals in Green Bay beschrieben hatte. Eine Fratze wie ein Felsen. Ein stechender Blick und völlig ausdruckslose Augen ohne jede Spur von Mitleid.

»Quintus Miller«, flüsterte Jack.

Korrekt, antwortete eine schroffe, kultivierte Stimme. Quintus Miller höchstpersönlich. Sehr erfreut, Sie endlich kennenzulernen.

»Ich will meinen Sohn zurück«, forderte Jack. »Hast du mich verstanden? Ich will meinen Sohn wiederhaben! Ich will ihn hier und jetzt, sonst mache ich dir die Hölle heiß, das schwör ich dir.«

Ihr Sohn ist für mich sehr wichtig, Mr. Reed. Nun, nicht so sehr für mich persönlich, wenn Sie verstehen, was ich meine, sondern eher für meinen Glauben. Ihr Sohn wird in die Geschichte eingehen als das bedeutendste Opfer des Heidentums seit 2.000 Jahren. Geschichte, Mr. Reed! Nicht viele Jungen erhalten die Gelegenheit, Geschichte zu schreiben. Nicht in diesem Alter. Nicht, wenn sie noch so empfindlich sind.

»Ich will ihn sehen!«, verlangte Jack.

Sie können ihn gerne sehen, wenn Sie möchten.

Die Windschutzscheibe verzog sich, als ob sie von einem erfahrenen Glasbläser bearbeitet würde. Kopf und Schultern eines starken Mannes erschienen im Glas. Auf den Schultern von Quintus Miller, offensichtlich festgebunden oder mit Handschellen an ihn gekettet, saß ein Glasjunge, der genauso aussah wie Randy. Seine Augen schienen geschlossen zu sein, doch als Jack sich langsam dem Valiant näherte, konnte er sehen, dass der Junge noch atmete. Er musste vor lauter Erschöpfung eingeschlafen sein.

»Randy?«, rief er. »Randy?«

»Jack, halt bloß Abstand!«, warnte Geoff ihn. »Er will dich töten – er will uns beide töten!«

Jack hielt inne, zögerte und biss sich auf die Unterlippe. Quintus Millers Glaslippen hatten sich zu einem glänzenden Lächeln verzogen.

Kommen Sie ruhig näher, Mr. Reed. Oder darf ich Sie Jack nennen? Es macht keinen Unterschied, denn früher oder später werde ich dich umbringen, Jack, das verspreche ich dir. Genau wie Lester starb, als er versuchte, dir unsere heiligen Geheimnisse anzuvertrauen. Niemand betrügt Quintus Miller, Jack. Niemand stellt sich ihm in den Weg. Die Quintessenz gab mir ihren Namen – und genau das bin ich. Ich habe meine Brüder umgebracht, alle vier, ihnen die Augen mit einem glühenden Schürhaken ausgestochen. Was glotzt ihr mich so an, niemand darf einen Gott anstarren, jedenfalls nicht so! Das habe ich zu ihnen gesagt. Und als sie schliefen, waren sie fällig … einer nach dem anderen. Ich habe ihnen den ledernen Streichriemen meines Vaters zwischen die Zähne geklemmt, damit sie keinen Laut von sich geben konnten … dann rammte ich den glühenden Schürhaken genau durch das Lid ins Auge. Ob das gezischt hat? Darauf kannst du Gift nehmen! Hast du schon mal Augenflüssigkeit brutzeln gehört, Jack? Ich schon! Achtmal! Jeder meiner Brüder war blind und tot. Dann kam meine Mutter. Ich habe sie verätzt und ihr den heißen Schürhaken genau dorthin gerammt, wo ich aus ihrem Leib gekrochen war. Die Stelle versiegelt und gereinigt, damit keine Frau je damit prahlen konnte, mich auf die Welt gebracht zu haben.

Jack sah zur Seite. Eines der Betonstücke, das aus Lesters Grab herausgeschossen war, lag genau neben seinem Fuß. Er schaute zurück auf Quintus Miller, den Glasmann, der sich auf der Windschutzscheibe des Valiant abzeichnete, und kam zu dem Ergebnis, dass ihm genügend Zeit blieb, das Betonstück hochzuheben, auszuholen und es Quintus Miller gegen den Kopf zu rammen, bevor dieser ihn aufhalten konnte.

Eine Sekunde. Weniger als eine Sekunde. Heben, ausholen, treffen.

Mein Vater war nicht da … mein größter Fehler. Ich wollte auch ihm meine Läuterung zuteilwerden lassen. Aber er war in jener Nacht ohne mein Wissen außer Haus gegangen … sogar ohne dass meine Mutter davon wusste. Er schlief auf der anderen Seite der Stadt bei einer anderen Frau. Behauptete immer, dass er mit dem Hund spazieren ging, aber ich wusste es besser! Er kopulierte, das tat er! Mein Vater war stark … stark wie ein Löwe, genau wie ich. Mit einem großen Schwanz. An seinen Schwanz werde ich mich immer erinnern. Er flößte mir Angst ein, als ich ein kleiner Junge war. Ich wollte diesen Schwanz exorzieren, diese ganze Erinnerung exorzieren … aber er war nicht da …

Jack griff nach dem Betonstück. Holte aus. Und schlug zu.

… ich öffnete die Tür und – der Hund! …

Quintus Millers gläserner Schädel zerplatzte wie eine Glühbirne. Die Scherben fielen auf den Fahrersitz.

Doch zu Jacks grenzenlosem Entsetzen lachte das zertrümmerte Gesicht noch immer. Eine Glashand schoss aus der Windschutzscheibe und packte Jack am Hinterkopf. Jack grunzte, warf seinen Kopf hin und her und drückte sich gegen den Kotflügel des Wagens. Doch Quintus Millers Griff war zu brutal und zu fest. Jack wurde immer näher an die gebrochene Windschutzscheibe herangezogen, bis sein Gesicht genau vor dem Glasmund mit dem zertrümmerten Kopf hing.

Also wirklich, Jack … jetzt hast du mich echt enttäuscht. Ich wollte eine Jagd. Ich wollte ein Duell mit euch, bei dem es auf Geistesstärke, nicht auf reine Körperkraft ankommt. Ich müsste jetzt einfach nur deinen Hals über das Glas ziehen, dann wäre es aus mit dir … und denk ja nicht, dass ich es nicht tue, denn ich werde es tun. Ich bin ja nicht so blöd, dass mir das Jagen wichtiger wäre als das Erlegen meiner Beute … ich hab dich gefangen, Jack, und jetzt schlägt gleich dein letztes Stündlein.

Jack riss seinen Kopf zurück, so weit er konnte. Doch obwohl Quintus nur Glashände besaß, war er ungeheuer stark und Jack rutschte immer weiter auf die zertrümmerte Stelle genau über Quintus’ Lippen zu.

Hast du jemals gesehen, wie jemandem die Kehle vollständig durchtrennt wurde? Das ist mal in The Oaks passiert, als einer der Verrückten eine Kaffeetasse zerbrach und sich direkt vor Mr. Estergomys Augen damit aufschlitzte … es gibt kaum etwas Schärferes als zerbrochenes Porzellan. Es schneidet scharf wie eine Klinge, ganz gerade sogar … aber Glas taugt auch, mit dem Unterschied, dass die Schnittkanten meist gezackt sind …

»Uh«, grunzte Jack und versuchte mit aller Macht, seinen Kopf freizubekommen. Doch die Glashand umklammerte ihn so fest, dass er sich nicht losreißen konnte, während der transparente Mund ihn gefühllos anlächelte, um ihm beim Sterben zuzusehen.

Seine Kehle war lediglich noch einen Zentimeter weit von Quintus Millers zerborstenem Schädel entfernt, als Jack ein lautes, schmetterndes Geräusch hörte und Quintus’ Griff sich abrupt lockerte. Jack befreite sich, kam auf die Knie und rollte sich über den Boden ab. Dann fand er sich mit der Wange auf dem Beton wieder, direkt neben den Fragmenten von Quintus’ zerbrochenem Glasarm. Geoff stand mit einem Betonbrocken in der Hand neben ihm. Er musste Quintus’ Arm am Ellbogen zertrümmert haben.

»Lass uns hier abhauen«, sagte Geoff und half ihm auf. Die zerbrochene Scheibe des Valiant zersprang urplötzlich in tausend Stücke, eine Ansammlung von künstlichen Diamanten, die auf die Sitze prasselten. Zusammen rannten Jack und Geoff zur Ausfahrt. Von Zeit zu Zeit schauten sie zurück, um sich zu vergewissern, dass sich der Beton nicht wölbte und Quintus Miller bereits die Verfolgung aufgenommen hatte.

Keuchend und stöhnend liefen sie durch die East Kilbourn Avenue. Irgendwann meinte Jack: »Ich kann nicht mehr, Geoff. Sorry. Bin nicht mehr in Form.«

Geoff nickte und beugte sich vor, um seine Zehen zu berühren. »Ich auch nicht. Zu viel Pfeife geraucht. Ich hätte lieber weiter Squash spielen sollen.«

»Herrgott, ich könnte einen Drink gebrauchen!«, stellte Jack fest.

Gemeinsam humpelten sie immer noch schwitzend und keuchend die Straße entlang. »Glaubst du, Otto ist tot?«, erkundigte sich Jack bei seinem Begleiter.

Geoff nickte. »Sah zumindest ganz danach aus.«

»Diese ganze Geschichte ist meine Schuld«, stellte Jack fest. »So viele Menschen sind bereits umgekommen.«

Geoff berührte ihn aufmunternd an der Schulter. »Ach, weißt du … so läuft’s nun mal auf der Welt – ist schon immer so gewesen … und du hast es doch nur gut gemeint.«

»Gut gemeint? Herrje!«

Sie ließen die East Kilbourn Avenue hinter sich und hielten weiter aufmerksam nach Rissen im Gehweg Ausschau.

»Er wird alles dransetzen, uns zu töten, das weißt du.«

»Da hast du wohl recht. Wenn du ihm vorhin nicht den Arm gebrochen hättest, wäre ich von ihm wie ein Kartoffelsack aufgeschlitzt worden.«

»Zumindest wissen wir jetzt mit Sicherheit, dass Randy noch lebt.«

»Ja, Gott sei Dank!«, bestätigte Jack. »Und ich werde ihn da rausholen.«

Sie rannten keuchend den Gehweg entlang, als plötzlich ein Polizeiauto neben ihnen hielt. Es hatte das Blaulicht eingeschaltet. Zwei Polizisten stiegen aus und rannten auf sie zu.

»Polizei! Hände hoch! Hände gut sichtbar über den Kopf!«

Jack und Geoff kamen der Aufforderung wie in Zeitlupe nach. Einer der Beamten hielt die Waffe auf sie gerichtet, während der andere sich ihnen vorsichtig näherte.

»Sie sind Jack Reed, nicht wahr?«, fragte er Jack. Er war jung und sein Gesicht von Pickeln übersät. Über seinem Mund züchtete er einen spärlichen schwarzen Schnurrbart.

»Ich bin Jack Reed, das stimmt. Was soll das hier?«

»Sie sind verhaftet, weil Sie eine Anweisung des Bezirksgerichts missachtet haben. Ich werde Ihnen jetzt Ihre Rechte vorlesen.«

»Wovon reden Sie da? Ich habe keine Anweisungen missachtet.«

»Es geht um Ihren Sohn. Randolph Reed?«

Jack atmete lang und tief durch. »Kann ich die Hände jetzt wieder runternehmen? Oder war bei der Missachtung der Anweisung etwa von Schusswaffen die Rede? Und außerdem« – er warf einen Blick auf die Menschenmenge, die sich am Straßenrand zum Gaffen eingefunden hatte – »komme ich mir gerade wie im Zoo vor.«

»Mir wäre es lieber, wenn Sie Ihre Hände weiter hochhalten, Sir. Sie haben das Recht zu schweigen. Sie haben das Recht …«

Jack spähte verzweifelt zu Geoff herüber. Wenn die Polizei ihn jetzt verhaftete, musste er sich eine glaubwürdige Erklärung für Randys Verschwinden einfallen lassen. Und was konnte er da schon ins Feld führen? Dass Randy von einem Verrückten, der durch Wände ging, entführt worden war? Dass die Druiden ihn mitgenommen hatten? Dass er wusste, dass es Randy gut ging, weil er ihn vor Kurzem als Glasskulptur in der Windschutzscheibe eines Autos gesehen hatte?

»… kann und wird vor Gericht gegen Sie verwendet werden.«

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