E I N S

Er hatte den Blick nur für wenige Sekunden von der Straße abgewandt, um seine Santana-Kassette aus dem Handschuhfach zu fischen. Da nahm er aus dem Augenwinkel einen grau-weißen Umriss wahr, der aussah wie ein Kind im Regenmantel. Und es flitzte direkt vor ihm über die Straße.

»Ah!«, schrie er und trat aufs Bremspedal, rutschte ab und versuchte es erneut. Sein Kombi schlitterte mit quietschenden Reifen über den rutschigen Asphalt. Das Auto ruckelte auf die mit Blättern übersäte Böschung zu und krachte dann gegen den Stamm einer dicken Eiche.

Jack würgte den Motor ab und zitterte am ganzen Körper. Herrgott! Herrgott im Himmel!, dachte er. Sprühregen trommelte auf die Windschutzscheibe. Natürlich war Jack schnell gewesen. Mit fast 100 Kilometern pro Stunde hatte er bergauf geradewegs auf eine unübersichtliche Kurve zugehalten. Aber so schlecht war die Sicht nun auch wieder nicht – und sein Blick nur für den Bruchteil einer Sekunde zur Seite abgeschweift. Er konnte sich absolut nicht erklären, wie er ein Kind übersehen haben konnte, das vom Straßenrand auf die Fahrbahn gerannt kam.

»Herrgott noch mal!«, fluchte Jack erneut. Seine Stimme klang schwach und wenig überzeugend. Er atmete tief durch, schnallte sich ab und stieg aus dem Auto. Es hatte sich einmal um 180 Grad gedreht und zeigte jetzt wieder in die Richtung, aus der Jack ursprünglich gekommen war, das Heck durch einen Baum völlig lädiert. Auf der Straße und im angrenzenden Wald war es merkwürdig still, jetzt, wo das Motorengeräusch verstummt war. Nichts zu hören, außer dem Regen, der von den überhängenden Bäumen tropfte, und dem gelegentlichen Ruf eines Vogels aus der Ferne.

Wald, Wald, nichts als Wald. Sein Großvater hatte Wisconsin immer gehasst, besonders wegen der vielen Bäume. Der Vater seiner Mutter war Farmer gewesen und konnte ihnen lediglich in Form von Baumstümpfen etwas abgewinnen. »All diese verdammten Bäume!«, lamentierte er stets, selbst als er schon längst in Rente gegangen war.

Jack schnaubte, schüttelte sich und sah sich seine Umgebung genauer an. Da lag kein Kind auf der Straße, Gott sei Dank, auch am Seitenstreifen konnte er keinen leblosen Körper erkennen. Kein grau-weißer, blutverschmierter Regenmantel in Sicht – ebenso wenig wie ein zerfetzter Turnschuh.

Er stellte den Kragen seines Sakkos auf und bahnte sich einen Weg durch den Matsch. Dabei versuchte er tunlichst, seine neuen sattelbraunen Schuhe nicht dreckig zu machen. Dank des Gummis verschonte der Nieselregen die Reifenspuren. So konnte Jack genau erkennen, wo er auf die Bremse getreten und an welcher Stelle er ins Schlittern geraten war. Vier chaotische Muster, die an von krakeliger Kinderhand gezeichnete Achten erinnerten, hatten ihre Spuren auf dem Asphalt hinterlassen. Jack ging in die Hocke, um sie genauer zu inspizieren. Nichts deutete darauf hin, dass er jemanden angefahren hatte.

Jack glaubte auch nicht wirklich daran, dass er einen Menschen erwischt hatte, denn außer der Kollision mit dem Baum ganz am Schluss hatte er keinen Zusammenprall wahrgenommen. Er drehte sich um, schirmte die Augen mit der Hand gegen den Regen ab und inspizierte die Vorderseite seines Kombis. Die Stoßstange war intakt, alle Leuchten funktionierten noch. Er konnte nur hoffen, dass er niemandem einen ordentlichen Stoß versetzt und ihn in hohem Bogen ins Dickicht befördert hatte. Man hörte ja schließlich immer wieder von Unfällen mit Fahrerflucht. Da lagen die Opfer nur wenige Meter von viel befahrenen Bundesstraßen entfernt im Unterholz und erfroren irgendwann jämmerlich.

Er lief ein Stück der Straße ab, legte seine Hände trichterförmig um den Mund und rief: »Hallo? Ist da jemand? Hallo?«

Jack hielt inne und lauschte. Der Vogel sang pii-juu, pii-wuu, dann pii-widdi. Der Regen fiel so sanft wie der Schleier einer sterbenden Braut hinab. Schwer zu glauben, dass Madison, die Hauptstadt des Bundesstaats Wisconsin, nur eine halbe Stunde Fahrt entfernt lag. Bis nach Milwaukee brauchte man von hier aus auch weniger als zwei Stunden.

Weitere drei- oder viermal rief er: »Hallo?« Immer noch keine Antwort. Sein Herzschlag beruhigte sich allmählich wieder und sein Atem ging normal. Er fühlte sich ruhiger, zog ein Taschentuch heraus, wischte sich damit über die Stirn und putzte sich die Nase. Trotz der Kälte waren sein Hemd und seine Unterwäsche von Schweiß durchtränkt.

War bestimmt ein Reh, oder? Vielleicht auch eine Ziege. Jedenfalls irgendein Tier. Du hast es schließlich nicht besonders gut sehen können, stimmt’s? Mann, komm schon, Jack, mal ganz im Ernst: Was hätte denn ein Kind an einem verregneten Donnerstagnachmittag hier draußen im Wald verloren, quasi am Arsch der Welt? Du bist ja schließlich selbst auch nur hier, weil du nach Dads altem Sommerhaus am Devil’s Lake sehen musst. Und du hast diese Straße nur deshalb genommen, weil du gegenüber der Route 51 locker 20 Meilen Strecke wettmachst.

Warum zum Teufel sollte sich ein Kind in diese Einöde verirren?

Wirklich beunruhigend fand Jack allerdings, dass er sich sicher war, rennende Beine, schwingende Arme und eine aufgestellte Kapuze gesehen zu haben. Sein gesunder Menschenverstand wollte ihm einreden, dass es sich um ein Tier gehandelt haben musste. Aber vor seinem inneren Auge sah er weiterhin ein Kind in grau-weißem Regenmantel vor sich auftauchen, mit wilden und unkoordinierten Bewegungen. Es hatte die Gefahr falsch eingeschätzt, wie Kinder es häufig taten.

Er wartete noch einen Moment lang. Dann ging er langsam zu seinem Auto zurück, drehte sich dabei aber alle paar Meter um. Auf dem Kombi, einem 81er Electra in Rotmetallic, hatte der Sprühregen einen durchgehenden Wasserfilm hinterlassen. Es war Dads letzter Wagen gewesen. Jack hatte ihn zusammen mit dem Sommerhaus geerbt, dessen Zimmer mit vergilbten Büchern und unzähligen Tageszeitungen vollgestopft waren. Er hatte das Apartment am Jackson-Park verkaufen müssen, um die Schulden und die Beerdigung seines Vaters bezahlen zu können. (Es war ihm nicht gelungen, Maggie zu überreden, dort einzuziehen. Sie hätte sich nicht einmal mit Diamanten bestechen lassen, weil sie die feste Überzeugung vertrat, dass es sich bei Krebs um eine ansteckende Krankheit handelte.) Ein ganzes Leben mit harter Arbeit und unerfüllten Träumen hatte ihm nichts weiter eingebracht als einen fahrbaren Untersatz und einen Haufen Lektüre.

Die Rücklichter des Wagens waren zersplittert, Bruchstücke aus dunkelrotem Plastik verteilten sich auf dem vermodernden Blattwerk in der Umgebung. In der Heckklappe prangte eine riesige Delle. Jack fühlte sich unweigerlich an Elvis Presleys schiefes Grinsen erinnert. Er versuchte, sie mit roher Gewalt zu schließen, aber sie verweigerte sich. Trotzdem hätte es ihn deutlich schlimmer treffen können. Schwere Verletzungen beispielsweise, wenn er frontal in die Eiche gekracht wäre. Sein vergeblicher Versuch, das blockierte Vorderrad unter Kontrolle zu bekommen, mochte ihm sogar das Leben gerettet haben. Vielleicht wäre ein anderer Fahrer umgekommen.

Jack kletterte wieder ins Wageninnere und startete den Motor. Der Keilriemen quietschte, aber abgesehen davon klang alles noch ganz passabel. Solange ihn der Electra heil zurück nach Milwaukee brachte, hatte er auch kein Problem damit, wenn das Ding Geräusche produzierte wie eine Blaskapelle im Bierzelt.

Gerade als er die Scheibenwischer anstellen wollte, bildete er sich ein, durch den silbrigen Nieselregen, der auf das Glas tröpfelte, etwas gesehen zu haben. Ein weißliches Flimmern im Waldstück zu seiner Rechten. Er betätigte den Wischer und sah erneut in die Richtung, aber da war nichts. Er öffnete die Fahrertür und lehnte sich aus dem Wagen, um mehr erkennen zu können. Da war sie wieder, eine kaum wahrzunehmende Regung, ein verschwommener, grau-weißer Fleck, kein Zweifel.

Mit einem Griff auf den Rücksitz angelte er nach seiner Regenjacke. Da war jemand im Wald, gar keine Frage – jemand oder etwas. Und er hätte es um ein Haar auf dem Gewissen gehabt. Wenn es ein Tier war, konnte er nicht viel tun, außer den Vorfall zu melden. Aber wenn es sich um ein Kind handelte, dann musste er herausfinden, was um alles in der Welt es sich dabei dachte, mutterseelenallein durch den Wald zu rennen.

Jack stieg aus dem Auto, knallte die Tür hinter sich zu und lief die seitlich der Straße verlaufende Böschung hinunter. Sie war von einer dicken Schicht aus nassen, verrottenden Blättern bedeckt, die dafür sorgten, dass er ständig wegrutschte. Als er ebenen Boden erreichte, waren seine Schuhe völlig durchgeweicht und Dornenzweige hatten ihm die Anzughose aus Mohair zerfetzt. Er hielt kurz inne, um wieder zu Atem zu kommen und sich noch einmal das Gesicht abzuwischen.

»So eine Scheiße!«, murmelte er in sich hinein. Er wusste nicht, welcher Teufel ihn geritten hatte, sich auf der Suche nach einem Kind, das vermutlich noch nicht mal eines war, allein durch das nasse Gestrüpp zu zwängen. Vermutlich eher eine verdammte Ziege, die irgendwo ausgebüxt war. Er konnte eigentlich genauso gut zurück nach Hause fahren und Santanas Abraxas-Album auf volle Lautstärke aufdrehen, um den quietschenden Keilriemen zu übertönen.

»And I hope you’re feeling better … and I hope you’re feeling good!« Ich hoffe, es geht dir wieder besser … ich hoffe, es geht dir gut!

Er hielt kurz inne, schniefte und warf einen Blick zurück. Hinter sich konnte er oben auf der Bundesstraße gerade noch den dunkelroten Kotflügel seines Kombis ausmachen. Vor ihm ging es weiter abwärts, mitten hinein in eine dunkle, zugewachsene Spalte, die von Dornenzweigen und nassem Farn überwuchert war. Irgendwo sprudelte Wasser, das plätschernde Geräusch eines kleinen Bachs, aber an diesem verregneten Nachmittag ließ das in Kombination mit dem bewölkten, grauen Himmel eher keine Glücksgefühle aufkommen, sondern klang hohl und deprimierend.

Er konnte jederzeit umkehren. Es ist unlogisch, die Mission fortzusetzen, Captain. Selbst wenn es sich bei der grau-weißen Gestalt wirklich um ein Kind handelte, war es ja offensichtlich noch am Leben. Und eine Ziege würde ihm ohnehin davonlaufen, Hügel und Täler erklimmen, für die seine schicken Florsheim-Treter nicht nur ungeeignet, sondern sogar hochgradig gefährlich erschienen.

»Hallo!«, rief er zum letzten Mal. »Ist da jemand?«

Jack begann wieder zu zittern, diesmal vor Kälte. Außerdem musste er dringend pinkeln. Er brachte sich vor einer Ansammlung von Farnen in Position und ließ seinen dampfenden Urinstrahl in den kühlen Nachmittag hineinschießen. Der Druck auf die Blase wollte gar nicht mehr nachlassen. Aber er war noch nicht einmal halb fertig, als er zwischen den Bäumen ganz unten am Fuß der Schlucht plötzlich wieder die grau-weiße Gestalt erblickte, wenn auch nur für eine Sekunde.

»Hey!«, schrie er. »Hey du!« Er zog den Reißverschluss seiner Hose hoch und begann, der Gestalt hinterherzustolpern. »Hey, Bürschchen, warte mal!«

Der Boden unter seinen Füßen wurde unvermittelt steiler. Drei- oder viermal rutschte Jack aus und musste sich an dornigen Zweigen festklammern, um nicht hinzuschlagen. Dabei riss er sich die Hand auf. Humpelnd und fluchend versuchte er, das Blut wegzunuckeln, während er tiefer und immer tiefer in das enge Tal hineinstolperte.

Du Volltrottel!, schimpfte er mit sich selbst. Es wird Stunden dauern, bis du wieder zum Auto hochgekraxelt bist. Und jetzt ist der Regen auch noch deutlich heftiger geworden. Verdammter Mist!

Er rutschte auf einer Reihe loser Steine aus, klammerte sich an einen Farn, um das Gleichgewicht zurückzuerlangen, und fiel dann mit voller Wucht auf den Rücken.

Scheiße!, wetterte er. Scheiße und noch mal Scheiße!

Unter Schmerzen kam er wieder auf die Beine. Seine Hose war hinten vollkommen durchnässt und mit Matsch verschmiert. Die neuen Schuhe waren ein Fall für die Mülltonne. Seine rechte Hand blutete immer noch und er hatte sich außerdem den linken Ellenbogen aufgeschrammt.

Jetzt reicht’s mir! Ob da jetzt ein Kind ist oder nicht, ich dreh um und mach mich auf den Weg nach Hause.

Jack richtete sich zu seiner vollen Größe auf, atmete tief durch und brüllte: »Bürschchen! Kannst du mich hören? Das war’s! Vergiss es! Wenn du dich verlaufen hast, ist das jetzt dein Problem! Hast du mich verstanden?«

Er lauschte, aber er vernahm nur den Widerhall seiner eigenen Stimme, den Regen und den plätschernden Bach.

»Dummes Kind, verflucht!«, murmelte er in sich hinein. »Verdammtes blödes – was auch immer du bist. Ziege. Scheiße. Wen juckt’s?«

Er wollte gerade mit dem Aufstieg zurück zur Straße beginnen, als er nur etwa 20 Meter über sich am Abhang zu seiner Linken den vertrauten grau-weißen Schemen entdeckte. Er bewegte sich nicht, rannte nicht, sondern stand einfach mit gesenktem Kopf zwischen dem Farn, der im Wind wogte. Jack hielt inne und starrte die Erscheinung an. Seine Zähne klapperten vor Kälte. Diesmal verspürte er nicht den Drang, laut zu rufen.

»So, jetzt hab ich dich, du Bastard!«, murmelte er und bahnte sich den Weg nach oben durch Farn und Dornengestrüpp. Diesmal verharrte die Gestalt in ihrem gräulich-weißen Regenmantel an Ort und Stelle. Sie hatte sich die Kapuze über den Kopf gezogen und stand mit gekrümmten Schultern einfach da. Irgendwie seltsam, dass sie sich nicht zu ihm herumgedreht hatte, fand Jack. Oder dass sie sich überhaupt nicht rührte. Sie musste ihn doch schließlich gehört haben. Er preschte den Hügel hinauf und ging dabei ähnlich subtil ans Werk wie General Patton im Zweiten Weltkrieg mit seiner dritten Panzerdivision.

Fast hatte er die Gestalt erreicht. Sie bewegte sich immer noch nicht, sondern stand ganz still neben einem zweigliedrigen Stacheldrahtzahn, der diagonal ins Tal führte. Es war definitiv ein Kind, kein Tier. Aber er erkannte, dass es auf merkwürdige Weise entstellt zu sein schien und einen kleinen Buckel besaß. Zum ersten Mal verspürte Jack ein ziemlich ungutes Gefühl im Magen.

»Hey Bürschchen!«, rief er schroff, aber mehr aus Unsicherheit als tatsächlich verärgert. »Hey, du bist dran schuld, dass wir beide da oben auf der Straße beinahe den Löffel abgegeben hätten.«

Noch immer blieb das Kind, wo es war, verharrte ganz dicht am Zaun. Schließlich tat Jack einen Schritt darauf zu, musste sich aber am Stacheldraht festhalten, um nicht erneut den Hügel hinabzuschlittern.

Erst als er das Kind schon fast berühren konnte, wurde ihm klar, dass es keins war. Es war noch nicht mal ein Tier. Er griff nach der »Kapuze« und zog sie vom Zaun weg. In seiner Hand hielt er lediglich eine völlig durchnässte Ausgabe des Milwaukee Sentinel vom vergangenen Sonntag. Irgendwie hatte sie der Wind aufgefächert und gegen einen der Zaunpfosten geblasen, wo sie in ihrer bizarren Form verdächtig nach einem Kind mit Kapuze aussah.

Jack stand lange im Regen, runzelte die Stirn und hielt einige durchnässte Seiten des Sportteils in jeder Hand. Er verstand überhaupt nichts mehr und war noch beunruhigter, als wenn er hier tatsächlich auf ein Kind gestoßen wäre. Schließlich hatte er doch diese Gestalt genau vor sich über die Landstraße rennen sehen. Dann war sie den Hügel hinabgehuscht und im Tal verschwunden. Aus der Furche weiter unten hatte es wirklich wie ein Kind in grau-weißem Regenmantel gewirkt. Wie konnte es sich jetzt als verkrumpelte Zeitung entpuppen?

Er trennte die von der Nässe verklebten Zeitungsbögen voneinander und warf einen Blick auf das Datum. Tatsächlich, die Ausgabe vom letzten Wochenende. Sonst keine Auffälligkeiten. Langsam knüllte er sie zusammen, nahm Schwung und schleuderte sie weg. Sonst sah er nichts, das auch nur im Entferntesten Ähnlichkeit mit dem Kind besaß, an dessen Fersen er sich geheftet hatte. Kein verräterisches Aufblitzen eines grau-weißen Regenmantels im Farn weit und breit. Er schniefte, wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab und wappnete sich für den mühsamen Aufstieg zurück zum Auto.

Doch just in diesem Moment entdeckte er über den Wipfeln des benachbarten Waldes die Umrisse von etwas, das verdächtig an das Dach eines Hauses erinnerte. Er kraxelte ein paar Meter weiter den Hügel hinauf und konnte es jetzt ganz genau erkennen: ein riesiges Gebäude mit Türmen aus gelben Backsteinen, glänzenden, blaugrauen Schieferplatten und Reihe um Reihe von Fenstern in gotischem Stil. Was zur Hölle war das denn für ein seltsamer Bau?

Jack drückte den Stacheldraht auseinander, zog den Kopf ein und zwängte sich vorsichtig hindurch. Das Anwesen befand sich an dem Ende des Tals, das am weitesten von der Straße entfernt lag. Seine Türme verbargen sich hinter gewaltigen Weißeichen. Obwohl es eine beeindruckende Sicht über die umliegenden Wälder bieten mochte, würde es vermutlich niemand, der auf dem Highway vorbeifuhr, entdecken, wenn er nicht ganz genau hinsah.

Die Natur, die das imposante Bauwerk umschloss, verbarg es ähnlich wie Dornröschens Märchenschloss auf wundersame Weise vor den Blicken der Außenwelt. Jack konnte erkennen, dass der Wald in unmittelbarer Umgebung einmal gerodet worden war, vor vielleicht 20 oder 30 Jahren; aber nun musste er sich seinen Weg durch Dornen und wilde Rosenbüsche bahnen. Als er endlich eine Ansammlung von Eichen rund 180 Meter entfernt an den südwestlichen Ausläufern des Gebäudes erreicht hatte, war seine Regenjacke am unteren Ende an zwei Stellen eingerissen und seine Socken völlig zerfetzt. Die 170-Dollar-Schuhe konnte man inzwischen komplett vergessen.

Was Jack ganz besonders faszinierte, war das nicht näher bestimmbare Gefühl, gezielt hierher gelockt worden zu sein. Als ob es sein Leben lang vorbestimmt war, dass er das Haus genau an diesem Nachmittag und genau zu dieser Stunde finden würde. Als ob es auf ihn gewartet hätte.

Als Junge war er fast jeden Sommer in den Ferien hier oben am Mirror Lake, am Devil’s Lake oder am benachbarten Lake Wisconsin gewesen und hatte die Gegend mit seinen Freunden bei Hunderten von Bergwanderungen und »Dschungelexpeditionen« durchstreift.

Und doch hatte er das Gebäude trotz seiner beachtlichen Größe noch nie zuvor zu Gesicht bekommen, geschweige denn von seiner Existenz gewusst. Es war so imposant, geheimnisvoll und mit Atmosphäre aufgeladen, dass Jack fast bedauerte, es nicht bereits als Elfjähriger entdeckt zu haben. Er und Dougie McLeish hätten hier wunderbar spielen können! Prinz Eisenherz! Der Mann mit der eisernen Maske! Dracula! Sie hätten unglaublich viel Spaß haben können! Warum hatte er auf diese Entdeckung bis heute warten müssen, wo er als 43-jähriger verheirateter Mann in Milwaukee lebte und eine bescheidene Kette von Expresswerkstätten für defekte Schalldämpfer leitete?

Das Bauwerk sah aus wie ein Schloss, ein Hotel oder ein feudales Bahnhofsgebäude. Es bestand aus dem gleichen gelben Backstein wie die alte Pabst-Brauerei im Westen von Milwaukee – der charakteristische Baustoff hatte der Stadt den Spitznamen »Cream City« eingebracht. Es war im Stil der österreichischen Gotik erbaut und wies an jedem Ende seiner 60 Meter breiten Fassade eine Ansammlung von fünf Spitztürmchen auf. Eine dekorative schmiedeeiserne Brüstung begrenzte auf der gesamten Länge die Dachrinne.

Und dann waren da überall diese Gesichter. Aus Blei gegossene, graue Konterfeis säumten die Entwässerungsleitungen. Über den Fenstern leisteten ihnen ockergelbe Geschwister, in Stein gemeißelt, Gesellschaft. An den Rändern des Dachfirsts prangten schwarze Fratzen aus Eisen. Insgesamt wahrscheinlich mehr als 100 an der Zahl. Doch anders als gewöhnliche Wasserspeier wirkten sie weder hässlich noch grotesk, sondern allesamt eher würdevoll, andächtig, gelassen, fast schon heilig. Doch seltsamerweise hielten sie die Augen geschlossen, als ob sie schliefen, blind oder tot waren.

Jack kämpfte sich durch die Bäume, ehe er den Zufahrtsweg aus weißem Kieselstein erreichte, der das Gebäude umgab. Der Weg war mit Efeu und Bluthirse überwachsen. Am Westturm war der Efeu so weit emporgerankt, dass er die Fenster im zweiten Stock erreichte und wie eine düstere, besitzergreifende Liebhaberin an den Steinen klebte.

Ohne Zweifel stand der Bau schon seit Jahren, vielleicht schon seit Jahrzehnten leer. Die Regenrinnen waren stark verrostet und Wasser, das neben dem Haupteingang hinabtropfte, hatte überall auf dem Mauerwerk Rostflecken hinterlassen. Alle Fenster wirkten dunkel, staubig und blind; etliche der rautenförmigen, bleiernen Gitter vor den Scheiben waren kaputtgegangen. An fast jeden Schornstein sowie zwischen die Turmspitzen hatten Vögel ihre Nester gequetscht, diese aber offensichtlich schon vor geraumer Zeit verlassen.

Über dem gesamten Anwesen, wie es im sanft hinabprasselnden Regen thronte, lag ein Hauch von leiser Verzweiflung, längst verblassten Erinnerungen und stilvollem Bedauern.

Jack lief zum Haupteingang, erklomm die steinernen Stufen und rüttelte am schweren Türgriff aus Bronze. Das Portal war verschlossen – und wahrscheinlich auch verriegelt. Nicht dass man sich hier mitten im Wald große Sorgen um Vandalismus hätte machen müssen, schließlich war das Gebäude ideal vor neugierigen Blicken abgeschirmt.

Direkt neben dem Eingang befand sich eine altmodische Seilzugklingel mit einem Gesicht aus Bronzeguss am Zugbalken, dem Gesicht eines Heiligen mit geschlossenen Augen. Jack zerrte einmal daran, doch außer einer Menge Rost, die zu Boden rieselte, passierte nichts. Er zog erneut kräftig und hörte diesmal ein schrilles Klirren irgendwo im Inneren. Es schien gar kein Ende nehmen zu wollen, als ob jemand wie ein Verrückter mit einer Glocke bimmelte.

Verlegen trat er einen Schritt zurück. Grundgütiger! Was, wenn jetzt doch noch jemand hier wohnte? Es hätte ihn nicht gewundert, wenn das Gesicht an der Türklingel plötzlich die Augen geöffnet und ihn vorwurfsvoll angestarrt hätte.

Doch dann verebbte das Geräusch und in dem gewaltigen Bauwerk kehrte wieder Stille ein. Das Gesicht an der Tür blieb gutmütig und blind. Jack schüttelte den Kopf und schimpfte mit sich selbst: »Du Feigling!« Er musste in sich hineingrinsen, weil er so hysterisch reagiert hatte.

Er ließ den Haupteingang hinter sich zurück und lief weiter an der Vorderseite des Anwesens entlang, bis er den Ostturm erreichte. Er versuchte, in eines der Fenster hineinzuspähen, doch die Scheibe war so dreckig und das Glas so stumpf, dass man unmöglich mehr als einen schattenhaften Umriss ausmachen konnte, der ein Sofa hätte sein können. Gras und Unkraut ragten an den Mauern fast in Brusthöhe empor. Jack besorgte sich einen Ast, von dem er die vorstehenden Zweige abbrach, und benutzte ihn, um sich einen Weg durch das Dickicht zu bahnen. Indiana Jones. Stanley auf der Suche nach Livingstone.

Stille, klamme Nässe und die durch die Bäume verstärkte Abgeschiedenheit weckten in Jack eine zügellose Erregung, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr verspürt hatte. Er begann leise eine dramatische Begleitmusik zu pfeifen, die seinen Fortschritt durchs Unterholz akustisch untermalte. Als er dabei ein Eichhörnchen aufschreckte, hielt er seinen Stock wie ein Gewehr vor sich und tat, als würde er auf das Tier schießen. Es flitzte panisch eine Eiche ganz in der Nähe hinauf. Kawumm! Kawumm! Kawumm!

Jack passierte die Tür, die einst zur Küche geführt haben musste. Der blaue Anstrich war längst abgeblättert. Er presste die Stirn gegen die Fenster und konnte eine riesige altmodische Küchenzeile und zwei geräumige Spülbecken mit nach oben ragenden Wasserhähnen ausmachen. An der Wand stand ein Schrank mit Glastüren, hinter denen sich noch immer flache Teller und Tassen stapelten.

Wie unheimlich! Es sah aus, als hätte jemand das Haus mit seinem kompletten Inventar überstürzt zurückgelassen – Möbel, Geschirr, Teppiche, alles war noch da! Auf dem Fensterbrett der Küche stand sogar eine gläserne Blumenvase mit einem Strauß vertrockneter Chrysanthemen darin.

Jack erreichte die Rückseite des Gebäudes. Über die gesamte Länge erstreckte sich ein mit schmiedeeisernen Gittern eingefasstes Gewächshaus. Das Metall schien völlig verrostet zu sein und Dutzende Scheiben waren zerbrochen. Auf dem Glasdach lag eine dicke Schicht aus Blättern und Erde. Vom Anbau führten Steinstufen in einen überwucherten Garten, durch den sich ein kleeblattförmiger Kiesweg wand. Die Blumenbeete waren verwahrlost, Unkraut hatte das Regiment übernommen. Eine Rosenpergola in der Mitte des Gartens war teilweise in sich zusammengefallen. Hinter den abgestorbenen Pflanzungen erhob sich das Gelände in mehreren terrassenförmig angelegten Stufen zum Wald hin. Ein Teilstück im Westen war als Tennisplatz angelegt worden. Daneben befand sich ein von Fliesen umgebenes Schwimmbecken.

Jack lief am Gewächshaus vorbei bis zum Tennisplatz. Der elende, kalte Sprühregen blies ihm durch das Tal entgegen. Jack schirmte mit den Händen das Gesicht ab, um seine Augen vor dem Wasser zu schützen. Fast fünf Minuten stand er einfach nur da und starrte in die Ferne. An einem Sommertag wäre der Blick auf den Wald sicher atemberaubend.

Über die nasse, grasbedeckte Böschung kämpfte er sich zu den Courts vor. Die verwitterten Tennisnetze hingen durch. In ihnen hatten sich Vögel verfangen und waren zu vertrockneten Kadavern erstarrt. Aber der rote Asphalt befand sich noch in erstaunlich guter Verfassung. Es würde nicht viel Arbeit bedeuten, den Platz wieder bespielbar zu machen.

Er näherte sich dem Schwimmbecken. Es war weiß gekachelt und am Rand befanden sich versiffte braune Weinrebenmuster aus der Zeit Eduards VII. Der Pool war zu gut einem Viertel angefüllt mit schwärzlich-grünem Wasser. Etwas schwamm direkt unter der Oberfläche, formlos und vage. Er versuchte es mit seinem Stock zu berühren, aber es war zu weit weg. Es wippte, tanzte und drehte sich im Wasser. Es konnte alles Mögliche sein.

Also irgendwie hat der Laden echt eine Menge Potenzial, dachte Jack, als er sich wieder aufrichtete und die Rückseite des Gebäudes in Augenschein nahm. Ein schönes Anwesen, größtenteils intakt. Eine umwerfende Lage. Ausreichend Platz für Sportanlagen. Wenn man es clever anstellt, könnte man das Areal zur schönsten Ferienanlage im gesamten Mittleren Westen aufpeppen.

Gemächlich schlenderte er über den Tennisplatz zurück zum Eingang des Haupthauses. In seinem Kopf formte sich eine Idee. Eine Geschäftsidee. Ein Traum von einer Karriere. Eine Vision, die ihn aus den Fängen der Stadt und seinem langweiligen Arbeitsalltag bei Reed Muffler & Tire befreien würde. Eine Idee, die Freiheit, Erfüllung, Prestige und Spaß versprach – alles auf einen Schlag.

Wenn das Gebäude schon so lange verwaist war, dann ganz offensichtlich deshalb, weil sich niemand dafür interessierte oder niemand das unglaubliche Potenzial erkannte, das darin schlummerte. Er konnte es bestimmt für – was? – eine halbe Million Dollar kaufen? 300.000? Vielleicht sogar weniger. Sein Kumpel Morris Tucker von der Bank in Menomonee Falls würde ihm sicher gerne bei der Finanzierung behilflich sein. Die beiden kannten sich aus dem Wisconsin Business College und hatten dort 1967 gemeinsam ihren Abschluss gemacht. Drei- oder viermal trafen sie sich in jedem Sommer und gingen zusammen zum Angeln an die Whitefish Bay. Dabei trugen sie labbrige Sonnenhüte, schlürften Sixpacks mit Pabst Blue Ribbon und ließen sich vom Gettoblaster mit den Beatles die Ohren zudröhnen.

Klar, er würde Millionen benötigen, um das Gebäude nach internationalen Hotelstandards zu restaurieren. Aber wenn Morris ihm das richtige Finanzierungspaket zusammenstellen konnte – tja, es war ein Mordsrisiko. Ein Mordsrisiko. Doch was hatte er schon zu verlieren, selbst wenn alles in die Binsen ging? Ein Haus in einem Vorort von Milwaukee, einen zerbeulten Kombi und eine schrecklich vorhersehbare Zukunft, in der er anderen Leuten die defekten Schalldämpfer ihrer Autos austauschte. Es wäre kein Verlust, sondern eine Befreiung, selbst wenn alles vor die Hunde ging und er am Ende einen langweiligen Bürojob annehmen musste.

Jack erreichte die Kieselauffahrt, lief auf das Haus zu und streifte mit der Hand das nasse Mauerwerk. Jedem Menschen eröffnet sich einmal im Leben, und zwar wirklich nur einmal, eine unglaubliche Chance. Jack war sich ganz sicher, dass in der Entdeckung dieses Hauses seine große Chance lag. So musste es einfach sein. Wenn ich nur an die merkwürdige Art und Weise denke, wie ich hierher geführt wurde. Von einer weggewehten Zeitung, die aussah wie ein rennendes Kind. Wenn das nicht Schicksal ist, meine Fresse, dann weiß ich’s auch nicht …

Er konnte es ganz deutlich vor sich sehen. Das restaurierte Anwesen, die Wege sorgfältig gesäubert, strahlender Sonnenschein und elegant gekleidete Pärchen, die im umgebauten Gewächshaus eine elegante Cocktailparty feierten. Helikopter landeten auf der Terrasse und brachten Gäste direkt aus Chicago oder Milwaukee hierher. Ein Squashplatz, ein Glasdach für den Swimmingpool und hinten am Waldrand durfte natürlich eine schmucke Golfanlage nicht fehlen.

Er würde die Anlage Merrimac Court Country Club taufen. Eigentümer und Geschäftsführer John T. Reed junior. Das klang doch gut.

Langsam entfernte er sich vom Gebäude, rieb sich die Hände und schniefte vor Kälte. Sobald er nach Hause kam, würde er herausfinden, wem das Anwesen gehörte und wie viel er dafür verlangte. Dann würde er alles prüfen lassen, nur um sicherzugehen, dass es nicht irgendwelche verdeckten Mängel gab, deren Reparatur massive Folgekosten nach sich zog. Komm schon, sei mal vernünftig und denk logisch. Lass dich nicht von deiner eigenen Begeisterung überwältigen.

Doch Jack wusste, dass es kein Zurück gab. Sein Leben war schon jetzt dabei, sich völlig zu verändern. Selbst wenn man dieses Anwesen nicht mehr restaurieren konnte, würde er sich ein anderes suchen, bei dem es möglich war, und seinen eigenen Country Club eröffnen, so oder so, selbst wenn es ihn Kopf und Kragen kostete.

Er gönnte dem Grundstück einen ausgiebigen letzten Blick und versuchte, es sich vollständig instand gesetzt vorzustellen. Da erblickte er hoch oben auf dem Dach ein Gesicht in einem der Gaubenfenster. Ein kleines, blasses Gesicht, wie das eines Kindes.

Jack stand einfach nur da, starrte zum Fenster und blinzelte sich den Regen aus dem Gesicht. Ihm war unheimlich kalt und er fühlte sich matt und erschöpft. Aber er hatte es sich nicht eingebildet, sondern ganz deutlich gesehen, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde: Ein Kind hatte von dort oben zu ihm heruntergeschaut.

Er wusste nicht genau, was er jetzt tun sollte. Es musste sich um dasselbe Kind handeln, das er bereits vorhin auf der Straße gesehen hatte, das Kind, das ihn hierher geführt hatte. Die Zeitung am Zaun war wohl lediglich ein Zufall gewesen. Aber selbst wenn sich dort oben ein Kind aufhielt, was sollte er bitteschön unternehmen? Es war schließlich nicht sein Haus und er war auch nicht der Vater. Vielleicht sollte er die örtliche Polizeidienststelle anrufen und sie darüber in Kenntnis setzen, falls der Dreikäsehoch irgendwo ausgebüxt oder vor einer realen oder eingebildeten Gefahr geflüchtet war. Aber damit hätte er seine Bürgerpflicht dann wirklich mehr als zur Genüge erfüllt.

Und doch: Der Junge – zumindest glaubte Jack, dass es einer war – musste ja irgendwie ins Gebäude gelangt sein. Das wiederum bedeutete, dass es irgendwo ein Schlupfloch geben musste, durch das der Kleine hineingeklettert war. Selbst wenn er es nicht fand, konnte er zumindest durch ein Fenster oder eine verrottete Tür nach innen gelangen und nachsehen, in welchem Zustand sich die Bausubstanz drinnen befand.

Jack lief erneut um das Anwesen herum und versuchte es an der Terrassentür neben dem Westturm, doch sie war fest verschlossen und, wie er sehen konnte, sogar verriegelt.

Er bahnte sich den Weg zum Eingang des Gewächshauses und versuchte es dort. Zuerst tat sich nichts, doch als er die Griffe fest nach unten drückte und daran zog, öffnete sich eine der Schwingtüren zögerlich.

Unentschlossen blieb Jack stehen. Streng genommen hatte er das Grundstück schon ohne Erlaubnis betreten, indem er nur darauf herumlief, doch wenn er jetzt eintrat, würde er sich auch noch des Einbruchs schuldig machen. Obwohl alles ziemlich heruntergekommen wirkte, konnte doch immer noch jemand hier wohnen. Und falls der Besitzer zu Hause war, würde Jack sich ziemlich umständlich erklären müssen.

Er klopfte ans Fenster. »Hallo? Jemand zu Hause?«, rief er. Das Gewächshaus war innen mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Im schummrigen Halbdunkel herrschte völlige Stille. Ein gusseiserner Tisch lag auf die Seite gekippt. Daneben befanden sich die Scherben eines grünen Keramiktopfs, der hinuntergefallen war. Auf der gegenüberliegenden Seite des Anbaus stand eine Vielzahl von Tontöpfen, aus denen tote Pflanzen mit vergilbten Blättern ragten. Die feuchte Luft roch abgestanden und irgendwie sauer, so wie Essig.

»Jemand zu Hause?«, wiederholte Jack. Aber es blieb still, bis auf das kontinuierliche Tropfen von Regenwasser, das durch die verrostete Außenverkleidung heruntersickerte.

Benutz deine grauen Zellen, Reed, ermahnte Jack sich selbst. Hier lebt niemand mehr. Höchstens ein paar Hausbesetzer. Vielleicht Landstreicher oder weggelaufene Kinder. Niemand, der sich hier eher aufhalten dürfte als du. Niemand, der rechtmäßig hier ist.

Jack schob die Tür etwas weiter auf und trat ein. Der Boden war mit Erde und Steinen bedeckt und seine Schuhe knirschten und knarzten darauf. Er zögerte kurz und lief dann durch das Gewächshaus und die zwei Stufen hinauf zu der Pforte, die den Anbau mit dem Wohnhaus verband. Zwar war sie auch eingerostet, doch es gelang ihm, sie zu öffnen.

Wird schon schiefgehen, dachte er sich und öffnete sie gerade so weit, dass er sich hindurchzwängen konnte.

Bei dem Zimmer, das er betrat, schien es sich um eine große Lounge oder einen Aufenthaltsraum zu handeln. Überall standen cremefarbig lackierte Rohrsessel herum. Insgesamt mussten es zwischen 50 und 60 sein. Dazu passend gab es Tische im gleichen Farbton. Auf einigen davon standen Tassen und Untertassen, die längst eingetrockneter Kaffee an der Innenseite mahagonifarben verfärbt hatte. Auf dem grünen Teppichboden lagen Magazine und Zeitungen verstreut. Jack bückte sich und hob eine Ausgabe der Zeitschrift Collier’s auf. Die Titelgeschichte – »Walter Camps All-American Team« war auf 1926 datiert. Dann griff Jack nach einer der Zeitungen. Die Schlagzeile verkündete: MORDPROZESS IM FALL HALL-MILLS ERÖFFNET. Sie stammte vom 21. Juni 1926.

Für einen Moment stand Jack bewegungslos in der Mitte des Zimmers. Dann legte er das Magazin und die Zeitung sorgfältig auf einen der Tische. Mit einem Mal hatte er einen merkwürdigen Anfall von Klaustrophobie und wurde das Gefühl nicht los, dass die Lounge ihn einengte. Sein erster Impuls war, sofort wieder an die frische Luft zurückzukehren. Denn, großer Gott, im Juni 1926 musste dieses Zimmer voll mit Menschen gewesen sein, die aus unerfindlichen Gründen plötzlich alles stehen und liegen ließen und gegangen waren. Das Gebäude war danach 62 Jahre lang verschlossen geblieben und in all dieser Zeit schien niemand in diesem Raum irgendetwas angerührt zu haben.

Jack zwang sich, einmal tief Luft zu holen. Hier drinnen war es sogar noch kälter als draußen. Der beißende Geruch von Essig stahl sich erneut in seine Nase.

Er lauschte, aber bis auf den Regen, der auf das Dach des Gewächshauses trommelte, blieb alles ruhig. Nach einem Rundumblick durch die Lounge dachte Jack bei sich: Das hier würde eine hervorragende Cocktailbar abgeben. Ein antiker Spiegel, der die gesamte hintere Wand einnahm, dazu ein Tresen aus Marmor und vergoldete antike Stühle malte er sich aus. Er ging durch das riesige Zimmer hindurch zur nächsten Tür, die leicht offen stand. Das hier könnte richtig stilvoll werden.

Jack schritt hindurch und fand sich in einer gewaltigen gewölbeartigen Diele wieder, die rundum von einer Galerie umgeben war. Von zwei Seiten aus führte eine Marmortreppe in den ersten Stock. Das würde einen großartigen Empfangsbereich abgeben! Von der hohen Decke hing ein riesiger, eiserner Leuchter herab, unter dem ein Baldachin aus Spinnweben zu sehen war. Der Bodenbelag bestand aus einem rot-weißen Schachbrettmuster, das jedoch unter der dicken Schicht aus Staub und Schmutz kaum noch zu erkennen war. Der Putz hatte sich teilweise von der Wand gelöst und Zweige aus Vogelnestern lagen über den Boden verstreut.

Am Fuß jeder Treppe stand eine lebensgroße Steinstatue einer Heiligenfigur in biblischer Gewandung. Die zwei identischen Statuen hatten die Augen ebenfalls geschlossen. Jack näherte sich einer der beiden Repliken und betrachtete sie aufmerksam. Er wusste nicht, weshalb er all diese Gesichter mit den geschlossenen Augen so beunruhigend fand, doch er konnte es nicht ändern. Wer zum Teufel fertigt denn Statuen mit geschlossenen Augen? Soll das Tod oder Schlafen symbolisieren? Oder will uns der Künstler damit sagen, dass sie einfach unseren Blick nicht erwidern möchten, während wir sie anschauen?

Egal wie es sich wirklich verhielt, es gefiel ihm nicht. Es vermittelte ihm das ungute Gefühl, dass sich die Augen öffneten und ihn anstarrten, sobald er ihnen den Rücken zuwandte.

Jack ging drei Stufen nach oben und rief: »Hallo? Hallo! Ist da oben jemand?«

Es gab kein Echo. Doch irgendwo im Haus war ein leises, schlurfendes Geräusch zu vernehmen. Vielleicht ein Eichhörnchen. Oder ein Vogel. Oder ein kleiner Junge, der wusste, dass er etwas falsch gemacht hatte, als er einfach über die Straße gerannt war und sich bei seiner Flucht dann in einem der oberen Räume versteckt hatte.

»Hallo!«, schrie Jack. »Kannst du mich hören? Denn ich komme jetzt hoch und hol dich, ob es dir passt oder nicht!«

Jack stieg die Stufen hinauf, nahm immer mehrere auf einmal und erreichte so in Windeseile den ersten Stock. Als er oben ankam, schaute er zurück auf die zwei Statuen im Gang. Das Licht wurde jetzt schwächer, doch sie strahlten in einem fast schon unnatürlichen Glanz. Keines der Standbilder öffnete allerdings die Augen oder bewegte sich. Jack, mein Freund, du solltest deine Fantasie lieber im Zaum halten.

Am Ende der Treppe zweigten zwei lange Gänge ab, einer in Richtung des Westturms und einer zu seinem Konterpart im Osten. Beide lagen im Dunkel, doch auf dem Linoleumboden erkannte Jack ganz schwach eine Lichtreflexion. Er holte eine Münze aus der Tasche seiner Regenjacke und warf sie in die Luft. »Kopf nach Westen, Zahl nach Osten«, sagte er zu sich selbst. Die Münze fiel mit der Zahl nach oben auf den Boden.

Jack schlug den Weg zum östlichen Trakt ein. Er war lang, dunkel und beengt, doch da konnte man später sicher immer noch ein paar zusätzliche Fenster oder Lichtschächte einbauen. Zu beiden Seiten gingen zahlreiche cremefarben lackierte Türen ab. Sie waren allesamt verschlossen, doch jede verfügte über ein kleines Guckloch mit beweglichem Messingdeckel als Abdeckung. Jack spähte in ein paar Räume hinein. Es waren nur Betten und Stühle zu sehen. In einem der Zimmer lag sogar nichts weiter als eine Matratze auf dem Boden.

Nach jeder sechsten Tür führte ein kurzer Seitengang zur rückwärtigen Seite des Gebäudes und gab den Blick auf ein Fenster frei. Doch sie waren samt und sonders mit einem schwarzen, rautenförmigen, sehr feinen Stahlnetz gesichert, das kaum Licht durchließ. Außergewöhnlich erschien ihm, dass das Netz nicht nur hineingeschraubt, sondern sogar verschweißt worden war. Schon seltsam, dass der Eigentümer so sicherheitsbewusst war, dass er alle Fenster des oberen Stockwerks sorgsam verriegelte, aber nicht an ein einziges der unteren Fenster gedacht hatte.

Jack lief den ersten Seitengang ab, bis er die Öffnung erreichte. Durch das verstaubte Gitter und das schmierige Glas waren ein Teil des Tennisplatzes, eine Ecke des Schwimmbads und der verwilderte, vernachlässigte Garten zu erkennen. Jack blieb ein paar Minuten am Fenster stehen und spähte hinaus. Es regnete nach wie vor. Der Himmel hatte die Farbe von Naturstein angenommen und das Gras sah giftgrün aus. Jack blickte auf die Uhr. Es war schon 16:30 Uhr. Er würde erst deutlich nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause ankommen.

Am Ende des Gangs langte Jack vor einer Doppeltür aus gebeiztem Eichenholz an, die er nicht nur verschlossen vorfand, sondern sogar durch einen zusätzlichen Stahlriegel samt robustem Schloss gesichert. Er rüttelte daran, aber es tat sich nichts. Was auch immer sich im Ostturm befand, die Eigentümer wollten ganz offensichtlich, dass es dort blieb. Vielleicht eine wertvolle Bibliothek oder eine Kunstsammlung? Vielleicht war auch die Decke eingefallen und man wollte, dass niemand dort hineinlief und sich verletzte. Doch zu seiner Linken ging eine weitere Treppe ab. Mitten durch die Dunkelheit führte sie hinauf ins nächste Stockwerk.

Links an der Wand befand sich ein Lichtschalter, den er betätigte, aber natürlich funktionierte er nicht mehr. Vermutlich musste das gesamte Haus für den Hotelbetrieb von oben bis unten neu verkabelt werden.

Auf dem Treppenabsatz erwartete ihn auf halber Höhe ein weiteres Fenster, doch auch dieses war mit einem Stahlnetz gesichert, das an einigen Stellen verbeult war, als ob sich ein massiger Körper mit roher Gewalt dagegengeworfen hatte.

Jack setzte einen Fuß auf die nächste Treppenstufe und zögerte. Es wurde immer später und düsterer. Eine Taschenlampe hatte er auch nicht dabei. Vielleicht sollte er es gut sein lassen und sich auf den Rückweg machen. Bestimmt machte sich Maggie schon Sorgen um ihn und der Truthahn zum Abendessen lief akut Gefahr, auszutrocknen. Bisher war er immer pünktlich nach Hause gekommen oder hatte Maggie bei einer drohenden Verspätung rechtzeitig angerufen, um ihr Bescheid zu geben.

Auf der anderen Seite hatte er noch nie so etwas wie dieses Haus gefunden, nie zuvor der Chance seines Lebens gegenübergestanden. Das war es wert. Was bedeutete schon ein verkochtes Tiefkühlessen im Vergleich zum Schicksal eines Menschen?

Er stapfte die Treppe hinauf. Seine Schuhe schlurften über den Marmor. Ihm war, als höre er erneut ein Geräusch, weshalb er kurz innehielt, den Atem anhielt und lauschte.

Es klang wie etwas Schweres, das kratzte, etwas, das schleifte. Es erinnerte ihn an einen Betonmischer, doch war es sehr leise, sodass er nicht genau ausmachen konnte, aus welcher Richtung es kam. Da war es auch schon wieder verklungen und er konnte noch nicht einmal beschwören, dass er wirklich etwas gehört hatte.

Jack verharrte auf der Stelle und lauschte, bis er vor Anspannung fast platzte, doch der Ton wiederholte sich nicht. Vielleicht das Regenwasser, das durch die Rinnen sickerte, oder Eichhörnchen, die durch die Traufen tollten.

Er setzte seinen Weg fort und bemühte sich, leiser zu sein. Die nächste Etage war sogar noch dunkler und roch noch stärker nach Essig. Wahrscheinlich handelte es sich um Ausscheidungen von Tieren. Er ging davon aus, dass sich das ganze Gebäude in eine Zuflucht für Iltisse, Stinktiere, Eichhörnchen und Vögel verwandelt hatte. Einmal war er Zeuge geworden, wie bei einem Haus am Rande von Madison das Dach abgenommen wurde. Eichhörnchen hatten darin fünf Jahre lang Kobel gebaut und im Gebälk fanden sich überall riesige Stücke zerfetzter Dämmung aus Glaswolle, in denen sich halb verrottete Überreste von verendeten Jungtieren stapelten. Der Geruch nach Verwesung war überwältigend gewesen. Danach war es ihm nie wieder gelungen, Eichhörnchen anzusehen und niedlich zu finden.

Jack warf einen kurzen Blick auf den Gang im zweiten Stock. In einem der Dachfenster hatte er das Gesicht des Kindes gesehen (wenn es sich denn überhaupt um ein kleines Kind und nicht um eine Eule, eine Taube oder die merkwürdige Reflexion einer Fensterscheibe gehandelt hatte). Also kletterte er die Stufen weiter bis ganz nach oben. Auch hier befand sich auf halber Höhe ein Fenster, das ebenfalls mithilfe eines massigen Stahlnetzes gründlich verriegelt worden war.

Ihm fiel eine weitere Merkwürdigkeit auf: Normalerweise wurden Stahlnetze außen an den Fenstern angebracht, damit die Scheibe nicht mithilfe von Steinen eingeworfen werden konnte oder Einbrecher durch Hochklettern an der Fassade ins Innere des Hauses gelangten. Dieses Netz war offensichtlich eher deshalb angebracht worden, damit die Scheiben nicht von innen beschädigt werden konnten.

Aber wer lebte in einem so prächtigen Anwesen und musste dabei die Fenster vor sich selbst schützen?

Er erreichte das oberste Podest. Hier bogen sich die Traufen nach innen und formten so ein Mansardendach. Obwohl sich Jack jetzt an einer der höchsten Stellen des Hauses aufhielt, fühlte er sich dort sogar noch eingeengter als in den unteren Stockwerken. Falls er fliehen musste, lagen drei Treppen vor ihm, ein langer, enger Korridor, gefolgt von einem weiteren Treppenlauf, dann einem weiteren Gang, den er passieren musste, um durch die Lounge wieder in das Gewächshaus zu gelangen.

Er wartete einen Moment ab und zwang sich, ruhig zu bleiben. Noch nie zuvor in seinem Leben hatte er zu klaustrophobischen Anfällen geneigt, doch irgendetwas an diesem Anwesen vermittelte ihm das untrügliche Gefühl, gefangen zu sein. Wahrscheinlich waren es die Fenster, die Tatsache, dass sie alle mit einem Netz gesichert waren. Und die verschlossenen Türen. Er hatte bisher noch kein einziges Zimmer im oberen Bereich unverschlossen vorgefunden.

Jack machte sich auf den Weg durch den Gang, der sich unter dem Dach über die komplette Distanz des Hauses erstreckte. Es war inzwischen ziemlich dunkel geworden und er konnte kaum mehr als ein paar Schritte vor sich etwas erkennen. Jack tastete sich mit den Händen oben an der Wandbekleidung aus gebeiztem Eichenholz vorwärts, um nicht die Orientierung zu verlieren. An jeder Tür hielt er an und versuchte, den Griff herunterzudrücken. Wenn das Kind an einem der Dachfenster gestanden hatte, musste es ja irgendwie in einen der Räume hineingelangt sein. Und solange es keinen Schlüssel besaß, um sich selbst einzuschließen, würde Jack herausfinden, wo es sich versteckte.

»Hallo!«, rief er. »Ist da jemand?«

Jack zerrte an einem weiteren Türgriff. Verschlossen. Er versuchte es beim nächsten. Ebenfalls abgeriegelt.

Jack war schon den halben Gang entlanggelaufen, als er sich einbildete, das kratzende Geräusch wieder zu hören. Er hielt inne und lauschte. Es schien von hinten zu kommen. Ein tiefes, dunkles Geräusch, als wenn jemand einen Sack Zement vor sich herschob. Es schien sich zu nähern.

Alarmiert drehte er sich um. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Doch da war niemand. Er konnte ja selbst sehen, dass der Gang absolut leer war.

Und dennoch dauerte das Geräusch an. Sssschhhhhhhhh-sssschhhhhh-ssssschhhhhh; es klang nachdrücklich, unbarmherzig und durchdrang jede Faser seines Körpers.

Jack stand einen Moment lang wie versteinert da und lauschte. Dann begann er schneller durch den Gang zu laufen, sich von dem Geräusch weg zum Westende des Hauses zu bewegen. Er versuchte sich an den ersten zwei Türgriffen, doch das Rauschen war immer noch hinter ihm zu hören, also ignorierte er die restlichen Türen und rannte los. Ssssschhhhhhh-ssssschhhhhh-sssschhhhhh hallte es die Wand entlang und an jeder Tür erklang ein merkwürdig dumpfes Klopfen.

Er gewann den Eindruck, dass etwas Riesiges, Unsichtbares ihm den Gang hinterherjagte, mit dem Körper an den Wänden entlangschleifte und an den Türen rüttelte. Es begann immer lauter und schneller zu werden, Sssschhhh-rumms! Ssschhhhh-rumms! Ssschhhh-rumms!

Jack rannte jetzt, so schnell er konnte. Der düstere Gang verschwamm vor seinen Augen. Er betete zu Gott, dass am anderen Ende eine Treppe zu finden war. Als er loslief, wäre ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass es möglicherweise nur eine pro Etage geben konnte.

Das Geräusch drängte ihm hinterher, Sssschhhh-rrrumms! Sssschhhh-rrrumms! Er wusste nicht, was es war oder was zum Teufel es mit ihm anstellen würde. Jack wollte nur noch raus aus diesem Haus, und zwar so schnell ihn seine Beine trugen.

Fast hatte Jack das Ende des Gangs erreicht. Da war noch eine Treppe, Gott sei Dank! Er hechtete sie hinab, nahm vier oder fünf Stufen auf einmal und schnappte bei jedem Sprung nach Luft. Doch das Geräusch wich nicht aus seinem Rücken, schakka-takka-schakka-takka, glitt hinter ihm her.

Er hielt sich am Geländer fest und schwang sich die letzten sechs Stufen nach unten, rutschte aus und verstauchte sich den Knöchel. Trotzdem spurtete er den Korridor in der ersten Etage bis zur nächsten Treppe, den letzten Treppenlauf hinunter, den großen Gang entlang durch die Lounge und schließlich über die Stufen hinab zum Gewächshaus und raus in den nassen, abendlichen Nieselregen.

Keuchend wandte er sich zum Haus um. Was immer es war, hier draußen konnte er sich ihm stellen. Doch um auf der sicheren Seite zu sein, angelte er sich zunächst einen herabgefallenen Backstein aus der Rinne neben dem Kiesweg und wog ihn in der Hand.

Jack bildete sich ein, dass sich das Ssschhhhhhh-Geräusch aus dem Raum hinter dem Gewächshaus näherte. Es war nicht zu überhören, wie sich die Türen lautstark öffneten. Dann wurde der Anbau erschüttert und erbebte, als wäre er von einem Auto erwischt worden. Einige Glasscheiben zerbrachen klirrend und die Scherben prasselten auf den Marmorboden.

Jack trat einen Schritt zurück und schwang seine improvisierte Waffe. Doch plötzlich herrschte Stille. Das Geräusch war verstummt. Er wartete und wartete, doch es kam nichts mehr. Er hörte den Regen durch die verwitterten Rinnen sickern und den Vogel, der von weit weg sein Pi-wuu, Pi-wuu schmetterte, doch das war alles!

Vorsichtig tat er einige Schritte zurück in Richtung Gewächshaus und spähte hinein. »Hallo?«, fragte er vorsichtig, doch niemand antwortete, denn da war niemand.

Eine Weile lauschte er seinem eigenen Herzschlag und ging dann wieder nach drinnen. Von einem Haus ließ er sich doch keine Angst einjagen! Erst recht nicht von seiner eigenen Fantasie, die offensichtlich mit ihm durchging. Ja, etwas hatte ihn hierher geführt, das stimmte, aber es war das Schicksal höchstpersönlich gewesen. Er würde dieses Gelände zum Merrimac Court Country Club umbauen lassen und er, John T. Reed junior, würde als Eigentümer und Geschäftsführer fungieren. Und damit basta!

Du Feigling, schalt er sich selbst. Es war dein eigener Atem, dein eigenes Blut, das durch deine Ohren gerauscht ist. Genau wie das Meer, das man hört, wenn man sich eine Muschel ans Ohr hält. Dir ist einfach nur mal wieder der Verstand durchgegangen.

Er hob den Splitter einer Glasscheibe auf, die aus einem der Rahmen des Gewächshauses herausgefallen war. Das ist auch kein besonders mysteriöses Vorkommnis. Die Türen sind hinter mir zugefallen und die Eisenkonstruktion ist derart marode, dass es nicht wirklich erstaunlich ist, wenn dann ein paar Scheiben das Zeitliche segnen.

Jack ging wieder zurück in die Lounge. Leer. Nichts hatte sich verändert. Nicht einmal ein Stuhl war umgekippt. Wenn wirklich etwas hinter ihm her gewesen wäre, hätte er es doch wohl gesehen, richtig? Er hob eine der Zeitungen auf, ging wieder in den Anbau zurück und zog die Tür hinter sich zu.

Also gut, er war immer noch nicht absolut davon überzeugt, dass das, was er gehört hatte, wirklich nur sein eigenes Blut gewesen war, das in seinen Ohren rauschte. Aber sei doch bitte mal vernünftig, Jack. Es gibt keine Geister; und etwas, das du nicht sehen kannst, wird dir ja wohl kaum etwas antun können. Das Schlimmste, was es gewesen sein kann, ist ein Eichhörnchen, das die Hohlwände hochgekraxelt ist. Ja, das war es ganz bestimmt. Ein Eichhörnchen, verflucht noch mal, das hinter ihm her gejagt war, um seine Jungen zu schützen. Da konnten die ja ziemlich wild werden, oder? Besonders hier mitten im Wald.

Seine Eichhörnchentheorie gefiel ihm. Wenn er das Gebäude prüfen ließ, würde er darauf achten, dass jemand die Hohlwände sorgfältig nach Tieren absuchte.

Es wurde bereits dunkel. Der Regen ließ langsam etwas nach. Jack lief noch einmal um das Gebäude herum und versuchte es so pessimistisch wie möglich zu schätzen, die schlimmsten Aspekte in Augenschein zu nehmen: die eingefallenen Rinnen, die fehlenden Fliesen, die verrosteten Eisenhalterungen.

Ach komm, Jack, hier steckt ein Haufen Arbeit drin; und wahrscheinlich auch ein Haufen Ärger, bevor das alles fertig ist. Du kannst einfach weggehen und es vergessen. Zurück nach Milwaukee, zurück zu Reed Muffler & Tire.

Doch Jack wusste, dass es nie wieder so sein würde wie vorher. Eine ältere, aber überaus reizende Lady hatte ihn verführt und er konnte sie jetzt nicht mehr aus dem Kopf bekommen.

Müde trabte er weg vom Haus, lief an den Bäumen entlang durch Farn und Dornendickicht bis hin zum Stacheldrahtzaun. Er hatte ihn schon fast erreicht, als er ein Schild flach im Gras liegen sah. Er humpelte hin und wollte es gerade aufheben, als er feststellte, dass es von einer Schicht schleimiger schwarzer Schnecken bedeckt war. Daher benutzte er seinen Fuß, um es vorsichtig umzudrehen.

Unter der grünlich-schwarzen Flechte, die das Schild fast vollständig bedeckte, konnte er eben noch die Worte EIGENE GEFAHR ausmachen. Er ließ es ins Unterholz fallen, warf einen letzten Blick auf das Dach des zukünftigen Merrimac Court Country Clubs, duckte sich dann zwischen dem Stacheldraht hindurch und machte sich auf den Rückweg zum Auto.

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