Penny marschierte mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck auf uns zu.
»Geh einfach weiter«, sagte ich zu Molly.
»Wir könnten anfangen, zu laufen«, meinte sie.
»Das wäre würdelos«, erwiderte ich.
Aber da hatte Penny uns sowieso schon eingeholt. Sie pflanzte sich direkt vor uns auf, die Hände auf den Hüften und starrte mich böse an. Ich lächelte sie freundlich an, als hätte ich keine einzige Sorge in der Welt, denn ich wusste, das ärgerte sie am meisten.
»Wir haben ein Problem«, sagte sie kurz.
»Wirklich?«, fragte ich zurück. »Du überraschst mich. Und lass mich raten: Alles ist meine Schuld,
oder?«
»Vielleicht«, sagte Penny. »Janitscharen Jane ist weg. Spurlos verschwunden. Es gibt nicht mal Aufzeichnungen darüber, dass sie das Gelände verlassen hat. Was eigentlich dank des neuen Sicherheitssystems, das wir nach deiner Rückkehr installiert hatten, unmöglich sein sollte.«
»Jane ist ein Profi«, erwiderte ich ruhig. »Sie kommt und geht, wie sie will. Allerdings ist wirklich seltsam, dass sie verschwindet, ohne uns ein Wort zu sagen. Gibt es irgendwelche Hinweise?«
»Nur einen. Eine Notiz, die mit einem Messer an ihre Tür gepinnt war. Bin dann mal weg, um anständige Waffen zu besorgen.«
»Ja«, sagte ich. »Das klingt wirklich nach Jane.«
»Sie muss die Verluste in Nazca persönlich genommen haben«, meinte Molly.
»Jane ist Soldatin«, antwortete ich. »Sie hat in Dämonenkriegen gekämpft und ganze Zivilisationen um sich herum untergehen sehen - wenn Janitscharen Jane glaubt, wir bräuchten bessere Waffen, dann haben wir mehr Ärger, als wir dachten. Aber sie wird schon wieder zurückkommen.«
»Hoffentlich mit anständigen Waffen«, meinte Molly.
»Noch was?«, fragte ich Penny.
»Wenn ich schon mal da bin, würde ich dich gern daran erinnern, was der Innere Zirkel in deiner Abwesenheit beschlossen hat.«
»Ich hab's nicht vergessen«, erwiderte ich.
Penny seufzte. »Ich habe ihnen gesagt, dass du das persönlich nehmen würdest. Sieh mal, Eddie, das hat wirklich nichts mit dir zu tun. Es geht um das, was das Beste für die Familie ist. Niemand sprach davon, dich abzusetzen, wir wollten nur, dass du uns öfter konsultierst.«
»Vertrau mir, Penny. Ich verstehe das.«
Penny seufzte wieder. »Wenn du das tätest, dann würden wir diese Unterhaltung nicht führen. Also, im Interesse des Friedens und guten Willens und um dich nicht öffentlich bloßzustellen, werde ich das Thema wechseln. Du hast eine gute Rede gehalten. Alles, was du sagtest, war richtig. Und im Gegensatz zu Harry, kam das, was du sagtest, direkt von Herzen. Bleib dabei und vielleicht kannst du die Familie doch noch auf deine Seite ziehen.«
»Nur vielleicht?«
»Zu Führungsqualitäten gehört mehr als einfach nur recht zu haben«, meinte Penny. »Du musst inspirieren, motivieren - und wissen, wann man Politik mit den richtigen Leuten machen muss.«
»Und ich dachte, du wolltest das Thema wechseln«, sagte ich. »Lass mich das mal versuchen. Wie geht's Mr. Stich?«
Sie sah mich aufmerksam an und war sofort auf der Hut. »Dem geht's gut. Er gewöhnt sich ein. Seine Vorlesungen sind gestopft voll, auch wenn sich noch keiner ein Herz gefasst hat, ein persönliches Tutorium bei ihm zu belegen. Er ist ein sehr faszinierender Mann. Sehr tiefsinnig. Warum fragst du mich das, Eddie?«
»Weil du eine Menge Zeit mit ihm verbringst.«
»Ich werde nicht fragen, woher du das weißt«, sagte Penny kalt.
»Das ist wohl besser«, pflichtete ich ihr bei.
»Was in meiner Freizeit mache, Eddie, ist meine Angelegenheit. Steck deine Nase also nicht in Dinge, wo das weder gebraucht noch gewünscht ist. Oder Mr. Stich wird sie dir abschneiden.«
Sie stakste davon und selbst ihr durchgedrückter Rücken strahlte Arger aus. Molly sah ihr nach. »Was war denn das jetzt?«
»Scheint, als hätten Mr. Stich und Penny was miteinander laufen.«
»Machst du Witze? Echt? Weiß sie nicht, wer er ist? Wie kann sie nicht wissen, wer und was er ist?«
»Sie weiß es. Sie will es nur nicht glauben. Sie glaubt, sie kann ihn ändern. Und vielleicht kann sie das sogar. Du hast immer gesagt, dass er für dich ein guter Freund war.«
»Ja, klar, aber nur, weil ich wusste, ich kann ihm auf ein Dutzend verschiedene Arten in den Hintern treten, wenn nötig. Ach, zum Teufel. Ich gehe ihr besser nach. Es wird Zeit für ein ernsthaftes Gespräch unter Frauen, und vielleicht sogar für ein Eingreifen. Bis später, Süßer.«
Sie gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, winkte mir mit den Fingern zu und ging hinter Penny her. Und sie beeilte sich. Ich hoffte, dass dieses Eingreifen funktionierte. Eine Sorge weniger hätte ich gut brauchen können.
Ich ging durch das Herrenhaus, ohne bestimmtes Ziel. Ich dachte nur nach. Wenn ich meinen Ratgebern im Inneren Zirkel nicht mehr vertrauen konnte, musste ich mich eben nach neuen Ratgebern umsehen. Vorzugsweise solchen, die mehr von den Realitäten eines tatsächlich stattfindenden Krieges verstanden. Irgendwann hatte ich eine richtig gute Idee, wo ich die finden konnte, und die Tatsache, dass der Innere Zirkel mit dieser Idee auf keinen Fall einverstanden sein würde, machte sie nur noch besser. Ich grinste immer noch vor mich hin, als es in meiner linken Jackentasche wild zu zappeln begann. Ich packte sie mit beiden Händen, rang sie nieder und zog schließlich Merlins Spiegel heraus, der wie ein brünstiger Vibrator in meiner Hand zitterte und sich schüttelte. Schließlich sprang er mir aus den Fingern, wuchs rapide an und hing dann vor mir in der Luft, ein Tor, durch das ich in die alte Bibliothek sehen konnte. Regale über Regale von Büchern, in einem warmen, goldenen Schimmer, begleitet von dem leisen Geräusch eines Selbstgesprächs. William Drood erschien auf einmal im Rahmen und nickte brüsk zu mir hin.
»Keine Panik, das bin nur ich. Ich muss privat mit dir reden, also habe ich den Spiegel von hier aus aktiviert.«
»Ich wusste gar nicht, dass du das kannst«, sagte ich.
Er schnaubte laut. »Es gibt einiges, was du über den Spiegel nicht weißt, Junge, und ich habe keine Zeit, dich vor allem zu warnen. Überflüssig zu sagen, dass es ein Ding ist, dass von dem berüchtigten Merlin Satansbrut konstruiert wurde. Der Haken liegt schon im Namen.«
»Bitte klingel das nächste Mal oder so etwas in der Art«, sagte ich. »Du hast mir echt Angst eingejagt.«
»Du hattest Glück, dass ich einen Vibratormodus improvisieren konnte. Die Bedienungsanleitung sieht einen sehr lauten Gongschlag vor. Aber jetzt pass mal auf, Edwin. Ich muss dich sprechen. Hier in der alten Bibliothek, wo niemand uns belauschen kann. Na los, komm schon durch das Tor. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
Ich seufzte lautlos. Es war noch nicht allzulange her, dass ich hier die Befehle gegeben hatte. Ich trat durch die Öffnung in die alte Bibliothek. Der Spiegel schrumpfte auf der Stelle zu normaler Größe und schlüpfte in meine Tasche zurück. Ich hatte auch nicht gewusst, dass er das konnte. Sobald ich Zeit hatte, nahm ich mir vor, würde ich die Bedienungsanleitung genauer studieren.
William wuchtete einen in Leder gebundenen Folianten auf ein Lesepult aus Messing und blätterte schneller durch die Seiten, als für so ein altes Buch gut sein konnte. Er fand bald die richtige Stelle und begann, sie hastig murmelnd zu lesen. Dabei folgte er den Zeilen mit der Fingerspitze. Ich wartete darauf, dass er mich einweihte, in was auch immer so wichtig sein mochte, mich so umgehend zu sich zu zitieren. Aber er schien vergessen zu haben, warum ich hier war. Ich fand einen Stuhl und setzte mich, um abzuwarten.
Jedes Mal, wenn ich dachte, dass es William besser ginge, verfiel er wieder in diesen Seltsamer-John-Modus.
Der jüngere Bibliothekar, Rafe, erschien hinter den sich auftürmenden Buchbergen mit einer Tasse dampfendem Tee, die ich dankbar annahm. Rafe sah liebevoll auf William und beugte sich vor, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. »Du musst dem alten Kauz ein paar Zugeständnisse machen. Wir sind beide die ganze Nacht wach gewesen, um nach den Informationen zu suchen, die du haben wolltest. Die alte Bibliothek hat Kopien von Büchern, von denen ich nicht mal im Traum erwartet habe, dass es sie gibt und einige davon sind so gefährlich, dass wir ein paar niedere Exorzismen durchführen mussten, bevor wir uns ihnen überhaupt nähern konnten. William ist allerdings wirklich ein Juwel. Er sprang von einem Hinweis zum nächsten, folgte der Spur von Band zu Band, von Pergamentrollen zu Manuskripten und antiken Traktaten, die tatsächlich in dünne Platten von gehämmertem Gold eingraviert sind. Ich habe versucht, ihn zu einer Pause zu überreden, aber er ist schon so, seit du ihm dieses kandarianische Artefakt gezeigt hast.«
»Verdammt«, sagte ich. »So wichtig war das nun auch wieder nicht. Ist er wirklich die ganze Nacht und diesen Morgen schon wach?«
»Ja, das ist er«, sagte William und sah nicht einmal von seiner Lektüre auf. »Und es ist in der Tat so wichtig. Ich bin nicht taub, wisst ihr. Ich kann jedes Wort von dem hören, was ihr sagt. Also, Eddie, ich habe eine Menge Referenzen zu Kandar und den Eindringlingen gefunden. Die meisten von ihnen sind ziemlich besorgniserregend und von jedem einzelnen solltest du sofort erfahren. Deshalb habe ich dich hergeholt. Rafe, wo ist die Tasse Tee, um die ich dich gebeten hatte?«
Rafe sah mich an, aber ich hatte schon das meiste davon getrunken.
»Ich gehe noch eine Tasse holen«, sagte Rafe.
»Macht nichts, macht nichts, bleib hier, Rafe. Ich will, dass du das genauso hörst wie Edwin. Sorg dafür, dass du nichts verpasst, ich bin nicht mehr so genau wie früher einmal. Also aufgepasst, Edwin! Das ist wichtig! Die ganze Familie muss davon erfahren.«
Seine Stimme wurde quengelig. Rafe zog einen Stuhl heran und William sank dankbar hinein. Er rieb sich müde die Stirn und sah plötzlich älter aus, verstört und sein Blick wurde beunruhigend vage. Als er seine Hand sinken ließ, zitterte sie sichtbar.
»Ich wollte zu der Beerdigung gehen«, sagte er auf einmal. »Rafe?«
»Wir haben sie verpasst«, sagte Rafe. »Ich hab es dir gesagt, aber du sagtest, die Arbeit sei wichtiger.«
»Und das ist sie auch! Ich wollte wirklich gehen, aber … was wollte ich sagen?«
»Vielleicht solltest du in dein Zimmer gehen und dich ein wenig hinlegen«, sagte ich. »Damit du wieder zu Kräften kommst.«
»Nein!«, antwortete William prompt. »Mit mir ist alles in Ordnung! Und wir haben keine Zeit, keine Zeit! Außerdem gefällt es mir hier. Ich bin noch nicht so weit, mich mit Leuten zu treffen.«
»Aber du bist hier zu Hause«, sagte ich. »In der Familie.«
»Besonders Familie will ich nicht treffen«, meinte William entschieden. »Ich will nicht, dass mich irgendeiner von ihnen so sieht. Ich bin noch nicht ganz wieder da. Ich habe die Identität des Seltsamen John zu lange vorgeschützt, und es ist schwer, sie wieder abzulegen. Manchmal frage ich mich, ob er vielleicht mein wirkliches Ich ist und William ist nur eine Erinnerung an jemanden, der ich einmal vor langer Zeit war. Ich will nicht in mein Zimmer gehen. Mir gefällt es hier. Ich finde die Bücher beruhigend. Und Rafe. Du bist ein guter Junge, Rafe. Eines Tages wirst du ein hervorragender Bibliothekar werden.«
»Alles wird gut, William«, versicherte ich ihm. »Du brauchst nur etwas Zeit, um dich einzugewöhnen.«
Er schien mich nicht zu hören und sah sich unkonzentriert und besorgt um. »Ich höre Dinge. Sehe Dinge. Immer von der Seite, wo ich sie nicht festnageln kann. Ich dachte, das würde aufhören, wenn ich Fröhliches Delirium verlasse. Vielleicht sind sie mir hierhin gefolgt.« Er legte die Hände im Schoß zusammen, damit sie nicht zitterten und sah mich an. »Ich denke, dass das Herz mir, meinem Verstand, etwas angetan hat. Um mich davon abzuhalten, zu erzählen, was ich wusste. Und ich denke, was auch immer es getan hat, es passiert immer noch.«
»Das Herz ist nicht mehr da«, sagte ich fest. »Weg und zerstört. Es kann dir nichts mehr tun.«
Er schüttelte langsam den Kopf, rang die Hände und murmelte etwas in sich hinein. Ich stand langsam auf. Was für eine Information William auch gefunden hatte oder geglaubt hatte, zu finden - man konnte sich ganz klar nicht darauf verlassen. Vielleicht konnte Rafe später etwas Sinnvolles herausfinden. Und dann blieb ich urplötzlich stehen, als William abrupt aufstand und mir böse in die Augen starrte.
»Und was glaubst du, wo du hingehst, Junge? Nur weil ich einen schlechten Moment hatte? Du wolltest etwas über die Kandarianer und die Eindringlinge wissen und ich weiß alles, was du wissen musst. Alles, was die Familie wissen muss. Also setz dich wieder hin und hör zu.«
Seine Augen waren wieder klar und konzentriert und seine Präsenz beinahe überwältigend. Als ob er einen inneren Schalter umgelegt hatte und den alten William wieder geweckt und an die Oberfläche geholt hatte. Ich setzte mich wieder und William verfiel in einen Oberlehrer-Modus.
»Die Kandarianer haben sich selbst mächtig gemacht, in dem sie freiwillig ihre Körper andersdimensionalen Kräften überlassen haben«, sagte er mit klarer Stimme. »Das Ergebnis war, dass ihre Krieger übermenschlich stark waren, schnell und unglaublich resistent gegenüber Schmerz oder Verletzungen. Erinnert dich das an etwas? Ja, genau wie unsere Familie haben die Kandarianer einen Handel mit einer höheren Macht abgeschlossen, aber sie waren nie zufrieden. Sie wollten immer mehr, und haben so immer neue Handel mit immer neuen Wesen getätigt. Je mehr Länder und Zivilisationen sie um sich herum eroberten und ihr böses Reich des Schlachtens und der Folter und des Schreckens über immer größere Gebiete hin ausweiteten, desto stärker mussten sie werden, um das zu behalten, was sie schon hatten. Am Ende verbündeten sich ihre Feinde miteinander, um die Kandarianische Expansion zu stoppen. Die Kandarianer fanden das inakzeptabel. Sie hatten viel zu viel Spaß dabei. Also machten sie sich entschlossen daran, noch stärker und noch mächtiger zu werden, egal, was es kostete. Sie wollten Götter auf Erden werden. Also schlossen sie noch einen Handel ab, mit denen, die wir als die Abscheulichen kennen, die wiederum die Kandarianer den Eindringlingen vorstellten; sehr mächtigen Wesen außerhalb unserer Raumzeit. Und das war der erste Fehler der Kandarianer, denn der Kontakt mit den Eindringlingen ließ die Kandarianer wahnsinnig werden. Alle. Sie wandten sich gegeneinander und löschten ihre ganze Rasse und Zivilisation in einer einzigen Nacht des Todes und der Zerstörung aus. Sie taten sich selbst das an, was sie so viele Jahre allen anderen angetan hatten.
Keiner von ihnen überlebte.
Sie wussten aber auch nicht, was wir heute wissen. Dass es eigentlich keine Abscheulichen in diesem Sinne gibt. Nicht als eigene Entitäten. Sie sind nur die Vorboten von wesentlich größeren Wesenheiten in unserer Realität. Die Fingerspitzen der Eindringlinge, wenn man so will. Denk dir die Abscheulichen als Trojanische Pferde, durch die die Eindringlinge einen Fuß in unsere Realität bekommen. Die Eindringlinge haben in vielen Kulturen ebenso viele Namen, und sie werden von jedem gefürchtet, der auch nur zwei miteinander verbundene Hirnzellen hat. Die Vielwinkligen, der Horror aus dem Jenseits, die Hungrigen Götter. Es sind Wesen aus einer höheren Realität, die sich davon ernähren, in untere Realitäten wie der unseren vorzustoßen und uns zu verschlingen. Sie ernähren sich von Leben, von allem Lebendigen, beim größten angefangen bis hin zum kleinsten Wesen. Sie fressen Welten, löschen ganze Realitäten und bewegen sich immer von einer zur nächsten wie kosmische Heuschrecken.
Als unsere Familie das erste Mal einen Deal mit den Abscheulichen abschloss und sie in unsere Welt brachte, um als Waffe gegen die Nazis zu dienen, haben wir unwissentlich die Eindringlinge auf unsere Welt, unsere Realität aufmerksam gemacht. Und obwohl wir sehr darauf bedacht waren, nur ein paar Abscheuliche in unsere Welt zu bringen, die wir auch - so dachten wir - kontrollieren können, haben wir dennoch eine Tür geöffnet, die nie korrekt wieder geschlossen wurde. Natürlich haben sich die Abscheulichen unserer Kontrolle entzogen. Über die Jahre haben sie sowohl an Zahl als auch an Macht zugelegt, bis sie endlich so weit waren, die Eindringlinge zu uns durchkommen zu lassen. Damit sie uns verschlingen können. Damit sie alles verschlingen können. Alles Leben, die ganze Schöpfung. Wir müssen es aufhalten, Edwin, weil wir es auch angefangen haben.«
William hörte auf zu sprechen, stand gerade und groß vor mir und sah mich erwartungsvoll an. Ich sah zu Rafe.
»Er übertreibt nicht«, sagte Rafe. Seine Stimme war fest, auch wenn sein Gesicht blass und verschwitzt wirkte. »Ich habe all die Quellen gecheckt. Es steht alles in den Büchern. Nur hat das alles vor William noch niemand zu einem Ganzen zusammengesetzt.«
»Okay«, sagte ich, nur ein wenig unsicher. »Das ist echt größer, als wir dachten. Wie bekämpfen wir diese … Eindringlinge?«
»Das kann man nicht«, sagte William knapp. »Wenn sie durchbrechen, dann ist es vorbei. Wir müssen die Abscheulichen daran hindern, ihre Türme zu bauen. Sie auslöschen, bis auf den allerletzten. Oder wir werden nicht sicher sein.«
»Und … es fehlen einige Bücher«, sagte Rafe. »Wichtige Bücher. Ich vermute, dass die Null-Toleranz-Fanatiker sie genommen haben, vielleicht, um sie an Truman und das Manifeste Schicksal weiterzugeben. Oder vielleicht haben sie sie auch zerstört, damit niemand die Wahrheit kennt. Weißt du, diese Bücher beschrieben den ursprünglichen Deal der Familie mit den Abscheulichen. Was wir ihnen versprochen haben und sie uns. Und möglicherweise auch etwas, um den Handel rückgängig zu machen.«
»Wie viele Bücher fehlen denn?«, fragte ich.
»Wir stellen gerade eine Liste auf«, sagte Rafe. »Eine ganze Sektion der Familiengeschichte fehlt. Es dürfte dich nicht überraschen, dass ausgerechnet die Bände fehlen, die uns vielleicht verraten hätten, wer ursprünglich vorgeschlagen hatte, die Abscheulichen zu kontaktieren und warum.«
»Ich dachte immer, dass das auf die vorige Matriarchin zurückging, Urgroßmutter Sarah«, meinte ich langsam.
»Ich denke, es ist komplizierter«, sagte Rafe. »Ich habe mich durch ein paar Begleittexte gewühlt: inoffizielle Familiengeschichte, persönliche Tagebücher und dergleichen. Es scheint, dass andere, vernünftigere Möglichkeiten zugunsten der Abscheulichen außer Acht gelassen wurden.«
»Was zum Beispiel?«, fragte ich.
»Die Freundlichen«, sagte William. »Die Brigade der Unendlichkeit, die Zeitmeister. All die üblichen Verdächtigen, alle der Menschheit gegenüber viel freundlicher eingestellt als eine Bande degenerierter Seelenfresser. Aber irgendjemand hoch in der Familienhierarchie bestand auf den Abscheulichen, gegen jede Vernunft. Ich muss mich fragen … ob es vielleicht einen Verräter innerhalb der Familie gab. Vielleicht jemanden, der schon von den Abscheulichen übernommen war.«
Meine Nackenhaare stellten sich auf. »Ein infizierter Drood, mitten im Herz der Familie? Könnte es noch andere geben, mitten unter uns?«
»Das ist möglich«, sagte Rafe. »Wir sind mit den Jahren zu selbstgefällig geworden. Der Waffenmeister könnte etwas entwickeln, damit wir so etwas wie einen Test haben.«
»Ich werde mit ihm reden«, sagte ich. »Einen Verräter in der Familie …! Vielleicht sind deshalb bei Nazca so unerwartet viele Drohnen aufgetaucht. Sie wussten, dass wir kommen würden. Jemand hat ihnen einen Tipp gegeben.«
»Wird irgendjemand vermisst, seit ihr wieder da seid?«, fragte Rafe.
»Nur Janitscharen Jane, aber … Nein. Warte mal einen Moment.« Ich zog eine Grimasse. Mir gefiel nicht, wo meine Gedanken mich hinführten. »Sie war gerade erst von einem Dämonenkrieg zurückgekehrt, als ich sie fand. Sie sagte, sie sei die einzige Überlebende gewesen … und jetzt muss ich mich fragen, warum.«
Unsere Köpfe fuhren herum, als hinter uns plötzlich ein leises, verstohlenes Geräusch zwischen den Bücherstapeln zu hören war, nicht sehr weit weg. Ich war im gleichen Moment auf den Beinen, tauchte durch die turmhohen Bücherregale, Rafe und William dicht auf den Fersen. Und da war der Blaue Elf mit einem Stapel Bücher in den Armen. Er versuchte nicht einmal, sich zu verstecken oder wegzulaufen. Er lächelte uns drei schnell an und gab sich Mühe, besonders stillzustehen.
»Hallo!«, sagte er. »Achtet gar nicht auf mich. Ich bin nur hier, um mir was Einfaches zu lesen zu holen.«
»Das ist die alte Bibliothek«, sagte ich. »Die ist für jeden gesperrtes Terrain, aber besonders für dich.«
»Wie ausgesprochen unfreundlich«, erwiderte der Blaue Elf. »Man könnte glatt glauben, du misstraust mir.«
»Das sind verbotene Texte«, grollte William. »Selten und wichtig und überaus wertvoll. Leg sie dorthin. Vorsichtig.«
»Natürlich, natürlich«, sagte der Blaue Elf. Er lächelte immer noch sein strahlendes und ungetrübtes Lächeln. Er ließ den Bücherstapel langsam und vorsichtig auf den Boden sinken und hielt dann beide Hände hoch, um uns zu zeigen, dass sie leer waren, bevor er von dem Haufen zurücktrat. »Können wir uns jetzt wieder ein bisschen beruhigen, bitte? Ich meine, wir sind doch alle gute Freunde, oder? Wir sind alle auf derselben Seite?«
Ich schenkte ihm meinen besten mörderischen Blick. Ich hatte immer angenommen, dass der Blaue Elf hauptsächlich deshalb mit ins Herrenhaus gekommen war, weil er glaubte, er müsse sich vor seinen zahlreichen Feinden schützen. Wie den Vodyanoi-Brüdern. Und nur in zweiter Linie, um gute Werke für die Erlösung seiner befleckten Seele zu tun. Immerhin, selbst wenn man alles bedachte, war der Blaue Elf doch immer noch halb Elb und einem Elben kann man niemals trauen.
»Wonach genau suchst du?«, fragte ich.
»Ich war interessiert an allem, was deine Familie mit den Elben zu schaffen hatte«, erwiderte der Blaue Elf sofort. »Ich weiß wirklich nicht viel über Papas Familienseite. Vollblutelben sprechen nicht mit Halbblütern. Unsere pure Existenz ist ein Tabu für sie. Aber als ich dich hier gesehen habe, Eddie, zwischen all den Deinen, hat mich das neugierig auf meine eigene Familie gemacht. Du kennst deine Wurzeln, weißt, wer du bist und woher du kommst. Das wusste ich nie.«
Jedem anderen hätte ich geglaubt, aber das hier war der Blaue Elf - also …
»Das nächste Mal fragst du erst um Erlaubnis«, sagte ich. »Wie bist du überhaupt hier hereingekommen? Die Schutzschilde, die ich rund um das Porträt installiert habe, hätten dich bei lebendigem Leib fressen sollen.«
»Oh, ich bitte dich«, sagte der Blaue Elf mit einem leichten Wedeln seiner eleganten Hand. »Ich bin immerhin ein Profi. Ich bin schon von besser bewachte Orte wieder weggekommen, als du noch nicht geboren warst.« Und dann zögerte er und sah mich seltsam an. »Ich habe unfreiwillig einiges von dem faszinierenden Diskurs des Bibliothekars über die Kandarianer gehört. Mir ist, als hätte ich etwas über sie gelesen und ihre Beziehung zu den Elben. Der Elbenhof war schon alt, als die Kandarianer mit dem Aufbau ihres sehr unerfreulichen Imperiums begannen und es wird gesagt, dass es die Elben waren, die die Kandarianer den Abscheulichen vorgestellt haben, um sie damit zu vernichten. Hüte dich vor den Elben, Eddie, sie haben immer eigene Pläne.«
Er drehte sich um und ging davon. Ich sah ihm hinterher und fragte mich, ob er vielleicht, in seiner sehr seltsamen Art, etwas sehr Wichtiges über sich selbst hatte sagen wollen.
Ich verließ die alte Bibliothek mit einer Menge Gedanken im Kopf. Ich hatte eine Menge wichtiger Sachen gelernt, die mich beinahe alle erschreckt hatten. Doch das alles überzeugte mich nur noch mehr davon, dass ich mit meinem geheimen Plan fortfahren musste. Wenn ich einen Krieg gegen Hungrige Götter, bei dem die gesamte Realität auf dem Spiel stand, zu führen hatte, dann wollte ich wirklich ernst zu nehmende Unterstützung haben. Zuerst brauchte ich einen Ort, an dem mich niemand stören würde. Denn ich wollte Merlins Spiegel in einer Art benutzen, mit dem absolut jeder in der Familie ganz und gar nicht einverstanden sein würde. Also verließ ich das Herrenhaus und ging in die alte Kapelle, die vom Haus aus gesehen in einem toten Winkel lag. Jacob hatte hier herumgespukt, bis ich ihn wieder in die Familie gebracht hatte. Die Kapelle war für Familienmitglieder jahrhundertelang verboten gewesen, weil Jacob hier wohnte, und während er möglicherweise die Kapelle verlassen hatte, hatte sich niemand die Mühe gemacht, den Bann zu lösen.
Ich ging vorsichtig auf die Kapelle zu, aber die dicke Matte aus Efeu, die die hölzerne Tür halb bedeckte, rührte sich nicht im Geringsten. Als Jacob noch hier gehaust hatte, hatte der Efeu als eine Art Frühwarnsystem fungiert, um sicherzustellen, dass er ungestört blieb - aber jetzt war er weg und der Efeu war einfach nur Efeu. Die Tür stand wie immer halb offen und ich musste mich mit der Schulter gegen das schwere Holz stemmen, um hineinzukommen. Die Tür kratzte laut über den bloßen Steinboden und ließ beißende Staubwolken aufwirbeln. Ich hustete ein paar Mal und rief Jacobs Namen. Ich hoffte halb er sei da … doch niemand antwortete.
Jacob war weg.
Die Kirchenbänke waren immer noch an der gegenüberliegenden Wand aufgestapelt und bedeckt von staubigen Spinnweben. Der große schwarze Lederarmsessel stand immer noch vor dem altmodischen Fernseher. Es war nur zu einfach, sich an Jacob zu erinnern, wie er sich bequem in seinen Sessel gelümmelt hatte, und sich die Erinnerungen an alte Fernsehsendungen auf einem Bildschirm angesehen hatte, an dem nichts mehr funktionierte. Der alte Kühlschrank stand immer noch neben dem Sessel, aber als ich ihn öffnete, war er leer. Ich schloss die Tür wieder und setzte mich auf den Sessel. Das alte Leder krachte klagend unter meinem Gewicht.
Ich wünschte mir, dass Jacob immer noch da wäre. Vielleicht wäre er der Einzige gewesen, der dazu imstande war, mir das auszureden, was ich zu tun beabsichtigte. Ich wollte keinen Krieg führen. Mir fehlte die Erfahrung. Die Nazca-Ebene hatte das bewiesen. Ich wollte lieber verdammt sein, als noch mehr Mitglieder der Familie wegen mir sterben zu sehen. Ich brauchte die Hilfe und die Unterstützung von Experten, von wirklichen Kriegern und Taktikern, die mir helfen konnten, die Schlachten im kommenden Krieg zu planen. Und weil es nicht sehr wahrscheinlich war, dass ich solche Experten hier in der Gegenwart fand, musste ich eben in der Vergangenheit nach ihnen suchen - oder in der Zukunft.
Der Waffenmeister hatte mir verboten, das zu tun. Aber ich war ja noch nie gut darin gewesen, auf das zu hören, was mir meine Familie sagte.
Ich nahm Merlins Spiegel heraus. Ich sah ihn eine Weile einfach an und drehte und wendete ihn in meinen Händen. Ich war nicht blind gegenüber den Risiken dessen, was ich zu tun gedachte. Aber die Familie musste beschützt werden. Ich schüttelte den Spiegel zu voller Größe und er hing vor mir in der Luft. Seine Oberfläche bestand aus schimmernder Leere.
»Öffne dich selbst in die Vergangenheit«, sagte ich entschlossen. »Und finde mir den besten Krieger, den besten Strategen, um mir im kommenden Krieg zu helfen. Finde mir einen guten und loyalen Mann, jemanden, dem ich vertrauen kann. Finde mir das perfekte Individuum, um zu tun, was ich brauche.«
Der Spiegel fokussierte sich im Bruchteil einer Sekunde und zeigte mir ein klares Bild von - Jacob Drood. Zuerst dachte ich, der Spiegel hätte mich missverstanden und einfach nur den Geist von Jacob gezeigt, weil er mir im Kopf herumspukte. Aber je länger ich in das Bild sah, desto deutlicher wurde, dass das Bild, das ich sah, nicht irgendein Geist war. Das war der wirkliche Jacob, der Lebendige - vor langer, langer Zeit. Er sah so viel jünger aus, und weniger kompliziert.
Während ich das Bild anstarrte, brach es mit einem Mal in Bewegung aus und ich sah durch ein Fenster in eine Vergangenheit, in der der lebende Jacob eine kichernde junge Frau in der Kapelle herumscheuchte. Er grinste breit, jagte sie in die korrekt aufgestellten Kirchenbänke hinein und wieder hinaus und das Mädchen blieb ihm sorgfältig nur gerade so viel voraus, dass er ermutigt wurde. Ihre Kleidung suggerierte, dass es sich um das späte achtzehnte Jahrhundert handelte, auch wenn ich noch nie gut in Geschichten und Daten gewesen war.
Ich musste irgendein Geräusch verursacht haben, weil sie beide mit einem Mal innehielten und scharf in meine Richtung sahen. Sie schrien nicht auf oder schienen besonders erschrocken oder verwirrt, immerhin waren sie Droods. Ich konnte die goldenen Reifen um ihren Hals sehen.
Trotzdem stellte Jacob sich schnell zwischen die junge Frau und den Mann, der sie durch ein Loch in der Luft hindurch anstarrte. Ich hielt meine Hände hoch, um zu zeigen, dass sie leer waren, und schenkte ihnen mein beruhigendstes Lächeln.
»Ist schon in Ordnung, Jacob«, sagte ich schnell. »Es ist in Ordnung, ich bin von der Familie. Ich bin Edwin Drood und spreche aus der Zukunft mit dir. Dem einundzwanzigsten Jahrhundert, um genau zu sein. Die Familie braucht dich, Jacob.«
»Wenn Ihr von der Familie seid, so zeigt mir Euren Torques!«, meinte er.
Ich zog mein Hemd auf, um ihm meinen Reifen um den Hals zu zeigen. Jacob hob eine Augenbraue.
»Ein silberner Torques, kein goldener. Hat der Familieneifer so nachgelassen, in Eurer zukünftigen Zeit?«
»Es gab einige Änderungen«, sagte ich. »Aber die Familie besteht immer noch. Du würdest immer noch erkennen, wer wir sind und was wir tun. Die Welt muss immer noch vor vielen Gefahren beschützt werden.«
Jacob nickte langsam, dann drehte er sich zu der jungen Frau um, klatschte ihr fest aufs Hinterteil und bugsierte sie zur Kapellentür hinaus. »Fort mit dir, Jungfer. Das ist eine Sache für Männer.«
Sie kicherte, gab ihm ein letztes keckes Winken und eilte einigermaßen glücklich aus der Kapelle. Ich machte mir eine gedankliche Notiz darüber, Jacob zu sagen, dass er das in meiner Zeit besser nicht versuchte.
»Das hübscheste Hinterteil im ganzen Herrenhaus«, sagte Jacob fröhlich.
»Kann sein«, sagte ich. »Aber warum die Kapelle?«
»Weil die Familie mich aller anderen Gemächer verwiesen hat«, sagte Jacob. »Mir scheint, als sei die Moral deiner Zeit doch sehr geändert und Vergnügen nicht mehr in Mode.« Jacob sah mich augenzwinkernd an. »Aus der Zukunft, sagt Ihr. Darf meine Wenigkeit fragen, wie es kömmt, dass Ihr hier seid und vermögt, mit mir zu sprechen?«
»Merlins Spiegel«, sagte ich und Jacob nickte sofort.
»Ich hatte gedacht, dass dieses tückische und gefährliche Objekt bereits lange verloren sei und dies zu Recht. Die Euren müssen in der Tat verzweifelt sein, auf ein solches Ding zu vertrauen.« Jacob sah mich nachdenklich an. »Wie kommt es, dass ein Mann aus solch zukünftigen Zeiten mein Gesicht kennt und mich beim Namen ruft? Bin ich wohl berühmt und eine Legende in unserer Familie?«
»So in der Art«, sagte ich. »Du musst mit mir in die Zukunft kommen, Jacob, um der Familie zu helfen. Wirst du mitkommen?«
»Zeitreisen sind verboten, nur die Matriarchin kann es ausdrücklich erlauben«, sagte Jacob langsam. »Aber sagt mir, junger Herr, wie geht es in der Welt Eurer Zeit zu? Was gibt es Neues an Wundern und Mirakeln?«
»Komm und find's raus.«
»Ein Verführer!«, meinte Jacob lächelnd. »Ich sollte gestehen, dass die Familie in dieser Zeit nicht recht glücklich ist mit mir. Ich fühle mich in meiner Zeit nicht wohl platziert. Vielleicht kann etwas Abstand meiner Familie ermöglichen, mich mit freundlicheren Augen zu betrachten. Nun! Alles für die Familie, junger Edwin!«
Ich streckte die Hand aus; durch das Portal und durch die Jahre und Jacob nahm sie. Es war ein echter Schock, seine Hand in Fleisch und Blut in meiner zu fühlen. Ich zog ihn durch Merlins Spiegel, aus seiner Zeit in meine hinüber und das Tor schloss sich sofort. Jacob ließ meine Hand los und sah sich um. Er war ganz offensichtlich geschockt vom Zustand der Kapelle, die (für ihn) von einem Moment auf den anderen von dem ordentlichen Heiligtum zu dem schmutzigen, verlassenen und hab verfallenen Ort wurde, der sie in meiner Gegenwart war. Er wollte etwas sagen - aber in diesem Moment erschien Jacobs Geist aus dem Nichts und schwebte über uns. Er wies mit einer zitternden, geschrumpften Hand auf mich. Seine Stimme hallte heulend in meinen Kopf wider wie die einer verdammten Seele.
Was hast du getan? Was hast du getan!
Er verschwand. Jacob packte mich fest am Arm. »Was im Namen unseres Herrgotts war das?«
»Ich glaube nicht, dass ich dir das sagen kann«, sagte ich nach einem Moment. »Das muss ich selbst noch herausfinden.«
Ich löste seine Finger von meinem Arm und benutzte dann Merlins Spiegel, um ein Portal zwischen der Kapelle und der alten Bibliothek zu öffnen. Ich rief nach Rafe und er kam sofort angetrabt.
»Das hier ist Jacob Drood«, sagte ich munter. »Ja, genau, der Jacob. Ich habe ihn aus der Vergangenheit geholt, um uns zu helfen. Du musst für mich nach ihm sehen, ihn auf den neuesten Stand bringen und ihm alles erzählen, was er wissen muss; und nein, ich werde zu diesem Zeitpunkt keine Fragen beantworten. Mach es einfach, okay?«
»Du machst dir richtig gerne Arger, stimmt's?«, meinte Rafe. »Warum erschießt du nicht einen der Albatrosse hier und bringst es hinter dich? Komm mit mir Jacob, und ich tue mein Bestes, um das unglaubliche Chaos zu erklären, in das du hier hereingeraten bist.«
»Ah, schöne, neue Welt, die solche Geheimnisse birgt«, sagte Jacob trocken. »Es scheint mir, als sei die Familie dieser Zeiten nicht gar so anders als die Familie, die ich kenne.«
Ich schob ihn durch das Portal und schloss den Spiegel, bevor einer von ihnen irgendwelche seltsamen Fragen stellen konnte. Ich hatte den Spiegel gebeten, mir den passendsten Kandidaten zu zeigen und er hatte Jacob gewählt. Also war er wohl der richtige Mann für den Job. Er musste es einfach sein. Ich seufzte schwer, sah mich in der leeren Kapelle um und hob meine Stimme in der staubigen Stille.
»Okay, Jacob, du kannst jetzt rauskommen.«
Und plötzlich war er da, saß zusammengesunken in seinem Fernsehsessel, eine magere spektrale Präsenz in einem schmutzigen T-Shirt und ausgebeulten Shorts. Sein abstehendes Haar floss um seinen knochigen Kopf, als wäre er unter Wasser und seine Augen waren dunkel und brütend. Er warf mir einen bösen Blick zu, aber der kam nicht von Herzen. Zum ersten Mal, seit ich ihn kannte, sah er alt, müde und geschlagen aus.
»Warum hast du das getan, Edwin? Was hast du geglaubt, dass du tust? Warum hast du mir nicht gesagt, dass du planst, mein lebendes Selbst aus dem Spiegel zu reißen?«
»Der Spiegel Merlins hat behauptet, dass du der bist, den die Familie braucht, um diesen Krieg zu gewinnen«, erwiderte ich. »Aber … du musst gewusst haben, dass ich das vorhabe. Warum hast du mir nichts gesagt?«
»Weil ich mich nicht daran erinnere!« Der Geist des alten Jacob sah traurig auf den leeren Fernseher und kurze Bilder des lebenden Jacob in seiner eigenen Zeit flackerten über den staubigen Bildschirm, und er tat all die alltäglichen Dinge, die die Lebenden taten … doch es war nur ein Potpourri von Erinnerungen, nach einem kurzen Moment wieder verschwunden.
»So viel meiner Vergangenheit ist für mich verloren«, sagte Jacob sanft. »Mein Leben ist heute so lange her. Nachdem ich starb, habe ich Jahrhunderte hier verbracht, nur mit Sitzen und Warten. Ich habe auf die wichtigen Dinge gewartet, die ich zu tun hatte - und habe so lange gewartet, dass ich schließlich vergessen habe, worauf ich eigentlich wartete. Ich wusste, dass du wichtig bist, von dem Moment an, als ich dich als Kind zum ersten Mal gesehen habe. Ich habe mich tatsächlich daran erinnert, dass ich dir helfen musste, die Kontrolle über die Familie von der Matriarchin zu erringen, aber ich weiß immer noch nicht, warum. Da ist noch etwas anderes, weshalb ich hier bin, Eddie, als nur die Zerstörung des Herzens. Da ist etwas, das ich tun muss, etwas Wichtiges … Aber ich weiß nicht, was!« Er sah auf und fixierte mich mit stählernem Blick. »Aber ich erinnere mich jetzt an etwas, Eddie. Du hast mich hierhergebracht, in diese Zeit, um zu sterben. Du bist derjenige, der mich zu dem macht oder machen wird, was ich bin.«
»Aber … wie?«, fragte ich. Meine Kehle war ausgetrocknet, meine Stimme nur ein Flüstern.
»Ich weiß es nicht. Lass uns nur hoffen, dass es ein guter Tod sein wird. Für die Familie.«
»Nein«, sagte ich. »Ich werde das nicht zulassen.«
»Das kannst du nicht verhindern. Du darfst es nicht einmal.«
»Ich könnte dich zurückschicken. Dein lebendes Ich. Wir öffnen einfach das Tor und …«
»Aber das wirst du nicht tun. Weil du mich brauchst.«
»Jacob …«, sagte ich.
Er nickte schroff. »Ich weiß, Junge. Ich weiß.«
»Du warst mein erster wirklicher Freund«, sagte ich. »Und abgesehen von Onkel James, die einzige wirkliche Familie, die ich je hatte. Du und James wart die Einzigen, die mir je etwas bedeutet haben. Und jetzt sagst du mir, dass ich auch für deinen Tod verantwortlich sein soll? Nein. Nein, ich kann das nicht zulassen. Nicht schon wieder. Ich habe schon einen Vater getötet, ich kann nicht noch einen töten!«
»Die Zeit ist nicht fix«, sagte Jacob freundlich. »Aber … wenn ich nicht sterbe, wie ich soll, werde ich nicht hier sein, wenn du es brauchst. Werde nicht hier sein, um dir zu helfen, das Herz zu besiegen. Die Familie kommt immer an erster Stelle, Eddie. Ich bin froh, dass ich dich getroffen habe, mein Junge. Du warst es wert, darauf zu warten. Du bist der Sohn, den ich nie hatte. Und jetzt trockne deine Augen und tu, was du tun musst. Das Ganze hat einen Zweck, eine Bestimmung, die wir zu erfüllen haben. Zumindest daran erinnere ich mich.«
»Warum hast du mir das verheimlicht?«, fragte ich, als ich meine Stimme wieder im Griff hatte.
»Weil ich das Gefühl hatte, dass etwas Schlimmes passieren würde. Ich brauche Zeit für mich, ungestört, um mich selbst dazu zu bringen, mich zu erinnern, was ich tun soll. Bevor es zu spät ist. Komm nicht, um nach mir sehen, Eddie. Und sag meinem lebenden Ich nichts von … mir. Nur für den Fall, dass du nach einem Ausweg suchst.«
Er grinste und zwinkerte mit einem glühenden Auge, verschwand aus seinem Sessel und ließ mich in der Kapelle allein.
Wenn man bedachte wie der erste Versuch, mit der Zeit herumzuspielen, gelaufen war, war ich nicht scharf darauf, es ein weiteres Mal zu probieren. Aber Notwendigkeit, Pflicht und Jacobs Ermutigung trieben mich an. Ich brauchte immer noch Hilfe, vielleicht mehr denn je und der einzige Platz, an dem ich noch suchen konnte, war unter den zukünftigen Sprösslingen meiner Familie. Außerdem war ich wie immer stur. Also ließ ich Merlins Spiegel wieder los und instruierte ihn, mir die Zukunft zu zeigen.
»Zeig mir, wie das Herrenhaus in hundert Jahren aussieht«, sagte ich. Das schien mir sicher genug zu sein.
Das Portal öffnete sich und zeigte mir ein Bild des Herrenhauses, groß und stolz auf seinen weiten Parkflächen. Das alte Haus sah verdammt viel größer aus. Komplette neue Flügel waren angebaut worden und ein großer Steinturm stand auf jeder Seite. Luftschiffe einer unbekannten Art summten wie schlanke, schwarze Wespen um das Flugfeld hinter dem Haus und da waren Kinder, Hunderte von Kindern, die frei und fröhlich auf den grünen Wiesen herumrannten. Und dann änderte sich das Bild plötzlich und zeigte mir ein anderes Herrenhaus. Es war eine Ruine; zerbrochener Stein und zerbröckelnde Ziegel, alle Fenster dunkel. Der Park war ein wuchernder Dschungel seltsamer und fremder Pflanzen, die sich bis zum Herrenhaus selbst hinzogen wie eine solide grüne Welle. Kriechpflanzen krochen aus den Fenstern, Bäume barsten aus zerbrochenem Mauerwerk. Von der Familie keine Spur, nirgendwo.
Das Bild wechselte erneut. Diesmal war das Herrenhaus wie ich es kannte fort und war durch eine gewaltige, technische Struktur ersetzt worden, gänzlich aus glänzendem Stahl und Silber und großen blitzenden Fenstern bestehend. Wirbelnde Energien flossen um hohe schimmernde Türme und seltsame Maschinen hüpften über die säuberlich geschnittenen Grünflächen. Über den ganzen Ort flogen Engel voll schrecklicher Schönheit, sangen Kriegslieder und schienen heller als die Sonne …
Die Bilder vor mir änderten sich laufend, schneller und schneller. Alles Mögliche, wahrscheinliche zukünftige Zeiten. Alle gleich real, gleich wahrscheinlich oder unwahrscheinlich. Ich befahl dem Spiegel, damit aufzuhören, dachte eine Weile nach und befahl ihm dann, ein Bild des Herrenhauses in einer Zukunft zu zeigen, in der die Familie darin versagt hatte, die Eindringlinge aufzuhalten.
Diesmal stand das Herrenhaus allein und verlassen auf einer endlosen, verstrahlten Ebene. Kein Lebenszeichen irgendwo, nichts von Horizont zu Horizont, und der wolkenverhangene Himmel war leer. Staub fiel langsam zu Boden, endlos, ungestört selbst von der kleinsten Brise. Kein Anzeichen irgendeines lebenden Wesens. Nichts bewegte sich. Der Himmel war von einem dunklen und düsteren Violett, wie eine Prellung.
Eine tote Welt.
Mir war kalt. Kalt bis auf die Knochen, bis in die Seele. Das war es also, was passieren würde, wenn die Familie versagte. Wenn ich versagte.
Ich wies den Spiegel an, mir zu zeigen, wie das passiert war. Was die Eindringlinge tun würden, wenn sie kämen. Bilder erschienen und verschwanden wieder, aber ich konnte keines wirklich verstehen. Sie waren zu seltsam, zu verschieden, zu anders. Da gab es große Formen, lebende Dinge groß wie Berge, die durch mehr als drei physische Dimensionen strahlten. Sie nur anzusehen, verursachte mir Kopfschmerzen und Übelkeit. Die Zeit schien langsamer zu laufen oder schneller, Landschaften entstanden und fielen wieder zusammen wie Gezeiten, Städte brannten und der Mond fiel vom Himmel. Menschen und andere lebende Wesen rannten schreiend durch verzerrte Straßen, transformierten und mutierten in Dinge, die in einer rationalen Welt nicht hätten existieren dürfen. Aber dennoch hatten sie Bestand, waren auf schreckliche Weise lebendig und sich ihrer selbst bewusst und litten. Eine schwarze Sonne, groß und widerlich, dominierte einen Himmel, der in Flammen stand, bis sie plötzlich explodierte, auseinanderplatzte und all die schrecklichen Dinge ausspuckte, die sie ausgebrütet hatte.
Die Fremdheit nahm zu, bis ich nicht mehr zusehen konnte. Ich wandte mich ab, und fiel plötzlich von Übelkeit geschüttelt auf den kalten Steinboden. Hinter mir waren schreckliche Geräusche zu hören. Ich schrie den Spiegel an, er solle aufhören, meine Augen zusammengepresst, Tränen leckten unter fest geschlossenen Lidern hervor. Und auf einmal erfüllte eine wunderbare Stille die Kapelle. Als ich endlich wieder wagte, hinzusehen, war nichts im vor mir schwebenden Spiegel zu sehen außer meinem eigenen Spiegelbild. Es starrte mich an, und ich sah zum Fürchten aus. Ich sah aus, als hätte ich den Krieg bereits hinter mir und hätte verloren.
Ich kam langsam wieder auf die Füße. Eine kalte Entschlossenheit zwang alle Schwäche aus mir heraus. Ich würde nicht verlieren. Ich konnte es mir nicht leisten. Ich würde meine Hilfe aus der Zukunft kriegen, egal, welchen Preis ich zu zahlen hatte, denn die Alternative war so viel schlimmer.
Ich wies Merlins Spiegel an, so weit in die möglichen zukünftigen Zeiten zu gehen wie nötig, um mir den einen Abkömmling zu zeigen, der am besten geeignet war, einen Krieg gegen die Eindringlinge zu führen. Ein Krieger, die Familie in die Schlacht zu führen. Ein Menschenführer, sie zu inspirieren. Ein Mann, der alles war … was ich nicht war.
Der Spiegel zeigte mir eine neue Szene, fremdartig genug, um mir den Atem zu rauben. Ein Schlachtfeld auf einem fernen Planeten. Drei Sonnen strahlten in einem grellpinkfarbenen Himmel und schienen auf eine weite Schneewüste herab, die von Hunderten von verletzten Körpern und vergossenem Blut bedeckt war. Riesige zerstörte Kriegsmaschinen lagen halb vergraben im Schnee, von so fremdem Design, dass ich nicht einmal raten konnte, wozu sie gebaut worden waren. Aber die Leichen im Schnee waren definitiv Männer und Frauen, auch wenn ihre seltsam jadegrüne Rüstung ungewohnt war. Die strotzte nur so von dicken, zerklüfteten Technikansammlungen, war von Juwelen durchsetzt, die wie radioaktive Augen leuchteten. Die Leichen trugen alle Anzeichen eines plötzlichen und brutalen Todes, einige waren tatsächlich zerrissen und verstümmelt. Der Krieg hier war gekommen und gegangen, und diese Leute hatten ihn verloren.
Und dann kam ein einzelner Mann über die Schneelandschaft, seine Stiefel sanken bei jedem Schritt tief ein, aber er zwang sich mit purer Stärke vorwärts. Er stapfte mit verzweifelter Geschwindigkeit durch den Schnee und kümmerte sich nicht darum, sich nach dem Ding umzusehen, das hinter ihm herkam. Er trug die gleiche Art Rüstung, auch wenn die meisten seiner Juwelen nicht mehr blinkten. Er hielt eine Art Gewehr in der einen und ein langes Schwert in der anderen Hand. Als er näher herankam, konnte ich sehen, dass er etwa so alt war wie ich, auch wenn sein brutales, blutbespritztes Gesicht ihn älter erscheinen ließ. Er trug sein jettschwarzes Haar in einer langen Mähne, die er mit einem goldenen Reif um seine Stirn aus dem Gesicht hielt. Und trotz seiner verzweifelten Situation grinste er, als würde er ein Spiel spielen. Das einzige, das sich lohnte. Er war groß und hatte geschmeidige Muskeln und ich wusste irgendwie, dass das Blut, das von seiner Rüstung tropfte, nicht seines war.
Noch mehr bewaffnete Männer kamen über den schneeigen Horizont heran. Sie pflügten durch den Schnee, dem rennenden Mann hinterher; sie jubelten und heulten und klangen dadurch eher wie Bestien denn Menschen. Sie feuerten ihre Waffen ab, aber irgendwie war er nie da, wo die Energiestrahlen trafen. Schnee explodierte hinter ihm, kochendes Wasser flog in dampfenden Tropfen durch die kalte Luft. Aber schließlich schien er sich dafür zu entscheiden, dass es keinen Sinn mehr hatte weiterzulaufen und wandte sich abrupt zu seinen Verfolgern um. Einen Arm hob er vor sich hoch. Die Energiestrahlen zielten auf der Stelle auf ihn, nur um von einem unsichtbaren Kraftfeld aufgehalten zu werden, das offenbar von seinem erhobenen Arm ausging.
Die Verfolger schlossen zu dem Krieger auf und er stand geduldig da und wartete auf sie. Zu meiner Überraschung legten sie ihre Waffen weg und gingen mit ihren Schwertern auf ihn los, sobald sie in Reichweite waren. Der Kampf, der sich nun anschloss, war schnell und wild, wie nichts, was ich bisher gesehen hatte. Jede Bewegung war kalt und klinisch und völlig erbarmungslos. Der Krieger kämpfte gut und grimmig, und ging mit der langen Stahlklinge um, als hätte sie kein Gewicht. Blut und Innereien und abgehackte Glieder zierten schon bald den blutigen Schnee um ihn herum und keiner seiner Feinde kam ihm auch nur nahe genug, um ihn zu berühren. Er stampfte in dem blutroten Schnee vor und zurück, schnitt und schlitzte und vermied die Schläge, die von allen Seiten auf ihn zukamen, mit katzenhafter Grazie.
Es waren sicher mehr als zwanzig Mann und mehr gegen einen einzigen Krieger gewesen, und er hatte sie alle in ein paar Minuten getötet.
Als der letzte Mann in einem Springbrunnen von arteriellem Blut zu Boden fiel, sah sich der Krieger ruhig um. Er atmete nicht einmal schneller. Er nickte einmal, als wäre er mit seiner Performance zufrieden und senkte sein Schwert. Er wollte sich gerade entspannen, als ein Mann aus dem Schnee hinter ihm hochkam. Er hatte sich unter einer Leiche versteckt, komplett versteckt und hatte dort auf seine Gelegenheit gewartet. Er hob seine unbekannte Waffe, um den Krieger in den Rücken zu schießen und ich zog meinen Revolver und schoss den Mann in den Kopf, durch das Portal. Eine Kugel aus der Vergangenheit, um einen Kerl in der Zukunft zu töten.
Der Knall des Revolvers war nach dem kurzen Summen der Energiewaffen laut und harsch, und der Krieger wirbelte unglaublich schnell herum, sein Schwert gezückt. Gerade rechtzeitig, um den Mann, der ihn getötet hätte, im Schnee mit halb zerschossenem Kopf zusammenbrechen zu sehen. Der Krieger sah mich, der ihn durch ein Loch in der Luft beobachtete und sein Blick war dunkel und kalt und nachdenklich. Er kam ruhig durch den blutigen Schnee auf das Tor zu und blieb dort stehen, um mich einen langen Augenblick einzuschätzen. Blut tropfte von der Klinge und dampfte in der kalten Luft, die durch das Portal zu mir wehte. Er sagte etwas, sein Atem bildete Wolken in der Luft, aber ich konnte ihn nicht verstehen. Es klang nicht wie irgendeine menschliche Sprache, die ich je gehört hatte. Ich befahl meinem Torques zu übersetzen und plötzlich begannen die Worte einen Sinn zu ergeben.
»Danke für die Hilfe«, sagte der Krieger. »Ich habe nicht erwartet, an diesem gottverlassenen Ort einen Freund zu finden. Ich habe dir gegenüber eine Ehrenschuld, Fremder.«
»Wo ist der Rest deiner Leute?«, fragte ich.
Er zuckte mit den Achseln. »Tot. Jeder Einzelne von ihnen. Wir wussten, es wird eine Selbstmord-Mission, als uns der Kaiser hierhin schickte, aber es war nicht so, als hätten wir eine Wahl gehabt. Die Menschen schlagen vor, der Kaiser ordnet an. Besonders dann, wenn man am Hof nicht mehr … gelitten ist.« Er hielt inne und sah sich aufmerksam um und lauschte nach etwas, das ich nicht hören konnte. »Meine Feinde kommen wieder. Kannst du mich hier rausholen, Fremder? Ich bin der einzige Überlebende meines Kommandos und die Größe der gegnerischen Truppe ist … größer, als man mir zu verstehen gab.«
»Du nimmst mein Erscheinen sehr ruhig hin«, sagte ich. »Oder sind solche Vorkommnisse üblich in deiner Zeit?«
Er zuckte wieder mit den Achseln. »Ich habe draußen in den Randbezirken schon seltsamere Scheiße als die hier gesehen. Bring mich hier raus, Fremder und ich schwöre dir, ich diene dir, wie ich meinem Kaiser diene. Nicht für immer, mein Schwur dem kaiserlichen Thron gegenüber hat Vorrang. Aber ein wenig Zeit weitab vom Hof könnte helfen, das Blut ein wenig abzukühlen - auf beiden Seiten. Sollen wir sagen, Dienste für dich, für meine Rettung für ein Jahr und einen Tag?«
»Klingt fair«, sagte ich. Aber als ich versuchte, meine Hand durch das Portal zu strecken, ließ der Spiegel das nicht zu. Das hatte ich befürchtet. »Hör zu, ich bin nicht wirklich ein Fremder. Ich spreche zu dir aus deiner fernen Vergangenheit. Ich weiß nicht genau, wie weit. Jahrhunderte sicher, vielleicht mehr. Du bist ein Abkömmling meiner Familie. Und meine Familie braucht die Führung eines Kriegers. Aber ich kann dich nicht einfach so zu mir holen. Du bist zu weit weg von mir. Aber ich habe eine andere Möglichkeit, dich zu erreichen.«
»Das sollte besser schnell sein«, sagte er leidenschaftslos. »Meine Feinde werden bald hier sein. Wie ist dein Name?«
»Edwin Drood«, sagte ich. »Und deiner?«
Der Krieger lächelte. »Todesjäger. Giles Todesjäger.«