Kapitel Acht Familienangelegenheiten

Wir kamen in den Blackhawkes nach Hause. Diesen wundervollen, eleganten und stillen Flugzeugen. Nichts ging schief mit ihnen. Aber sie schienen schrecklich leer zu sein, denn sie brachten nur ein paar von uns nach Hause. Wir waren nur noch elf Droods mit Torques und mussten uns über die Flugzeuge verteilen, damit wir unentdeckt durch die fremden Flugräume fliegen konnten, über einer Welt, die nicht einmal wusste, wovor wir sie gerettet hatten. Keiner der anderen Droods sah mich überhaupt an, als wir alle in unterschiedliche Flugzeuge kletterten. Molly saß den ganzen Rückweg neben mir, hielt meine Hand und sprach leise mit mir, aber ich könnte Ihnen nicht wiedergeben, was sie gesagt hat. Alles, woran ich denken konnte, war das, was wir in den den Gepäckräumen der Flugzeuge untergebracht hatten. All die toten Droods.

Die Nachrichten eilten uns voraus. Das tun schlechte Nachrichten immer. Als die Blackhawkes endlich auf dem Flugfeld hinter dem Herrenhaus landeten, schien sich die ganze Familie versammelt zu haben, um zuzusehen. Und als ich und die schrecklich wenigen Überlebenden meiner ersten katastrophalen Mission aus den Flugzeugen stiegen, taten wir das in absolutem Schweigen. Vor Reihen von schockierten Gesichtern und anklagenden Augen. Ich hätte sie anschwindeln und ihnen sagen können, dass ich später ein offizielles Statement abgeben würde. Ich hätte einfach durch sie hindurch ins Haus gehen können. Aber ich tat es nicht. Ich stand da und wartete mit jedem anderen, während die Leichen aus den Gepäckräumen geladen wurden.

Wir hatten nicht alle retten können. Die meisten der Leichen auf der Ebene waren entweder von dem fallenden Turm zerquetscht oder so vom Kampf zerstört gewesen, dass wir nicht wussten, wer wer war oder was zu wem gehörte. Von einigen gab es nur noch Einzelteile. Also hatten wir von denen nur die Köpfe mitgebracht. Wir hatten Stunden unter der heißen Sonne verbracht, uns durch das Durcheinander gewühlt und dieses Schlachtfest, das Blut und die Innereien und den Gestank sortiert, aber am Ende hatten wir weniger als die Hälfte nach Hause gebracht. Die versammelte Menge machte leise, erschrockene Geräusche, als die ersten Leichen auftauchten. Sie hatten nie so viele tote Droods gesehen. Das hatte keiner. So eine Tragödie, so ein hoher Verlust an Leben in einer Operation war noch nie dagewesen. Einige Mitglieder der Familie schrien auf beim Anblick bekannter Gesichter, gebrochen und verzerrt und verschmiert mit getrocknetem Blut. Einige Leute wollten nach vorne stürzen, aber der Seneschall war da mit seinen Leuten und wahrte die Ordnung. Die Würde der Familie muss immer gewahrt bleiben.

Die Familienärzte und -schwestern hatten bald keine Bahren und Tragen mehr, obwohl sie die Leichen in der Leichenhalle einfach nur hinlegten und dann so schnell wie möglich wiederkamen. Also improvisierten sie und brachten Tische und Teewagen und andere flache Oberflächen an. Was die Körperteile und -stücke und die abgetrennten Köpfe anging, luden die Ärzte sie einfach in schwarze Abfallsäcke, um sie später zu sortieren. Die Menge schien das nicht zu mögen, aber die Entscheidung musste getroffen werden, um die Leichen so schnell wie möglich aus den Flugzeugen und aus der Sicht der anderen zu bringen. Meine Entscheidung war es allerdings nicht. Ich konnte an nichts anderes denken als daran, wie sehr ich die ganze Sache vermasselt hatte. Nein, ein einziger des Inneren Zirkels hatte weiter gedacht und die Entscheidung für mich getroffen. Sehr vorausschauend von ihnen. Auch wenn es hier natürlich nicht darum ging, wie ich mich fühlte, sondern ob das alles gut für die Familie war.

Ich stand im Schatten meines Flugzeugs und zwang mich selbst, schweigend zuzusehen, bis auch die letzte Leiche ins Herrenhaus getragen worden und endlich zu Hause angekommen war. Das waren meine Pflicht und meine Strafe. Molly stand die ganze Zeit neben mir und hielt meine Hand. Ich hielt mich an ihr fest wie ein Ertrinkender und hatte ihre Hand so fest umklammert, dass es ihr wehgetan haben muss, aber sie ließ keinen Klagelaut hören. Ich sagte gar nichts, nicht einmal, als die Familie mich ansah, mit feuchten, heißen Augen und kalten vorwurfsvollen Gesichtern. Was hätte ich auch sagen können, außer: »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

Nachdem die letzten Bahren und die letzten paar Plastiksäcke drinnen verschwunden waren, rührte Molly sich endlich und lehnte sich zu mir. »Habt ihr keine Leichensäcke?«, fragte sie still. »Für Katastrophen und Notfälle wie diese?«

»Es hat noch nie so eine Katastrophe wie diese gegeben«, sagte ich. »Wir haben nie Leichensäcke gebraucht, weil wir noch nie so viele Leute verloren haben.«

»Wir haben die Schlacht nicht verloren«, sagte Molly. »Wir haben das Nest und den Turm der Abscheulichen zerstört. Wir haben verhindert, dass das Böse durch das Portal kommt. Verdammt, wir haben die Welt gerettet, Eddie.«

»Wenn das ein Sieg ist, dann will ich nicht wissen, wie eine Niederlage aussieht«, erwiderte ich. »Welchen vorläufigen Sieg wir auch errungen haben, wir haben mit unserem Blut dafür gezahlt. Diese Leute sind mir in eine Schlacht gefolgt, weil sie an mich geglaubt haben. Sie waren die Auserwählten, die ihren Platz durch ihre Leistung und harte Arbeit verdient hatten. Ich habe ihnen einen Sieg und Ruhm versprochen und eine Chance, Helden zu sein. Das hier … das hier sollte eine Demonstration der Macht der Droods werden. Es sollte keiner verletzt werden. Jetzt sind die meisten dieser mutigen Seelen tot und die Familie wird verwundbarer denn je erscheinen.«

»Also … was wirst du tun?«, fragte Molly.

»Ich habe keine Wahl mehr. Jeder Drood muss einen Torques bekommen, und die Rüstung, die dazu gehört. Ob ich nun glaube, dass sie sie verdienen oder nicht. Die Familie muss beschützt werden. Wenn es sein muss, sogar vor mir und meinen verrückten Ideen.«

»Tu das nicht!«, erwiderte Molly scharf. »Fang nicht damit an, dein Urteil infrage zu stellen, nur weil eine Schlacht schiefgelaufen ist. Du hast alles richtig gemacht. Es gab keine Möglichkeit, alles über diese anderen Dämonen zu wissen, die im Turm versteckt waren.«

Sie brach ab, als Harry auf uns zukam. Er hielt seinen Kopf hoch und schritt wie ein Soldat daher, jede seiner Bewegungen strotzte nur so von der Arroganz eines ganz und gar Selbstüberzeugten. Er wusste, dass die ganze Familie zusah. Er blieb mit einem Ruck vor mir stehen, nahm eine verurteilende Pose ein und hob seine Stimme, sodass jeder ihn hören konnte.

»Das ist alles deine Schuld, Edwin. Alles. Ich habe dir gesagt, dass deine Angriffstruppe nicht groß genug war. Ich habe dir gesagt, dass wir alle Rüstungen brauchen, wenn wir die Abscheulichen besiegen wollen. Aber nein, du wolltest nicht hören, du wusstest es besser. Du musstest dich selbst als Führer beweisen. Und jetzt sind wegen dir, wegen deinem Stolz und deiner Arroganz, all diese guten Männer und Frauen tot. Geopfert auf dem Altar deines Ehrgeizes!«

»Gute Rede, Harry«, sagte ich. »Dafür hast du wohl den ganzen Weg nach Hause geübt, nicht wahr? Ich musste mit den Informationen arbeiten, die ich hatte. Keiner von uns hätte das vorhersehen können. Wir haben es noch nie mit so etwas zu tun gehabt.«

»Ich habe nichts anderes von dir erwartet«, sagte Harry. »Entschuldigungen! Sieh den Tatsachen ins Auge, Eddie, du hast es einfach nicht drauf. Das hattest du nie. Selbst als Frontagent wurdest du so zweitklassig eingeschätzt, dass dir niemals Einsätze außerhalb Londons gestattet wurden! Wenn du wirklichen Stolz hättest, wenn du wirklich das Beste der Familie wolltest, dann würdest du zurücktreten und jemand Qualifizierten den Job machen lassen.«

»Und du hast da schon jemanden im Sinn, stimmt's, Harry? Vielleicht dich selbst?«

»Das ist typisch für dich, Eddie, zu versuchen, das ins Persönliche zu ziehen«, sagte Harry überlegen. »Ich will die Familie gar nicht führen, ich will dich nur weghaben. Die Matriarchin wusste alles über dich. Sie wusste, dass man dir nichts wirklich Wichtiges anvertrauen kann. Deshalb hat sie dich von zu Hause weggehen lassen, weil dich sowieso niemand vermissen würde. Wir hätten dich wie jeden anderen Vogelfreien jagen und erledigen sollen.«

»Ich war niemals ein Vogelfreier! Ich habe immer für die Familie gearbeitet!« Ich trat einen Schritt vor und ballte meine Hände zu Fäusten.

»Nicht«, sagte Molly schnell. »Das will er doch nur.«

»Hör auf deine bessere Hälfte«, sagte Harry und sein Hohn trat offen zutage. »Du hast doch gezeigt, wes Geistes Kind du bist, als du die da angeschleppt hast. Als du die schiere Frechheit besessen hast, die berüchtigte Molly Metcalf in unser Heim zu bringen, das läufige Flittchen der wilden Wälder!«

Ich traf ihn hart, mitten in den Mund. Er stolperte zurück, aber er fiel nicht. Die Menge um uns herum ließ Laute des Schreckens hören, aber keiner bewegte sich. Sie warteten alle ab, was als Nächstes passierte. Ihre Augen leuchteten. Harry drehte sein Gesicht, sodass alle das Blut sehen konnten, dass ihm aus dem Mund über das Kinn lief und dann fuhr er seine Rüstung hoch. Das Silber schwappte in einem kurzen Augenblick über ihn und er stand stolz und groß vor der Familie, wie eine Allegorie der Rache. Ich hatte getan, was er wollte. Er hatte mich dazu gebracht, meine Geduld zu verlieren und ihn zuerst anzugreifen. Er hatte sich das den langen Weg zurück überlegt, er hatte geplant, mich vor der ganzen Familie zu blamieren. Ich wusste das alles, wusste, dass ich ihm in die Hand spielte - aber es war mir egal. Ich wollte jemanden verprügeln, und Harry kam mir gerade recht. Ich rüstete ebenfalls hoch und wir traten aufeinander zu, um uns anzusehen. Jeder von uns spiegelte sich in der Rüstung des anderen.

»Na los«, sagte Harry. »Zeig mir, was du drauf hast. Zeig mir all die dreckigen Tricks, mit denen du meinen Vater umgebracht hast.«

»Aber gerne doch«, sagte ich. Ich hob meine Hände und lange, silberne und scharfe Klingen wuchsen aus meinen Fäusten.

»Hört auf damit!«, sagte der Waffenmeister und bahnte sich seinen Weg zu uns durch die Menge. »Hört sofort damit auf, ihr beiden! Seneschall, tu deine Pflicht, verdammt!«

Da - und erst dann - kam der Seneschall nach vorn, um uns zu trennen. Der Waffenmeister war ebenfalls da und schlug mit einer Hand voller Leberflecken gegen meine silberne Brust und starrte mich böse durch meine konturenlose Maske an. Der Seneschall sah auf Harry und natürlich rüstete Harry sofort ab. Wie ein braver kleiner Junge, ein respektvolles Familienmitglied. Er hatte mich von Anfang an ausgespielt. Er hatte nie damit gerechnet, kämpfen zu müssen. Er wusste, irgendjemand würde sich einmischen, um uns aufzuhalten. Ihm war wichtig gewesen, mich vor der Familie schlecht dastehen zu lassen. Er warf mir einen triumphierenden Blick zu und schlenderte ins Herrenhaus, zusammen mit dem Seneschall. Wahrscheinlich, um der Matriarchin zu berichten. Keiner applaudierte ihm offen, aber es gab viel unterstützendes Gemurmel in der Menge.

Ich rüstete ab und nickte dem Waffenmeister beschämt zu. Er grummelte etwas in seinen nicht vorhandenen Bart und schüttelte den Kopf. »Rein mit dir, Junge. Hier kannst du nichts mehr tun.«

Ich blickte auf die Familie, die mich nach wie vor beobachtete. Es war noch nicht lange her, da hatten sie sich versammelt, um laut meinen Namen zu rufen und mich den Familienretter zu nennen. Und jetzt sahen sie mich an, als sei ich eine Art Kriegsverbrecher. Es war nicht nur, dass ich eine Schlacht verloren hatte. Ich hatte sie enttäuscht, weil ich doch nicht der perfekte Held gewesen war. Ich nahm Merlins Spiegel aus der Tasche, schüttelte ihn auf volle Größe und ging durch ihn hindurch in die Waffenmeisterei. Molly und der Waffenmeister folgten mir rasch und ich schloss den Spiegel wieder. Das Gewicht der vorwurfsvollen Familienaugen verschwand und wir waren allein.

»Weißt du, Eddie, es scheint mir, als wärst du langsam ein wenig abhängig von diesem Spiegel«, meinte Molly.

»Quatsch«, antwortete der Waffenmeister brüsk. »Darum hab ich ihm den Spiegel ja gegeben, damit er sich gefahrlos dünne machen kann. Solche Geräte sind dafür gemacht, dass man sie benutzt. Wie wär's, wenn ich uns eine schöne Tasse Tee mache? Ich bin sicher, dass es hier irgendwo auch noch eine Schachtel gefüllte Kekse gibt.« Er unterbrach sich kurz und sah mich an. »Weißt du, Junge, du siehst scheiße aus. Bist du verletzt? Tut dir was weh?«

»Nein«, sagte ich. »All dieses Schlachten und Metzeln und ich bin ganz ohne Kratzer da rausgekommen. Die anderen nicht, die Abscheulichen haben sie zerfetzt.«

»Sieh nicht zurück, Junge«, sagte der Waffenmeister grimmig. »Konzentrier dich darauf, was du als Nächstes tun kannst. Es ist nicht schlimm, eine Schlacht zu verlieren, solange du den Krieg gewinnst. Sieh dir die Familienchronik an, wir hatten eine Menge Niederlagen. Natürlich müsste man weit zurückgehen, um eine solche Niederlage zu finden - aber das liegt daran, dass die Familie mit den Jahren weich geworden ist, selbstgefällig und vorsichtig. Sie hat die Drecksarbeit den Frontagenten überlassen. Sich nur die kleinen Schlachten ausgesucht, die kleinen Siege, die wir gewinnen konnten. Deshalb haben die Abscheulichen so lange hierbleiben und immer zahlreicher werden können. Vor noch nicht einmal einem Jahrhundert wäre das nicht möglich gewesen. Also hör auf, dir selbst leid zu tun, Eddie und denk mal nach! Hast du irgendetwas Nützliches aus dieser ersten Begegnung gelernt? Etwas, das du brauchen kannst, wenn du das nächste Mal gegen diese Bastarde vorgehst?«

»Vielleicht«, sagte ich. Ich fühlte mich auf einmal müde und setzte mich auf den nächsten Stuhl. Molly sah besorgt aus und ich lächelte sie aufmunternd an. Auch wenn es nicht sonderlich aufmunternd gewirkt haben konnte, denn auf einmal sah sie noch besorgter aus. Ich kramte in meiner Jackentasche herum und holte das kandarianische Steinamulett hervor, das Molly aus den Trümmern des Turms gefischt hatte. Ich reichte das hässliche Ding dem Waffenmeister, der es für eine Weile genau betrachtete und sich dann neben mich setzte, um es sich unter einem riesigen Vergrößerungsglas noch genauer anzusehen. Molly zog sich ebenfalls einen Stuhl heran und setzte sich neben mich. Ich bemerkte es kaum. Ich konzentrierte mich auf das Amulett. Es musste etwas sein; etwas Wichtiges, etwas, das alles rechtfertigte, was wir durchgemacht hatten, um es zu kriegen. Der Waffenmeister rieb an dem grauen Steinamulett herum und piekte es mit seinen breiten und schweren Ingenieursfingern und murmelte dabei vor sich hin.

»Hmmm. Also. Das ist wirklich kandarianisch. In besonders gutem Zustand, wenn man bedenkt, dass es sicher über dreitausend Jahre alt ist, wenn man den Stil der Gravierungen bedenkt. Aber auf der anderen Seite sind kandarianische Artefakte sehr … haltbar. Sie wurden gemacht, um die Zeiten zu überdauern und wurden für Prozesse benutzt, die wir heute nur raten können. Kandar - ein übler Ort, was man auch hört. Dämonenanbeter. Haben sich freiwillig zur Verfügung gestellt, um von außerdimensionalen Wesen übernommen zu werden. Haben alle anderen Kulturen, auf die sie trafen, unterjocht und ihnen Schreckliches angetan. Nur weil sie konnten. Sklaverei, Folter, rituelle Opfer; Schlachtfeste und Leiden waren Speis und Trank für die alten Kandarianer. Schließlich haben sie sich gegen sich selbst gewandt und ihre ganze Zivilisation wurde in einer einzigen, furchtbaren, blutdurchtränkten Nacht ausgelöscht. Keine ihrer Städte existiert heute noch. Ihre Kultur und ihre Leute sind vollkommen ausgerottet, höchstwahrscheinlich zumindest. Alles, was wir je von ihnen gesehen haben, ist das eine oder andere seltsame Amulett oder Waffe, die die Zeiten überdauert haben, obwohl sie schon längst von ihren inneren Energien hätten zerfressen und zu Staub zerfallen sollen. Wir verstehen die Sprache nur, weil so viele Sprüche und Beschwörungen ursprünglich darin verfasst wurden.«

»Was ist mit dieser besonderen Glyphe?«, fragte ich und wies auf das Amulett. »Ich habe das als ›Eindringlinge‹ übersetzt.«

»Hmm? Oh ja, Eddie, du hast ganz recht. Schön zu sehen, dass du wenigstens in ein paar deiner Schulstunden aufgepasst hast. Ja, ›Eindringlinge‹. Definitiv Plural. Und die umgebenden Glyphen lassen den Schluss zu, dass es sich hierbei um eine Beschwörung handelte, um diese Eindringlinge in unsere Welt zu bringen. Ich denke, wir müssen annehmen, dass die Präsenz, die du auf der anderen Seite von dem Nazca-Portal gespürt hast, nur eine von vielen war. Was umgekehrt den Schluss zulässt …«

»… dass es andere Nester geben muss«, sagte ich. »Mehr Portale, die von den Abscheulichen gebaut werden, um eine ganze Invasionsarmee dieser Wesen herüberzuholen.«

»Oh, Scheiße«, sagte Molly. »Es war schwer genug, eines von ihnen zu Fall zu bringen. Wie viele könnte es geben?«

»Das weiß wohl keiner«, meinte der Waffenmeister. »Hunderte, Tausende, Hunderttausende? Nester, die in aller Herren Länder, in der ganzen Welt gebaut werden, und die ganze Menschheit bedrohen? Eine Bedrohung, von der wir nichts gewusst hätten - wenn du diese Attacke auf die Abscheulichen nicht losgetreten hättest, Eddie.«

»Das ist wirklich eine völlig neue Liga«, sagte Molly. »Die ganze Welt bedroht? Was sollen wir tun?«

»Wir halten sie auf«, meinte ich. »Das ist es schließlich, was die Familie so tut. Onkel Jack, müssen wir wieder den Armageddon-Kodex aufmachen?«

»Sicher nicht«, sagte der Waffenmeister entschieden. »Ich habe den Kodex einmal für dich geöffnet. Und das war einmal mehr, als ich in meinem Leben jemals habe sehen wollen. Nein, diese Art Superwaffen sollten nur als letzter Ausweg benutzt werden, wenn die Realität selbst bedroht wird. Und die Dinge sehen nicht so schlecht aus. Noch nicht.«

»Aber wenn die Welt kurz vor einer Invasion von andersdimensionalen Wesen steht …?«

»Nein, Eddie. Die Familie kann das bewältigen. Das haben wir schon früher getan. Lies die Chroniken. Ich schwöre, wir bringen euch nicht mehr genug Familiengeschichte bei. Die Kodex-Waffen sind für den Fall, dass alles andere, einschließlich Tränen, Schwüren und Gebeten, versagt hat. Nicht einfach nur, um deinen Stolz zu retten, weil du eine Niederlage im Feld erlitten hast.«

»Du warst nicht da«, sagte Molly scharf. »Du hast nicht gesehen, was wir gesehen haben. Gefühlt, was wir gefühlt haben - und es war übel, wirklich übel. Was auch immer das war, das sich einen Weg in unsere Realität erzwingen wollte, es war schlimmer als alles, was ich bis dahin erlebt habe. Und ich bin schon mit allen möglichen Dämonen und Teufeln fertiggeworden, mit Mächten über und unter unserer Realität, aber diese Invasoren … Sie haben mir richtig Angst eingejagt. Erinnerst du dich, Eddie, du hast gesagt, es gäbe zwei Arten von Feinden: Dämonen und Götter. Nun, die Abscheulichen sind vielleicht Dämonen, aber was auch immer sie beschwören wollten, war es ganz definitiv nicht.«

»Die Familie kann damit fertig werden«, sagte der Waffenmeister unbeirrt. »Ich habe Waffen entwickelt, die schlimmer sind als eure schlimmsten Albträume. Du hast keine Ahnung, Molly, was den Droods möglich ist, wenn es wirklich einmal zum Krieg kommt. Wir haben zu lange herumgetrödelt und uns in alten Siegen gesonnt. Es wird Zeit, dass wir uns wieder einmischen und uns die Hände schmutzig machen. Wir waren mal Krieger und das werden wir auch wieder sein.« Der Waffenmeister lächelte. Doch seine sonst so freundliche, etwas geistesabwesende Art war verschwunden und war durch eine kalte und konzentrierte Boshaftigkeit ersetzt. Ich hätte nie vergessen dürfen, dass dieser Mann zu der kältesten Zeit des Kalten Krieges ein erstklassiger Frontagent gewesen war, beinahe so gelobt wie sein berühmter Bruder James.

Mit der Lizenz zum Töten, heiß- oder kaltblütig, und so lange der Job getan werden musste.

Der Waffenmeister drehte sich zu Molly um und war auf der Stelle wieder sein altes, schroffes Selbst. »Mach dir keine Sorgen, meine Liebe, alles wird gut. Du wirst schon sehen. Also, Eddie, wie kamst du mit dem neuen Kurzstrecken-Teleportationsarmband zurecht, dass ich dir gegeben habe? Hat es gut funktioniert? Gab's Probleme?«

»Ah«, sagte ich. »Naja … um ehrlich zu sein, die Schlacht war so heftig und es war so viel los … ich hab irgendwie vergessen, dass ich es bei mir hatte.«

Der Waffenmeister seufzte schwer. »Beug dich mal vor, Eddie.« Ich tat es und er gab mir eine feste Kopfnuss.

»Hey! Verdammt, Onkel Jack, das hat wehgetan!«

»Gut. Vielleicht erinnerst du dich dann beim nächsten Mal. Ich gebe dir dieses Zeug, um dir einen Vorteil in einer Schlacht zu verschaffen! Um dich am Leben zu erhalten! Ich erwarte, dass du es benutzt. Ich erwarte, dass du …« In der Nähe begann beharrlich eine Kom-Konsole zu piepsen und der Waffenmeister unterbrach sich. »Was ist? Ich habe zu tun!«

Das Gesicht des Seneschalls erschien auf dem Monitor. Er nickte dem Waffenmeister kurz zu und sah dann an ihm vorbei Molly und mich an. »Ich dachte mir schon, dass ihr in der Waffenmeisterei untertaucht. Ich berufe den Inneren Zirkel ein, im Sanktum. Jetzt sofort. Wir müssen dringende Dinge besprechen.«

»Ach ja?«, fragte ich. »Und seit wann hast du die Autorität, den Inneren Zirkel zusammenzurufen?«

»Sei pünktlich«, erwiderte er. »Oder wir fangen ohne dich an.«

Er unterbrach die Verbindung, bevor ich antworten konnte. »Es ist immer was los«, sagte Molly. »Und ich dachte, meine Familie wäre schlimm.«

»Deine Familie?«, fragte ich.

»Frag besser nicht.«


Molly und ich verließen die Waffenmeisterei und gingen ins Sanktum. Ich hätte uns beide mit Merlins Spiegel dorthin bringen können, aber ich hatte es ausnahmsweise nicht eilig. Ich wollte Zeit haben nachzudenken, und planen, was ich sagen wollte. Der Waffenmeister hatte gesagt, er würde gleich nachkommen, und ich hoffte wirklich, dass Jacob sein Geistergesicht diesmal zeigen würde. Ich wusste, dass ich bei diesem Treffen alle Unterstützung gebrauchen konnte, die aufzutreiben war. Und dann blieb Molly ganz plötzlich wie angewurzelt stehen und verkündete, dass ich ohne sie weitergehen musste.

»Tut mir leid, Eddie. Aber ich kann nicht mehr länger in diesen bedrückenden vier Wänden bleiben. Ich kann einfach nicht. Ich muss raus an die frische Luft, bevor ich anfange, zu vertrocknen.«

»Aber … das ist eine Sache des Inneren Zirkels, Molly. Das ist wichtig. Ich brauche dich da, neben mir.«

»Das kann ich nicht ändern. Ich muss hier raus, bevor ich anfange zu schreien. Du hast keine Ahnung, was dieser Ort mir antut, Eddie. Du kannst ja kommen und mich draußen im Park suchen, wenn ihr fertig seid. Ich brauche Zeit für mich, um meine Batterien wieder aufzuladen und die Kräfte wiederzuerlangen, die ich auf der Nazca-Ebene verbraucht habe. Im Moment habe ich keinen Funken Magie mehr in mir. Und so kann ich nicht leben.«

Ich packte sie an beiden Schultern und zwang sie, mich anzusehen. »Ich brauche dich dieses Mal wirklich, Molly. Sie werden mich da drin kreuzigen. Ich kann ihnen nicht allein gegenübertreten.«

»Doch, du kannst. Du brauchst mich nicht annähernd so sehr, wie du denkst. Du bist stärker als du glaubst, Eddie. Stärker als du dir selbst erlaubst. Ich sehe dich später.«

Sie entzog sich meinem Griff und hastete den Korridor hinunter in Richtung des Haupteingangs und der Freiheit des Parks. Ich rief ihr nach, aber sie sah sich nicht einmal um. Also ging ich allein ins Sanktum und fragte mich, was zum Teufel ich sagen sollte.


Als ich dort ankam, hatte der Waffenmeister es irgendwie fertiggebracht, vor mir dort zu sein. Er hob eine Hand, um sein Teleportarmband zu zeigen und winkte mir damit bedeutungsvoll zu. Ich ignorierte ihn absichtlich und sah mich um. Im sanften Leuchten von Seltsam waren Penny, der Seneschall - und Harry versammelt. Er verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte mich selbstzufrieden an. Der Seneschall stand neben Harry, um seine Unterstützung für ihn zu demonstrieren. Penny sah mich nachdenklich an. Von Jacob war nichts zu sehen. Das scharlachrote Glühen von Seltsam fühlte sich nicht annähernd so besänftigend an wie sonst. Ich erwiderte die Blicke der anderen so fest ich nur konnte.

»Na, das ist ja eine Überraschung. Harry Drood bei etwas, das eine private Versammlung meines Inneren Zirkels sein sollte. Was machst du hier, Harry?«

»Ich bin eingeladen worden«, sagte er leichthin. Seine Lippen waren von dem Schlag immer noch angeschwollen und gerissen. Er hätte das leicht heilen können, aber so war es jetzt nützlicher: ein sichtbarer Beweis meines Temperaments und meiner Brutalität. Es hinderte ihn zumindest nicht daran, mich triumphierend anzulächeln.

»Harold hat ein Recht, gehört zu werden«, sagte der Seneschall.

»Ich verstehe«, sagte ich. »Und das denkt ihr alle?«

»Er war bei dir, als alles schieflief«, erwiderte Penny. »Wir brauchen einen unabhängigen Zeugen, um genau herauszufinden, was passiert ist. Das musst du verstehen, Eddie.«

»Oh, ich verstehe eine ganze Menge«, sagte ich. »Ich hätte mich daran erinnern sollen, dass Betrug und Hintenrum in dieser Familie ganz normal sind.«

Der Waffenmeister wand sich unbehaglich. »Sei nicht so, Eddie. Du weißt, ich bin auf deiner Seite. Aber wir brauchen Fakten über die Geschehnisse. Und wir müssen zusammenhalten. Es kann ja sein, dass Harry uns Dinge über die Schlacht erzählen kann, die du nicht wahrgenommen hast. Wir werden jede Information brauchen, die wir kriegen können, wenn wir mehr Abscheuliche in ihren Nestern erwischen wollen. Wir sind nicht hier, um über dich zu urteilen.«

»Ach nein?«, fragte ich. »Nun, du vielleicht nicht, Onkel Jack. Aber die anderen schon. Ihre Meinung steht fest. Ich habe dafür keine Zeit, Leute. Es müssen ganz andere Dinge erledigt werden. Zum Wohl der Familie.«

»Wag es nicht, uns hier einfach stehenzulassen«, sagte der Seneschall.

»Du kannst mich mal, Cyril«, sagte ich.

Und ich ging einfach aus dem Sanktum hinaus, ohne mich umzudrehen, selbst als der Waffenmeister und Penny meinen Namen riefen. Ich war so wütend, dass meine Hände sich wieder zu Fäusten geballt hatten, so fest, dass sie mir tatsächlich wehtaten. Mein Herz pochte wie ein Vorschlaghammer und ich konnte spüren, dass ich vor Zorn rot im Gesicht war. Ich musste raus. Ich konnte nicht zulassen, dass sie mich dazu brachten, das Falsche zu sagen, das Falsche zu entscheiden. Es ergab keinen Sinn zu bleiben; die Richter hatten ihr Urteil gefällt. Und ohne Molly, die mir zur Seite stand, und mit einem schwankenden Waffenmeister wäre ich überstimmt oder überschrien worden, egal, was ich sagte. Von meinem eigenen Inneren Zirkel! Ich konnte nicht fassen, dass sie Harry eingeladen hatten, ohne das zunächst mit mir abzusprechen.

Ich schritt durch die Korridore und Verbindungszimmer des Herrenhauses, schimpfte vor mich hin und warf wütende Blicke auf jedes Familienmitglied, das mir begegnete. Die meisten hatten Verstand genug, angemessenen Abstand zu halten. Keiner von ihnen sprach mit mir, sie sahen mir nur schweigend hinterher, während ich vorbeiging. Das passte mir gut. Nur ein dummer Kommentar und ich hätte ihnen eine reingehauen.

Dennoch, so wütend ich auch war, ein Teil von mir stand im Hintergrund, schüttelte den Kopf und sagte immer wieder: Das bist nicht du. Du hast immer daran geglaubt, nicht wütend zu werden, sondern klaren Kopf zu bewahren. Als die Matriarchin mich zum Vogelfreien erklärte und mich zum Tode verurteilt hatte, war ich nicht ausgerastet; nein, ich bin damals sofort dazu übergegangen, zu planen, wie ich sie überführen könnte. Aber damals hatte ich gewusst, dass ich unschuldig war, ich hatte nichts Falsches getan. Das hatte mir Mut gemacht, trotz all der Hindernisse, die man mir in den Weg gelegt hatte. Das hier war anders. Nichts außer der Wut hatte Raum in mir und der größte Teil davon richtete sich gegen mich selbst.

Weil ich es vermasselt hatte. Ich hatte meine Leute umgebracht. Meine Familie. Alles andere war unwichtig.


Als ich am Haupteingang angekommen war, war die Wut einem dumpfen Druck gewichen und ich konnte klarer denken. Oder zumindest so klar, dass ich mir mehr Sorgen um Molly machte, als um mich selbst. Ich hatte sie nicht ernst genug genommen, als sie gesagt hatte, sie könne im Herrenhaus nicht wohnen, dass sie unter lebendigen Dingen leben müsse, in der Wildnis. Ich wusste, dass sie sich nur schwer eingewöhnte, aber ich hatte gedacht, dass sie es schaffen würde. Und jetzt musste ich mich fragen, ob ihr das je gelingen würde. Ob sie es je könnte. Sie war immerhin eine Frau, die sonst in ihrem eigenen privaten Wald lebte, während ich hier bleiben musste, im Herrenhaus, oder riskierte, die Kontrolle über meine Familie zu verlieren.

Martha hatte mir schon ins Gesicht gesagt, dass sie nur darauf warte, dass ich alles so durcheinanderbrachte, dass sie wieder die Macht ergreifen und das Matriarchat erneut errichten konnte. Und was dann? Würde sie die alten Sitten wieder etablieren? Goldene Rüstungen statt silberner, für die mit Kinderopfern gezahlt wurde? Zurück zu der Zeit, in der die Familie die Welt regierte, statt sie zu schützen? Nein. Ich konnte das nicht zulassen. Meine Pflicht der Familie gegenüber wog schwerer als die Pflicht mir selbst gegenüber. Das war immer so gewesen. Ich konnte meiner Familie nicht den Rücken zukehren, nicht einmal für Molly. Es ist immer die Familie, die zählt, ob wir das nun mögen oder nicht.

Aber so konnte ich Molly verlieren. Die einzige Frau, die ich je geliebt hatte.

Ich kam am Haupteingang an, schritt durch die Tür und sah die lange, kiesbestreute Auffahrt entlang, als sich auf einmal aus dem Nichts eine Ambulanz materialisierte. Das sorgte definitiv für meine Aufmerksamkeit, denn eigentlich hätte sich auf unserem Grund und Boden nichts materialisieren dürfen, es sei denn, wir hätten es im Voraus erlaubt. Was wir meist nicht tun. Die Ambulanz kam röhrend die Auffahrt hinauf und hielt mit quietschenden Bremsen direkt vor mir und spritzte Kies auf meine Schienbeine, auf der Seite stand Dr. Syn's nächtlicher Fluglieferservice. Die Fahrertür öffnete sich und der Fahrer stieg aus. Ein fröhlicher Mensch mit einer traditionell weißen und gestärkten Uniform. Er schlenderte herüber zu mir und drückte mir ein Clipboard und einen Stift in die Hand. Dann salutierte er kurz.

»Bitte unterschreibt hier, edler Junker. Ein Verrückter frei Haus und nein, ich beantworte keine Fragen. Ich liefere Leute einfach ab und verschwinde wieder, bevor es hässlich wird. Bitte, hier auf der gepunkteten Linie unterschreiben. Damit quittieren Sie die Lieferung eines William Dominic Drood, auch bekannt als Seltsamer John. Und machen Sie voran, Junker, ich habe auch noch diesen amerikanischen Gentleman und sein Riesenkaninchen abzuliefern.«

Ich unterschrieb mit Harrys Namen und gab das Clipboard zurück. Ich war immer schon von der vorsichtigen Sorte gewesen. Der Fahrer salutierte noch einmal kurz und ging hinten an die Ambulanz. Dort schloss er ein sehr großes Vorhängeschloss auf und zog die Tür mit einem herzhaften: »Raus mit dir, mein Lieblingsverrückter, du bist zu Hause!« auf. William Drood trat heraus und blinzelte im hellen Sonnenschein, während der Fahrer ihn fest am Arm packte und ihn zu mir brachte.

»Bitte sehr, Junker. Ein Bekloppter, wie bestellt. Stundenlanger Spaß für die ganze Familie. Versuchen Sie, ihn nicht zu verlieren. Sie würden nicht glauben, was für einen Papierkram ich hätte, wenn ich ihn wieder einfangen müsste. Ihnen einen schönen Tag noch! Ich hab Sie schon vergessen!«

Noch ein Salut und er war wieder in seiner Fahrerkabine. Die Ambulanz brauste mit quietschenden Reifen den Kiesweg hinunter und verschwand in größtem Lärm. Auf einmal schien der Tag wunderbar still.

»Eine beunruhigend fröhliche Person«, sagte William. »Ich darf nicht vergessen, ihm einen Dankesbrief zu schicken. Mit einer Briefbombe.«

»Willkommen zurück, William«, sagte ich. »Willkommen zu Hause.«

Er nickte vage und sah sich um. Er schien nicht besonders glücklich, wieder hier zu sein. Er sah besser aus als das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, allein in seiner Zelle im Sanatorium »Fröhliches Delirium«. Sie hatten ihn in einen guten Anzug gesteckt, bevor sie ihn nach Hause geschickt hatten, auch wenn er aussah, als fühle er sich nicht sehr wohl darin. Genaugenommen sah er allgemein so aus, als fühle er sich unbehaglich. Sein Gesicht konnte sich nicht so recht für einen Ausdruck entscheiden, und seine Augen sahen wie immer gehetzt um sich, so als sehe er immer noch seltsame Welten und alternative Realitäten in den Augenwinkeln. Und wenn man bedachte, wer er war … Ich sagte wieder seinen Namen und sein starrer Blick wandte sich langsam wieder mir zu. Ich streckte meine Hand aus und nach einer Pause schüttelte er sie ernst.

»Erinnerst du dich an mich?«, fragte ich.

»Natürlich erinnere ich mich an dich, Edwin. Ich bin nicht völlig gaga. Du hast mich an diesem … Ort besucht. Du hattest eine Botschaft für mich, du meintest, es sei wieder sicher, heimzukommen. Also bin ich hier. Ich hoffe, du hast recht, Edwin.«

»Es ist gut, dich wieder hier zu haben, wo du hingehörst«, sagte ich.

»Ist es das?«, fragte er geistesabwesend und sah auf das Herrenhaus hinter mir, als sehe er es zum ersten Mal. »Es fühlt sich nicht wie ein Zuhause an. Aber das tat es nicht einmal, als ich ging. Ich habe etwas herausgefunden, weißt du, und danach schien nichts mehr beim Alten zu sein. Ich kann nicht einmal mehr sagen, dass ich mich wie William Dominic Drood fühlte. Ich denke, ich war als Seltsamer John glücklicher. Ich denke, vielleicht … habe ich William hier gelassen, als ich wegging. Vielleicht kommt er ja ebenfalls wieder, jetzt, wo ich wieder hier bin. Wenn es sicher ist. Ich habe etwas im Sanktum gesehen, weißt du …«

»Es ist in Ordnung, William«, sagte ich schnell. »Ich weiß, was du gesehen hast, was du herausgefunden hast. Jeder weiß das jetzt. Das Herz ist tot und all seine Boshaftigkeit mit ihm. Wir haben jetzt eine neue Rüstung, aus einer neuen Quelle. Da ist nichts mehr, wovor man Angst haben muss.«

Er sah mich traurig an. »Das wäre schön. Aber wir sind Droods. Also gibt es immer etwas, wovor man Angst haben muss. Das kommt davon. Ich hatte Angst vor so vielen Dingen, so lange schon.«

Ich wechselte vorsichtig das Thema. »Gibt es jemand besonderen von der Familie, den du sehen willst? Jemand, den du vermisst hast?«

»Nein«, sagte William nach einem Moment. »Ich hatte nie eine eigene Familie. Oder alte Freunde … Das scheint alles so lange her zu sein. Ich glaube nicht, dass ich will, dass sie mich so sehen. Ich bin … noch nicht wieder ich selbst. Wer auch immer das sein wird.«

»Ich weiß, was du brauchst«, sagte ich entschieden. »Du warst der beste Bibliothekar, den die Familie je hatte und wir haben eine wundervolle Überraschung für dich. Wir haben die alte Bibliothek wiederentdeckt, nach all den Jahren. Wir brauchen jemanden wie dich, um sie zu ordnen.«

William sah mich scharf an, sein Gesicht wirkte zum ersten Mal wach und interessiert. »Die alte Bibliothek? Aber die ist doch durch ein Feuer zerstört worden, vor Jahrhunderten schon!«

»Nein«, sagte ich grinsend. »Sie wurde nur versteckt und wartete darauf, gefunden zu werden. Und du wirst nicht glauben, was für alte Schätze sich darin finden. Komm mit!«


Ich brachte ihn durch das Herrenhaus und er sah sich staunend wie ein Tourist um, als hätte er es noch nie gesehen. Vielleicht hatte er alles vergessen, bei seinen Bemühungen, alles zu verdrängen, was er im Sanktum gesehen hatte. Er hatte es vergessen müssen, um zu überleben. Er hatte sich selbst in eine Irrenanstalt gebracht, vor der Familie versteckt und verdrängt, was er über sie entdeckt hatte. Er hatte vorgegeben, verrückt zu sein, um hineinzukommen, aber mit den Jahren hatte er es weniger und weniger vorgeben müssen. Er war jetzt schon so lange weg, dass keiner der Leute, denen wir begegneten, ihn erkannte, und er zeigte kein Interesse daran, mit einem von ihnen zu reden. Als ich ihn zur Bibliothek brachte, hellte sich seine Stimmung umgehend auf. Er ging durch die Regale, lächelte, wenn er dieses oder jenes Buch wiedererkannte, und schüttelte den Kopf über den Zustand des Ganzen. Er stand jetzt aufrechter, sein Blick war schärfer und er schritt mit mehr Selbstsicherheit aus. Jetzt, in vertrauter Umgebung, kam mehr und mehr seines eigenen Ichs wieder zu ihm zurück.

Er sah beinahe wieder so aus und hörte sich so an wie der Bibliothekar, den ich aus meiner Kindheit kannte.

Als ich glaubte, dass er fertig wäre, nahm ich ihn mit zu dem Porträt des alten Archivars an der hinteren Wand, öffnete es mit den richtigen Worten und wir gingen durch das Porträt in die alte Bibliothek - das riesige Lager von uraltem Familienwissen und vergessener Weltgeschichte. William nahm einen tiefen Atemzug und starrte mit großen Augen und entzückt wie ein Kind auf die kilometerlangen Regale. Stöße und Berge von Büchern, Manuskripten und Schriftrollen, ja sogar ein paar Steintafeln, erstreckten sich, so weit das Auge sehen konnte, in die Ferne. William lächelte plötzlich und es war, als würde auf einmal sein ganzes Gesicht lebendig. Ich lächelte ebenfalls, froh, endlich etwas richtig gemacht zu haben. Das Herrenhaus fühlte sich vielleicht für ihn nicht an wie ein Zuhause, aber die alte Bibliothek dafür ganz sicher.

»Für den Anfang könntest du vielleicht für mich ein paar Nachforschungen anstellen«, sagte ich leichthin. »Ich brauche alles, was du über die kandarianische Kultur finden kannst und besonders ein paar alte Riten, die Wesen betreffen, die die Eindringlinge genannt werden. Nimm dir Zeit. Heute Abend würde vollkommen reichen.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er in der typisch schnoddrigen Art eines Bibliothekars. »Manche Dinge ändern sich nie. Du willst das Unmögliche und das auch noch zu einem bestimmten Zeitpunkt. Muss ich das alles alleine tun oder habe ich irgendwelche Mitarbeiter?«

»Gerade mal einen«, sagte ich. »Um genau zu sein, der derzeitige Bibliothekar. Rafe? Rafe, wo bist du?«

Ein Kopf poppte aus einem Stapel Bücher weiter hinten heraus, eine Hand winkte fröhlich und ein freundlicher, junger Kerl mit einem breiten, strahlenden Gesicht kam zu uns herübergelaufen. Ich mochte Rafe. Der vorige Bibliothekar hatte seinen Posten abgegeben, als ich die Leitung der Familie übernommen hatte. Er war nicht nur ein Mitglied der Null-Toleranz-Fraktion, sondern gehörte auch zu den Anhängern der Matriarchin, und weigerte sich deshalb, für mich zu arbeiten. Ich war gezwungen gewesen, seinen Assistenten zum Vollbibliothekar zu befördern. Er hatte sich gar nicht so schlecht gemacht. Es half, dass er seinen Job liebte und praktisch in Ekstase verfallen war, als er der alten Bibliothek ansichtig geworden war. Er versuchte derzeit, einen Index zu erstellen, damit wir wenigstens wussten, was es hier alles gab.

»Hi!«, sagte er zu William und schüttelte begeistert dessen Hand. »Ich bin Rafe. Eine Abkürzung von Raphael, was ich nie benutze. Ich bin keine Schildkröte. Sie müssen William sein. Sie sind eine Legende in Bibliothekskreisen! Die, wie man zugeben muss, gar nicht so groß sind. Aber! Hier sind Sie, wieder da und genau rechtzeitig, um mir zu helfen, Ordnung in dieses Chaos zu bringen. Keiner hat diesen Ort in den letzten Jahrhunderten genutzt und das sieht man ihm an. Ich habe schon gesagt, dass ich die Hilfe eines Experten brauche, aber es hat mich ja völlig umgeworfen, als Edwin gesagt hat, er könnte Sie kriegen! Und hier sind Sie! Ich freu mich echt darauf, mit Ihnen zu arbeiten!«

»Keine Sorge«, sagte ich zu William. »Er wird sich schon wieder beruhigen, wenn er sich an dich gewöhnt hat. Und das Ritalin in seinem Tee hilft ihm dabei.«

»An die Arbeit«, sagte William.

Und er ging davon, in die Regalreihen hinein und sah sich nicht einmal nach einem von uns um. Rafe nickte mir kurz zu, grinste und hastete hinter seinem neuen Mentor her. Ich grinste ebenfalls und schüttelte den Kopf, als William Rafe von Bücherstapel zu Bücherstapel schickte, um alte Folianten und heilige Texte hervorzusuchen und hinter ihm herzurufen wie ein Hirte seinem Hütehund.

Mit etwas Glück würde das Ordnen der alten Bibliothek William ein wenig helfen, sein Leben wieder in Ordnung zu bringen.


Als ich aus dem Portal in die Hauptbibliothek zurückkam, wartete Penny auf mich. Ich drehte mich um, um das Porträt zu schließen und ging dann wortlos an ihr vorbei. Vielleicht ein wenig kindisch, aber ich war wirklich nicht in der Stimmung, herumzudiskutieren. Penny ging einfach neben mir her, kühl und gesammelt wie immer.

»Es ist nicht einfach, dich festzunageln, Eddie. Wenn nicht jemand gesagt hätte, dass er William Drood hier hat herumlaufen sehen, dann hätte ich nie hier nachgesehen. Ist er wirklich all die Jahre im Irrenhaus gewesen? Na, egal, du hattest mit den Tutoren recht, also hast du es hoffentlich mit den Vogelfreien ebenfalls. Bitte, lauf etwas langsamer, Eddie! Wir müssen reden!«

»Nein, müssen wir nicht«, sagte ich und wurde nicht langsamer.

»Doch, das müssen wir! In deiner Abwesenheit hat der Innere Zirkel Harry zu einem Vollmitglied gewählt. Jeder hat zugestimmt. Selbst der Waffenmeister, auch wenn er es sicher nur getan hat, weil Harry James' Sohn ist. Wie auch immer - der Punkt ist, dass der Innere Zirkel einstimmig beschlossen hat, dass dir nicht mehr erlaubt ist, militärische Entscheidungen zu treffen, ohne vorher den Inneren Zirkel zu befragen. Und dass du ohne die Zustimmung des Zirkels nichts Derartiges mehr in die Wege leiten darfst. Weißt du, was das bedeutet? Jetzt mach langsamer, Eddie, ich kriege Seitenstechen! Na, hast du nichts dazu zu sagen?«

»Glaub mir, du willst wirklich nicht hören, was ich dazu gerne sagen würde.«

»Eddie …«

»Nichts davon spielt eine Rolle«, sagte ich kurz. »Ich habe den Inneren Zirkel einberufen, um mich zu beraten. Nichts weiter.«

»Ich verstehe«, sagte Penny kalt. »Also bist du jetzt der Patriarch, ist es das? Du führst die Familie eigenmächtig, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen?«

»Themenwechsel«, sagte ich und sie musste etwas in meiner Stimme gehört haben, denn sie tat es.

»Ich habe endlich Kontakt mit dem Vogelfreien aufnehmen können, der als der Maulwurf bekannt ist. Mit ein bisschen Fantasie unserer Kommunkationsleute, die sich für meinen Geschmack ein wenig zu sehr mit geheimem Nachrichtenwesen befasst haben. Du sagtest, du willst den Maulwurf wieder hier im Schoß der Familie haben.«

»Er könnte uns sehr nützlich sein«, sagte ich ein bisschen defensiv. »Als er vogelfrei wurde, ging er in den Untergrund, im wahrsten Sinne des Wortes. Und bastelte ein Informationsnetzwerk, das in der Welt seinesgleichen sucht. Er weiß Dinge, die sonst niemand weiß. Und er steht in Kontakt mit allen möglichen mächtigen Gruppen und Individuen, die nicht mal im Traum daran denken würden, direkt mit uns zu reden. Wir brauchen den Maulwurf und seine Quellen.«

»Nun, unglücklicherweise weigert sich der Maulwurf, seine Höhle zu verlassen«, sagte Penny. »Auch wenn wir alles getan haben, um ihn von seiner Sicherheit hier zu überzeugen. Er hat sehr deutlich gesagt, dass er sein Refugium auf keinen Fall verlassen wird. Aber du musst ihn beeindruckt haben, weil er sich einverstanden erklärt hat, mit uns Informationen darüber zu suchen, was die Abscheulichen vorhaben und über die möglichen Standorte anderer Nester. Gerade jetzt ist er in einer Telefonkonferenz mit ein paar unserer besten Technogeeks und zweifellos bringt er ihnen alle möglichen üblen Tricks bei.«

Ich nickte und ging ein wenig langsamer. Penny hatte angefangen zu keuchen. »Das ist das Beste, was wir beim Maulwurf erreichen können«, sagte ich. »Ich werde später mit ihm reden. Sind noch mehr Vogelfreie aufgetaucht?«

»Wir haben allen die Nachricht zukommen lassen. Aber es liegt an ihnen, uns zu kontaktieren. Und viele von ihnen haben einen guten Grund, vorsichtig zu sein. Also, das ist alles an Neuigkeiten, was ich auf Lager hatte. Ich bin dann mal weg. Ich habe noch einiges vor.«

»Jemand Bestimmtes?«, fragte ich. Es musste etwas in meiner Stimme gelegen haben, denn sie bedachte mich mit einem stechenden Blick.

»Nicht, dass es dich etwas anginge, aber ja. Ich treffe mich mit Mr. Stich.«

»Du willst doch nicht wirklich mit ihm reden«, sagte ich. Ich hielt an und sie mit mir. Ich sah sie nachdenklich an. Sie hatte einen grimmigen, trotzigen Gesichtsausdruck, also wählte ich meine Worte sorgfältig.

»Du weißt nicht, was er ist, Penny. Ich habe einige seiner Opfer gesehen. Oder was von ihnen übrig war; aufgeschnitten, ausgeweidet. Ich habe einmal in einem seiner Verstecke seine alten Opfer gesehen, sie saßen arrangiert um einen Tisch herum, ausgestopft und mumifiziert, damit er ihren Tod wieder erleben und sich daran weiden konnte. Er konservierte ihren Schrecken und ihre Schreie. Er ist nicht menschlich, Penny. Nicht mehr. Er hat sich damals, 1888, zu etwas ganz anderem gemacht.«

»Du kennst ihn nicht so wie ich«, sagte Penny. »Du hast dir nie die Zeit genommen, mit ihm zu reden und ihm zuzuhören, so wie ich. In ihm steckt mehr, als du denkst. Er braucht Hilfe, jemand, dem es wichtig genug ist, dass er sich ändert. Jeder kann geläutert werden, Eddie.«

Ich suchte immer noch nach etwas, was ich ihr sagen konnte, als sie sich auf dem Absatz umdrehte und davonging. Ich hätte ihr nachgehen können, doch ich tat es nicht. Es hätte nichts genutzt. Einige Leute wollten nicht belehrt werden. Sie mussten es selbst erfahren, manchmal auf die brutale Art. Und welcher Mann verstand schon, was eine Frau in einem anderen Mann sah? Vielleicht konnte Mr. Stich ja gerettet werden. Molly glaubte an ihn. Ich … nicht. Das war Mr. Stich: Ein Mörder und Killer von Frauen seit über einem Jahrhundert. Ein Jahrhundert des Metzelns, von Frauen, die vielleicht ebenso geglaubt hatten, ihn zu verstehen, bis zu dem Zeitpunkt, an dem er das Messer zog. Also ging ich und suchte mir eine stille Ecke, verriegelte die Tür und befahl Merlins Spiegel, mir zu zeigen, was Penny und Mr. Stich so vorhatten.

Du benutzt den Spiegel zu oft, hatte Molly gesagt. Du wirst davon abhängig. Aber ich tat nur, was ich tun musste. Für die Familie.


Penny und Mr. Stich spazierten durch den Park hinunter zum See. Der Himmel war sehr blau, die Bäume wiegten sich in einer starken Sommerbrise hin und her und schneeweiße Schwäne segelten majestätisch über das Wasser des Sees. Penny schnalzte mit der Zunge, um sie anzulocken, aber keiner von ihnen kam näher, solange sie Mr. Stich bei sich hatte. Die beiden gingen nebeneinander her, lächelten und sprachen miteinander wie alte Freunde.

»Also«, meinte Penny. »Gefiel es Ihnen, all die Abscheulichen zu töten?«

»Nicht wirklich«, erwiderte Mr. Stich. »Sie sind nicht gestorben wie normale Leute. Es gab kein wirkliches Leiden, keinen Schrecken in ihren Augen und das ist nun einmal das A und O für mich.«

»War das Ganze so ein Desaster, wie Harry die ganze Zeit behauptet?«

»Nein«, sagte Mr. Stich nach einer nachdenklichen Pause. »Wir haben die Abscheulichen davor zurückgehalten, ihren unheiligen Meister von der Anderen Seite herzuholen. Ihren Turm zerstört, die meisten von ihnen getötet und die anderen zerschlagen. Edwin hat den Plan entwickelt, der das möglich gemacht hat. Wenn er das nicht getan hätte, wenn dieses Wesen durchgekommen wäre, dann wäre das eine Katastrophe gewesen, und die ganze Welt hätte dafür gezahlt. Die Menschheit selbst wäre vielleicht ausgelöscht worden … Vielleicht sogar ich. Es war ein interessantes Ereignis, mich von Angesicht zu Angesicht einer Kreatur gegenüber zu finden, die noch bösartiger ist als ich.«

»Fühlen Sie immer noch den Drang zu töten?«, fragte Penny plötzlich. »Oder sind Sie nun befriedigt?«

»Ich fühle den Drang immer noch«, meinte Mr. Stich. »Ich fühle ihn immer.« Er sah sie offen an. »Warum suchen Sie mich auf, Penny? Sie wissen, was ich bin. Was ich Frauen antue. Wollen Sie, dass ich es Ihnen antue?«

»Natürlich nicht!«

»Also warum, Penny?«

»Niemand ist je so schlimm, wie von ihm gesagt wird«, antwortete sie nach einer Weile.

»Ich bin es.«

»Vielleicht. Ich habe alle Geschichten gehört. Aber ich wollte den Mann hinter den Geschichten kennenlernen. Etwas zieht mich zu Ihnen hin.« Penny sah in sein Gesicht und hielt seinem kalten Blick unbeirrt stand. »Jeder kann gerettet werden. Jeder kann wieder ins Licht gebracht werden. Ich habe immer daran geglaubt.«

»Was, wenn man nicht gerettet werden will?«

»Wenn das wahr wäre«, sagte Penny, »dann hätten Sie Ihr Wort Molly gegenüber bereits gebrochen. Sie leben hier mit uns, umgeben von Versuchung, aber Sie tun nichts. Molly sagte, Sie seien ein guter Freund von ihr.«

»Molly glaubt, was sie glauben will.«

»Das tue ich auch«, sagte Penny. »Und jetzt genug geredet über dunkle und unerfreuliche Dinge! Ich werde Sie für eine Weile davon ablenken.«

Mr. Stich nickte langsam. »Ja. Sie wären vielleicht dazu in der Lage.«

»Ich dachte, ein Picknick wäre nett«, sagte Penny fröhlich. »Ich habe einen Korb mit allem gepackt, was man dazu braucht, in dem kleinen Wäldchen da drüben. Sollen wir?«

»Warum nicht?«, sagte Mr. Stich. »Es ist lange her, dass ich etwas so … Zivilisiertes getan habe.«

»Wir müssen uns einfach besser kennenlernen«, sagte Penny. »Wie lange ist es her, dass Sie mit jemandem völlig frei haben reden können? Wie lange ist es her, dass einfach jemand dasaß und Ihnen zugehört hat?«

»Lange«, meinte Mr. Stich. »Ich bin seit einer sehr langen Zeit allein.«

»Ich kann Sie nicht immer Mr. Stich nennen. Haben Sie keinen Vornamen?«

Er lächelte. »Nennen Sie mich Jack.«

»Ach, Sie!«

Und sie gingen Arm in Arm zusammen davon.


Ich steckte Merlins Spiegel weg und rannte mit Höchstgeschwindigeit zum Haupteingang. Ich wollte nicht, dass Penny mit Mr. Stich alleine war, weit weg von jeder Hilfe. Ich glaubte zwar nicht, dass er eine Drood direkt vor Drood Hall angreifen würde, aber … Ich lief durch die Hallen und Verbindungsräume und alle Familienmitglieder wichen zurück und machten mir großzügig Platz. Einige warfen mir böse Blicke zu, einige murmelten etwas vor sich hin, aber keiner hatte mir etwas zu sagen. Auch gut. Ich hatte ihnen auch nichts zu sagen. Als ich endlich zum Haupteingang kam, wartete Molly dort auf mich, zusammen mit einem Bekannten und einem Fremden. Sie hatte sie beide geradezu gemein an den Ohren gepackt und übte gerade genug Druck aus, um sie beide still zu halten. Sie warfen ihr wütende Grimassen zu.

»Schau mal, wen ich gefunden habe!«, sagte sie fröhlich. »Die haben hier im Park herumgeschnüffelt.«

»Wir haben nicht geschnüffelt!«, protestierte das Gesicht, das mir bekannt vorkam, mit so viel Würde, wie man aufbringen konnte, wenn einem jemand das Ohr in einen fiesen Knoten dreht. »Wir haben uns nur Zeit gelassen, entdeckt zu werden.«

»Hallo, Sebastian«, sagte ich. »Ist schon ein Weilchen her, seit du mich an das Manifeste Schicksal verraten und versucht hast, mich zu töten. Wer ist denn dein sich windender Freund?«

»Halt still!«, sagte Molly bissig. »Oder ich werde euch die Ohren abreißen und euch zwingen, sie zu essen.«

»Alles in Ordnung, Molly«, sagte ich besänftigend. »Du kannst sie jetzt loslassen. Sogar ein so eingefleischter Dieb und Bauernfänger wie Sebastian Drood ist vernünftig genug, keinen Streit im Herrenhaus anzufangen. Stimmt's, Sebastian?«

»Natürlich, natürlich! Lass mich los, Frau, bevor mein Ohr völlig deformiert ist! Ich werde brav sein. Ich versprech's.«

»Verdammt, ja, genau das wirst du sein«, grummelte Molly.

Sie ließ widerwillig los und Sebastian und sein Begleiter richteten sich auf und befingerten zimperlich ihre geröteten Ohren. Sebastians übliches kultiviertes Gehabe war dahin, aber er sah in seinem meisterlich geschnittenen Anzug noch sehr distinguiert aus und war für einen Mann in den Sechzigern sehr gut in Form. Selbst sein dünner werdendes Haar war offensichtlich gefärbt.

»Ich bin nicht nur ein alternder Dieb«, sagte er hoheitsvoll. »Ich bin ein Gentleman-Einbrecher. Ich stehle wunderschöne Objekte von Leuten, die sie nicht zu schätzen wissen und gebe sie weiter an Menschen, die das können. Für eine kleine Provision. Ich stehle nur das Allerbeste, von den Allerbesten. Ich habe meine Prinzipien.«

»Wie seid ihr ungesehen in den Park gekommen?«, fragte ich. »Wir haben die Sicherheitssysteme des Herrenhauses komplett überarbeitet, als ich wiederkam. Der Alarm hätte überall hörbar losgehen müssen, in dem Moment, in dem ihr auch nur daran gedacht habt, hier einzubrechen.«

Sebastian schenkte mir sein bestes hochmütiges Lächeln. »Ich bin ein professioneller Einbrecher, mein Lieber, und ein Experte auf meinem Gebiet. Und ich habe ein paar alte Gefallen eingefordert. Du weißt ja, wie das ist.«

»Nicht im Entferntesten«, sagte ich. »Erleuchte mich.«

»Erzählst du mir vielleicht all deine Geheimnisse? Überflüssig zu sagen, dass es ein einmaliger Deal war und höchstwahrscheinlich nicht wiederholt werden kann. Und wenn du jetzt fragst, warum ich einen so unauffälligen Weg hierher gewählt habe, will ich nur sagen, ich war mir nicht völlig sicher, ob ich willkommen sein würde. Sieh nur deine eigene Vergangenheit. Deine Botschaft an die Vogelfreien besagte, dass alle Sünden vergeben sind, aber ich fürchte, ich bin in der Zeit, in der ich von der Familie getrennt war, schrecklich zynisch geworden.«

»Du hast so viele Sünden, die dir vergeben werden müssten«, sagte ich. »Einschließlich derer, die du gegen Molly und mich verübt hast. Aber Schwamm drüber, Seb, du hast mich ja nur an meine Feinde verraten. Das erwarten wir heutzutage innerhalb der Familie. Aber du schienst doch so gut zurechtzukommen, draußen in der Welt. Warum hast du deine kleine Luxushöhle in Knightsbridge denn aufgegeben? Und wag es nicht, das Wort ›Pflicht‹ zu benutzen; ich kenne dich, Seb.«

»Ich will meinen Torques wiederhaben«, sagte Seb rundheraus. »Ich habe mir in all den Jahren zu viele Feinde gemacht, um ohne einen lang überleben zu können.«

»Ehrlich bist du ja«, meinte ich. »Aber wenn im Herrenhaus auch nur eines unserer kostbaren Erbstücke verschwindet, während du hier bist, dann weiß ich, dass du das warst. Und ich werde Molly dich in irgendetwas viel Schleimigeres verwandeln lassen, als du sowieso schon bist.«

»Etwas ganz besonders Zähflüssiges und Glibbriges, mit Augäpfeln vorne drauf und Tentakeln«, sagte Molly hämisch. »Ich hab's geübt.«

»Und da sagt man immer, man könne nicht heimkommen«, erwiderte Sebastian. »Genau so erinnere ich mich an die Familie: Kalt vorverurteilend und extrem bedrohlich. Sorge dich nicht, Edwin, ich bin nicht hier, um viel Lärm zu machen, ich will nur meine Rüstung. Selbst wenn ich - und ich kann nicht fassen, dass ich das sage - etwas tun muss, um sie zu verdienen.«

»So ist es recht«, lobte ich. »Du wirst dich hier wohlfühlen.«

»Ich habe gehört, du suchst Tutoren«, sagte er. »Ich hätte da so einige Tricks in petto, die ich … nun, sagen wir, geistig offenen jungen Droods beibringen könnte. Dinge und Fähigkeiten, von denen sie wahrscheinlich nicht einmal träumen würden.«

»Ich hoffe, dass du das nicht tust«, sagte ich. »Oder wir müssten sie rauswerfen, so wie dich.«

Sebastian schnüffelte verletzt. »Da ist wirklich nicht für einen Cent Nächstenliebe in dir, Edwin, oder?«

»Kein bisschen«, antwortete ich. »Wurde mir alles chirurgisch entfernt. Also, wer ist dein Freund hier?«

»Oh, ich bin Freddie Drood, Schätzchen«, sagte der junge Mann an Mollys anderer Seite. »Es ist ja so fabelhaft, dass wir uns kennenlernen!«

Freddie war groß und hübsch, mit einer kaffeefarbenen Haut und kurzgeschnittenem, jettschwarzem Haar. Er trug eine Jacke aus Schlangenhaut über einem bis auf den Nabel offenstehenden Seidenhemd und Levi's, die so eng waren, dass ich sicher war, er hatte sie im Wasserbad schrumpfen lassen. Um seine Augen herum trug er Mascara. Er hatte einen buschigen Schnurrbart und ein breites Grinsen, bei dem er blendend weiße Zähne zeigte.

»Freddie«, sagte ich. »Ich kann nicht behaupten, dass ich den Namen kenne.«

»Wie unfreundlich«, sagte Freddie schmollend. »Ich war zu meiner Zeit absolut berüchtigt, mein Liebchen. Aber ich befinde mich finanziell in einer winzig kleinen Notlage, also hab ich mich mit Sebbie hier zusammengetan, sozusagen als Partner. Ich habe ihn in all die In-Partys eingeführt, damit er die Orte ausbaldowern konnte und dann sind wir später wiedergekommen und haben die armen Lieblinge ausgeraubt.«

»Und warum hat die Familie dich rausgeworfen?«, wollte ich wissen.

»Oh, ich war immer besonders. Auffälliger und größer als das Leben selbst, Süßer«, sagte Freddie, warf seinen Kopf zurück und nahm eine dramatische Pose ein. »Ich habe als Frontagent angefangen, aber einmal von den trockenen Familienbanden befreit, bin ich förmlich aufgeblüht! Ich war beinahe ein Star, Schätzchen, und wirklich hinter allem her, was mich in die Nähe der Reichen und Berühmten brachte. Die Familie hat das zuerst unterstützt, weil ich den allerfeinsten Klatsch über unsere vermeintlichen Herren und Meister kannte. Aber ich konnte nicht länger unter dem Radar bleiben, ich wurde langsam bemerkt. Also sagte mir die Familie, ich sollte wieder nach Hause kommen. Ich weigerte mich und sie drehten mir den Geldhahn zu. Diese herzlosen Schweine!

Glücklicherweise lebte ich schon beim ersten einer ganzen Reihe von Sugar Daddys. Und alle waren sie bereit, mir den Lebensstil zu ermöglichen, an den ich mich schon gewöhnt hatte und den ich auf keinen Fall aufgeben wollte. Also hieß es für eine lange Zeit, Party, Party und lass es krachen! Bis ich den Fehler machte zu versuchen, selbst etwas zu meinem Lebensunterhalt beizutragen, mit einer kleinen, diskreten Erpressung. Die erste Person, die ich mir aussuchte, beging Selbstmord, das arme Herzchen. Er hinterließ einen Brief, der alles enthüllte. Danach war ich in den besseren Kreise eine Persona non grata, für eine so lange Zeit! Deshalb bin ich jetzt bei Sebbie. Ich lebe auf sehr großem Fuß, Liebelein: Tanzen und Trinken und Prassen, die ganze Nacht!«

»Und was machst du dann wieder hier?«, fragte ich, als Freddie endlich einmal Luft holen musste.

»Ich brauche einfach einen Torques, Süßer. Es gibt heutzutage einfach zu viele Krankheiten da draußen. Keine Sorge, ich bin gern bereit, für mein Abendessen zu singen. Ein Mädchen in meiner Lage hört in der Regel ein paar Dinge. Ich bin sicher, ich kann dir alles Mögliche sagen, was du hören willst.«

»Da bin ich sicher«, erwiderte ich. »Okay, ihr beide erschreckt mich über alle Maßen, aber unglücklicherweise seid ihr jetzt in diesem Moment gerade das, was die Familie braucht. Herein mit euch, meldet euch beim Seneschall und findet einen Weg, euch nützlich zu machen. Seb, ich denke, wir können dich mit einer Reihe Seminaren und Vorlesungen beschäftigen. Wie man einen Torques für Illegales benutzen kann, um etwas aufzubrechen oder wie man in etwas hereinkommt und so etwas in der Art. Freddie, versuch dich zu beschäftigen und keinen Arger zu machen.«

»Süßer, so beschäftigt wie ich sein werde, war ich in meinem Leben noch nicht«, erwiderte Freddie.

Mit einem Winken und einem Augenzwinkern tänzelte er ins Herrenhaus, gefolgt von Sebastian mit Leichenbittermiene.

»War das schlau?«, fragte Molly. »Man könnte einen Zehner wetten, dass die nur gekommen sind, um das Herrenhaus auszuräumen.«

»Vielleicht«, sagte ich. »Hoffentlich wirft der Seneschall ein wachsames Auge auf sie. Entweder das, oder er bringt sie um. Und wir brauchen die Vogelfreien hier im Haus. Wir brauchen ihre unterschiedlichen Blickwinkel, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten.«

»Selbst wenn das heißt, solchen Abschaum wie Sebastian wieder willkommen zu heißen?«

»Jeder verdient eine Chance«, sagte ich. »Ich muss daran glauben, dass jeder erlöst werden kann.«

In diesem Moment kam Freddie wieder, ohne Sebastian. »Ich hatte eine Idee«, sagte er strahlend. »Wenn ich das richtig verstehe, dann hat die Familie doch alle Vogelfreien wieder zurückgerufen, aber kaum jemand nimmt das Angebot an, oder? Dachte ich mir, ihr Süßen. Eigentlich verständlich, so leid mir's tut. Nicht jeder traut einem neuen Regime zu, so komplett anders zu sein als das alte. Aber ich bin bekannt dafür, dass ich zu meiner Zeit alle möglichen Vogelfreien getroffen habe, an allen möglichen interessanten Orten. Einige sind lange vergessen, ein paar tot geglaubt, jedenfalls von der Familie. Wie wäre es wenn ich rausgehe in die Welt, diese flüchtigen Kerlchen einfange und meinen geballten Charme einsetze, um sie wieder zur Heimkehr zu bewegen? Für ein großzügiges Kopfgeld pro Nase, versteht sich.«

»Oh, natürlich«, sagte ich. »Klingt gut für mich. Mach deine Sache gut und ich garantiere dir einen neuen Torques. Hat ja nicht lange gedauert, bis du die alte Heimstatt wieder leid warst, oder?«

»Süßer, ich habe ganz vergessen, wie bedrückend dieses alte Gemäuer ist«, sagte Freddie. »Ich könnte hier nie leben. Ich würde vertrocknen, ihr Schätzchen, absolut vertrocknen! Ich muss meine Freiheit haben!«

»Und du hast sie«, sagte ich. »Hau schon ab.«

»Und das Kopfgeld?«

»Kommt drauf an, was du lieferst. Du findest deinen Weg raus, oder?«

»Das tu ich immer, Herzchen.«

Er tänzelte den langen Kiesweg hinunter und schwang dabei die Hüften noch ein wenig mehr, weil er wusste, wir sahen zu. Irgendwie wusste ich einfach, dass Freddie immer dann am glücklichsten war, wenn er Publikum hatte.

»Deine Familie hört nicht auf, mich zu überraschen«, sagte Molly.

»Mich überrascht sie auch manchmal«, erwiderte ich. »Mein eigener Innerer Zirkel hat sich gegen mich gewendet, weil du nicht da warst.«

»Eddie, das ist nicht fair«, sagte Molly. »Wenn du sie nicht kontrollieren kannst, dann kannst du das sicher nicht von mir erwarten.«

»Ich will sie nicht kontrollieren«, sagte ich. »Nicht auf diese Weise. Ich will, dass diese dummen Idioten begreifen, dass ich recht habe. Sie müssen daran glauben, dass ich das Richtige tue. Oder alles, was ich getan habe, um die Seele der Familie zu retten, war umsonst.«

»Dafür brauchst du mich nicht«, sagte Molly.

»Doch, das tue ich. Ich brauche dich einfach, Molly. Ich bin stärker, selbstsicherer, wenn du bei mir bist.«

Molly lächelte und kam mir ganz nah. Sie legte die Hände auf meine Brust. »Das ist sehr süß, Eddie. Aber ich kann nicht immer bei dir sein. Das kann ich einfach nicht. Nicht hier. Ich hab dir gesagt, dass ich nie hierher passen werde. Ich gehöre in die Wildnis. Ich fange an zu glauben, dass ich einen Fehler gemacht habe, indem ich mit dir hierher kam. Ich liebe dich, Eddie, du weißt, dass ich das tue. Du bedeutest mir mehr als jeder andere vor dir. Ich will dich, Eddie, aber all das hier will ich nicht.«

Sie sah mich einen langen Moment an, ihre dunklen Augen glichen tiefen und unauslotbaren Abgründen. »Du fängst einen Krieg an, Eddie. Einen Krieg, von dem ich nicht weiß, ob du ihn gewinnen kannst. Die Abscheulichen waren schlimm genug, aber dieses Ding, das sie beschworen haben? Überdimensional schlimm. Ich war einverstanden, gegen Dämonen zu kämpfen, nicht gegen Götter. Du musst mit etwas Kleinerem anfangen, etwas Überschaubarerem. Sowas wie das Manifeste Schicksal. Truman ist immer noch da draußen und stellt seine widerliche kleine Organisation wieder auf die Beine. Und diesmal wird er keine Null-Toleranzler auf seiner Seite haben, die ihn zügeln und ihn zurückhalten. Fang bei ihm an, Eddie. Mit einem Kampf, den du gewinnen kannst.«

»Ich werd's mir überlegen«, sagte ich. »Und jetzt komm bitte wieder mit rein. Wenigstens für eine Weile. Ich bin müde, ich muss mal loslassen. Ein bisschen schlafen, die Welt und ihre Probleme für eine Weile vergessen. Morgen ist ein harter Tag.«

»Aber natürlich, Süßer. Komm und leg dich mit mir hin und ich werde deine Sorgen für eine Weile verschwinden lassen. Und du kannst mir helfen, meine zu vergessen. Aber was ist denn an morgen so Besonderes? Was passiert morgen?«

»Die Beerdigungen«, sagte ich.


Der nächste Morgen kam viel zu schnell, und das beharrliche Scheppern eines nervigen Weckers stellte sicher, dass Molly und ich frisch, fröhlich und früh genug den neuen Tag begrüßten. Und natürlich all die Probleme und Kalamitäten, die er versprach. Molly und ich gingen hinunter, um in einem der großen Speisesäle zu frühstücken. Lange Reihen von mit weißem Tuch gedeckten Tischen standen dort, ein langer Tresen, auf dem alle Arten von Frühstück standen, die man sich nur vorstellen kann, und es gab lange Fenster, die einen Blick über die Rasenflächen gestatteten. Es gab geschmorte Nierchen, gebratenen Reis mit Fisch und Eiern, selbst Porridge, auch wenn man mich wohl nie dazu bringen würde, dieses Zeug zu essen, egal, wie viel Salz man darüber streute.

Ich bin nicht gerade ein Frühaufsteher, das war ich nie. Und ich bin auch nicht sehr scharf auf Frühstück, aber an diesem Tag aller Tage musste ich gesehen werden, damit mich niemand beschuldigen konnte, die Beerdigungen zu versäumen. Meine Abwesenheit hätte als ein Schuldeingeständnis verstanden werden können. Also hielt ich mich an einer Tasse starken schwarzen Kaffees fest, während Molly sich den Bauch mit einem kompletten Teller Gebratenem, mit Leber und Pilzen und mehr Rührei, als ihren Arterien gut tun konnte, vollschlug. Ich hatte noch nie bemerkt, wie laut sie aß, aber vielleicht lag das auch nur an der Uhrzeit. Jedes Geräusch klingt am frühen Morgen noch lauter und eindringlicher. Es waren auch eine Menge Leute um uns herum, die frühstückten und angeregt miteinander sprachen Keiner von ihnen hatte mir oder Molly etwas zu sagen.

»Warum stehen wir so früh auf?«, fragte Molly und griff ihren Berg von dampfendem Rührei erneut mit alarmierender Vehemenz an.

»Begräbnisse werden hier immer früh am Morgen abgehalten«, sagte ich. »Das ist Tradition. Vielleicht ist das diesmal sogar gut, wir haben eine Menge zu tun. All die Leute, die ich verloren habe …«

»Fang damit gar nicht erst an«, sagte Molly streng und drohte mir mit ihrer Gabel. »Nichts von dem, was passiert ist, war dein Fehler. Wenn es das wäre, dann würde ich es dir sagen. Laut und heftig und dort, wo mich jeder hören könnte.«

Ich zog das in Erwägung. »Das würdest du wirklich, stimmt's?«

»Also, warum halten sie das Begräbnis so schnell ab? Es ist ja nicht so, als würde jemand abhauen.«

»Wir zögern nicht, wenn es darum geht, jemanden zu begraben«, meinte ich. »Die Familie hat zu viele Feinde, die versuchen könnten, unsere Toten gegen uns zu verwenden.«

Molly kaute auf einem knusprigen Schinkenstück herum, nachdenklich und gründlich. »Wie laufen Begräbnisse bei euch ab?«

»Oh, es wird eine große Zeremonie werden«, sagte ich. »Meine Familie hat eine Zeremonie für praktisch alles. Wir sind ganz groß, was die Tradition angeht. Hindert das Fußvolk daran, selbst zu denken. Und ich werde zum Schluss eine Rede halten müssen. Das wird von mir erwartet.«

»Was wirst du sagen?«, fragte Molly.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Ich denke, ich könnte mich der Gnade der Familie ausliefern.«

Molly schüttelte den Kopf. »Das würde ich nicht tun.«


Nach dem Frühstück brachte ich Molly in den hinteren Teil des Haupthauses und durch die hohen französischen Fenster, die auf die weiten Rasenflächen zeigten, wo die Beerdigung abgehalten wurde. Die Särge schimmerten hell in der frühen Morgensonne, Reihen und Reihen davon erstreckten sich vor uns. Alle natürlich geschlossen, um die Tatsache zu verschleiern, dass die meisten von ihnen nur Körperteile enthielten und einige sogar gar nichts. Zweihundertundvierzig Holzkisten. Ich wusste nicht, dass wir so viele auf Lager gehabt hatten. Oder vielleicht hatte nur jemand einen Duplizierungszauber angewandt. Zweihundertvierzig Droods weniger, die in der Bresche zwischen der Welt und all dem Bösen darin standen.

Jede Familie verliert Mitglieder. Aber in meiner Familie macht das mehr aus als in den meisten anderen.

Die ganze Familie, oder zumindest schien es so, war zur Beerdigung gekommen. Sie kamen aus dem ganzen Herrenhaus, standen in Gruppen zusammen, die sich aus ihrem Beruf oder ihrem Rang ergaben. Keiner wollte neben Molly und mir stehen, nicht einmal die anderen Mitglieder des Inneren Zirkels. Lange Reihen der Lebenden standen jetzt vor den Reihen der Särge, während versteckte Lautsprecher getragene Musik spielten. Der Waffenmeister stand abseits und fuhrwerkte an einer Bedienungskonsole herum. Er steuerte damit das Energiefeld, dass uns vor feindlichen Attacken und Spionage schützen sollte.

Die Musik endete schließlich mit einer bewegenden Interpretation des Stücks »Ich schwöre Dir, mein Land«, das wir als so etwas wie unsere Hymne betrachteten und dann kam ein Drood-Vikar heraus, um die Zeremonie zu beginnen. Er war ein Christ, mehr nicht. Die Familie hat sich nie um all die verschiedenen Schismen gekümmert, die die protestantische Kirche all die Jahre immer weiter aufgespalten hat. Wir wären vielleicht immer noch katholisch, wenn der Papst uns nicht befohlen hätte, Henry VIII. umzubringen, als der England von Rom getrennt hatte. Der Papst hätte es echt besser wissen müssen. Keiner kommandiert die Droods herum.

Der Vikar führte schnell durch eine verschlankte Zeremonie und hielt nicht einmal für Kirchenlieder oder eine Predigt, dann trat er zurück und nickte dem Waffenmeister zu. Onkel Jack drückte mit der Handfläche einen großen roten Knopf und die zweihundertvierzig Särge verschwanden lautlos. Sie waren weg und hinterließen nur blasse Markierungen auf dem grasigen Untergrund. Molly sah mich fragend an.

»Sie werden direkt ins Zentrum der Sonne teleportiert«, sagte ich. »Sofortige Einäscherung. Asche zu Asche und weniger. Nichts bleibt, um es gegen die Familie zu verwenden. Ich sagte dir ja, dass wir alle verbrannt werden, wir sind da nur etwas dramatischer als alle anderen. Und jetzt entschuldige mich. Ich muss meine Rede halten. Gut, dass ich wenigstens kein Lampenfieber habe. Sieht so aus, als wäre jeder hier außer der Matriarchin.« Ich runzelte die Stirn. »Sie sollte hier sein. Sie sollte ihre privaten Animositäten nicht mit der Pflicht der Familie mischen. Oh Mann, wünsch mir Glück.«

»Ich werde Zwischenrufe damit ahnden, dass ich die Unterwäsche desjenigen anzünde.«

»Sehr passend«, erwiderte ich.

»Dachte ich mir.«

Ich ging gemessenen Schritts an die Stelle, an der sich die Särge befunden hatten, drehte mich um und sah der Familie ins Gesicht. So viele Droods, alle an einem Ort, sahen mich mit unsicheren Mienen an und erwarteten von mir, Worte zu sagen, die alles wiedergutmachen würden. Wenn ich das gekonnt hätte, hätte ich's getan. Aber wenn du zweifelst, dann sag die Wahrheit. Vielleicht ist sie nicht bequem oder beruhigend, aber wenigstens weiß dann jeder, wo er steht.

Also sagte ich ihnen, was wir in der Nazca-Ebene gefunden hatten. Die Abscheulichen, die mithilfe ihrer Drohnen arbeiteten, die wahnsinnige Struktur, die sie gebaut hatten, und das schreckliche Wesen, dass sie durch das Portal in unsere Realität hatten holen wollen. Ich sagte ihnen, wie tapfer und gut meine Armee dagegen gekämpft hatte, gegen eine unerwartete und überwältigende Überzahl und wie wir am Ende triumphiert hatten. Jedenfalls die, die überlebt hatten.

»Das ist genau die Art von Bedrohung, für die die Familie geschaffen wurde«, sagte ich, und meine Stimme klang klar und deutlich in der stillen Morgenluft. »Um Schamanen zu sein, die den Stamm der Menschen gegen Bedrohungen von außerhalb schützen. Die, die mit mir kamen und so tapfer gefallen sind, haben ihr Leben gegeben, um die Menschheit zu retten. Seid stolz auf sie. Und ja, wir haben einen hohen Preis für unseren Sieg bezahlt. Deshalb dürfen wir nie wieder so unvorbereitet sein. Mein Innerer Zirkel und ich haben entschieden, dass jedes Familienmitglied einen Torques bekommen wird, und das so schnell wie möglich. Wir müssen alle wieder stark werden. Es kommt ein Krieg, nicht nur gegen die Abscheulichen und die Invasoren von außerhalb, sondern gegen alle unsere Feinde, die versuchen, uns voneinander zu trennen und zerstören.«

Ich hatte gehofft, dass ich etwas Jubel oder wenigstens eine Runde Applaus bekommen würde, als ich die Rüstungen für alle ankündigte, aber keiner ließ auch nur einen Laut hören. Und als ich geendet hatte, standen alle nur da und starrten mich mit leerem Gesichtsausdruck an, als wollten sie sagen: War's das schon? Ist das alles? Und dann kam Harry aus der Menge heraus und jeder sah ihn an. Das hätte ich mir denken müssen. Ich hätte wissen müssen, dass er die Gelegenheit nutzen würde, mir noch ein Messer in den Rücken zu rammen.

Ich sah schnell zu Molly hin und schüttelte den Kopf. Ich konnte mir nicht leisten, dass irgendeiner dachte, ich hätte Angst, mir Harry anzuhören.

»Ein Krieg steht uns bevor«, sagte Harry mit lauter und selbstsicherer Stimme. »Die Nester der Abscheulichen müssen zerstört werden, und die Eindringlinge davon abgehalten werden, unsere Realität zu erobern. Aber wir können nicht abwarten, bis wir so schnell wie möglich neue Rüstungen bekommen! Wir brauchen sie jetzt. Sofort! Was haben wir denn, das uns vor einer feindlichen Attacke schützt, weil wir nach so einer großen Niederlage als schwach und verletzlich gelten? Was soll die Abscheulichen davon abhalten, gerade jetzt zuzuschlagen, als Vergeltung für die Zerstörung ihres Turms oder um uns davon abzuhalten, andere Nester anzugreifen? Wir brauchen unsere Torques. Die Familie muss geschützt werden. Sie muss wieder stark werden. Und dafür brauchen wir - einen neuen Anführer.«

Er starrte mich direkt an, seine Miene kalt und unnachgiebig. »Ich verlange, dass Edwin zurücktritt! Seine halbgaren Ideen und seine inkompetente Führerschaft hat uns schon zu viel gekostet. Er ist eine Bedrohung für uns alle. Er hat sich selbst als eine Niete im Feld erwiesen, hat es geschafft, dass die meisten seiner Leute getötet wurden und hat noch nicht einmal den Anstand, sich zu entschuldigen oder seine Fehler zuzugeben. Es ist Zeit, wiedergutzumachen, was er der Familie angetan hat und uns der traditionellen Kontrolle zu unterstellen. Wir müssen die Matriarchin wieder an die Macht bringen. Sie allein hat die Erfahrung, einen erfolgreichen Krieg zu führen.«

»Nein«, sagte ich knapp und meine Stimme brachte ihn verblüfft zu einem Halt. Alle Gesichter wandten sich wieder mir zu. Ich versuchte, den Ärger aus meiner Stimme zu verbannen. »Ist euer Gedächtnis wirklich so kurz? Die Matriarchin hat diese Familie betrogen. Habt ihr schon den Preis vergessen, den sie jeden von uns gezwungen hat, für die alte Rüstung zu zahlen? Den Tod eurer Zwillingsbrüder und -schwestern? All diese Babys, die dem Herzen geopfert wurden? Sie hat diese Praktik geduldet und vor euch geheimgehalten, weil sie wusste, dass ihr mit der Wahrheit nicht würdet leben wollen. Wollt ihr eure Seelen wieder verkaufen, so leicht? Ich werde dafür sorgen, dass die Torques, die ihr von Seltsam bekommt, kein Preisschild haben werden. Die Rüstung, die ihr von mir bekommt, werdet ihr mit Stolz tragen können.«

Ich sah Harry an. »Ich garantiere der Familie neue Torques. Kann die Matriarchin das tun? Kannst du's, Harry?«

»Also gehört Seltsam dann wohl dir?«, fragte Harry.

»Seltsam gehört niemandem«, erwiderte ich. »Aber er erkennt ein Arschloch, wenn er eines vor sich hat.« Ich sah wieder hinunter in das Meer der Gesichter vor mir. »Auf euch kommt's an. Trefft eure eigene Entscheidung. Lasst euch von niemandem sagen, was ihr zu tun habt, weder von der Matriarchin, noch von Harry, noch von mir. Ich kann euch nicht gegen euren Willen in den Krieg ziehen und ich würde es nicht tun, selbst wenn ich könnte. Ich bin nicht euer Patriarch, ich bin nur ein Drood, der tun will, was richtig ist. Dazu bin ich erzogen worden. Um den guten Kampf gegen alle Feinde der Menschheit zu führen.«

Es gab eine lange Pause, während der ich mein Herz in meiner Brust förmlich hämmern hören konnte. Ich hatte nichts weiter zu sagen. Und dann, einzeln oder zu zweit, applaudierte meine Familie und nahm damit meine Worte an. Sie beugten die Köpfe vor mir. Die Menge löste sich auf und ging ins Herrenhaus. Keine überwältigende Antwort, aber es würde reichen. Fürs Erste. Ich sah mich um, aber Harry war schon verschwunden. Wahrscheinlich, um der Matriarchin brühwarm Bericht zu erstatten. Ich sah den Waffenmeister, der sich zu einem stillen Zigarillo zurückgezogen hatte. Er hob fröhlich einen Daumen in meine Richtung. Ich nickte und ging zu Molly zurück.

»Den guten Kampf kämpfen?«, fragte sie. »Ich schätze mal, das soll das Gegenteil eines schlechten Kampfs sein. Aber was zum Teufel ist ein schlechter Kampf?«

»Die Art, in der man zweihundertvierzig gute Männer und Frauen verliert«, sagte ich. »Ich kann das nicht allein tun, Molly. Ich brauche Hilfe, professionelle Hilfe. Leute, die wissen, wie man einen Krieg führt.«

»Die Zeit läuft«, sagte Molly. »Wo willst du diese Leute in einer angemessenen Zeitspanne finden?«

»Ganz genau da.«

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