Kapitel Fünfzehn Reisen enden mit einem Treffen von Feinden

Und alles hatte so gut geklappt - na ja, relativ gut. Jetzt sah es so aus, als wären all unsere Erfolge zuvor umsonst gewesen und ich müsste eines meiner chancenlosen As-im-Ärmel- und

Wettlauf-mit-der-Zeit-und-hol-die-verdammte-Kuh-vom-Eis-Wunder wirken. Ich wünschte, die Leute wüssten zu schätzen, wie unglaublich viel mich so etwas kostet.

Auf dem großen Hauptbildschirm half Harry Drood einem verwirrten und zitternden Roger Morgenstern auf die Füße. Roger hatte gerade erst Harrys Leben gerettet, indem er seines aufs Spiel gesetzt hatte und es war schwer zu sagen, welcher der beiden mehr überrascht oder schockiert aussah. Sie lehnten sich erschöpft aneinander und sprachen eine Weile miteinander, aber wir konnten nicht hören, was sie sagten. Die Leute von der Kommunikation arbeiteten, angetrieben vom bösen Blick der Matriarchin, fieberhaft daran, die Audioübertragung wiederherzustellen, allerdings erfolglos. Offenbar hatte die Seelenkanone mit ihrem Feuer den Äther mit andersdimensionalen Energien übersättigt. Wir hatten Glück, dass wir immer noch über ein Bild verfügten, auch wenn der Kommunikations-Offizier genug Verstand hatte, das mit dem Glücksfaktor der Matriarchin eher anzudeuten als offen zu sagen. Auf dem Bildschirm stolperten Harry und Roger unsicher über die Wiese in Richtung Stonehenge, höchstwahrscheinlich auf der Suche nach Trumans unterirdischem Bunker.

Nur die beiden gegen Truman und all seine Armeen. Ich schätze, die Leute können einen immer überraschen, besonders wenn einer von ihnen ein halber Dämon ist.

Ich versuchte, sie zu rufen und ihnen zu sagen, dass Verstärkung auf dem Weg sei, aber sie konnten mich nicht hören. Ich versuchte sogar, sie über Seltsam zu erreichen, aber er konnte mir auch nicht helfen.

»Es ist der Turm«, sagte er und klang merkwürdig kleinlaut. »Er ist fertig, Eddie und beinahe bereit, aktiviert zu werden. Er lebt und ist wachsam, wenn auch nicht in einer Art, die du erkennen könntest. Und ich kann ihn denken hören. Er weiß, dass ich zusehe. Er kommt von einem noch fremderen Ort als ich, einer noch höheren Dimension. Die pure Macht, die in diesem Ding steckt, ist beängstigend. Die Eindringlinge, die Vielwinkligen, die Hungrigen Götter kommen - und ich habe Angst, Eddie.«

»Du könntest abhauen«, sagte ich. »Aus unserer Welt verschwinden und dich in deine eigene Dimension zurückziehen.«

»Und dich und deine Familie schutzlos zurücklassen? Nein. Das ist nicht die Art von andersdimensionalem Wesen, das ich bin. Ich mag diese Welt, und euch, und eure komische Art, Dinge zu tun. Ihr seid spaßig. Die Hungrigen Götter würden euch nur verschlingen und nicht einmal wissen, was sie da zerstören. Sie sind verschlagene, böse, und genau genommen sogar ziemlich dumme Götter. Ich werde dich und deine Familie nicht verlassen, Eddie. Einige Dinge sind es wert, das man um sie kämpft, einfach nur so aus Prinzip.«

»Danke, Ethel.«

»Ach, zum Teufel«, sagte Seltsam. »Wozu hat man denn Freunde?«

In diesem Moment kam U-Bahn Ute in den Lageraum gerannt. Sie hatte sich Mühe gegeben, sich zu säubern, sogar neue Klamotten trug sie, die allerdings eindeutig für jemanden Größeres gedacht waren. Dennoch sah sie immer noch keinesfalls vertrauenerweckend aus und Stress und Anstrengung ließen ihr Gesicht zwanzig Jahre älter aussehen. Zu ihrer Ehrenrettung musste man aber sagen, dass sie versuchte, nicht allzu triumphierend in die Runde zu sehen, weil sie recht gehabt hatte und wir sie jetzt brauchten.

»Ich hatte schon das Gefühl, dass ihr mich noch brauchen würdet«, sagte sie. »Also, hier bin ich. Gehe ich recht in der Annahme, dass alle eure Pläne in die Hose gegangen sind und der Weg der Verdammnis die einzige brauchbare Alternative ist?«

»Perfekt zusammengefasst«, meinte Molly.

»Verdammt«, meinte U-Bahn Ute. »Dann sitzen wir wirklich tief in der Scheiße.«

Molly nahm Ute zur Seite, um sie auf den neuesten Stand der Dinge zu bringen und zu erklären, wie tief wir wirklich in der Scheiße steckten und ich nutzte den Moment, um darüber nachzudenken, wen genau ich mitnehmen wollte. Molly natürlich, aus einem ganzen Bündel von Gründen. Nicht den Waffenmeister. Onkel Jack würde hier gebraucht werden, wenn wir das wieder vermasselten. Giles Todesjäger, weil er der beeindruckendste Kämpfer war, den ich jemals getroffen hatte. Und Mr. Stich, weil er … nun mal das war, was er war und weil er so verdammt schwer zu töten war. Ich hätte auch gerne Callan dabei gehabt, aber er war immer noch außer Gefecht. Also würde der Letzte dieses kleinen Ewiger-Ruhm-oder-Tod-Teams der Seneschall sein müssen. Einerseits, weil ich jemanden dabeihaben wollte, bei dem ich mich darauf verlassen konnte, dass er Befehle befolgte und andererseits, weil ich jemanden brauchte, auf den ich mich verlassen konnte, dass er bis zum letzten Blutstropfen kämpfen würde, für die Familie. Jemanden, … der verzichtbar war.

Ich hatte nie so gedacht, bevor ich zum Familienoberhaupt geworden war.

Ich sah hinüber zu Molly und Ute, die schnatterten und kicherten wie die besten Freundinnen, die sie waren, und es war ein netter Zug von Normalität in einer ernsthaft verrückt gewordenen Welt. Es hob meine Lebensgeister ein wenig, zu sehen, dass solche kleinen Freuden noch möglich waren. Aber ich war immer noch nicht sicher, was ich von Utes Weg der Verdammnis halten sollte. Der Name weckte wirklich nicht gerade Vertrauen. Aber wenn er uns direkt in Trumans Bunker führte - nun, ein kräftiger Erstschlag konnte immer noch den Turm ausschalten und dem Ganzen ein Ende machen. Keine Nester mehr, keine Türme mehr, keine Abscheulichen mehr.

Außer dem einen, der noch in Molly lebte. Sich immer noch in ihren Körper, ihren Verstand und ihre Seele fraß. Was war gut daran, die Welt zu retten, wenn ich die Frau nicht retten konnte, die ich liebte? Wenn es Molly nicht mehr gab, dann würde ich nur noch meine Familie haben, und ein Leben voller kalter Pflichten und Verantwortlichkeiten. Es musste einen Weg geben, sie zu retten. Es musste einfach. Weil ich in einer Welt, in der es Molly nicht gab, nicht leben wollte.

Sie sah sich um, sah, wie ich sie ansah und lächelte strahlend. Ich lächelte zurück. Sie umarmte Ute schnell und kam zu mir. Sie umarmte mich und ich hielt sie fest. Ich wollte sie nie wieder gehen lassen, aber ich tat es doch. Ich konnte nicht riskieren, dass sie erfuhr, was ich dachte.

»Du sahst so aus, als könntest du einen großen Knuddler brauchen«, sagte Molly rundheraus. »Zum Teufel, beinahe jeder hier sieht so aus. Aber so eine bin ich nicht. Ich habe gerade mit Ute gesprochen. Sie sagt, sie kann einen Eingang zum Weg der Verdammnis beschwören, sobald du so weit bist, aber … Eddie, sie ist erschöpft. Ich meine, sie ist total von der Rolle. Da ist nur noch Mut und Entschlossenheit, die sie aufrecht halten. Ich weiß nicht, wo sie war oder mit wem sie verhandeln musste, um die Geheimnisse des Weges in die Finger zu kriegen, aber sie hat einen hohen Preis gezahlt.«

»Dann müssen wir so bald wie möglich los«, sagte ich. »Molly, Ute muss mit uns kommen. Schafft sie das?«

»Sie sagt ja«, meinte Molly und zuckte mit den Achseln. »Ich kann's ihr nicht verbieten. Und du würdest es auch nicht, oder, Eddie?«

»Wir brauchen sie«, sagte ich bestimmt. »Die Welt braucht sie.«

»Lustig«, sagte Molly. »Die hat Ute noch nie gebraucht.« Sie sah mich nachdenklich an. »Was ist mit mir? Brauchst du mich dabei? Kannst du mir so nah an einem Turm vertrauen, wenn man meinen Zustand bedenkt?«

Ich lächelte sie an. »Ich brauche dich immer, Molly. Glaubst du wirklich, ich würde ohne dich irgendwohin gehen?«

»Du warst schon immer ein großes Weichei, Eddie Drood.« Und sie küsste mich leidenschaftlich, hier vor allen anderen. Einige klatschten, ein paar jubelten. Molly ließ mich schließlich los und lächelte den anderen süß zu.

Glücklicherweise kam Mr. Stich in diesem Moment herein und schlenderte so gelassen in den Lageraum wie eine tickende Bombe, der Seneschall direkt neben ihm. Der Seneschall hatte eine Waffe in einer Hand und seinen Blick starr auf Mr. Stich gerichtet, der höflich vorgab, das nicht zu bemerken. Nach seinen vielen Ausflügen aufs Schlachtfeld sah der Seneschall zerschlagen und verletzt aus. Er war hier und da dick verpflastert, aber sein Rücken war immer noch durchgedrückt und der Kopf hoch erhoben. Für ihn war Schwäche immer etwas, das nur bei anderen vorkam. Und wenn man fair war, sah er immer noch so aus, als könne er mit einer ganzen Armee im Alleingang fertig werden und die Überlebenden heulend zu ihren Mamis schicken. Mr. Stich, das musste man zugestehen, sah aus … wie er immer aussah. Ruhig, kalt, und vollkommen unerschüttert. Nicht ein Blutfleck war an ihm zu sehen, oder der kleinste Riss an seiner viktorianischen Abendkleidung. Selbst sein Zylinder glänzte auf eine elegante und selbstgefällige Art.

Ich wollte etwas danach werfen, einfach so aus Prinzip.

Stattdessen winkte ich beide zu mir herüber und erklärte ihnen die Situation. Mr. Stich runzelte leicht die Stirn, als ich den Weg der Verdammnis erwähnte, als würde der Name in ihm eine Saite zum Klingen bringen, aber er hatte nichts zu sagen. Der Seneschall allerdings war sofort Feuer und Flamme. Bei dem Gedanken daran, noch mehr Stress machen zu können, leuchteten seine Augen auf.

»Alles für die Familie!«, sagte er. »Und ich muss sagen, die Familie macht wirklich viel mehr Spaß, seit du wieder zurück bist, Junge.«

Er ist vielleicht ein Psychopath, dachte ich. Aber er ist unser Psychopath.

»Diese neue Mission«, meinte Mr. Stich. »Werde ich noch mehr Leute töten können?«

»Das ist beinahe sicher«, sagte ich.

»Und gibt es eine Chance, dass ich auch getötet werde?«

»Das ist auch beinahe sicher.«

»Umso besser«, meinte Mr. Stich. »Ich bin dabei.«

»Da kommt etwas rein!«

Der Ruf hallte durch den ganzen Lärm im Lageraum und wir sahen uns alle sofort nach dem um, der ihn ausgestoßen hatte. Einer vom Kommunikationsstab stand über seiner Arbeitskonsole und wies mit zitterndem Finger darauf. Sein Vorgesetzter war sofort an seiner Seite, schubste ihn wieder in seinen Stuhl, um dann über seine Schulter auf das zu sehen, was da über den Bildschirm zuckte. Der Rest des Kommunikationsstabs kontrollierte panisch die eigenen Computer, Kristallkugeln und Wahrsagebecken und alle redeten fieberhaft aufeinander ein. Ein heulender Alarm ging plötzlich los und die Matriarchin befahl, ihn sofort abzustellen. »Ich kann mich selbst ja nicht einmal mehr denken hören«, sagte sie scharf. »Ah ja, das ist besser. Also, was ist hier los? Redet mit mir, Leute! Was ist es denn genau, was hier reinkommt?«

»Wird das Herrenhaus angegriffen?«

»Sieht so aus«, sagte der Kommunikationsoffizier. Es war Howard Drood, effizient wie immer. Er war aus dem Einsatzraum an die Spitze des Lageraums versetzt worden, um die Angriffe auf die Nester zu koordinieren. »Etwas versucht, sich in unsere Realität zu drängen, genau hier, durch alle Schutzschilde des Herrenhauses hindurch. Was ich für unmöglich gehalten hätte, wenn es nicht gerade jemand versuchte.«

»Könnte es Truman sein, oder die Eindringlinge?«, fragte ich. »Die einen Präventivschlag gegen uns loslassen?«

»Ja. Nein. Vielleicht. Ich weiß es nicht! Die Bildschirme können nichts mit dem anfangen, was da passiert.« Howards sonst schon finsterer Gesichtsausdruck verstärkte sich noch, als er die Monitore studierte. »Ich habe solche Daten noch nie gesehen. Was auch immer das ist, es kommt wie ein geölter Blitz auf uns zu. Es hat sich schon durch die äußeren Verteidigungen geboxt und es kommt direkt auf uns zu.«

Ich ging im Geist schnell die Attacken durch, die es bereits aufs Herrenhaus gegeben hatte, als das Herz noch hier gelebt hatte. Wir hatten nie wirklich herausgefunden, was dahintersteckte. Hatten die Unbekannten sich diesen Moment ausgesucht, um wieder anzugreifen, wenn wir am schwächsten und verletztlichsten waren?

»Seltsam, sag was«, meinte ich. »Weißt du, wer oder was das ist?«

»Nein, Eddie.« Seine Stimme in meinem Kopf war überraschend angespannt. »Es kommt aus einer Richtung, die ich nicht orten kann. Es kommt von außerhalb allem, was ich als Realität bezeichnen würde. Es ist nicht sehr groß, aber es scheint sehr entschlossen. Und nein, Eddie, ich kann es nicht aufhalten.«

Giles Todesjäger hatte sein Langschwert gezogen und sah sich nach einem Feind um. Um nicht zurückzustehen, zog der Seneschall mit jeder Hand eine Pistole.

»Steckt das weg!«, bellte die Matriarchin sofort. »In meinem Lageraum trägt keiner eine Waffe! Wer weiß, was ihr mit dem Equipment anstellt.«

Giles steckte sein Schwert in die Scheide und verbeugte sich. Der Seneschall ließ seine Waffen wieder verschwinden, verschränkte fest die Arme vor der Brust und setzte eine entschiedene »Seht-ihr-ich-schmolle-nicht-obwohl-ich-Grund-dazu-hätte«-Miene auf. Die Matriarchin seufzte hörbar.

»Steh da nicht rum, Seneschall! Aufrüsten, los! Jeder rüstet auf!«

Sie hatte recht. Wir alle sprachen leise die aktivierenden Worte und - schwupps - war der Lageraum voller glänzender goldener Gestalten. Es fühlte sich gut an, wieder das Gold zu tragen, sich stark zu fühlen und schnell und gefährlich. Manchmal fühlt sich das Aufrüsten an, als wache man aus einem langen Nickerchen wieder auf. Jeder, der nicht an einer Arbeitskonsole saß, spähte misstrauisch um sich herum, bereit, zuzuschlagen, goldene Klingen und andere Waffen schossen aus goldenen Fäusten hervor. Eine wachsende Spannung war im Lageraum zu spüren, ein starkes Gefühl von etwas Kommendem, das sich unerbittlich näher heranschob. Wir konnten es alle fühlen, es drang von allen Seiten auf uns ein. Molly stand dicht neben mir, ihre Arme wie für eine Beschwörung erhoben und bereit, wirklich grässliche Magie auf alles zu werfen, das nur im Entferntesten bedrohlich war. Mr. Stich sah … höflich interessiert aus. Und der Waffenmeister, nicht überraschend, hatte eine wirklich fies aussehende Waffe aus dem Nichts gezogen und schwang sie auf der Suche nach einem Ziel hin und her, während jeder andere versuchte, ihm möglichst schnell aus dem Weg zu gehen.

Der Himmel möge allen helfen, die es wagen, die Droods auf ihrem eigenen Territorium anzugreifen.

Ein Stimmengewirr erhob sich im Lageraum, als Techniker verschiedener Couleur zu verstehen versuchten, was da vor sich ging. Was auch immer da kam, es schlug sich durch eine Schicht der Verteidigungen nach der anderen und die Spannung in der Luft tat beinahe körperlich weh. Martha Drood, die ebenfalls das erste Mal, seit ich mich erinnern konnte, aufgerüstet hatte, ging von Station zu Station, spähte über Schultern und ließ hier ein Wort der Warnung, dort ein unterstützendes Murmeln hören, wie es gerade gebraucht wurde. Wenn es so weit kam, dass sie die Truppen anführte, dann saßen wir wirklich in der Tinte. Ein anschwellender Ton war jetzt von draußen zu hören, scharf und deutlich, als käme er von unschätzbar weit weg näher.

»Es ist hier«, rief Howard. »Es materialisiert!«

»Wo?«, fragte Martha. »Wo genau im Herrenhaus?«

»Hier!«, schrie Howard. »Direkt hier in diesem verdammten Lageraum!«

Der anschwellende Ton wurde noch schriller, eine zitternde Vibration, die in unseren Köpfen widerhallte, trotz der schützenden Rüstung. Wir alle hielten uns mit unseren nutzlosen Händen die Ohren zu und taumelten hin und her, und dann fuhren wir alle zurück, als die Welt selbst sich mitten im Lageraum spaltete - und Janitscharen Jane hereinstolperte. Sie warf sich durch den Spalt, ihr Tarnanzug angekokelt und schmutzig und stellenweise sogar noch qualmend. Explosionen und grelle Lichter und wütend erhobene Stimmen kamen aus dem Riss hinter ihr her und wurden plötzlich abgeschnitten, als der Riss sich mit einem Ruck schloss. Die Spannung in der Luft war sofort verschwunden und wir alle rüsteten etwas verlegen ab, während Janitscharen Jane zitternd und atemlos vor uns aufstand. Sie schluchzte heftig und sah aus, als hätte sie ihren Weg durch die Hölle selbst gekämpft, nur um zu uns zu gelangen. Sie hob ein zerschlagenes Gesicht, schnüffelte und unterdrückte ihre Tränen und sah mich triumphierend an. Dann setzte sie sich urplötzlich, als wäre mit einem Mal alle Kraft aus ihren Beinen verschwunden.

»Okay!«, schrie ich und sah mich um. »Beruhigt euch alle wieder. Das ist kein Notfall. Ich weiß, wer das ist. Richtet eure Aufmerksamkeit darauf, den Verteidigungswall wieder aufzubauen und stellt sicher, dass ihr keiner gefolgt ist - wo zur Hölle auch immer sie herkam.« Ich kniete neben Janitscharen Jane nieder. Sie zitterte jetzt heftig und atmete schwer. Ihre Augen konnten keinen Fokus halten. »Jane?«, fragte ich. »Ich bin's, Eddie. Bist du okay?«

Sie sah ziemlich schlimm aus. Ihr Kampfanzug war stellenweise verbrannt und mit Blut aus einem Dutzend hässlicher Wunden getränkt. Teile ihrer Kampfbewaffnung sahen halb geschmolzen aus. Ihr Gesicht wurde immer wieder schlaff, als würden Schmerz, Anstrengung und Erschöpfung sie überwältigen. Wenn das letzte bisschen Adrenalin in ihr sich abbaute, würde sie zusammenbrechen, und das vollständig. Ich musste die Antworten also aus ihr herauskriegen, solange ich noch konnte. Ich packte sie an den Schultern, zwang sie, mich anzusehen und nannte sie wieder beim Namen. Ihr Kopf schoss hoch, als hätte ich sie aus einem tiefen Schlaf geweckt.

»Eddie, ich hab es geschafft. Ich bin wieder da. Verdammt …«

»Ich habe den Zettel gefunden, den du mit einem Messer an deine Tür gepinnt hast«, sagte ich und bemühte mich um einen leichten Ton. »Also, hast du für uns eine richtig große Kanone gefunden?«

»Die größte«, meinte Jane und versuchte sich vergeblich an einem Lächeln. »Erinnerst du dich, Eddie, dass ich dir vom letzten Dämonenkrieg erzählt habe, bei dem ich dabei war? Der eine, wo ein paar verdammte Idioten aus Versehen ein Tor zur Hölle öffneten und eine Armee von Dämonen rauskam?«

»Ja«, sagte ich und mein Herz sank plötzlich. »Am Ende wurden die Dinge so schlimm, dass ihr eine Superwaffe benutzen musstet, um das ganze Universum zu zerstören, damit die Dämonen es nicht als Basis für die Eroberung anderer Universen benutzen konnten. Ich erinnere mich. Ich hab immer noch Albträume.«

»Das war's«, sagte Janitscharen Jane. »Die Superwaffe. Die letzte Möglichkeit. Das Klägliche Ende.«

Sie hielt mir die Handfläche hin und zitterte dabei bemerkenswerterweise nicht. Die Waffe sah ziemlich unauffällig aus. Aber auf der anderen Seite sieht man es den wirklich Widerwärtigen oft nicht an. Das Klägliche Ende war nichts weiter als eine flache Silberschachtel, langweilig und leblos, mit einem roten Knopf auf dem Deckel. Sie füllte kaum Janes Hand, aber dennoch … irgendetwas war dran. Je länger ich sie ansah, desto unbehaglicher fühlte ich mich, als ob ein großes und gefährliches Tier gerade den Raum betreten hatte. Ich betrachtete die Schachtel sorgfältig und war klug genug, nicht einmal zu versuchen sie anzufassen. Der Waffenmeister war gekommen und sah mir schwer atmend vor Aufregung über die Schulter.

»Das ist ja mal beeindruckend«, sagte er. »So hohe Handwerkskunst und Geschicklichkeit sieht man heutzutage selten. Wie viele räumliche Dimensionen hat es? Ich verzähle mich ständig. Und die Energiesignaturen sprengen jede Skala. Du musst es mir geben, damit ich es in der Waffenmeisterei auseinandernehmen kann.«

»Nein, Onkel Jack«, sagte ich entschieden.

»Ach, komm schon, ich habe diesen richtig geilen Hyperhammer, den ich schon immer mal ausprobieren wollte -«

»Nein, Onkel Jack! Was ist bloß los mit dir? Jane, was genau ist das? Was macht es?«

»Es ist einfach zu bedienen«, sagte sie und ihre Stimme klang ton- und leblos. Ihre Augen fielen wieder zu und das letzte bisschen Kraft verließ sie. »Einfach den Knopf drücken und - bumm.«

»Kein Turm mehr?«, fragte ich hoffnungsvoll.

»Gar nichts mehr«, erwiderte Jane und blinzelte wie eine Eule. »Kein Universum mehr. Und nein, es gibt keine Zeituhr. Das Klägliche Ende ist ein Alles-oder-Nichts-Ding. Was ich hier habe, ist das Original, der Prototyp. Wir haben eine etwas verbesserte Version verwendet, als wir den Dämonenkrieg beendet haben. Was ich euch hier mitgebracht habe, ist technisch gesehen, nicht getestet. Aber es sollte funktionieren. Ich wüsste nicht, warum es das nicht sollte.«

Sie ließ die Hand sinken, als würde das schauerliche Ding auf ihrer Handfläche schwerer werden. »Ich hab's gestohlen, aus dem Schwarzen Museum für die Söldner des Multiversums. Ich hatte eine Menge Leute zu töten, um dir das zu bringen, Eddie. Einige von denen waren mal meine Freunde. Irgendwann. Aber jetzt habe ich das Buch geschlossen und alle Brücken hinter mir verbrannt. Ich kann nicht wieder zurück. Also gib mir keinen Grund, das zu bedauern, Drood.«

»Wie funktioniert das?«, fragte ich, weil ich irgendetwas sagen musste.

»Als ob du das kapieren würdest, selbst wenn ich's erkläre«, sagte Janitscharen Jane, und da war wieder etwas von ihrer alten Kraft in ihrer Stimme zu hören. »Ich muss nicht wissen, wie Waffen funktionieren. Ich bin Sölderin, keine Mechatronikerin. Aber mir wurde gesagt, dass es eine weitgehend konzeptionelle Waffe ist. Was wir hier haben, ist ein hyperräumlicher Schlüssel, der die eigentliche Waffe aktiviert, die in einer andersdimensionalen Falte verborgen ist und nur darauf wartet, entfesselt zu werden. Wenn man den Knopf drückt, sendet die Schachtel die Zielkoordinaten an die Waffe und - bumm! Dann hat man den Salat. Oder eigentlich hat man ihn nicht. Ein Universum weniger, um das Gott sich sorgen muss. Das Klägliche Ende, für alles und jeden.«

»Aber grundsätzlich ist es ein ungetesteter Prototyp«, sagte ich vorsichtig. »Also ist da eine kleine, aber nichtsdestotrotz definitive Chance, das es vielleicht nicht so richtig funktioniert? Als solche?«

»Es ist eine letzte Lösung«, meinte Janitscharen Jane müde. »Wenn man absolut alles versucht hat, und die Hungrigen Götter dennoch kommen, um alles, was lebt, zu verschlingen … Dann ist das Klägliche Ende die letzte Chance, alles zu rächen. Ein Weg, um die Bastarde mit in den Abgrund zu reißen und sicherzugehen, dass kein anderes Universum die Schrecken erleiden muss, die wir erleiden mussten.«

Ihre Augen flatterten zu, als die Erschöpfung sie endlich übermannte. Ich nahm die glänzende Metallschachtel mit spitzen Fingern und ließ Jane wegbringen, damit sie sich ausruhen konnte. Wenn sie aufwachte, so hoffte ich, würde alles vorbei sein - auf die eine oder andere Weise. Obwohl, wenn es wirklich schlecht lief, wäre es natürlich eine Gnade, wenn sie nie wieder aufwachen würde …

Ich hielt das Ende der Welt auf meiner Handfläche. Es wog fast nichts. Der Waffenmeister betrachtete es fasziniert, machte aber keinen Versuch, es sich zu nehmen.

»Ich frage mich, wer es gemacht hat«, murmelte er sehnsüchtig.

»Waffenmeister!«, sagte die Matriarchin und die scharfe Autorität in ihrer Stimme ließ ihn sofort herumfahren. Er ging schnell zu ihr hinüber und sie sah ihn mit einem kalten, unerbittlichen Blick an. »Waffenmeister, ich autorisiere dich hiermit, den Armageddon-Kodex zu öffnen. Wir brauchen die Verbotenen Waffen. Bring den Sonnenzerstörer, den Zeithammer, den Götzen-Overall und das Winterleid. Bereite sie für die Benutzung vor.«

»Nein!«, sagte ich sofort und meine Stimme übertönte die der Matriarchin so deutlich, dass jeder im Lageraum aufhörte, das zu tun, was er gerade tat und uns beide ansah. Ich ging zum Waffenmeister und der Matriarchin hinüber und vermied dabei jegliche Hast. Ich erwiderte Marthas kalten Blick direkt und blinzelte nicht einmal. »Noch nicht, Großmutter. Wir können die Verbotenen Waffen erst dann benutzen, wenn die Hungrigen Götter in unserer Realität sind, denn der Ausbruch von so gewaltigen Kräften würde unsere Welt mit großer Sicherheit zerreißen. Und wir hätten noch nicht einmal die Garantie, dass die Waffen den Hungrigen Göttern überhaupt schaden. Wir heben uns den Armageddon-Kodex auf, bis alles andere versagt hat. Und ich bin noch lange nicht am Ende mit meinen Plänen.«

»Das Klägliche Ende würde das ganze Universum zerstören und nicht nur diese Welt«, sagte die Matriarchin. Sie gab nicht einen Zentimeter nach.

»Vertrau mir«, sagte ich. »Ich habe nicht die Absicht, das Universum in die Luft zu jagen. Ich hab eine viel bessere Idee. Wenn ich bei dieser Mission falle, dann kommt es auf dich an. Aber fürs Erste, vertrau mir - Großmutter.«

»Nun«, meinte die Matriarchin nach einer kurzen Pause. »Nur dieses eine Mal, Edwin.«

Sie brachte tatsächlich ein Lächeln für mich zustande und ich lächelte zurück. Und dann, als wären die Dinge nicht schon kompliziert genug, hatten der Geist von Jacob Drood und der lebende Jay Drood beschlossen, dass es an der Zeit sei, wieder aufzutauchen. Schon während ich mit der Matriarchin geredet hatte, hatte ich das Gefühl gehabt, dass mich jemand beobachtete. Endlich sah ich mich um und mein Blick fiel auf Merlins Spiegel, der im Moment eine Reflexion des ganzen Lageraums wiedergab. Aber da war irgendetwas falsch an dem Bild und ich ging hinüber, um es genauer zu betrachten. Es waren zu viele Leute darin. Im Spiegelbild standen Jacob und Jay hinter mir und grinsten mir über meine Schulter hinweg zu. Ich sah mich um, aber da stand niemand hinter mir. Ich bekam eine Gänsehaut. Besonders als die beiden um mein Spiegelbild herumkamen, nach vorn gingen und aus dem Spiegel in den Lageraum traten. Ich musste ihnen hastig Platz machen. Die Leute zuckten zusammen, schrien und kreischten sogar. Jacob und Jay grinsten einfach nur, kicherten und stießen einander mit den Ellbogen an, als ob ihnen ein besonders schlauer und kindischer Streich gelungen sei. Ich musste tief Luft holen, damit auch mein Puls sich wieder normalisierte.

Jacob trug jetzt eine altmodische, flaschengrüne Lokomotivführer-Latzhose samt Schirmmütze. Seine mit Silberknöpfen besetzte Jacke stand offen und enthüllte ein T-Shirt mit der Aufschrift: Mit Ingenieuren sind Sie schneller. Er sah sehr konzentriert und hellwach aus, beinahe ohne die Streifen von blaugrauem Ektoplasma, die er sonst bei jeder Bewegung hinter sich herzog. Jay war wieder in die feine Kleidung seiner Epoche gekleidet und sah beinahe so begeistert aus wie sein zukünftiges, gespenstisches Ich … aber da war etwas in seinen Augen. Ich verschränkte die Arme vor meiner Brust und starrte die beiden so böse wie möglich an.

»Netter Trick«, sagte ich kalt. »Ich behalte ihn im Kopf für den Fall, dass jemand einen Herzkasper brauchen sollte. Ich wusste gar nicht, dass du das kannst, Jacob.«

»Du wärst überrascht über das, was du alles kannst, wenn du erst mal tot bist, Junge«, sagte Jacob fröhlich. »Das ist wirklich sehr befreiend.«

Jay sah sein zukünftiges Ich ernsthaft an. »Ich platze fast und ich wünschte, das würde ich nicht. Wir haben einen Plan, um die Welt zu retten, Eddie.«

»Na klar habt ihr den«, meinte ich. »Hat den nicht jeder? Beinhaltet euer Plan zufällig, das ganze verdammte Universum in die Luft zu jagen?«

»Ah, nein«, sagte Jay. »Nicht so richtig.«

»Dann mag ich ihn jetzt schon«, erwiderte ich.

»Ach, sag du's ihm, Jacob«, meinte Jay. »Du weißt, dass du unbedingt willst und du wirst mir bloß ins Wort fallen, wenn ich es erzähle. Ich bin offenbar nach meinem Tod ziemlich unleidlich geworden.«

»Versuch du mal, ein paar Jahrhunderte mit dieser Familie rumzuhängen«, grummelte Jacob. »Sie bringen den Papst zum Fluchen und Tellerwerfen. Hör zu, Eddie, wir haben einen Weg gefunden, die Eindringlinge zu stoppen. Wir werden den Zeitzug benutzen.«

»Ihr habt erst angefangen, euren Plan zu beschreiben und schon hasse ich ihn«, meinte ich. »In der Zeit zurückzugehen, um in der Gegenwart Dinge ungeschehen zu machen, funktioniert nie. Nie, nie, nie. Es endet immer damit, dass man mehr Probleme hat, als man lösen wollte.«

»Reg dich ab, Eddie«, sagte Jay. »Dein Gesicht hat eine äußerst komische Farbe gekriegt und das kann wirklich nicht gut für dich sein.«

»Wir gehen nicht in der Zeit zurück, um die Eindringlinge aufzuhalten, bevor sie anfangen, Pläne gegen uns zu schmieden«, meinte Jacob geduldig. »Ich weiß genug über Zeitreisen, um zu wissen, dass das nicht funktionieren würde. Ich sehe schließlich fern. Nein, wir haben eine viel bessere Idee. Wir werden den Zeitzug benutzen, um uns in die Heimatdimension der Eindringlinge zu schleichen und sie aus einer Richtung zu attackieren, die sie nicht erwarten: Der Vergangenheit!«

»Wiederholt das bitte noch mal«, sagte ich. »Ich glaube, ihr habt mich an der letzten Ecke abgehängt.«

»Es ist wirklich sehr einfach«, meinte Jay.

»Nein, ist es nicht«, antwortete ich. »Keine Erklärung, die so anfängt, ist das.«

»Schau mal«, sagte Jacob und stieß mir mit einem erstaunlich soliden Finger in die Brust. »Die Eindringlinge kommen aus einer höheren Dimension als wir, richtig? Das heißt für sie, dass Zeit nur eine Dimension ist, die sie räumlich begreifen. Wir können also den Zeitzug benutzen, um in ihre Dimension einzudringen und ihre Heimatwelt aus der Vergangenheit angreifen! Sie werden uns gar nicht kommen sehen!«

»Sie werden ihre Heimatwelt sicher versteckt haben«, sagte Jay. »Entweder in einem Taschenuniversum oder einer Dimensionsfalte, völlig überzeugt, dass geringere Wesen aus einer niederen Dimension sie nicht finden können. Aber Jacob ist tot und ich lebe noch. Zusammen können wir Dinge sehen, die niemand sonst sehen kann.«

»Nur wir können hoffen, die Anstrengungen einer Zeitreise dieser Art zu überstehen. Denn wir sind dieselbe Person in zwei verschiedenen Stadien der Existenz. Wir werden das tun müssen, Eddie. Tony hat die Lok umgebaut, sodass sie Zeitenergien aufsaugen kann, während sie reist. Damit wir, wenn wir in der Heimatwelt der Eindringlinge ankommen, den Zug mit voller Geschwindigkeit reinfahren und alle Zeitenergien gleichzeitig loslassen können. Dieser ganze widerliche Ort wird wie ein Knallfrosch in einem Apfel explodieren!«

»Ende der Heimatwelt, Ende der Eindringlinge!«, sagte Jay.

»Ein interessanter Plan«, musste ich zugeben. »Auch wenn er meinem Verstand immer aus den Fingern gleitet, wenn ich ihn zu fassen versuche. Aber seid ihr sicher, dass ihr die Heimatwelt der Eindringlinge finden könnt?«

»Man kann vor den Toten nichts verstecken«, sagte Jacob. Er sah Molly an und dann mich, aber er sagte nichts.

»Du musst es uns versuchen lassen«, sagte Jay. »Denn so … so werde ich sterben. Jacob hat sich endlich erinnert. Es macht mir nichts aus, wirklich! Es ist ein guter Tod. Dem Feind ins Gesicht spucken und die Unschuldigen retten, für die Familie. Der Tod eines Droods.«

»Und das ist es auch, worauf ich die ganze Zeit gewartet habe«, sagte Jacob. »Das ist mein Ende, endlich. Keiner von euch könnte das tun. Nur ich, und ich. Jay stirbt, indem er unsere Feinde besiegt und endet irgendwie hier, in der Vergangenheit, als Familiengespenst, und wartet darauf, es wieder zu tun. Und ich … werde endlich weitergehen können, was auch immer dann kommt. Und ich freue mich schon darauf. Ich bin über die Jahrhunderte ekelhaft dünn geworden, und ich bin wirklich sehr müde.«

»Dann los«, sagte ich. »Der Zeitzug gehört euch.«

»Du musst die Eindringlinge allerdings beschäftigt halten und ablenken, damit sie nicht darüber nachdenken können, ob wir kommen oder nicht.«

»Ich denke, das kriegen wir hin«, meinte ich.

Martha überraschte mich, denn sie trat nun vor, um Jacob direkt anzusehen. »Geh mit Gott, Jacob«, sagte sie. »Ich werde dich vermissen.«

Er grinste schief. »Das wirst du dir sicher überlegen. Auf Wiedersehen, Ur-ur-ur-ur-Enkelin.« Er sah sich im Lageraum um. »Ihr alle seid meine Kinder, meine Abkömmlinge, und ich bin immer sehr stolz auf euch gewesen.«

Er und Jay drehten sich synchron um und schlenderten wieder in das Spiegelbild. Für einen Moment bewegten sie sich auf unheimliche Weise zwischen unseren Spiegelbildern, dann änderte sich das Abbild und zeigte die beiden, wie sie durch den alten Hangar hinter dem Herrenhaus gingen. Sie kletterten in das glänzend schwarze Führerhaus der Zeitlok und winkten Tony zum Abschied zu, der mit Tränen in den Augen zurückwinkte, weil er wusste, dass er seinen geliebten Ivor nie wiedersehen würde. Jacob bediente die Kontrollen mit professionellem Können, während Jay mit grimmiger, nervöser Energie kristallisierte Tachyonen in den Ofen schaufelte. Er fuhr in seinen Tod und er wusste es; und vielleicht war es auch nicht sehr hilfreich, zu wissen, dass er als Jacob zurückkommen würde.

Ivor ruckte plötzlich nach vorn. Der Zeitdruck erreichte einen Höhepunkt und Jacob zog am Hebel: Der Zeitzug schob sich vorwärts und verschwand schnell in einer Richtung, der kein menschliches Auge folgen konnte. Dann waren sie weg.

Ich wartete einen Moment und sah mich dann um. Aber nichts hatte sich verändert. Also machte ich mit meinem eigenen Plan weiter. Was hätte ich auch sonst tun können?


Molly und U-Bahn Ute führten meine kleine Gruppe in eine verhältnismäßig stille Ecke des Lageraums, damit sie uns den Weg der Verdammnis erklären konnten. Sie waren sich in bestimmten Details nicht ganz einig und beinahe hätten sie sich wegen irgendwelcher obskuren Hinweise und Quellen in die Haare gekriegt, bis ich sie trennte, im Wesentlichen schienen sie aber übereinzustimmen. So begannen Sie also am Anfang an, von dem sich herausstellte, dass er noch gar nicht der Weg der Verdammnis war.

»Weißt du«, sagte U-Bahn Ute, »wenn du das alles verstehen willst, dann muss man mit dem Regenbogenweg anfangen.«

»Der Regenbogenweg ist nur ein Begriff oder eine Manifestation der alten Wilden Magie«, sagte Molly. »Ein Rennen gegen Zeit und Schicksal, um die Welt zu retten. Es ist nicht vielen gegeben, es zu versuchen, und noch weniger überleben es lange genug, um das erfolgreiche Ende der Mühen zu erleben. Ich kenne keinen, der es seit König Arthurs Zeiten auch nur versucht hätte. Aber es heißt, dass jeder, der den geheimen Weg gehen kann und dem Regenbogen bis zu seinem Ende folgt, genau das findet, was er sich von Herzen wünscht. Wenn er stark genug ist; im Herzen, in der Seele und im Willen.«

»Es geht nicht darum, wie schnell man ist«, sagte U-Bahn Ute. »Es geht darum, wie sehr man es braucht. Wie viel man bereit ist, zu ertragen. Es ist nicht jedem gegeben, den Regenbogen entlangzuwandern. Und es gibt Leute, die sagen, das, was man am Ende des Regenbogens findet, nicht unbedingt das sei, was man wollte, sondern das, was man braucht.«

»Der Regenbogenweg ist ein altes Ritual«, sagte Molly. »Es ist … ein Archetyp, etwas Elementares, das Realitäten überwindet. Ein Ding, das aus Träumen, Ruhm, der Suche nach dem heiligen Gral und erworbener Ehre besteht. Eine letzte Chance, das Dunkel zu besiegen und den Sieg für das Licht zu sichern. Jedenfalls sagt man das.«

»Wer hat ihn gemacht?«, fragte ich.

»Wer weiß das schon?«, fragte Ute zurück. »Wir reden hier über alte Magie. Einige Dinge existieren einfach. Weil sie gebraucht werden.«

»Warum können wir dann nicht den Regenbogenweg anstelle des Weges der Verdammnis gehen?«, überlegte ich.

Molly und Ute sahen sich an. »Weil wir nicht wissen, wie wir ihn finden sollen«, sagte Molly still. »Wir sind nicht … gut genug, nicht rein genug.«

»Der Weg der Verdammnis ist die Rückseite, der dunkle Spiegel des Regenbogenwegs«, meinte U-Bahn Ute. »Das andere Gesicht einer unvorstellbaren Münze.«

»Schau«, sagte Molly. »Vergiss den ganzen spirituellen Kram und mach es einfach: Die Vielwinkligen, die Hungrigen Götter, kommen aus einer höheren Dimension, klar? Nun, wenn es höhere Dimensionen als unsere gibt, dann ist es nur vernünftig anzunehmen, dass es auch niedrigere, tiefere Dimensionen gibt. Die kaputten Universen, wo die Naturgesetze niemals richtig zusammengearbeitet haben. Der Weg der Verdammnis kann uns durch eine solche Welt bringen. Und man rennt dort nicht, man geht. Solange es dauert. Da geht's nicht um Schnelligkeit, sondern um Willensstärke.«

Ich spürte, wie ich die Stirn runzelte. Kein anderer sagte mehr etwas. Alle blickten in meine Richtung. »Wir haben wirklich nicht viel Zeit«, sagte ich. »Trumans Turm ist so gut wie fertig und wahrscheinlich aktiviert er ihn schon, während wir hier sprechen. Die Hungrigen Götter könnten jederzeit durchkommen.«

»Und du hast keine andere Möglichkeit, in Trumans Basis zu kommen«, sagte Molly. »Seine Verteidigungen werden alles draußen halten, außer dem Weg der Verdammnis.«

»Zeit hat in den niederen Universen eine andere Bedeutung«, sagte U-Bahn Ute. »Theoretisch sollten wir genau zu dem Zeitpunkt in Trumans Basis rauskommen, in dem wir hier weggegangen sind.«

Ich spürte, wie sich die Runzeln auf meiner Stirn vertieften. »Klar, das hat beim Zeitzug richtig gut funktioniert.«

»Das war Wissenschaft, das hier ist Magie«, sagte Molly schnell. »Der Weg der Verdammnis folgt alten Regeln, die ins Fundament der Realität selbst gemeißelt sind.«

»Ach, was soll's, zum Teufel«, sagte ich. Ich musste aufhören, mit der Stirn zu runzeln, ich bekam schon Kopfschmerzen davon. »Wir müssen zu diesem Turm und ich sehe keine andere Möglichkeit.« Ich sah zu den anderen hinüber: Mr. Stich, der Seneschall und Giles Todesjäger. »In Anbetracht der unsicheren Natur dessen, was wir da tun wollen, fände ich es falsch, euch die Teilnahme zu befehlen. Ich würde nicht gehen, wenn ich nicht überzeugt wär, dass ich muss. Also, das hier ist definitiv nur was für Freiwillige. Jeder, der Nein sagt, oder sogar zum Teufel … Nein - ich würde es verstehen.« Ich sah von einem zum anderen, aber alle starrten ruhig zurück. Giles sah aus, als wolle er gleich loslegen, wie immer, der Seneschall sah aus, als wäre er bereit zum Kampf und Mr. Stich sah aus … wie immer.

»Also los«, sagte ich. »Wieder mal Zeit, die Welt zu retten.«

Es stellte sich heraus, dass man, um den Weg der Verdammnis zu betreten, erst einmal hinunter musste. Ganz hinunter. Molly und U-Bahn Ute wirkten zusammen an einer alten Magie, wiegten sich hin und her und intonierten einen alten Gesang in einem Kreidekreis. Der Waffenmeister sah aufmerksam und fasziniert zu. Giles Todesjäger sah es mit geschürzten Lippen, als ob er nicht erwarte, dass sich irgendetwas täte. Ich war nicht sicher, was man erwarten konnte, aber selbst so war ich überrascht, als ein handelsüblicher, sehr gewöhnlicher Aufzug langsam vor Molly und Ute aus dem Boden fuhr. Das Ding pingte wichtig, um seine Ankunft anzukündigen und dann glitten die Türen auf und enthüllten das gewöhnliche Interieur eines Aufzugs. Ich ging ein paar Mal um die Tür herum. Von vorn war es ein wartender Aufzug. Von hinten war er nicht da. Giles ging ebenfalls ein paar Mal drum herum und murmelte etwas von Subraummechanik und Taschendimensionen. Was auch immer ihn glücklich machte.

Martha starrte den Aufzug geradezu böse an, der da in ihrem schönen, normalen Lageraum aufgetaucht war. »Warum hat dieses Ding da unsere Alarmanlagen nicht ausgelöst?«

»Weil es so gesehen gar nicht hier ist«, erwiderte Molly. »Ich meine, es ist ein magisches Konstrukt, das nur wie ein Aufzug aussieht, weil das ein Konzept ist, mit dem unser begrenzter Verstand fertig wird.«

»Eure Sinne sind nicht ausgerüstet, um Dinge wie dieses zu erkennen«, sagte U-Bahn Ute. »Also zeigen sie euch das Nächstbeste.«

»Genau!«, erwiderte Molly. »Das ist wirklich alte Magie, erinnert ihr euch? Wilde Magie, aus einer Zeit, in der wir alle noch auf Bäumen lebten.«

»Ich sehe immer noch nicht ein, warum es so aussehen muss wie ein Aufzug«, nörgelte ich, ein bisschen beleidigt darüber, dass ich damit überfordert war.

»Verstandestechnischer Gruppenkonsens«, sagte Molly kurzangebunden. »Seien wir dankbar. Es hätte auch als Rolltreppe erscheinen können. Die Dinger hasse ich.«

Ich seufzte tief und bedeutungsvoll. Dann trat ich vorsichtig in den Aufzug. Der Stahlboden war fest unter meinen Füßen und die verspiegelten Wände zeigten, dass ich schon wieder die Stirn runzelte. Ich versuchte angestrengt, das nicht mehr zu tun, damit ich die Truppen nicht demotivierte. Sie folgten mir, mit unterschiedlich hohem Vertrauen, und wir alle füllten das Ding von Wand zu Wand, mit kaum Platz, uns zu bewegen, außer jemand holte gerade tief Luft, um zu atmen. Molly drückte absichtlich ihre Brüste an mich, wofür ich im Stillen dankbar war. Die Türen schlossen sich bedächtig, und ohne Hinweis oder Warnung ging der Aufzug nach unten.

Es schien, als ging es lange, lange Zeit hinunter. Ich konnte die Bewegung fühlen, spürte sie in meinen Knochen und im Urin, auch wenn der Aufzug kein Geräusch machte und keine Kontrollen oder Anzeigen aufwies. Es wurde langsam heißer, bis jeder von uns Schweißausbrüche hatte und vergeblich versuchte, vom anderen abzurücken. Und dann verschwand die Hitze einfach, war innerhalb eines Augenblicks verschwunden und die Temperatur in dem begrenzten Raum sackte ab. Es wurde kälter und kälter und wir alle drückten uns eng aneinander, um unsere Körperwärme zu teilen. Und dann war das auch verschwunden und ich fühlte weder Hitze noch Kälte, als ob wir solch lebendige Dinge hinter uns gelassen hätten.

Dann die Geräusche. Von außerhalb der Stahlwände kam Lärm, erst von ganz weit weg, dann kam er unerbittlich näher. Brüllende Wut, Heulen und Kreischen, dann etwas, das ganz so klang wie ein Lachen, aber unwirklich. Einfache, primitive Emotionen bekamen eine Stimme, ohne die Last oder die Gebundenheit an bewusste Gedanken. Das waren schrecklich leere Stimmen, wie jene, die wir in unseren kindlichen Albträumen gehört haben; Stimmen von Dingen, über die wir wussten, sie würden uns wehtun, wenn sie uns nur fänden … Aus den Stimmen sanken Wörter, und das war schlimmer, als ob Seuchen oder das Schicksal oder das Böse gelernt hätten, zu sprechen. Sie kreisten um den sinkenden Aufzug, kamen erst von der einen, dann von der anderen Seite, rauschten heran und wieder fort, drohten und bettelten, spotteten und flehten, versuchten, uns zu überzeugen, die Aufzugtüren zu öffnen und sie hereinzulassen. Ich kann mich nicht genau daran erinnern, was sie sagten und ich bin froh darüber.

Ein paar von uns versuchten, die Hände auf die Ohren zu legen, um die Stimmen draußen zu halten, aber es funktionierte nicht. Wir hörten sie nicht mit den Ohren.

Wir ließen die Stimmen hinter uns, ihre hinterhältigen Schreie zogen sich in die Ferne zurück und danach gab es nur noch Stille und den Abstieg und das Gefühl von etwas wirklich Schlimmem, das langsam immer näher kam. Als wir ankamen, gab es kein Gefühl des Stoppens. Die Aufzugtüren glitten einfach auseinander und das gewöhnliche, farblose Licht strahlte hinaus auf eine furchtbar düstere Ebene. Keiner von uns rührte sich. Es fühlte sich nicht sicher an. Was wir von der Welt draußen sehen konnten, war dunkel und jämmerlich, die einzige Beleuchtung war von einem dunklen, öden Violett, wie eine Prellung. Ich tat widerwillig einen Schritt nach vorn und trat aus dem Aufzug heraus. Die anderen folgten mir einer nach dem anderen. In dem Moment, in dem ich das beruhigend normale Licht des Aufzugs verließ, legte sich ein schrecklicher, nervenzerreißender Druck auf mein Gemüt, als trüge ich mit einem Mal alle Last der Welt auf meinen Schultern. Nirgendwo war ein Geräusch zu hören, wie man es kannte, aber so etwas wie nicht enden wollender Donner grollte trotzdem auf irgendeine Weise in der Luft. Man vernahm ihn wie einen langen Basston, den man nur mit der Seele vernehmen konnte; wie ein drohendes Gewitter, von dem man schon seit Ewigkeiten weiß, dass es kommen wird.

Wir standen alle zusammen und hielten uns dicht beieinander, um uns gegenseitig den Trost lebender Gesellschaft in einer toten oder sterbenden Welt zu spenden. Wir gehörten nicht an einen Ort wie diesen, und das wussten wir alle. Dann schlossen sich die Aufzugtüren und schnitten das helle, gesunde Licht ab. Wir wirbelten gerade rechtzeitig herum, um zu sehen, wie der Aufzug in den steinigen Boden sank. Er ließ uns allein an diesem schrecklichen Ort, an den er uns gebracht hatte. Eine schmutzig-purpurfarbene Ebene, die sich in jede Richtung, in die ich auch sah, endlos bis zum Horizont erstreckte.

Ich fühlte mich, als sei ich am Ende der Welt angekommen. Eine düstere Ebene in endloser Nacht. Über uns hing ein niedriger, blutroter Mond am Himmel, an dem die Sterne einer nach dem anderen ausgingen. Es gab bereits große, dunkle Lücken in den unbekannten Sternbildern. Die endlose Ebene bestand aus nacktem Stein und ab und an einem großen Krater, langen gezackten Spalten und tiefen Rissen. Es wirkte wie der Boden eines Ozeans, nachdem das Wasser verkocht war. In der Nähe lag eine Felsspalte; eine langer, gezackter Riss mit bröckligen Kanten und ich ging hinüber, um hineinzuschauen. Der Abgrund schien bodenlos zu sein. Ich gab irgendein Geräusch von mir, aber Molly war schon da, um mich am Arm zurückzuziehen. Als ob der Klang meiner Stimme etwas ausgelöst hatte, kroch auf einmal eine fremdartige, verdrehte Pflanze mit rauen Kriecharmen und großen, dunklen Blättern, die mit pulsierenden roten Adern überzogen waren, langsam aus dem Abgrund. Molly und ich traten zurück. Die zuckenden Pflanzen versuchten, uns zu folgen, aber sie verrotteten schon und zerfielen. Lebendig und tot gleichzeitig, als ob sie nicht weit genug entwickelt waren, um eine Form ordentlich beizubehalten.

In anderen Rissen und Spalten befand sich träge siedendes, feuerrotes Magma. Aber auch wenn sie nicht sonderlich tief waren, kam die Hitze der Lava nicht an die Oberfläche, als ob sie nicht die Kraft hätte, so weit zu reichen. Die Luft selbst war dünn und seltsamerweise fehlte jeglicher Geruch darin. Ich klatschte fest in die Hände, aber es hallte nicht. Ich war sicher, dass Geräusche ebenfalls nicht weit kamen. Wir blieben dicht beieinander und sahen uns immer wieder um, auch wenn wir die einzigen lebendigen Wesen in einer sterbenden Welt waren.

»Das ist der Ort, an dem Missionen ins Leere laufen«, sagte U-Bahn Ute leise. »Wo die Liebe immer unerwidert bleibt, wo Versprechen gebrochen werden und nur die schlechten Träume in Erfüllung gehen.«

»Und wie sollen wir dann verdammt noch mal Erfolg bei unserer Mission haben?«, fragte der Seneschall. Er klang, als wolle er eigentlich ärgerlich sein, das dann aber zu anstrengend finden.

»Wir haben etwas von unserem Universum mitgebracht«, sagte Molly. »Genug, um eine Chance im Kampf zu haben. Aber je länger wir hierbleiben, desto schneller wird sich dieser Effekt verlieren. Wir müssen uns wirklich beeilen.«

»Das ist eine gebrochene Welt«, sagte Ute schon fast hypnotisiert. »Das minderwertige Land, das verlassene Territorium …«

»Schon gut«, sagte ich. »Du gehst mir langsam auf die Nerven, Ute. Das hier ist ein mieser Ort, ich hab's verstanden. Jetzt komm damit klar, und sag mir gefälligst, in welche Richtung wir gehen sollen.«

Sie sah mich mit großen, verschleierten Augen an. »Sag den Namen, Eddie Drood. Sag den Namen des Ortes, zu dem du gehen willst.«

»Tu's einfach, Eddie«, flüsterte Molly in mein Ohr. »Sie ist mit dieser Welt eher auf einer Wellenlänge, als ich es bin. Sie versteht die geheimen Wege, sie reden mit ihr.«

»Wir müssen ins Innere von Trumans Basis unter Stonehenge«, verkündete ich und sprach dabei laut und deutlich in die Stille hinein. Dabei kam ich mir ein wenig dumm vor. Meine Worte hatten kein Echo. Sie schienen einfach matt und leblos in die stille Luft zu fallen.

»Da!«, sagte U-Bahn Ute und wies mit ausgestrecktem Finger auf eine Seite. »Das ist unsere Richtung.«

In der Ferne flammte auf einmal ein Licht in den sterbenden Himmel auf, wie ein Scheinwerfer. Es war hell und klar und glänzend und ganz sicher kein natürlicher Teil dieser Welt. Es schien wie die Hoffnung, wie ein Versprechen und wie ein Weg hinaus.

»Das ist eine sterbende Welt«, sagte Giles Todesjäger ganz unerwartet. »Wo die Entropie regiert.«

»Fang du nicht auch noch an«, sagte ich bestimmt.

Ich habe keine Ahnung, wie lange wir unter diesem blutigen Mond und den erlöschenden Sternen hergingen und über diese verdorrte und verfluchte Ebene wanderten. Die Nacht endete nicht, es gab nur wenige Landmarken in großem Abstand voneinander und wir entdeckten schon bald, dass unsere Uhren nicht funktionierten. Aber es fühlte sich an, als würde es ewig dauern. Ich tat mein Bestes, stetig voranzugehen, die anderen zu führen, die tiefen Krater herumzugehen und über die Sprünge und Risse im Boden zu springen. Der Boden war festgetreten und gab unter meinen Füßen nicht nach, aber seltsamerweise hatte man nicht das Gefühl, als würde man auf etwas treten, egal, wie fest man auftrat. Wir machten kein Geräusch beim Gehen und unsere paar kurzen Gespräche schienen nirgendwohin zu führen, bis wir in der überwältigenden Stille sogar den Impuls verloren zu reden. Also trotteten wir über die endlose Ebene, während sich die nervenzerreißende Stille in unsere Gedanken, Gefühle und Pläne fraß. Bis nur noch langsame, verbissene Hartnäckigkeit mich vorwärts trieb, die einfache Weigerung, von diesem schrecklichen Ort besiegt zu werden.

Irgendwann kamen wir an einer langen Reihe von überwältigend hohen Strukturen vorbei, die vielleicht einmal Gebäude gewesen waren. Groß wie Wolkenkratzer, aus einem schwach schimmernden, unbekannten Stein errichtet. Sie ragten über uns auf wie brütende Riesen, fremdartige, beunruhigende Formen mit tiefen Hohlräumen in den Seiten, die aussahen wie eine Vielzahl wachsamer, dunkler Augen. Die unteren Abschnitte waren mit langen Reihen verschnörkelter und unleserlicher Schriftzeichen bedeckt. Drohungen vielleicht oder Warnungen, oder vielleicht hieß es auch nur Vergesst uns nicht. Wir lebten hier und haben dies trotz der Natur unserer Welt gebaut.

Dennoch vermittelten diese handfesten Zeichen von Leben keinen Trost, am Ende blieb nur ein Gefühl von kalter Bosheit um sie herum, als wenn das, was auch immer an üblem Ungeziefer in diesen hässlichen Strukturen gelebt hatte, unsere Gegenwart zurückwies, unseren Zweck, unser Leben. Wir gingen weiter und ließen die Steinstrukturen tatsächlich hinter uns.

»Ist das die Hölle?«, fragte ich Molly irgendwann.

»Nein«, sagte sie. »Die Hölle ist lebendiger als das hier.«

Als ob er erst vom Klang unserer Stimmen dazu ermutigt worden wäre, verkündete Mr. Stich plötzlich: »Wir werden beobachtet.«

Ich hielt an und die anderen taten es mir nach. Wir sahen uns um. Nur Felsspalten und Risse und Krater.

»Bist du sicher?«, fragte Molly und schauderte.

»Er hat recht«, sagte der Seneschall. Je mehr wir redeten, desto leichter fiel uns die Kommunikation. »Ich spüre schon seit Ewigkeiten, dass uns wachsame Augen folgen. Ich habe allerdings nichts gesehen.«

»Wir werden ganz sicher beobachtet«, sagte Mr. Stich. Seine Stimme war völlig ruhig und leicht, als ob er vorschlüge, den Tee auf dem Rasen einzunehmen.

»Ja«, sagte U-Bahn Ute. »Da ist etwas in unserer Nähe, ich kann es fühlen. Ich habe euch gesagt, dass etwas gekommen ist, um hier zu leben, und dass es sich von Reisenden ernährt. Deswegen benutzt niemand mehr den Weg der Verdammnis.«

»Vielleicht hätte man einfach nur den Namen ändern sollen«, sagte ich. »Werbung ist heutzutage alles.«

»Nicht jetzt, Eddie«, meinte Molly.

Giles Todesjäger zog sein Langschwert und drehte sich einmal langsam im Kreis. »Sie sind hier. Nah. Nah und tödlich.«

»Aber wer zur Hölle würde an so einem Ort leben wollen?«, fragte Molly.

Wir bildeten Schulter an Schulter einen Kreis, die Gesichter nach außen gewandt. Mir kam es vor als sei ich plötzlich wachsamer und aufmerksamer, als ob ich ein langes Nickerchen abschüttelte. Ich starrte hinaus in die endlose Ebene, den öden und langweiligen violetten Stein, aber nichts bewegte sich irgendwo. Was auch immer hier war, es musste ziemlich mächtig und ziemlich gefährlich sein. Nach allem, was U-Bahn Ute erzählt hatte, hatten einige erfahrene Leute diese Route benutzt und waren am anderen Ende nicht wieder aufgetaucht. Ich hielt nach etwas Großem Ausschau, etwas Beeindruckendem und ganz offensichtlich Tödlichem - aber ich hätte es besser wissen müssen. Immerhin war das hier eine sterbende Welt. Und was ziehen Tote und sterbende Körper an? Aasfresser, Parasiten und Schmarotzer.

Sie kamen aus den Spalten und Kratern, kriechend und krabbelnd, auf zwei Beinen oder allen Vieren bewegten sie sich über den toten Boden auf uns zu. Sie waren überall um uns herum, rennend, mit großen Schritten, eine Welle nach der anderen, sich windend wie Maden in einer offenen Wunde. Ich wusste nicht, ob dieser Ort ihre Heimat war oder ob sie von woanders herkamen, aber die Natur dieser Existenzebene war in sie übergegangen. Sie sahen aus, als hätten sie sich bemüht, menschlich auszusehen, aber es nicht geschafft. Sie sahen grob aus, unfertig, die Details ihrer Körper waren ungenau oder missgebildet oder fehlten ganz. Sie hatten nicht einmal Gesichter, nur phosphoreszierende, verfaulende Augen und runde Münder mit scharfen Zähnen wie Neunaugen.

Sie drangen von allen Seiten her auf uns ein, und sie schienen zahllos zu sein. Ich sprach leise die Worte, um aufzurüsten, aber nichts passierte. Ich versuchte es wieder, aber meine Rüstung antwortete nicht. Ich wandte mich zum Seneschall um, und sein schockierter Gesichtsausdruck war alles, was ich wissen musste. Er griff mit seinen Händen ins Leere, offenbar versuchte er, seine Waffen zu ziehen, aber nichts passierte. Molly hob ihre Arme, als wolle sie etwas beschwören, aber dann sah sie mich verdutzt an, als nichts passierte.

»Es ist diese Welt«, sagte U-Bahn Ute. »Komplizierte Magie kann hier nicht wirken. Oder komplizierte Wissenschaft. Die desintegrierenden Gesetze dieser Realität können sie nicht unterstützen. Das ist der Grund, warum so viele erfahrene Leute es nicht hier herausgeschafft haben. Wir sind hilflos. Ohne Schutz.«

»Für dich gilt das vielleicht«, sagte Giles. Er schwang sein Langschwert vor sich hin und her. »Ein starker rechter Arm, eine gute Klinge und ein aufrechtes Herz werden immer funktionieren.«

»In der Tat«, meinte Mr. Stich und hielt plötzlich sein langes Messer in der Hand.

Molly griff nach unten in ihre Stiefelschäfte und zog zwei schlanke, silberne Dolche heraus. »Athamen«, sagte sie knapp. »Hexendolche. Ich benutze sie meist für Rituale, aber sie sind trotzdem scharf und gefährlich genug für sowas hier.«

Sie gab mir einen. Es fühlte sich überraschend schwer an für etwas, das so zierlich aussah. Der Seneschall zog ein langes Messer mit gezackter Klinge aus seinem Ärmel.

»Ein Albanischer Stoßdolch«, sagte er. »Ist immer gut, so eine kleine Überraschung in Reserve zu haben. Wenn man etwas Lebendiges, dass einen ärgert, unbedingt töten muss.«

»Messer werden nicht funktionieren«, meinte U-Bahn Ute hohl. »Schwerter werden nicht funktionieren. Es sind einfach zu viele. Wir werden hier alle sterben. Wie jeder andere.«

»Ich glaube, du bist schon zu lange auf dieser Welt«, sagte Molly. »Bleib hinter mir und alles wird gut.«

»In der Überzahl zu sein, ist keine Garantie für einen Sieg«, sagte Giles. »Jeder erfahrene Soldat weiß das. Behaltet euren Boden, sorgt dafür, dass jeder Streich trifft, erinnert euch an die Übungen und alles wird gut. Ein geübter Soldat mit einer Klinge ist jedem unbewaffneten Mob gewachsen.«

Wir standen Schulter an Schulter, unsere Waffen gezückt. U-Bahn Ute setzte sich plötzlich im Inneren des Kreises auf den Boden und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Die Schmarotzer rannten von allen Seiten gleichzeitig mit großen Schritten über den rissigen Boden auf uns zu. Eine Welle nach der anderen, zu viele, als dass man sie hätte zählen können. Wenn es einen Ort gegeben hätte, zu dem ich hätte fliehen können, ich hätt's getan. Aber die helle Lichtsäule schien so weit weg wie nur je und wir waren umzingelt. Also blieb uns nur übrig, zu bleiben und zu kämpfen und - wenn es nötig wurde - gut zu sterben.

Hoffentlich konnte jemand anderes noch rechtzeitig einen Weg zum Turm finden und ihn zerstören. Ich wünschte … na ja. Es gab so vieles, von dem ich mir wünschte, es noch getan oder gesagt zu haben. So viele Dinge, die ich noch tun wollte - aber ich vermute, das will man immer, auch wenn man gerade nicht stirbt. Ich warf einen kurzen Blick auf Molly und wir tauschten ein letztes, süßes und wildes Lächeln. Und dann waren die Schmarotzer da.

Sie erreichten Giles zuerst und er hieb sie mit müheloser Leichtigkeit nieder. Sein Langschwert schwang vor und zurück, als wäre es schwerelos, die unglaublich scharfe Klinge fuhr durch Fleisch und Knochen gleichermaßen. Dunkles Blut sprudelte und die Schmarotzer fielen, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Giles lachte glücklich; er tat, was er am besten konnte und war dabei in seinem Element. Mr. Stich benutzte sein Messer beinahe beiläufig und durchschnitt mit elegantem Können Kehlen, stach in Bäuche und Augen. Er lächelte ebenfalls, aber in seinen Augen lag keine Emotion, nur ein dunkles, verzweifeltes Bedürfnis, das nie befriedigt werden konnte. Der Seneschall stampfte und warf sich mit brutaler Effizienz in den Kampf und tötete alles, was ihm zu nahe kam. Er runzelte dabei die Stirn, als sei er mit etwas Notwendigem, aber Abscheulichem beschäftigt.

Molly und ich kämpften Seite an Seite, hackten und stachen auf die schrecklich unfertigen Kreaturen ein, die nach wie vor auf uns eindrangen. Die Schmarotzer hatten keinen Sinn für Taktik oder gar Selbstschutz. Sie gingen einfach mit zu Klauen geformten Händen auf uns los, die brüchig wie tote Zweige waren; glühende, verfaulende Augen schauten blicklos, und dunkler Speichel, troff aus ihren runden Mäulern. Ihnen war nichts außer der Gier zu töten und zu fressen geblieben. Sie versuchten, uns herabzuziehen und auseinanderzureißen, ohne zu wissen oder sich auch nur darum zu kümmern, was sie da zu zerstören suchten.

Die Toten häuften sich um uns herum auf, das Fleisch zerfiel bereits, das dunkle Blut wurde von dem zersprungenen Steinboden gierig aufgesogen. Mein ganzer Körper schmerzte von der Anstrengung, das silberne Messer pausenlos zu benutzen, durch Fleisch wie durch Schlamm zu schneiden und zu hacken, Fleisch das an dem Messer hängen blieb und es langsam zersetzte. Ich trug Prellungen und Schnitte davon, meine Kleider waren zerrissen und Schweiß und Blut liefen mein Gesicht herunter. Ich konnte Molly hören, wie sie laut neben mir atmete, und Giles, wie er ein obskures Schlachtlied sang. Irgendwie lag etwas Unmenschliches in seiner fröhlichen Weigerung, sich von den unglaublichen Massen, die sich ihm in den Weg stellten bremsen oder gar aufhalten zu lassen. Er tötete und tötete und er war immer bereit für mehr, wie ein Verhungernder bei einem Festmahl. Mir kam der Gedanke, dass Giles in einiger Hinsicht furchterregender war als Mr. Stich.

Und dann plötzlich, als hätte jemand ein unhörbares Signal gegeben, zogen sich die Schmarotzer zurück. In einem Moment griffen sie mit all ihrer schweigsamen Wut an, im nächsten krabbelten sie über die ausgetrocknete Ebene davon, wie das Meer bei Ebbe. Giles schüttelte das Blut von seinem Langschwert und lehnte sich dann darauf. Er sah sich um und lächelte angesichts der Leichenhaufen, die sich um uns herum türmten. Er nickte kurz, als begutachte er die wohlgetane Arbeit nach einem langen Tag.

Molly und ich lehnten uns aneinander und rangen nach Luft.

»Sie werden wiederkommen«, sagte U-Bahn Ute hinter uns. Ich drehte mich um und sah sie böse an.

»Wir müssen hier weg. Es muss einen Weg geben. Finde ihn!«

»Ja«, sagte Ute langsam. »Ich stehe mit diesem Ort in Verbindung. Er spricht zu mir. Einer von uns muss hierbleiben, damit die anderen zum Licht kommen können.«

»Was?«, fragte Molly. »Wieso das denn auf einmal?«

»U-Bahn Ute sah sie müde an. »Ich kenne die Geheimen Wege. Ich kann die Regeln hier lesen, die in diese sterbende Welt geschrieben sind. Wenn wir alle bleiben, sterben wir alle. Einer von uns muss hierbleiben und sich selbst opfern für die anderen. Damit sie gehen können.«

»Wir sollten Lose ziehen«, sagte Giles.

»Nein«, sagte Ute sofort. »Es muss ein freiwilliges Opfer sein. Ein positiver Akt, der gegen die Entropie dieser Welt gesetzt wird. Hier geht es nicht darum, wie weit man gehen muss. Wir könnten für den Rest unseres Lebens gehen und würden das Licht doch nicht erreichen. Aber man kann es durch einen Akt der Liebe heranziehen. Also, wer von uns ist bereit zu sterben, damit die anderen leben können?«

»Es muss einen anderen Weg geben«, sagte Molly. »Wir lassen unsere Leute nicht im Stich. Sag's ihnen, Eddie!«

»Ich werde bleiben«, sagte ich.

»Was?« Molly starrte mich wie betäubt an.

»Ich bleibe«, wiederholte ich. »Das war meine Mission, meine Idee. Meine Verantwortung.«

»Nein, das ist sie nicht.« Molly warf böse Blicke um sich. »Sagt es ihm!«

»Du kannst nicht bleiben, Edwin«, sagte der Seneschall ruhig. »Die Familie braucht dich, um Truman und den Turm zu zerstören. Du bist jetzt der Held. Also bleibe ich. Ich sagte, alles für die Familie und die Welt und ich meinte es so. Ihr werdet alle gebraucht, da, wo ihr hingeht. Ihr seid etwas Besonderes, ich nicht.«

»Seneschall -«, fing ich an, doch er unterbrach mich mit einem Blick.

»Eddie, ich will es so. Ich will einmal das Zünglein an der Waage sein. Ein Held sein und nicht der, der sie trainiert und sie wegschickt. Ich habe immer davon geträumt, einmal so etwas wie das hier zu machen, der Letzte zu sein, der noch bleibt und eine verlorene, edle Sache gegen jede Wette durchzustehen. Um die Familie und die Welt zu retten. Also, bring sie hier raus, Eddie. Mach Schluss mit Truman und dem Turm. Mach die Familie stolz.«

Er ging, ohne eine Antwort abzuwarten und direkt auf die erstbeste Gruppe von Schmarotzern zu. Sie sahen ihn von ihren Spalten und Kratern aus kommen und wurden unruhig. Ich sammelte die anderen. Wir ließen ihn zurück, als wir auf die Lichtsäule zuliefen, die schon auf uns zuschoss. Ich hörte, wie die Schmarotzer hinter uns aus ihren Verstecken krochen, aber ich sah mich nicht um. Die Lichtsäule fuhr durch die Schmarotzer hindurch, angezogen von der Kraft eines freiwilligen Opfers. Sie flammte vor uns auf und versprach Hoffnung und Leben und einen Weg hier raus.

Aber nicht für den Seneschall.

Molly und U-Bahn Ute tauchten ein in das helle Licht und verschwanden, gefolgt von Giles und Mr. Stich. Und nur ich hielt noch einmal inne und sah mich zum Seneschall um, der unerschütterlich gegen eine lebende Welle von mit ihren Klauen wild um sich schlagenden Schmarotzern stand. Er wehrte sich heftig gegen sie, warf mit der Kraft seiner Schläge Leichen in jede Richtung. Er stand aufrecht bis zu dem Moment, in dem sie alle über ihn kamen und ihn zu Boden zerrten und er aus meiner Sicht verschwand. Er schrie nicht einmal auf. Und erst dann trat ich in das Licht.

Und so starb Cyril Drood: gegen seine Feinde bis zum Ende kämpfend, so, wie ein Drood sterben sollte. Für die Familie. Und für die ganze, verdammte Welt, die sich nicht darum kümmerte.


Als das Licht erstarb, war ich wieder in meiner eigenen Welt. Es war Nacht, aber der Mond war voll und strahlte hell. Der Himmel hing voller Sterne, die noch mindestens ein paar Äonen leuchten würden. Meine Wunden hatten sich spurlos geschlossen und ich fühlte mich wieder stark. Die Luft war angenehm kühl, voller Gerüche - es war eine Freude, darin zu atmen. Ich trat auf das feuchte Gras und erfreute mich am festen Grund unter mir. Die ganze Nacht fühlte sich lebendig an, wie auch ich.

Erst als ich mich umsah, erkannte ich, dass die anderen mich nicht einmal bemerkten. Sie standen um einen Körper herum, der auf dem Boden lag. Ich hastete zu ihnen herüber. Molly kniete auf dem Gras neben U-Bahn Ute. Sie war tot. Sie hatte keine Verletzungen, die Schmarotzer hatten sie nicht in die Finger gekriegt. Aber sie war trotzdem tot. Molly sah zu mir auf.

»Ute hat es nicht geschafft«, sagte sie dumpf. »Zu viel Anstrengung, zu viel Magie, sie war nie sehr stark.«

»Es tut mir leid«, sagte ich.

»Nicht deine Schuld«, erwiderte Molly. »Sie hat sich ja freiwillig gemeldet.« Sie kam wacklig wieder auf die Beine. »Wir werden zu dir zurückkommen, Ute. Später. Noch haben wir eine Aufgabe zu erledigen.«

»Ihr wird es hier gut gehen«, sagte ich, weil man in so einer Situation ja irgendetwas sagen musste.

Molly funkelte mich an. »Ute war meine Freundin. Sie war nicht immer so wie vorhin. Du hast sie nie zu ihrer besten Zeit gesehen, reich und glamourös und jemand, mit dem man rechnen musste.«

»Ich weiß«, antwortete ich.

»Sie war meine Freundin«, sagte Molly. »Sie ist nur in das alles reingezogen worden, weil ich sie drum gebeten hatte.«

»Ja«, sagte ich. »Das scheint ansteckend zu sein.«

»Der Seneschall war ein guter Mann«, sagte Giles Todesjäger. »Er kannte seine Pflicht und er hielt stand bis zuletzt.«

»Natürlich«, meinte ich. »Er war ein Drood.«

Ich sah mich wieder um. Wir befanden uns auf einer Wiese ungefähr eine halbe Meile von Stonehenge entfernt. Von Harry oder Roger oder irgendeinem von Trumans Beschleunigten war nichts zu sehen.

»Wir sind nur einen Moment nach unserem Aufbruch hier angekommen.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Molly. »Nicht mal ich kann den Nachthimmel so akkurat lesen.«

»Ich weiß es, weil die implantierte Uhr in meinem Kopf gerade wieder angefangen hat zu arbeiten«, sagte Giles.

»Klugscheißer«, sagte Molly. Sie sah mich an. »Ich frage mich, wie Jacob und Jay vorankommen.«

»Ich bezweifle, dass wir das je erfahren werden«, antwortete ich. »Es war ein ganz schöner Schuss ins Blaue. Aber wie auch immer, wir können uns nicht auf sie verlassen, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen, also kommt's jetzt auf uns an.«

»Es gibt einen Eingang zu dem unterirdischen Bunker, nicht weit von hier«, verkündete Mr. Stich auf einmal. Er wies zuversichtlich in die Dunkelheit. Als er bemerkte, dass wir ihn alle anstarrten, lächelte er kurz. »Ich habe viele Fähigkeiten«, sagte er ruhig. »Ich verrate sie nur nicht unnötig. Sollen wir gehen?«

»Auf alle Fälle«, meinte ich. »Bitte nach Ihnen.«

Er nickte, schritt über die weite Ebene und wir alle folgten ihm. Ich war froh, dass er die Führung übernommen hatte. Ohne den Seneschall wollte ich Mr. Stich nicht hinter mir wissen. Er war vielleicht ein Teil der Mission, aber ich würde ihm nie wieder vertrauen. Nicht nach der Sache mit Penny.

Plötzlich hielt er an und starrte herunter auf ein Stück Wiese, dass sich nicht vom Rest unterschied. Dann stampfte er zwei Mal fest auf den Boden und trat zurück. Ein großes Stück des Rasens hob sich langsam und gab einen dunklen Tunnel frei, der nach unten führte. Mr. Stich wollte ihn betreten, doch ich hielt ihn zurück und übernahm nach einem bedeutungsvollen Blick auf Molly wieder die Führung. Wenn das wirklich ein Weg in Trumans Bunker war, wollte ich nicht, dass Mr. Stich voran ging und Entscheidungen für uns alle traf. Molly konnte ihn im Auge behalten.

Elektrische Lichter flammten auf, als wir den Tunnel betraten, wahrscheinlich ausgelöst durch einen versteckten Sensor. Die Wände bestanden aus gewölbtem Stahl und schimmerten dumpf. Truman hatte es mit Stahl. Persönlich war ich der Ansicht, dass er einfach zu viele James-Bond-Filme gesehen hatte. Aber das hatte ich auch. Wir gingen den Stahlkorridor entlang, bis er auf einen anderen traf, genauso breit, genauso nackt und schlicht. Unsere Schritte hallten laut auf dem geriffelten Boden und ich erwartete fast, dass jeden Moment bewaffnete Wachleute auftauchten. Aber niemand kam, um zu sehen, was los war. Kein Alarm, keine erhobenen Stimmen - nichts. Der ganze Ort war unnatürlich still. Molly stupste mich in die Seite, sah sich finster um und blieb jetzt so dicht bei mir, dass ich die Spannung in ihr ebenfalls spüren konnte.

»Da stimmt was nicht«, sagte sie leise. »In Trumans letzter Basis wimmelte es nur so von Leuten. Wo sind die alle?«

»Gute Frage«, erwiderte ich. »Wir dürfen nicht vergessen, dass das hier nicht nur ein Quartier des Manifesten Schicksals, sondern auch ein Nest der Abscheulichen ist.«

Sie sah mich nicht an. Sie musste wissen, was ich dachte. Sie hatte einen Abscheulichen in sich, der wuchs und größer wurde. Wer wusste schon, was das Ding tat, jetzt, wo es sich endlich unter seinesgleichen befand.

Ich begann zu hoffen, dass wir bald auf ein paar bewaffnete Wachen träfen. Ich hatte wirklich den Eindruck, ich müsste meine angestaute Frustration an einer ganzen Meute von armen, hilflosen, bewaffneten Wachen auslassen.

Aber als wir um eine letzte Stahlecke bogen und endlich in den ersten offenen Raum in diesem Bunker spähten, fiel auf einmal ein massives Stahlschott von der Decke und versperrte den Korridor. Es blockierte unseren Weg mit bestimmt zwei Tonnen Stahl und traf mit einem so lauten Knall auf den Boden, dass ich tatsächlich das Gesicht verzog. Aber immer noch wurde kein Alarm ausgelöst, kein Stimmengewirr war zu hören, das zu wissen verlangte, was zur Hölle hier los war. Wo zum Teufel waren die alle? Was machte Truman hier unten nur?

Ich sprach leise die aktivierenden Worte und boxte dann vor Freude in die Luft, als die goldene Rüstung glatt über mich hinwegfloss. Es war ein gutes Gefühl, sie wieder zu haben. Ich schlug auf das Stahlschott und legte meine ganze gerüstete Kraft hinein. Meine goldene Faust sank knapp zehn Zentimeter in den Stahl, aber das war's auch schon. Ich musste meine Hand Zentimeter für Zentimeter wieder herauszerren. Ich kauerte mich hin und rammte beide Hände in den unteren Teil des Schotts, grub meine goldenen Finger tief hinein und strengte mich mit aller Kraft an, das massive Schott zu heben. Es zitterte ein wenig, aber hob sich kaum mehr als ein paar Zentimeter vom Boden. Ich konnte einfach nicht genug Hebelwirkung aufbringen. Meine goldenen Finger glitten langsam durch den Stahl wie durch dicken Schlamm und waren nicht in der Lage, ihn ordentlich zu fassen zu bekommen. Ich zog meine Hände wieder heraus und trat einen Schritt zurück, um das Schott böse anzufunkeln, verblüfft und frustriert.

»Ich habe eine Strahlwaffe«, sagte Giles Todesjäger schüchtern.

»Nein«, sagte ich sofort. »Keiner weiß, welche Arten von Verteidigung oder Fallen Truman da drin installiert hat. Lasst uns die Dinge nicht schlimmer machen, als sie schon sind.«

Molly schnaubte und stieß mir ihren Ellbogen in die Seite. »Männer«, sagte sie verächtlich. »Wenn ihr's nicht zerschlagen oder erschießen könnt, dann wisst ihr nicht weiter.«

Sie stach mit dem Zeigefinger herrisch nach der Stahlplatte, sagte zwei sehr alte und kraftvolle Worte der Macht und das Schott schüttelte sich tatsächlich einmal kräftig durch, bevor es sich widerwillig wieder zurück in seinen Schacht an der Decke hob. Molly grinste Giles und mich herablassend an, zweifellos lag ihr schon etwas sehr Bissiges auf der Zunge, doch da gingen auf einmal die Maschinengewehre los.

Giles schnappte Molly und warf sie auf den Boden und bedeckte ihren Körper mit seinem. Er ignorierte ihre erstaunlichen Flüche. Ich beeilte mich, den Flur zu blockieren und jeden mit meiner goldenen Uniform zu schützen. Kugeln sprühten durch den ganzen Gang, aber die goldene Rüstung absorbierte sie einfach. Ich spürte nicht einmal die Einschläge, während ich langsam mitten in den Kugelhagel hineinging. Ich bemerkte schnell, dass es gar keine Wachen gab, nur zwei automatische Maschinengewehre, die dorthin gesetzt worden waren, um das Ende des Korridors unter Feuer halten zu können, schwangen langsam und methodisch auf ihren Halterungen hin und her. Es sah so aus, als hätten sie ihre Munition bald verschossen, aber ich war in der Stimmung, etwas kaputtzumachen, also riss ich sie aus ihren Verankerungen und zerknüllte sie in meinen goldenen Händen. Beide gaben zufriedenstellende Quiekgeräusche von sich und ich warf sie beiseite. Eine wunderbare Stille breitete sich im Gang aus. Nur Molly war immer noch damit beschäftigt, Giles nach Leibeskräften zu beschimpfen, als er ihr aufhalf.

»Ich kann mich selbst beschützen, besten Dank!«, schnaubte sie. »Ich muss nicht von einer übereifrigen und viel zu muskulösen Drama Queen auf den Boden geworfen werden!«

»Von mir aus«, meinte Giles. »Das nächste Mal lasse ich dich mit Freuden sterben.«

»Sollte ich vielleicht auch tun«, fügte ich hinzu. »Wäre auf lange Sicht weniger Arger.«

»Mir geht es übrigens gut«, sagte Mr. Stich.

»Das hab ich nie bezweifelt«, erwiderte ich, ohne mich umzudrehen.

Wir gingen weiter, durch das Innere von Trumans unterirdischer Basis. Alles war chaotisch: Umgeworfene Möbel, herumfliegendes Papier, offene Türen zu Sicherheitsbereichen. Nirgendwo waren Leute. Nur leere Räume und verlassene Korridore. Die Hälfte der Lichter arbeitete nicht und seltsame Schatten schienen überall zu lauern. Als wir weiter vordrangen, fanden wir Arbeitskonsolen, an denen Computer und andere Technologie herausgerissen und ausgeweidet worden waren. In den Stahlwänden fanden wir jetzt große Risse vor, lang und gezackt, als hätten Klauen hineingeschlagen, Draht und Kabel hingen dabei wie Eingeweide aus offenen Wunden heraus. Und die einzigen Geräusche, die wir in der gesamten Basis hören konnten, waren die, die wir selbst mitbrachten.

Endlich, als wir uns dem Operationszentrum näherten, fanden wir allmählich Leichen, die man achtlos aufgehäuft hatte, als wären sie einfach zusammengezerrt und aus dem Weg geräumt worden. Jetzt gab es Anzeichen von Kämpfen, offenbar waren die Leute nicht freiwillig in den Tod gegangen. Kugellöcher in den Wänden, verkohlte Einschläge von Granaten, die Überreste von improvisierten Barrikaden. Sie hatten einen Kampf geliefert, nur um wie ihre Computer zu enden: zerrissen, aufgeschlitzt, ausgeweidet. Aufgebrochen, um an die Teile zu kommen. Ganze Organe fehlten, und Hände und Augen. Blut und Eingeweide lagen überall herum, dampften immer noch und stanken in der kalten, stillen Luft.

Mr. Stich inspizierte einige der Leichen. Kein anderer wollte näher herangehen.

»Sie wollten den Turm vervollständigen«, sagte ich, weil es jemand aussprechen musste. »Technologie und organische Elemente, um ihn fertigzustellen. Weil sie in Eile waren. Weil sie wussten, dass wir kommen.«

»Wag es nur ja nicht, dir die Schuld dafür zu geben«, sagte Molly sofort. »Nichts davon ist deine Schuld. Das Manifeste Schicksal ist ganz allein dafür verantwortlich, indem sie sich mit den Abscheulichen eingelassen haben. Also los, lasst uns Truman finden.«

»Woher willst du wissen, dass er immer noch am Leben ist?«, fragte Giles.

»Weil Ratten wie er immer ein Loch finden, in dem sie sich verstecken können«, erwiderte sie.

Wir brauchten nicht lange, um ihn aufzuspüren. Wir folgten einfach den Anzeigen an der Wand zu seinem Privatbüro und wie zu erwarten, waren die Leichenhaufen vor seiner verschlossenen und verbarrikadierten Tür höher als überall sonst. Eine grüne Lampe über der Tür leuchtete und zeigte an, dass sich der Führer darin befand. Und eine einzelne Überwachungskamera fuhr hin und her und scannte uns mit einem kleinen roten Licht. Ich schlug mit der Faust an die Tür.

»Du weißt, wer hier ist, Truman. Und stell dir vor, ich will dich nicht umbringen. Eigentlich bin ich sogar deine beste Chance, diesen Schweinestall hier lebend zu verlassen. Mach auf, damit wir mit dir über die Abscheulichen reden können.«

»Verschwinde!«, kreischte eine Stimme von drinnen, schrill und gebrochen. »Du kannst mich nicht reinlegen. Ihr seid keine Menschen! Nicht mehr!«

»Hier ist Edwin Drood, Truman. Und jetzt lass mich rein, oder ich reiße die Tür mitsamt den Angeln raus!«

Es entstand eine lange Pause, gefolgt von etwas, das ein Kichern hätte sein können. »Ein Drood ist gekommen, um mich zu retten. Dass es mal so weit kommt.«

Man hörte das Geräusch von Möbeln, die weggezogen wurden und dann, nach einer kleinen Weile, ging das Schloss der Tür von selbst auf. Ich stieß sie auf und wir gingen in Trumans Büro hinein. Es war vielleicht einmal luxuriös gewesen, eventuell sogar beeindruckend, aber jetzt sah es aus wie ein Rattenloch. Das Zimmer war ein Saustall, es stank nach Schweiß und Furcht. Truman saß steif hinter seinem Schreibtisch, vor ihm lag ein halbes Dutzend Pistolen, die Mündungen auf uns gerichtet, auch wenn er Verstand genug besaß, die Hände davonzulassen. Er hielt seinen Kopf aufrecht, ohne Zweifel war der voller Implantate, die alles, was er sich selbst und seinem Kopf angetan hatte, unterstützten. Truman glaubte an die Vorzüge der Schädelbohrung, oder anders gesagt, daran, sich den Kopf durch eine Menge Löcher zu ventilieren, damit das Gehirn sich ausweiten konnte. Also hatte er rund ein Dutzend Löcher in seinen gebohrt und dann lange Stahlnadeln tief in sein Hirn eingeführt. Die großen Stahldornen ragten aus seinem Kopf und der weite Bogen, den die Spitzen bildeten, umgab seinen Kopf wie ein metallener Heiligenschein. Er hoffte, damit klüger zu werden als ein normaler Mensch, aber ich konnte nicht behaupten, dass ich je einen Beweis dafür gesehen hatte. Truman sah blass und erschöpft aus, mit Augen wie ein gehetztes Tier. Er brachte ein schwaches Lächeln für Molly und mich zustande.

»Immer, wenn ich denke, die Dinge können gar nicht schlimmer werden, taucht ihr beide auf.«

»Sag' uns, was passiert ist«, meinte Molly kurzangebunden. »Dann werden wir entscheiden, ob dein jämmerlicher Arsch es vielleicht wert ist, gerettet zu werden. Was hast du hier angestellt, Truman?«

»Ich wollte nie, dass das Manifeste Schicksal mit den Abscheulichen kooperiert«, sagte er und sah auf seine Hände, damit er uns nicht ansehen musste. »Sie stehen für alles, was ich hasse und verachte. Aber nachdem ihr meine alte Organisation zerstört hattet, musste ich in den Untergrund gehen und meine Berater bestanden darauf, dass wir mächtigen Beistand brauchen, um uns selbst zu schützen, solange wir restrukturierten. Die Abscheulichen kamen zu mir und sie sagten die richtigen Dinge und versprachen mir die Welt und alles darin, wenn ich sie nur einen ihrer verdammten Türme hier bauen ließe. Ich kannte die Gefahr, das kann man nicht anders sagen, aber ich war so sicher, dass ich sie kontrollieren und benutzen und dann den Turm zerstören könnte, bevor sie irgendetwas damit tun könnten … Ich war ein Idiot. Sie infizierten meine Leute einen nach dem anderen. Bei meinen Beratern haben sie angefangen, sodass ich nur hörte, was sie wollten, dass ich höre. Das erste Mal, dass ich merkte, dass etwas falsch lief, war, als die infizierten Drohnen plötzlich den Rest meiner Leute angriffen, hier, in meiner eigenen Basis.« Er lächelte auf einmal, ein seltsames, schiefes Lächeln. »Sie haben sogar mich infiziert. Oh ja. Einer meiner ältesten Freunde hat es getan, ihre dreckige Präsenz in mich gepflanzt. Aber ich hab ihn getötet und dann habe ich ES umgebracht. Langsam, bis es tot war. Mein vergrößertes Hirn war dem winzigen, schwachen Ding, dass sie mir in den Kopf gepflanzt haben, mehr als gewachsen. Ich hab's gegessen und seine sterbenden Schreie mit meinem Hirn verschlungen.«

An dieser Stelle lachte er tatsächlich laut auf und genoss die Erinnerung in vollen Zügen. Er wurde erst wieder nüchtern, als er die Mienen auf unseren Gesichtern sah. »Natürlich war es da schon zu spät. Meine Leute waren übernommen oder abgeschlachtet und meine Basis auseinandergenommen worden, um mit dem guten Material ihren verdammten Turm bauen zu können. Aber ich werde trotzdem zuletzt lachen! Oh ja! Ich habe eine geheime Waffe, die ich im Verborgenen für den Tag vorbereitet habe, an dem sie sich gegen mich erheben. Die Seelenkanone! Nur ich habe die Zugangscodes. Kein anderer kommt da dran oder kann sie abfeuern! Lasst sie ihren Turm aktivieren! Ich werde meine Seelenkanone abfeuern, mit aller Macht, die die Seele Albions hergibt und sie verwenden, um die Abscheulichen für immer aus dieser Welt zu verbannen!«

Er funkelte uns triumphierend an, aber Molly und ich schüttelten schon mit den Köpfen.

»Wird nicht funktionieren«, sagte ich. »Zu deinem Pech hast du dir nie die Mühe gegeben, wirklich zu kapieren, was es mit der Seele Albions auf sich hat. Das ist nicht nur ein Ding, etwas, das du benutzen kannst. Die Seele fiel aus einer höheren Dimension auf die Erde, genau wie das Herz der Droods. Vielleicht ist es sogar ein Teil des Herzens, das bei dessen Abstieg verlorenging. Um genau zu sein, ist die Seele ein winziger Kristall mit einer Babyintelligenz, nur wenige Jahrhunderte alt und zu jung, um eine volle Persönlichkeit entwickelt zu haben. Es beschützt England, weil es glaubt, dass das seine Heimat ist. Wenn du versuchst, ihm seine Kraft zu nehmen und dabei alles Leben aus ihm herauszusaugen, dann wird es nur dich und deine Basis zerstören und wieder schlafen gehen.«

»Und selbst wenn du diesen Plan umsetzen könntest«, sagte Molly, »glaubst du dann wirklich, dass ein Babykristall hoffen könnte, die Eindringlinge zurückzuhalten? Die Vielwinkligen, die Hungrigen Götter? Weißt du, dass der Turm gebaut wurde, um sie herzubringen?«

»Nein«, sagte Truman. »Nein, nein - ihr wollt mir nur Angst machen …«

»Vertrau mir«, sagte ich. »Wir haben schon Angst genug. Wir müssen den Turm zerstören, bevor die Eindringlinge durchkommen. Wo ist er?«

Ein Alarm ging los, ohrenbetäubend laut in dem kleinen Büro. Wir fuhren alle zusammen. Truman hieb auf die Kontrollen seines Schreibtischs ein und ein Bildschirm flammte an der Wand auf. Er zeigte Harry und Roger Morgenstern, die vorsichtig durch die unterirdische Basis schlichen. Endlich waren sie hier. Ich musste lächeln. Harry würde es so hassen, nur der Zweite hier zu sein.

»Verdammt«, meinte Molly. »In all der Aufregung habe ich die beiden glatt vergessen.«

»Ich habe keinen vergessen, auch nicht die Droods, die sie mitgebracht haben«, sagte ich. Ich sah Truman kalt an. »Deine Beschleunigten und deine verdammte Seelenkanone haben Hunderte meiner Familie getötet.«

Er lächelte mich verächtlich an. »Ich wünschte, es wären mehr gewesen. Du hast mich doch erst so weit gebracht, mich so tief sinken zu lassen, dass ich mich mit Abschaum aus einer anderen Dimension einlassen musste! Alles, was hier passiert ist, ist dein Fehler, Drood!«

»Ach, halt die Klappe, du Jammerlappen«, sagte Molly und der schiere Widerwillen in ihrer Stimme ließ ihn zusammenzucken, als habe sie ihn geschlagen. Sie ging um den Schreibtisch herum, fand die Konsole und rief Harry und Roger beim Namen. Beide sahen verwirrt auf und Molly grinste, während sie ihnen den Weg zu Trumans Büro beschrieb.

»Entschuldigt«, sagte Giles Todesjäger leise. »Aber was ist dieses Ding da auf seinem Kopf?«

»Hochmoderne Technologie«, meinte ich trocken.

Giles hob eine Augenbraue. »In meiner Zeit finden wir es nützlicher, die Technologie im Kopf zu montieren. Und ich möchte darauf hinweisen, dass wir es ebenso nützlich finden, überehrgeizige Idioten wie den da bei Sichtung abzuknallen.«

Harry und Roger hatten endlich Trumans Büro gefunden und kamen ohne anzuklopfen herein. Harry sah mich und schnaubte laut.

»Ich hätte wissen müssen, dass du am Ende einen Weg hier hereinfindest und allen Ruhm für dich beanspruchst.«

»Richtig«, sagte ich. »Da bin ich genau wie du, Harry.«

»Jungs, Jungs«, meinte Molly. »Steckt die Dinger sofort wieder ein oder ich schneid' sie euch ab. Wir haben hier so was wie 'ne Deadline. Truman wird uns zum Turm bringen.«

»Wisst ihr, dass er infiziert ist?«, fragte Roger.

»Ich war es«, sagte Truman hoheitsvoll. »Ich habe es mit meinem verbesserten Hirn zerstört.«

»Wie es aussieht, hast du das nicht«, sagte Roger und sah Truman gedankenverloren an. »Mit meinem wundersamen Röntgenblick kann ich sehen, dass es immer noch da ist. Meine Güte, ich kann's sogar riechen, so weit ist es entwickelt. Es hat dich nur denken lassen, es sei zerstört, damit es unbemerkt wachsen und dich beeinflussen konnte. Schade. Es gibt keine Heilung, wenn man erst infiziert ist.«

»Keine?«, fragte Molly.

»Nicht mal in der Hölle kennt man eine«, sagte Roger und sah dabei immer noch Truman an.

Truman wollte etwas sagen und ließ es dann wieder. Er sah abgelenkt aus, als höre er auf eine innere Stimme. Und dann sah er uns mit entschlossener Miene an.

»Tötet mich«, sagte er. »Ich will als Mensch sterben und während ich ich selbst bin. Und nicht als irgendein verdammtes Alien. Tötet mich!«

»Ist mir ein Vergnügen«, sagte Roger Morgenstern. Er lehnte sich über den Tisch, schnappte sich den Stahlheiligenschein, der die Dornen in Trumans Gehirn miteinander verband und riss ihn ab. Truman kreischte bedauernswert, vor Schmerz und Schock. Dann packte Roger die Dornen und zog sie einen nach dem anderen heraus. Es ging nur ruckend, Zentimeter für Zentimeter und dank der dämonischen Stärke Rogers, und wurde begleitet von pulsierendem Bluten und Stücken von Hirnmasse und dem Krachen und Splittern von Knochen. Truman schrie jetzt die ganze Zeit, ein beinahe tierischer Laut, seine Arme zucken hilflos, aber keiner von uns trat vor, um Roger aufzuhalten. Ich wollte wegsehen, aber ich zwang mich, weiter zuzusehen, als Strafe. Als alles vorbei war, lag Truman über seinem Schreibtisch, sein Kopf war zerfetzt und er zuckte noch leicht, während das Leben aus ihm wich. Roger inspizierte den letzten Stahldorn gründlich, als beinhalte er irgendwelche Geheimnisse, dann zuckte er mit den Achseln und warf ihn beiseite.

Harry funkelte ihn an. »Es war nicht nötig, so brutal zu sein!«

»Oh nein, nötig war das nicht«, erwiderte Roger. »Aber es hat Spaß gemacht.« Er lächelte mich an. »Du kannst keinem von uns erzählen, dass du nicht selbst davon geträumt hast, Eddie.«

»Nein«, antwortete ich. »Ich habe nie davon geträumt, irgendetwas derartiges zu tun, Höllengezücht.«

»Na dann«, meinte Roger. »Lohnt sich nicht, sich über vergossenes Hirn aufzuregen.«

»Ich könnte die Höllenbrut für dich umbringen, wenn du das möchtest«, bot Mr. Stich an. Er hätte auch eine Bemerkung über das Wetter machen können. Roger wollte etwas sagen, warf einen Blick auf Mr. Stich und überlegte es sich.

»Danke fürs Mitdenken«, sagte ich. »Aber nein.«

»Wir müssen zum Turm«, erinnerte uns Molly, ihre Stimme war klar und konzentriert. »Es ist nicht weit. Ich kann seine Gegenwart durch meine Magie spüren.«

»Dann geh du voran«, meinte ich.

Wir folgten Molly durch das Labyrinth der Stahlkorridore und hinunter in den tiefsten Teil des unterirdischen Bunkers, bis wir in ein großes Gewölbe aus Stahl kamen, das sich direkt unter den Steinen von Stonehenge befand. Und da war er, tief verankert in einer Grube, die aus der nackten Erde gegraben worden war, hoch und komplex und unnatürlich geformt - der letzte Turm der Abscheulichen. Es war kein Platz gewesen, ihn in die Höhe zu bauen, also hatten sie ihn nach unten gebaut. Wir konnten nur die obersten fünf, sechs Meter sehen, ein Durcheinander von Alien-Technologie, kombiniert mit Fleisch und Blut. Metall und Kristall schienen nahtlos in lebende Teile überzugehen. Wir alle umkreisten den offen stehenden Gipfel des Turms. Unsere Füße sanken in die nasse Erde. So dicht daneben gab es keinen Zweifel daran, dass das Ding auf seine eigene, ekelhafte Weise lebte. Es lebte und es war wachsam. Es wusste, dass wir da waren. Und es machte sich nichts daraus. Es war vollständig und es war aktiviert. Wir waren zu spät gekommen.

Es bildete sich bereits ein Portal, eine Öffnung an einen anderen Ort. Ich konnte ihn weder sehen noch hören, ihn aber auf eine primitive, tiefe Art und Weise fühlen: Wie ein großes Auge, dass mich beobachtete, wie eine Wunde in der Welt, wie ein Tor in die Hölle. Wie kalter, heftiger Wind, der mich aus einer Richtung anblies, die ich nicht ausmachen konnte, und der mich bis auf die Seele frieren ließ. Langsam wurden mir auch Geräusche bewusst und ich glaube nicht, dass ich sie mit meinen Ohren hörte. Es waren Stimmen; heulend, kreischend, lachend, verbunden mit Lauten von zerreißendem Fleisch und großen Kriegsmaschinen, die bis in alle Ewigkeit aufeinanderstießen. Alle Geräusche der Hölle auf Erden.

Molly packte mich am Arm. Sie schüttelte mich kräftig und ich kam wieder zu mir. Harry, Roger und Giles und selbst Mr. Stich standen immer noch mit großen Augen da und starrten gebannt auf das sich formende Portal und auf die seltsamen Energien, die um den Turm herum wirbelten und fluktuierten.

»Wir müssen etwas tun!«, sagte Molly. »Das Tor öffnet sich! Sie kommen!«

»Ich glaube, Jacob und Jay haben es wohl doch nicht geschafft«, murmelte ich wie betäubt.

»Eddie …!«

»Ich weiß!«, sagte ich. »Ich weiß.« Ich sah sie an. »Wie fühlst du dich, Molly?«

»Ich bin immer noch ich«, sagte sie und erwiderte meinen Blick fest. »Aber ich weiß nicht, für wie lange noch.«

»Dann los«, sagte ich. Ich griff in meine Jackentasche und holte Janitscharen Janes Waffe heraus, die für die letzte Lösung. Das Klägliche Ende. Es sah immer noch nach nichts Besonderem aus.

»Haben wir das Recht, unser ganzes Universum zu zerstören, nur um die Hungrigen Götter zu vernichten?«, fragte Molly.

»Verdammt, nein«, sagte Roger plötzlich. Er hatte seine Aufmerksamkeit vom Turm endlich abwenden können und sah auf das kleine Ding in meiner Hand. »Ist es das, was ich denke? Eddie, das kannst du nicht machen. Nicht, solange es noch eine Chance gibt. Irgendeine!«

Ich musste grinsen. »Ein Dämon, der an die Hoffnung glaubt. Jetzt habe ich wirklich alles gesehen.«

»Ich glaube an ihn«, sagte Roger und sah Harry an. »Ich muss hoffen - dass wir es zusammen schaffen. Nicht einmal ein Dämon ist automatisch für alle Zeiten verdammt. Du musst die Welt retten, Eddie, damit wir einen Ort haben, an dem wir zusammen alt werden können.«

»Wenn die Hungrigen Götter durchkommen, dann werden sie diese Welt mit allem darin zerstören«, sagte Molly. »Und dann weitermachen, von Welt zu Welt, bis es nichts Lebendiges mehr gibt. Das ist es, was sie tun. Sie sind kosmische Parasiten.«

»Ich habe nicht die Absicht, dieses Universum zu zerstören. Oder diese Welt«, sagte ich. »Hatte ich nie. Ich denke … ich warte, bis das Portal weit genug geöffnet ist. Dann werde ich durchgehen, in ihr Universum, in ihre Welt und es dann in die Luft jagen, bevor sie durchkommen können.«

»Das kannst du nicht allein tun«; sagte Molly sofort. »Du wirst meine magischen Kräfte brauchen, nur um in ihrer Welt lange genug zu überleben, um den Knopf zu drücken. Ich werde dich nicht allein sterben lassen.«

»Molly …«

»Welchen Grund hätte ich schon zu leben ohne dich?«, sagte Molly. »Welchen Grund soll ich haben, zu leben, so wie ich bin?«

»Und mich wirst du auch brauchen«, sagte Giles Todesjäger. Er hielt Harry und Mr. Stich an den Armen und zog sie vom Turm weg. Beide schüttelten den Kopf und kamen wieder zu sich selbst. Giles sah mich ruhig an. »Du wirst mich brauchen, um zu überleben und in einer Alien-Welt agieren zu können. Du bist das nicht gewohnt. Ich schon.«

»In Ordnung«, sagte Harry, blinzelte heftig und bemühte sich, nicht in Richtung Turm zu sehen. »Roger und ich und Mr. Stich bleiben hier und überwachen die Lage.«

»In der Tat«, sagte Mr. Stich. »Ich kenne meine Grenzen.« Er nickte mir kurz zu. »Du bist natürlich ein Drood und hast deshalb keine. Das weiß jeder.«

Ich sah Giles an. »Ich habe dich nicht über Tausende von Jahren hierher gebracht, damit du für etwas stirbst, das dich nichts angeht.«

Er zuckte leichthin mit den Achseln. »Ich bin ein Krieger. Ich kämpfe. Und außerdem, hier geht's neben der Rettung der Menschheit auch um Familie. Du hast mich ins Boot geholt und mir das Gefühl gegeben, einer von Euch zu sein. Das kannte ich vorher nicht. Ich hatte nie wirklich eine Familie. Du hast mir den Wert von Pflicht und Ehre und Verantwortung gezeigt. Du hast mir gezeigt, was es wirklich heißt, ein Mensch zu sein; ein Drood und ein Todesjäger zu sein. Also kämpfe ich und wenn es sein muss, sterbe ich auch für das, was du mir gegeben hast. Alles für die Familie.«

Roger wandte sich zum Turm um und funkelte ihn böse an. »Es weiß, dass wir etwas planen. Es hat eine Art Ruf ausgesandt, oder eine Warnung. Es hat irgendetwas beschworen.«

Wir fuhren herum, denn aus dem Inneren des Bunkers hörten wir Bewegungen. Das Geräusch von Leichen, die sich erhoben und langsam schlurfenden Schritten … und ich wusste sofort, was das war. Alle Toten in Trumans Basis erhoben sich dank der Macht des Turms, herbeibefohlen, um ihn zu verteidigen, um ihn in Zeiten der Not zu verteidigen. Die Toten wurden gerufen, um die Lebenden zu zerschmettern. Ich grinste Harry an.

»Sieht aus, als käme es jetzt doch auf dich an. Bleib hier und halt diese Dinger in Schach, so lange du kannst. Nur für den Fall, dass wir drei wiederkommen. Man weiß ja nie.«

»Ich werde hierbleiben und aushalten, bis du wiederkommst oder die Hölle zufriert«, meinte Harry. »Kann sein, dass ich ein Bastard bin, aber ich bin auch ein Drood. Solange es noch ein Stück Hoffnung gibt, warte ich hier auf deine Rückkehr.«

Das Portal öffnete sich rund um den Turm, und faltete sich dabei so vielfach auf wie eine monströse außerirdische Blume. Seine Form ergab überhaupt keinen Sinn, aber ich konnte etwas dahinter und jenseits davon sehen. Etwas, das mit jeder Sekunde realer wurde. Ich ging in die ausbrechenden Energien hinein, mit Molly Metcalf an einer Seite und Giles Todesjäger an der anderen.

Die Welt blieb hinter uns zurück.

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