»Es ist schön, dich wieder daheim zu haben, Harry«, sagte der Waffenmeister. »Und deinen … Freund. Kommt mit und ich werde euch irgendwas suchen, wo ihr bleiben könnt. Allerdings weiß ich noch nicht so recht, wo ich euch hinstecken soll; das Herrenhaus ist dieser Tage so überfüllt, dass man sich kaum drehen und wenden kann.«
»Wir könnten sie in die Verliese stecken«, schlug ich vor.
Der Waffenmeister warf mir einen kalten Blick zu. »Du weißt sehr wohl, dass wir keine Verliese mehr haben, Eddie. Sie wurden schon vor langer Zeit zu Billardzimmern umfunktioniert.«
»Ihr habt Billardtische hier?«, fragte Molly, und ihre Miene erhellte sich.
»Aber ja doch!«, bestätigte ich. »Sie sind äußerst beliebt. Man muss sich sogar in die Queues stellen, um hineinzukommen!«
»Noch so ein Witz und ich schlag deine Bälle gegeneinander!«
»Warum kann ich denn nicht Vaters altes Zimmer beziehen?«, wollte Harry wissen. »Die Matriarchin ist doch noch nicht dazu gekommen, es neu zuzuteilen, oder? Dachte ich's mir; die liebe Großmutter war schon immer sehr sentimental, wenn ihr Sohn betroffen war. Und wer hätte ein größeres Anrecht auf das Zimmer des Grauen Fuchses als sein einziger legitimer Sohn?«
»Tja … ich schätze, das stimmt«, räumte der Waffenmeister ein. »Ja, James wäre damit einverstanden. Kommt mit mir mit, Harry. Und Roger, und ich werde euch unterbringen.«
»Wir sehen uns später, Cousin Eddie«, verabschiedete sich Harry.
»Ja«, antwortete ich, »das werden wir.«
Der Waffenmeister führte die beiden über den Rasen in Richtung Herrenhaus fort. Molly und ich sahen zu, wie sie gingen, während die Greifen, die sich zurückgezogen hatten, wieder zu uns gewandert kamen, sich neben uns hockten und unglücklich schnaubten und knurrten. Ich tätschelte ein paar Köpfe, zupfte an ein paar Ohren, und einigermaßen zufrieden zogen sie wieder ab. Es beunruhigte mich, dass sie nicht in der Lage gewesen waren, Harrys und Rogers Eintreffen vorherzusagen. Das warf die Frage auf, was die Höllenbrut sonst noch alles vor uns verbergen konnte.
»Und dabei fing der Tag heute so gut an!«, sagte ich schließlich. »Jetzt ist Harry wieder da, der es kaum erwarten kann, mir ein Messer in den Rücken zu stoßen. Und als ob das nicht reichte, hat er noch ein Dämonenhalbblut mitgebracht. Ich meine, ich bin ja nicht voreingenommen, aber - verdammt, das ist ein Wesen aus der Hölle!« Ich schaute Molly an. »Bist du wirklich mit ihm ausgegangen?«
»Noch ein Wort darüber von dir, Eddie«, erwiderte sie frostig, »und du wirst mich nie wieder nackt sehen!«
Wir gingen zu meinem Zimmer ins Herrenhaus zurück. Ich verspürte das dringende Bedürfnis nach einer Auszeit. Als ich entschied, wieder ins Herrenhaus einzuziehen, um die Entwicklung der Dinge richtig im Auge behalten zu können, musste ich mich auch entscheiden, wo ich bleiben wollte. Mein altes Zimmer war längst fort, an irgendjemanden in der Familie vergeben, als ich weggegangen war, um ein Frontagent zu sein. (Und unterwegs die ganze Zeit Frei! Endlich Frei! geschrien hatte.) Aber es war ja auch nicht so, als ob ich besonders an der winzigen Dachkammer gehangen hätte: Zu heiß im Sommer, zu kalt im Winter und jedes Mal, wenn nachts der Wind ging, musste ich aufstehen und ein Taschentuch in den Spalt zwischen Fenster und Rahmen quetschen, um es am Klappern zu hindern. (Die Familie hat noch nie etwas von Zentralheizung gehalten - verweichlicht einen nur.)
Da ich jetzt die Familie führte, hätte ich mir jedes Zimmer nehmen können, das mir zusagte. Ich hätte die Matriarchin aus ihrer Sondersuite werfen können, und keiner hätte mich davon abgehalten. Aber das brachte ich nicht übers Herz; es wäre grausam gewesen … Alistair gegenüber. Du großer Softie, sagte Molly später, als ich es ihr erzählte. Aber damit lag sie nur zum Teil richtig, denn schon da hatte ich gewusst, dass ich mir Martha Drood nicht zum Feind machen wollte, weil ich ihre Hilfe vielleicht noch bräuchte.
Am Ende entschied ich mich einfach für eins der besser gelegenen Zimmer im Westflügel und schmiss den armen Kerl raus, der dort wohnte. Der seinerseits suchte sich einen in der Nahrungskette tiefer Stehenden aus, zwang diesen zur Räumung und zog in dessen Zimmer ein. Und so ging es weiter, einige Tage lang, bis man sich in den Korridoren nicht mehr bewegen konnte, weil sie voller Leute waren, die ihre Siebensachen von einem Zimmer zum andern schleppten. Vermutlich landete das arme Schwein am Boden der Pyramide wieder im Gemeinschaftsschlafsaal bei den Kindern.
(Im Herrenhaus gibt es keine Gästezimmer. Nur Familie kommt in den Genuss, im Herrenhaus zu wohnen.)
Dennoch war Molly nicht sonderlich beeindruckt, als sie sah, wo sie mit mir wohnen würde. Es wollte ihr einfach nicht in den Kopf, dass Mitglieder der mächtigsten Familie der Welt nur ein Zimmer bekamen, um darin zu leben. Aber so was passiert halt, wenn die Familie schneller wächst, als wir neue Flügel anbauen können. Noch eine oder zwei Generationen, und wir werden uns ein neues Zuhause suchen oder bauen müssen, aber darüber war noch niemand bereit zu sprechen.
Ich ließ uns in unser Zimmer, und sofort lief Molly zum Bett hin und warf sich darauf. Sie versank so tief in der weichen Gänsefedermatratze, dass sie halb außer Sicht war, und seufzte selig.
»Das Zimmer mag ich immer noch nicht besonders, aber dieses Bett hier liebe ich! Ich fühle mich, als könnte ich bis runter nach China sinken!«
»Was ist denn nicht in Ordnung mit dem Zimmer?«, erkundigte ich mich geduldig.
»Ist viel zu sehr wie ein Hotelzimmer«, antwortete Molly bestimmt. »Alles sehr luxuriös, da bin ich sicher, aber es hat keinen Charakter. Es ist kalt und unpersönlich.«
Ich lächelte sie an. »Wann hast du dich denn jemals in einem Hotel aufgehalten, o böse Hexe der Wälder?«
Sie rekelte sich wohlig im Bett. »Oh, ich komme herum! Du wärst überrascht, wo ich schon überall gewesen bin! Und es ist ja nicht so, als ob ich meinen Wald überallhin mitnehmen könnte … Trotzdem, eins muss ich Hotels lassen - ich liebe Zimmerservice! Du nimmst einfach den Hörer ab, und sie bringen dir was zu essen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. In Hotels schlage ich mir immer den Bauch voll. Besonders weil ich nie lange genug bleibe, um die Rechnung zu bezahlen.«
»Hier gibt's keinen Zimmerservice«, erklärte ich streng. »Und es wird von einem erwartet, dass man sein Zimmer selbst in Ordnung hält. Es gibt kein Dienstpersonal unter den Droods, oder wenigstens nicht als solches. Wir werden von klein auf darin bestärkt, selbst für uns zu sorgen. Ist dem Charakter und dem Selbstvertrauen förderlich.«
»Wie außerordentlich ehrenwert!«, meinte Molly. »Lass uns mal eins klarstellen zwischen uns beiden: Ehrenwert ist bei mir nicht! War das echt das beste Zimmer, dass du dir aussuchen konntest, von allen, die du kriegen konntest?«
»Ich habe mich für dieses Zimmer entschieden, weil es früher das meiner Eltern war«, sagte ich. »Damals, als ich ein Kind war. Ich kann mich vage erinnern, wie ich sie hier besucht habe. Aber es ist schwierig, sicher zu sein; Erinnerungen aus diesem Alter sind nie verlässlich. Meine Mutter und mein Vater waren nicht oft hier, musst du wissen: Als Frontagenten wohnten sie außerhalb des Herrenhauses.«
»Und du durftest nicht bei ihnen leben?«, fragte Molly, während sie sich aufsetzte und ihr Haupt gegen das Kopfbrett des Bettes lehnte.
»Nein. Alle Drood-Kinder werden hier großgezogen, in den Schlafsälen. Damit sie ordentlich ausgebildet und indoktriniert werden können. Die Loyalität gilt der Familie, nicht unseren Eltern.«
»Harry wurde nicht hier großgezogen«, meinte Molly nachdenklich.
»Nein. Wodurch du eine Vorstellung davon bekommst, wie sehr die Matriarchin Onkel James' unerlaubte Heirat, und dann noch mit einer unpassenden Frau, missbilligte. Jeder andere wäre für vogelfrei erklärt worden.«
»Ich mag die Möbel und die Einrichtung«, wechselte Molly taktvoll das Thema. »Alles hier drin ist antik, aber in hervorragendem Zustand. Hey, wenn es hier kein Dienstpersonal gibt, wer poliert dann das ganze Holz und Messing?«
»Wir wechseln uns ab, wenn wir jung sind«, sagte ich. »Charakterförderlich, weißt du noch? Ich habe es gehasst. Ich kann mich noch daran erinnern, wie meine Hände starr vor Kälte wurden, wenn ich im tiefsten Winter draußen Fenster geputzt habe, weil das Wasser im Eimer immer kalt wurde, ehe man fertig war. Und wie es war, mit völlig tauben Fingern zu versuchen, das Messing mit Duraglit zu schrubben, davon will ich gar nicht erst anfangen! Scheiß auf die Charakterförderung. Alles, was es mich gelehrt hat, war, nie etwas aus Messing zu besitzen und immer daran zu denken, meinen Fensterputzern ein äußerst großzügiges Trinkgeld zu geben.«
»Lass nur alles raus, Eddie!«, ermunterte Molly mich. »Halt nichts zurück!«
»Wenigstens spreche ich über meine Vergangenheit!«, erwiderte ich spitz.
»Ach, weißt du …«, sagte Molly. »Neues Thema. Mir gefällt der Fernseher. Das ist ein echt verdammt großer Breitbildfernseher! Widescreen und fünf Lautsprecher für Raumklang! Cool!«
»Für die Familie nur das Beste«, antwortete ich. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass du viel fernsiehst, in den Wäldern.«
»Ich bin eine Hexe, keine Barbarin! Ich mag die Kochsendungen. Ich liebe das Perfekte Dinner. Ich nehme an, du schaust den SciFi-Kanal?«
»Nein«, sagte ich. »Ich lasse gern die Arbeit hinter mir, wenn ich mich entspannen will. Ich bevorzuge die Comedy-Kanäle.«
Molly zog die Knie an die Brust und blickte mich nachdenklich an. »Was machen wir hier, Eddie? Warum verstecken wir uns in deinem Zimmer?«
»Tun wir gar nicht«, sagte ich. »Es ist nur … manchmal wird mir alles ein bisschen zu viel, und dann muss ich weg von allem. Ich habe es übernommen, diese Familie zu führen, weil ich es musste. Aber ich weiß ja kaum, was ich da tue. Ich habe zehn Jahre lang allein gelebt und musste mir nie um jemand Gedanken machen außer um mich selbst. Und jetzt habe ich all diese Menschen, die sich auf mich verlassen, die Antworten und Entscheidungen von mir erwarten, die den Rest ihres Lebens gestalten werden. Ich will sie nicht enttäuschen.«
»Sie haben dich enttäuscht«, hielt Molly mir vor Augen.
»Sie haben immer noch Geheimnisse vor mir«, sagte ich. »Harry ist nur das Neueste. Und er ist genau das, was mir noch gefehlt hat: ein rivalisierender Thronanwärter.«
»Er hasst dich, weil er glaubt, du hättest seinen Vater umgebracht«, sagte Molly. »Er weiß nicht, dass ich James Drood getötet habe.«
»Niemand darf das je erfahren! Wenn ich ihn in einem Duell töte, dann ist das eine Sache; ich gehöre zur Familie. Aber du bist eine Außenstehende; sie würden dich auf der Stelle umbringen, wenn sie es auch nur vermuteten. Und mich ebenso, weil ich die Wahrheit vor ihnen verborgen und mich erdreistet habe, dich mehr zu mögen als die Familie.«
Molly lächelte mich an. »Von Zeit zu Zeit erinnerst du mich daran, wieso ich mich so heftig in dich verknallt habe. Komm her und setz dich zu mir!«
Ich setzte mich aufs Bett neben sie, und wir legten die Arme umeinander und kuschelten uns dicht zusammen. Für lange Zeit wollten wir nichts sagen.
»Du darfst mich ruhig festhalten, wenn du niedergeschlagen bist«, sagte Molly. »Das ist erlaubt, wenn man in einer Beziehung ist.«
»Dann stecken wir also definitiv in einer dieser Beziehungskisten, stimmt's?«, fragte ich.
»Jau. Hat sich an mich rangeschlichen, als ich mal kurz nicht hingeschaut habe. Du kannst meine Titten drücken, wenn du möchtest.«
»Gut zu wissen.«
»Roger und ich standen uns nie nahe«, sagte sie, ohne mich dabei anzusehen. »Und wir waren nicht lange zusammen. Es war einfach die Zeit im Leben eines Mädchens, wo es wirklich das Gefühl hat, von jemand Großem und Grobem schlecht behandelt werden zu wollen. Auch wenn man weiß, dass es zwangsläufig in Tränen enden wird.«
»Und tat es das?«
»Oh, ja! Ich erwischte ihn mit meiner besten Freundin im Bett. Und mit ihrem Bruder. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich steckte das Bett in Brand, während sie alle noch drin waren, und verließ ihn. Ich bin ziemlich sicher, dass ich ihn nie wirklich geliebt habe. Es war bloß eine dieser Geschichten, weißt du?«
»Ich hatte einmal ein kurzes Verhältnis mit einer Sexdroidin aus dem dreiundzwanzigsten Jahrhundert«, erzählte ich. »Verdammt, wir haben schon ein paar interessante Zeiten erlebt, was?«
Wir lachten leise gemeinsam. Unsere Körper bewegten sich leicht gegeneinander. Ich fühlte mich nirgendwo so daheim, wie ich es in Mollys Armen tat. Als ob ich endlich herausgefunden hätte, wo ich hingehörte.
»Verlass mich nie!«, sagte ich plötzlich.
»Wo kam das denn her?«, wunderte sich Molly.
»Weiß ich nicht. Ich muss einfach hören, dass du es sagst. Sag es für mich, Molly!«
»Ich werde dich nie verlassen, Eddie. Ich werde immer bei dir sein, für immer und immer und immer. Jetzt sag du es!«
»Ich werde dich jeden Tag meines Lebens lieben, Molly Metcalf, und wenn ich gestorben bin und du nicht dort bei mir im Himmel bist, dann werde ich in die Hölle hinabsteigen und zu dir kommen. Denn der Himmel wäre kein Himmel ohne dich.«
»Du glattzüngiger Teufel, Eddie Drood!«
Etwas später, als ich wieder Luft bekam, zog ich mich an und machte die Tasche auf, die ich aus meiner Londoner Wohnung mitgebracht hatte. Ich machte mich daran, meine wenigen Habseligkeiten im Zimmer zu verteilen. Es dauerte nicht lange. Eine Reihe CDs auf einem Regal, meine Lieblingsbücher aufgereiht auf einem anderen. In alphabetischer Reihenfolge selbstverständlich; in solchen Dingen bin ich sehr genau. Und ein paar Lieblingsklamotten, die den massiven Mahagonikleiderschrank nicht einmal annähernd ausfüllten. Ich schaute Molly an, die gerade vor dem Spiegel ihr zerzaustes Haar attackierte.
»Hast du keine Kleider, die du aufhängen willst? Frauen haben doch immer Kleider. Und Schuhe. Und Sachen.«
Sie zuckte unbeschwert die Schulter. »Wann immer mir langweilig wird, zaubere ich mir einfach eine neue Aufmachung herbei. Ich brauche nur was zu sehen, was mir gefällt, und mit einem Gedanken kann ich ein Duplikat davon herstellen. In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas für Kleider ausgegeben, und sie passen immer perfekt. Ich verwende schon seit Jahren immer wieder denselben Stoff.«
Ich hoffe, du nimmst dir die Zeit und wäschst ihn ab und zu, dachte ich, hatte aber genug Verstand, es nicht auszusprechen.
Ich trat zurück und betrachtete meine über den Raum verstreuten Besitztümer. Sie sahen … irgendwie verloren aus. Es waren moderne, vergängliche Sachen in einem Zimmer, das schon hier gewesen war, als ich noch nicht geboren war, und das noch hier sein würde, wenn ich schon tot war. Von den alten Sachen meiner Eltern war nichts mehr da; sie waren wohl schon vor langer Zeit weggeworfen oder neu verteilt worden, als der nächste Bewohner eingezogen war. Die Familie hat Rührseligkeit nie gefördert; wir sollen uns nichts aus Besitztümern machen, denn nur die Familie ist wichtig. Nach vorne blicken, nie zurück. Und nie etwas oder jemanden zu lieb gewinnen, denn das wird der Feind gegen einen verwenden.
Was sie einem nicht sagen, ist, dass der Feind manchmal die Familie mit einschließt.
»Willst du denn gar nichts aus deiner alten Wohnung hierher bringen?«, fragte ich Molly.
Sie schüttelte träge den Kopf. »Ich habe meinen magischen iPod, voll mit meiner Lieblingsmusik. Unendliche Kapazität, keine Batterien, die leer werden können, und ich kann jede Melodie aus jeder beliebigen Zeit reinkriegen. Er kann sogar an Karaokeabenden zweistimmig mit mir singen. Aber das war es auch schon, ehrlich. Ich habe mir nie viel gemacht aus … Sachen. Sachen kann man immer mehr bekommen. Mit meiner Zauberei habe ich Betteln, Borgen und Beklauen zu einer Kunstform erhoben.«
»So«, sagte ich. »Wie findest du das Zuhause der berüchtigten Drood-Familie, jetzt, wo du eine Zeit lang hier gewesen bist? Hält es, was du dir davon versprochen hast?«
»All das und mehr«, antwortete Molly. »Es ist zweifellos … beeindruckend.«
»Es gefällt dir nicht!«, sagte ich und war selbst überrascht, wie enttäuscht ich mich anhörte.
»Sei nicht verärgert, Süßer«, meinte Molly. Sie kam herüber und schlang einen Arm um meine Hüfte. »Es ist einfach nicht mein Ding, das ist alles. Ich komme mir eingesperrt vor, bedrückt. Das ist immer so, wenn ich mich drinnen aufhalte. Ich bin der Geist der wilden Wälder, schon vergessen? Ich brauche Natur, offenes Gelände und Raum zum Atmen! Nicht all dieses tote Holz und den kalten Stein.«
»Aber gegen Hotels hast du nichts einzuwenden.«
»Nur weil ich weiß, dass ich sie jederzeit verlassen kann, wenn mir danach ist. Hier stecke ich fest mit dir. Nicht, dass ich nicht bei dir sein wollte. Das nicht, ganz und gar nicht, aber …«
»Wir haben doch weitläufige Parkanlagen«, sagte ich. »Du könntest den ganzen Tag und die ganze Nacht darin herumspazieren und immer noch nicht alles sehen, was es zu sehen gibt. Und du weißt auch, dass ich dich nicht hier halten wollte, wenn du unglücklich wärst.«
»Natürlich weiß ich das, Eddie!« Sie gab mir einen schnellen Kuss. »Das hat jetzt alles ganz anders geklungen, als ich es meinte. Ich will mit dir zusammen sein, und du musst hier sein. Das weiß ich.«
»Wir werden nicht immer hier sein müssen. Sobald der neue Rat bereit ist, die Leitung der Dinge zu übernehmen, werde ich mich zum Frontagenten degradieren und so schnell hier raus sein, dass jeder, der mir dabei zusieht, sich ein Schleudertrauma zuzieht.«
»Aber wie lang wird das dauern, Eddie?«
»Ich weiß es nicht. Es wird so lange dauern, wie es dauert. Molly …«
»Scht! Ist schon gut. Wir werden uns etwas einfallen lassen.«
»Ja«, sagte ich, »das werden wir.«
Und die ganze Zeit, in der ich sie festhielt, dachte ich: Wenn sie nicht hierbleiben könnte … Wenn sie ginge, würde ich mit ihr gehen? Und aus der Ferne zusehen, wie meine Familie sich zerfleischt? Die Zukunft der gesamten Menschheit aufs Spiel setzen, weil ich meinen Job nicht zu Ende gebracht habe? Würde ich die Welt der Verdammnis überantworten, nur um bei ihr zu sein? Würde ich das tun? Könnte ich das tun?
Am Ende ließ sie als Erste los und ging zum Bett, um in dem Handspiegel, der auf dem Nachttisch lag, den Zustand ihres Make-ups zu überprüfen.
»Also«, sagte sie aufgeräumt. »Was ist das für eine Geschichte mit dem Zeitzug?«
»Ich hatte gehofft, du hättest es vergessen«, stöhnte ich.
»Ist es wirklich eine Zeitmaschine?«
»O ja. Oder besser, so was in der Art. Es begann als das Lieblingsprojekt von jemandem. Früher oder später kriegt jeder Waffenmeister einen Fimmel für irgendwas: irgendeine Lieblingstheorie, eine großartige Idee. Irgendetwas, von dem er überzeugt ist, dass es seinen Namen innerhalb der Familie unsterblich machen wird - wenn er nur seine Matriarchin davon überzeugen kann, es zu finanzieren. Einer war sich sicher, dass er eine Bombe bauen könnte, die so wirkungsvoll wäre, dass man damit die ganze Welt in die Luft jagen könnte.«
»Wie ging es weiter?«, fragte Molly fasziniert.
»Als die Matriarchin ihn nicht dazu bringen konnte einzusehen, was für eine ausgesprochen miese Idee das war, musste sie ihn in den Scheintod versetzen.«
»Warum hat sie ihn nicht einfach getötet?«
»Weil wir vielleicht eines Tages eine Bombe brauchen könnten, die so wirkungsvoll ist, dass sie die ganze Welt zerstören kann.«
Molly schauderte. »Deine Familie kann manchmal richtig gruselig sein, Eddie. Also ist der Zeitzug eine dieser fixen Ideen, richtig?«
»So ziemlich. Ich glaube nicht, dass wir das Ding in den zwei Jahrhunderten seit seiner Konstruktion ein Dutzend Mal benutzt haben.«
»Wieso nicht?«, wollte Molly wissen. »Ich meine, ich kann mir ein Dutzend wirklich guter Verwendungszwecke für eine Zeitmaschine vorstellen, von denen jeder einzelne uns unglaublich reich machen könnte.«
»Ich dachte, du machst dir nichts aus Materiellem?«
»Hier geht es ums Prinzip!«
»So einfach ist es nicht«, erklärte ich. »Die Möglichkeiten für echt fürchterliche Schlamassel, Katastrophen, Desaster und Paradoxien sind so zahlreich, dass keiner darüber nachdenken kann, ohne Albträume zu bekommen. Frag mich erst gar nicht, wie der Zeitzug funktioniert, sonst fange ich an zu wimmern! Zeitreisen in Theorie und Praxis verursachen mir Kopfschmerzen. Tu mir einen Gefallen, Molly, und wechsle nochmal das Thema!«
»In Ordnung. Lass uns über die Personen sprechen, die wir als Tutoren herbringen wollen. Und zieh nicht so ein Gesicht, Eddie Drood! Der Wind könnte wechseln, und dann hast du den Salat! Du weißt, dass wir das bereden müssen.«
»Nur weil meine Auswahl zweckmäßig und vernünftig war und du zwei Monster ausgesucht hast!«
»Sie sind keine Monster! Oder wenigstens nicht die ganze Zeit über. Und überhaupt, Eddie, zweckmäßig und vernünftig? Na ja. Janitscharen Jane hat einen guten Ruf als Kämpferin, besonders wenn sie ein paar Drinks intus hat, aber seien wir doch mal ehrlich: Ihre Blütezeit hat sie lange hinter sich.«
»Sie ist eine langjährige Dämonenbekämpferin!«, hielt ich ihr entgegen. »Hast du eine Ahnung, wie selten das ist? Sie tötet schon länger Dämonen, als die meisten Dämonenbekämpfer überhaupt leben! Es gibt vieles, was sie uns beibringen könnte. Falls wir sie überreden können, hierher zu kommen.«
»Na schön, aber was ist mit dem Blauen Elfen?« Molly zog ein verdrießliches Gesicht. »Er ist schwach, Eddie, und wird es immer sein. Und er stellt ein Risiko dar: Er ist ein Halbelb, und einem Elb kann man nie trauen! Sie haben immer eigene Pläne. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede!«
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Bist du gerade dabei, mir von einem weiteren alten Freund zu erzählen?«
»Ein Elb? Bitte!« Molly schauderte theatralisch. »Vorher würde ich sie mir zunähen!«
»Wenn ich dieses unerwartete geistige Bild einmal entschlossen beiseiteschieben dürfte«, sagte ich. »Meine Auswahl ist vertretbar. Deine ist völlig unakzeptabel. Ich meine, komm schon - ein Psychokiller und eine Glücksvampirin?«
»Sie waren mir immer gute Freunde«, erwiderte Molly unbeirrt. »Und sie können deiner Familie von einer Welt erzählen, von der sie nichts weiß. Warst du es nicht, der gesagt hat, dass diese Welt nicht nur aus Guten und Bösen besteht? U-Bahn Ute und Mr. Stich können deiner Familie eine ganz neue Sicht auf die Dinge ermöglichen. Das ist es doch, was du wolltest, oder? Die enge Weltanschauung der Droods weit aufzubrechen und ihnen neue Arten des Denkens beizubringen? So, wie ich es mit dir gemacht habe?«
»Na ja, schon, aber …«
»Kein Aber! Sie werden hervorragende Tutoren abgeben - solange man ein wachsames Auge auf sie hat. Und vielleicht werden sie sogar hervorragende Kämpfer in unserem bevorstehenden Krieg gegen die Dämonen.«
»Wenn Mr. Stich ein Mädchen auch nur auf eine Art ansieht, die mir nicht gefällt, werde ich ihn töten!«, versprach ich.
»Du kannst es versuchen«, meinte Molly. »Und verlass dich drauf, bei der ersten sich bietenden Gelegenheit werde ich diesen Roger Mist-Morgenstern töten! Ich hätte nie zulassen dürfen, dass er in dein Zuhause kommt. Es ist mir egal, was er sagt oder wer für ihn bürgt; seine oberste Loyalität wird immer der Hölle gelten.«
»Keine Angst«, sagte ich. »Er wird nicht lange hier sein. Die Familie gestattet es nicht, dass Außenstehende ins Herrenhaus ziehen.«
»Ich bin eine Außenstehende«, wandte Molly ein.
»Aber du bist mit mir zusammen. Wir sind ein Paar, bewohnen gemeinsam ein Zimmer. Solche Sachen werden … akzeptiert, wenngleich offiziell missbilligt - vorausgesetzt dein Rang ist hoch genug, um damit davonzukommen.«
»Je mehr ich über deine Familie lerne, desto weniger mag ich sie«, stellte Molly fest.
»Siehst du?«, meinte ich. »Wir haben so viel gemeinsam! Komm, lass uns eine Weile aus dem Haus verschwinden, fort von der verdammten Familie und ihren Anforderungen!«
»In Ordnung«, stimmte Molly zu. »Lass uns die Tutoren für uns gewinnen! Sie werden alle etwas Überzeugungsarbeit brauchen, um hierher zu kommen, und wer kann überzeugender sein als wir?«
»Ganz recht«, sagte ich. »Ich muss nur noch kurz bei Harry vorbeischauen, bevor wir gehen. Ich will unmissverständlich klarstellen, was mit ihm passieren wird, falls er versucht, die Familie gegen mich aufzuhetzen, während ich weg bin.«
»Glaubst du wirklich, ein paar harte Worte werden ihn von irgendetwas abhalten?«, fragte Molly.
»Nein, aber hoffentlich überlegt er es sich dann zweimal, und bis dahin müssten wir wieder zurück sein. Insbesondere werde ich ihn daran erinnern, dass ich ein Torques habe und er nicht.«
Molly betrachtete mich nachdenklich. »Beabsichtigst du, ihm einen der neuen Torques zu geben?«
»Selbstverständlich«, entgegnete ich. »Er ist James' Sohn und selbst ein hervorragender Frontagent; die Familie braucht erfahrene Männer wie ihn. Aber ich denke nicht, dass ich ihm das gerade jetzt sagen werde.«
»Und was, wenn er dich, nachdem er seinen Torques bekommen hat, zu einem Zweikampf um die Führerschaft der Familie herausfordert? Was, wenn er sich nicht einmal die Mühe macht, eine Herausforderung auszusprechen, sondern dich einfach aus dem Hinterhalt überfällt?«
»Oh, dass er das machen wird, glaube ich nicht.«
»Und wieso nicht? Er treibt sich mit einem Höllengezücht herum!«
»Schon, aber er ist ein Drood. Die Familie würde niemals jemanden, der derart verschlagen ist, als Anführer akzeptieren, und das weiß er.«
Molly seufzte. »Du hast ein solches Vertrauen in die Familie, Eddie; selbst nach all den Dingen noch, die sie dir angetan haben.«
»Die Droods sind gute Menschen, im Grunde ihres Herzens. Wir alle werden von Kindesbeinen an darin ausgebildet, den guten Kampf zu kämpfen. Wir sind bloß … vom Weg abgekommen, das ist alles. Und Harry hat wirklich einen ausgezeichneten Ruf; wenn er seine Sache als Anführer besser machen kann als ich, dann soll er ruhig. Ich würde nur zu gern verzichten und meinen alten Job als Frontagent wieder ausüben und niemandem gegenüber verantwortlich sein außer mir selbst.«
»Du meinst, er würde dich gehen lassen?«
Ich grinste. »Das wird er, wenn er weiß, was gut für ihn ist.«
Molly lachte und drückte mich fest an sich. »Das ist mein Eddie! Du könntest der mächtigste Mann auf der Welt sein und die mächtigste Organisation auf der Welt leiten, und du würdest es tatsächlich alles aufgeben, stimmt's?«
»Bei der ersten sich bietenden Gelegenheit«, sagte ich. »Ich habe den ganzen Kram hier nie gewollt; ich hatte schon immer meine Probleme mit Autoritätspersonen und wollte bestimmt nie eine sein. Alles, was ich will, bist du und ein gemeinsames Leben für uns beide.«
Sie küsste mich und schob mich dann weg. »Geh und rede mit Harry; ich werde derweil einen Spaziergang in den Anlagen machen. Wo sollen wir uns treffen?«
»In der Waffenkammer, in einer Stunde«, sagte ich. »Wenn wir hinter Janitscharen Jane, dem Blauen Elfen, U-Bahn Ute und Mr. Stich her sind, dann möchte ich wirklich gut bewaffnet sein.«
Ich schaute kurz beim Seneschall vorbei, nur um mich zu vergewissern, dass Harry auch dort gelandet war, wo er sein sollte: in Onkel James' altem Zimmer. Der Seneschall weiß immer, wo jeder ist; das ist Teil seiner Arbeit. Er bestätigte, dass der Neuankömmling sich tatsächlich im alten Zimmer des Grauen Fuchses befand. Das schien er angemessen zu finden, aber ich merkte, dass etwas anderes ihn ärgerte.
»Etwas scheint dich zu stören, Seneschall«, sagte ich. »Bist du nicht damit einverstanden, dass Harry endlich heimgekehrt ist?«
»Er scheint ein recht angenehmer Gentleman zu sein«, erwiderte der Seneschall bedächtig. »Aber sein … Begleiter - das ist etwas anderes. Hätte nie gedacht, dass ich den Tag erlebe, wo die Familie zulässt, dass sich ein Höllengezücht unter unserm Dach aufhält!«
»Harry verbürgt sich für ihn«, sagte ich. »Das ist sein gutes Recht. Aber lass dich nicht davon abhalten, ein sehr wachsames Auge auf alles zu haben, was Roger Morgenstern veranstaltet solange er hier ist.«
Der Seneschall nickte. »Als ob ich dich bräuchte, um mir das zu sagen, Junge!«
»Werd' nicht übermütig, Cyril! Was kannst du mir über Harry erzählen?«
»Nichts, was du nicht schon wüsstest.«
»Mein Onkel James hat nie mit dir über ihn gesprochen?«
»Nein. Hat er nie. Der Graue Fuchs hat sich nie über seine Beziehungen außerhalb der Familie unterhalten.«
»Hast du James' Frau, Melanie Blaze, irgendwann einmal kennengelernt?«
Um den Mund des Seneschalls zuckte kurz etwas, das man beinahe für ein Lächeln hätte halten können. »Ich hatte die Ehre, dieser Dame bei ein paar Gelegenheiten zu begegnen. Eine überaus bemerkenswerte Persönlichkeit.«
Ich wartete, aber das war alles, was er zu sagen hatte. Ich nickte dem Seneschall zu, und er drehte sich um und ging energisch weg. Achselzuckend machte ich mich auf den Weg durch die gewundenen Korridore des Westflügels zum ehemaligen Zimmer von Onkel James. Als ich jünger war, hatte ich viel Zeit dort verbracht, und seine Gesellschaft genossen, wenn er sich zwischen zwei Aufträgen zu Hause ausruhte. In vielerlei Hinsicht war er der Vater gewesen, den ich nie gehabt hatte. Ich war wie ein Sohn für ihn, aber weshalb hatte er dann nie über seinen richtigen Sohn, Harry, mit mir gesprochen?
Ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht daran dachte, anzuklopfen, sondern einfach die Tür öffnete und hereinplatzte, wie ich es immer gemacht hatte, als es noch Onkel James' Zimmer gewesen war. Und dann blieb ich wie vom Blitz getroffen stehen, als ich Harry Drood und Roger Morgenstern sah. Sie lagen sich in den Armen. Sie küssten sich. Sofort lösten sie sich voneinander und starrten mich, Schulter an Schulter, unfreundlich an. Ohne Hast drehte ich mich um und schloss sorgfältig die Tür.
»Ihr solltet euch wirklich angewöhnen, hier eure Tür abzusperren«, sagte ich.
»Du hast es gesehen!«, sagte Harry.
»Ja«, antwortete ich, »ich habe es gesehen.«
»Wirst du es allen erzählen?«
»Wieso sollte ich?«, fragte ich. »Das geht niemanden außer euch was an.«
»Wenn du die Matriarchin informieren würdest«, sagte Harry langsam, »und die Familie … Du weißt, dass sie mich nie als ihren Anführer akzeptieren würden. In manchen Dingen ist die Familie immer noch sehr altmodisch.«
»Das ist ihr Problem«, meinte ich. »Ich schere mich einen Dreck darum. Ist das der Grund, weshalb du nie nach Hause gekommen bist?«
Harry und Roger sahen einander an und entspannten sich ein wenig. Harry nahm Rogers Hand und drückte sie beruhigend.
»Das ist der Grund, weshalb mein Vater nie mit dir über mich gesprochen hat«, erklärte Harry. »Allerdings hat er oft mit mir über dich gesprochen. Er hatte großes Vertrauen in dich, Eddie. Er sagte, du habest das Zeug dazu, ein ebenso großer Frontagent wie er zu werden. Von mir hat er das nie gesagt, obwohl ich mir solche Mühe gab, ihn zu beeindrucken. Er war alles, was ich immer sein wollte. Aber er ist nie mit der Tatsache klargekommen, dass sein einziger legitimer Sohn schwul ist. Es bedeutete ihm so viel, verstehst du, seine Linie innerhalb der Familie fortzuführen. Und dafür brauchte er ein legitimes Kind. Die Droods haben immer großen Wert auf Blutlinien gelegt. Die Matriarchin hat ihm schon die Hölle heißgemacht, weil er meine Mutter geheiratet hat; du kannst dir vorstellen, was sie gesagt hätte, wenn sie das mit mir jemals herausgefunden hätte.
Fairerweise muss man sagen, dass er mich hätte verstoßen können, es aber nicht tat. Es bedeutete jedoch, dass wir uns nie so nahestanden, wie es andernfalls vielleicht gekommen wäre. Und es bedeutete, dass er mir nie erlauben konnte, nach Hause zu kommen. Niemand in der Familie durfte jemals erfahren, dass der berühmte Casanova James Drood einen warmen Bruder gezeugt hatte. Er hatte einen Ruf, an den er denken musste.«
»Er hat dich protegiert«, sagte ich.
»Ja«, stimmte Harry mir zu. »Aber er hat mich nie akzeptiert.«
»Hör zu«, sagte ich, »es ist mir scheißegal, ob du schwul bist oder nicht. Aber ich muss dich das fragen: Wie kann Roger dein … Lebensgefährte sein, wo er gleichzeitig dein Halbbruder ist?«
Harry grinste schief. »Wenn es mich nicht stört, dass er ein Höllengezücht ist, wieso sollte mich dann sonst was stören? Wir wussten, dass wir füreinander bestimmt sind, von dem Moment an, als wir uns in diesem furchtbaren kleinen Nachtclub in Paris begegneten.«
»Selbst Höllengezüchte haben Herzen«, sagte Roger.
»Du stinkst immer noch nach dem Höllenschlund«, sagte ich unverblümt. »Er ist ein Dämon, Harry. Du kannst weder ihm trauen noch irgendeinem seiner Worte. Dämonen lieben niemanden. Sie können nicht.«
»Ich bin nur zur Hälfte Dämon«, wandte Roger ein. »Zur Hälfte bin ich auch ein Mensch, und das kann manchmal ausgesprochen lästig sein. Ich verfüge über die ganze normale Bandbreite menschlicher Gefühlsregungen, auch wenn ich vorher noch nie zugelassen habe, dass sie mir in die Quere kommen. Ich war damals mit Absicht in diesem Nachtclub; war geschickt worden, um Harry zu verführen und an James heranzukommen und über ihn schließlich an die Droods. Aber stattdessen sahen wir uns an und es war um mich geschehen. Ich war verliebt, sehr zu meiner Bestürzung. Wir verknallten uns auf der Stelle ineinander und waren seitdem nie mehr getrennt.«
»Beklagst du dich etwa darüber?«, fragte Harry liebevoll.
»Nein«, erwiderte Roger, »niemals! Aber es bedeutet eben, dass ich nie mehr nach Hause kann. Sie würden es nie verstehen.«
»Ich kenne das Gefühl«, tröstete Harry ihn und drückte seine Hand.
»Du kannst ihm nicht vertrauen, Harry«, wiederholte ich und gab mir alle Mühe, zu ihm durchzudringen. »Er ist eine Höllenbrut! Sie lügen wie sie atmen; es ist für sie völlig natürlich!«
»Ich vertraue niemandem«, sagte Harry mit ausdrucksloser Stimme. »Nicht dieser Familie und am allerwenigsten dem Mann, der meinen Vater ermordet hat.«
»Es war kein Mord!«, sagte ich. »Es war ein fairer Kampf. Keiner von uns wollte ihn, aber …«
»Jaja«, sagte Harry, »letzten Endes läuft es immer auf die Familie hinaus, nicht wahr? Die Familie und die schrecklichen Dinge, die wir wegen ihr tun. Sag mir wenigstens so viel: Sag mir, dass mein Vater gut gestorben ist!«
»Natürlich ist er das«, antwortete ich. »Er kämpfte bis zum letzten Atemzug.«
Harry sah mich nachdenklich an, den Kopf leicht schräg gelegt. »Da ist etwas, was du mir nicht erzählst, Cousin Eddie.«
»Es gibt viel, was ich dir nicht erzähle«, erwiderte ich ungezwungen. »Ich behalte meine Geheimnisse für mich, und das solltest du auch. Ich werde der Familie nicht verraten, dass du schwul bist.«
»Wie ausgesprochen edelmütig von dir!«, warf Roger ein.
»Aber je länger ihr beide dableibt, zusammen, desto eher wird jemand zwei und zwei zusammenzählen. Und Händchenhalten sagt natürlich alles.«
Harry war einen flüchtigen Blick auf die Hand, die die von Roger hielt, ließ aber nicht los. »Danke für den freundlichen Rat, Cousin Eddie. Und für deine Verschwiegenheit mit Rücksicht auf uns. Ich bin sicher, das ist mehr, als ich von Rechts wegen von dir erwarten dürfte. Aber mach nicht den Fehler zu denken, dass wir jemals Freunde werden!«
»Ich werde mich mit Verbündeten zufriedengeben«, sagte ich. »Wir werden einen Weg finden müssen, in den schlechten Zeiten, die uns bevorstehen, zusammenzuarbeiten. Zum Wohl der Familie - und der Welt.«
»Oh, aber sicher«, meinte Harry. »Alles für die Familie.«