Janitscharen Jane hatte Armeen von Dämonen in unbeschreiblichen Höllendimensionen bekämpft und der Blaue Elf hatte zahllose Schlachten mit seinen inneren Dämonen ausgefochten - aber beide sahen ausgesprochen besorgt aus, als ich ihnen sagte, dass wir sie allein zum Herrenhaus schickten, während Molly und ich nach weiteren Tutoren suchen würden. Das Heim meiner Familie hat einen ganz bestimmten Ruf, hauptsächlich weil wir das so wollten. Heißt: Gäste sind selten und Unbefugte werden gefressen. Also zog ich schließlich wieder Merlins Spiegel hervor und öffnete ein Tor zwischen einer stillen Ecke im Wolfskopf und der Waffenmeisterei der Familie, um Janitscharen Jane und den Blauen Elf der etwas überraschten Fürsorge des Waffenmeisters zu überantworten. Tatsächlich sah Onkel Jack ausgesprochen perplex aus, als ich Jane und den Elf durch das gähnende Loch schob und schnell wieder schloss, bevor er protestieren konnte. Ich glaube fest daran, dass jeder mit seinen Problemen allein fertig werden muss.
Molly sah den Spiegel nachdenklich an, als ich ihn wieder in seine normale Form schüttelte. »Das ist ein wahnsinnig nützliches Ding, Eddie. Mir fallen wirklich viele sinnvolle Verwendungen dafür ein. Was zum Beispiel, wenn wir es zu Hause dafür benutzen würden, einen Schwarm Piranhas in das Bidet der Matriarchin zu transportieren?«
Ich musste lächeln. »Deine Ideen sind wirklich die besten, Molly.«
»Heißt das ja?«
Ich drehte der Bar den Rücken zu und winkte den nächsten Barkeeper heran. »U-Bahn Ute und Mr. Stich - sind die in letzter Zeit hier gewesen?«
Der Barkeeper dachte ein wenig nach, während er ein Glas polierte, das es ganz offensichtlich nicht nötig hatte. »Nein. Aber wenn ich so darüber nachdenke, habe ich beide schon lange nicht mehr gesehen. Ein paar Wochen mindestens. Und das ist … ungewöhnlich.«
»Das ist es verdammt noch mal wirklich!«, sagte Molly naserümpfend. »Ute hat sich sicher zurückgezogen, nach der Sache mit dem Manifesten Schicksal, aber Mr. Stich? Den bringt doch nichts aus der Ruhe.«
»Irgendeine Idee, wo wir nach ihnen suchen sollen?«, fragte ich.
»Aber natürlich«, antwortete sie sofort. »Ich habe immer Ideen. Ich bin die Ideenfrau! Lass es krachen, Schätzchen, wir gehen in den Untergrund.«
Um genau zu sein, brachte Molly den Spiegel dazu, uns zur U-Bahn-Station Cheyne Walk zu bringen, die eine von U-Bahn Utes Lieblingsplätzen war. Wir traten in die Schatten am Ende des Bahnsteigs und niemand bemerkte das, weil niemand auf irgendjemanden achtet, wenn er auf den Zug wartet.
Molly und ich zogen durch mehrere Tunnel und über einige Bahnsteige, bis wir U-Bahn Ute endlich auf einem überfüllten Bahnsteig fanden. Ich hätte sie beinahe nicht erkannt. Eine ältliche, gebeugte Frau, die in Lumpen und Fetzen von Kleidern von der Fürsorge herumlief, schlurfte sie langsam durch die Menge. Die Leute zogen sich zurück, um nicht mit ihr in Kontakt zu kommen. Sie sah aus wie jede andere Obdachlose, die einen um Wechselgeld anbettelt, und sogar Molly musste zweimal hinsehen, bevor sie ihre alte Freundin erkannte. U-Bahn Ute fuhr herum, als Molly sie rief. Dann zuckte sie zusammen und wandte sich ab, als ob sie nicht wolle, dass Molly sah, was aus ihr geworden war.
Molly griff nach ihrer Schulter und drehte sie entschlossen zu sich um. Dann schnitt sie eine Grimasse und rieb ihre Hand fest an der Hüfte, um sie zu säubern. Ich machte ihr keinen Vorwurf. Aus der Nähe roch U-Bahn Ute ziemlich ranzig. Molly starrte ihr böse ins schmutzige Gesicht.
»Du lieber Gott, Ute, was zur Hölle ist dir denn passiert?«, sagte Molly so geradeheraus wie immer. »Du siehst scheiße aus.«
»Wenn das die Hölle ist, dann stecke ich mittendrin«, sagte U-Bahn Ute. »Ach, die alten Witze sind doch die besten. Hallo, Molly, Edwin. Was macht ihr denn hier unten?«
»Nach dir suchen«, erwiderte ich.
»Na, und da ihr mich jetzt gefunden habt, könnt ihr ja gleich wieder gehen«, meinte U-Bahn Ute bestimmt.
»Nicht, bis du uns erzählt hast, was los ist«, sagte Molly im gleichen Ton.
U-Bahn Ute seufzte und es klang sehr erschöpft. »Mein Glück hat mich verlassen. Alles davon.«
»Aber du bist ein Glücksvampir«, sagte ich. »Warum hast du dir nicht einfach etwas von jemandem anders gestohlen?«
Sie warf mir einen langen, gequälten Blick zu. »Wenn es nur so einfach wäre. So wie ich aussehe, ist es schwierig, nahe und lange genug an jemanden heranzukommen, um ein ernsthaftes Quäntchen Glück aus jemandem herauszusaugen. Und außerdem - ach, verdammt, ihr werdet nicht abhauen, bis ihr die ganze, traurige Geschichte gehört habt, oder?«
»Natürlich nicht«, sagte Molly.
»Dann kommt mit. Hier können wir nicht reden. Nicht vor Zivilisten.«
Sie führte uns ans Ende des Bahnsteigs. Jeder sah höflich in eine andere Richtung, als wäre ihre Armut ansteckend. U-Bahn Ute blieb vor einer unauffälligen Tür stehen, auf der »Zutritt für Unbefugte verboten« stand, öffnete das schwere Vorhängeschloss mit einem ausgesprochen schmutzigen Messingschlüssel und führte uns dann in eine Art leere Putzkammer. Sie zog die Tür sorgfältig hinter uns zu und schob mit der Hand die gegenüberliegende Wand fort. Diese öffnete sich plötzlich und gab den Weg in ein weites Gewölbe frei, das nur von einer einzigen Glühbirne erleuchtet wurde, die bei unserem Eintreten aufleuchtete. Es war U-Bahn-Utes Zuhause.
Es war wirklich nur ein Loch, ausgestattet mit Abfall, den sie gerettet hatte. Es gab leere Dosen und Plastikflaschen, um Wasser aufzubewahren, Plastikboxen für Überreste von Lebensmitteln und einen Haufen Decken, um darauf zu schlafen. Der Ort sah aus wie einer, an dem Tiere leben. Molly sah sich um, offenbar war sie zutiefst erschrocken.
»Ute, was ist passiert? Du bist eine der bekanntesten Glücksvampire von London. Ich dachte, du würdest in dieser herrlichen Wohnung im West End wohnen, in Luxus und mit aller Bequemlichkeit?«
»Das glaubt jeder«, sagte Ute und ließ sich auf ihren Deckenhaufen fallen. »Und für eine Weile war das auch richtig. Ich hatte das beste Glück, gestohlen von den Reichen und Mächtigen und was ich nicht selber brauchte, habe ich für viel Geld verkauft, sodass ich mir alles leisten konnte, was ich nur wollte. Aber - ich hab alles verbraucht. Und wenn sich das Glück erst einmal gegen dich wendet, dann wird es richtig mies. Als wäre da irgendeine Balance, die gehalten werden will. Glaubt ihr vielleicht, dass jemand wie ich überhaupt erst von solchen Leuten wie denen vom Manifesten Schicksal gefangen werden könnte?«
»Ich hatte mich darüber schon gewundert«, meinte ich.
»Einer, den ich kannte, hat mich betrogen«, sagte U-Bahn Ute. »Eigentlich kein Freund, wenigstens das, aber immerhin einer, den ich kannte. Er hat die Lüge des Manifesten Schicksals geschluckt und alles geglaubt, was Truman ihm versprochen hat, der Idiot. Er hat sich an mich rangeschlichen, als ich während des Berufsverkehrs abgelenkt war, und hat mir das meiste meines Glücks selbst ausgesaugt, bevor ich wusste, was passiert war. Und dann standen Trumans Gauner schon bereit und haben mich geschnappt.«
»Was ist mit diesem Bastard passiert?«, fragte Molly. »Willst du, dass ich ihn für dich finde?«
»Nicht nötig«, sagte Ute. »Seine Extraportion Glück ermöglichte es ihm, Trumans Leuten zu entkommen, als sie nach ihm suchen wollten, und er ist seitdem auf der Flucht. Vor ihnen und den anderen seiner Art. Er ist jetzt für den Rest seines Lebens allein.
Ich habe wirklich das letzte Restchen Glück aufgebraucht, dass ich hatte, um uns aus Trumans Konzentrationslager rauszuholen. Und als ich endlich da raus war, habe ich den Fehler gemacht, mir etwas Glück von einem Reisenden zwischen den Dimensionen holen zu wollen, der sich als Mensch getarnt hatte. Der hat es bei der ersten Berührung gespürt, und wusste sofort, was ich bin. Es … hat etwas mit mir gemacht, und jetzt habe ich immer Pech.« Sie lächelte freudlos. »Nach all diesen Jahren, in denen ich mich als Obdachlose getarnt habe, damit ich näher an meine Beute rankomme, bin ich jetzt wirklich eine geworden. Das Leben ist scheiße. Was machst du hier, Molly? Ich wollte nie, dass du mich so siehst. Was willst du von mir?«
»Ich will dich als Tutorin für die Drood-Familie anheuern«, sagte ich. »Ich will, dass du ihnen beibringst, wie es in der wirklichen Welt zugeht. Und von Dingen erzählst, von denen sie nicht mal wissen, dass sie sie nicht kennen. Du müsstest im Herrenhaus leben und deine … Bedürfnisse etwas einschränken, aber die Bezahlung wäre mehr als genug, um dir ein völlig neues Leben zu kaufen, wenn du uns mal verlassen hast.«
»Siehst du«, sagte Molly zu U-Bahn Ute und strahlte. »Dein Glück hat sich wieder gewendet.«
»Nein«, sagte Ute. Sie wandte den Blick von uns ab und schien in sich zusammenzusinken. »Sieh mich an, ich bin zu sowas in meinem Zustand nicht zu gebrauchen.«
»Im Herrenhaus sieht's besser aus«, sagte ich. »Wir werden dich schon wieder auf Vordermann bringen, egal, was man dir angetan hat. Wir werden einen ganz neuen Menschen aus dir machen.«
»Genau davor habe ich Angst«, sagte U-Bahn Ute. »Ich habe Geschichten über die Leute gehört, die man zum Drood-Familienanwesen gebracht hat.«
»Von denen sind aber nur ein paar wahr«, widersprach ich.
»Vertrau mir«, sagte Molly. »Wir werden nicht zulassen, dass dir etwas Schlimmes passiert.«
»Aber was kann ich den hochwohlgeborenen und mächtigen Droods denn schon bieten?«, fragte Ute. »Was kann ich ihnen beibringen, das sie nicht schon wissen?«
»Überlebensstrategien«, sagte ich. »Wie du überlebst, wenn du alles verloren hast, auf dass du dich je verlassen hast.«
U-Bahn Ute sah erst zu mir hin, dann zu Molly. Ich gab mein Bestes, um aufmunternd zu lächeln.
»Eddie hat im Herrenhaus derzeit das Sagen«, erläuterte Molly. »Die Dinge liegen also jetzt anders.«
»Ich muss meiner Familie einfach die Augen für ein Leben öffnen, von dem sie nicht einmal wissen, dass es existiert«, fügte ich hinzu. »Komm und spiel die Tutorin. Teil deine Erfahrung mit uns. Hilf mit, den Blick der Droods auf die Welt zu formen.«
Ute lächelte kurz, aber sie schien noch nicht überzeugt.
»Du und deine Familie haben mich und meinesgleichen für Jahrhunderte gejagt. Ihr habt uns wie Ungeziefer verfolgt, nur weil wir die Sünde begangen haben, zu sein, was wir sind. Du hast das Blut meiner Familie und meiner Freunde an den Händen deiner Rüstung, Drood. Und du willst, dass ich für dich arbeite? So schlecht geht es mir dann doch noch nicht.«
»Oh doch, das tut es«, sagte Molly freundlich. »Du musst mir glauben, wenn ich sage, dass du im Herrenhaus wirklich sicher bist. Ich weiß nicht, ob du der ganzen Familie trauen kannst, aber Eddie kannst du trauen. Er hat seine Familie am Kragen gepackt und die Art und Weise, wie sie die Dinge angehen, kräftig durchgeschüttelt. Er will ändern, wie sie denken und die Welt sehen und das ist der Grund, warum ich dich als aushäusige Tutorin vorgeschlagen habe. Du wirst auch nicht allein da sein. Wir werden uns als Nächstes Mr. Stich suchen.«
»Na prima«, sagte Ute. »Soll mich das beruhigen? Auf der anderen Seite - es ist überall besser als hier. Ihr habt ja keine Ahnung, wie sehr man sanitäre Anlagen vermissen kann, wenn man keine mehr hat. Und ich schulde dir was, Eddie, weil du mir geholfen hast, mich von Truman zu befreien. Weißt du, dass er sich an einem neuen Ort neu organisiert hat?«
»Nichts Genaues«, sagte ich. »Weißt du, wo wir ihn finden können?«
»Ich habe nur Gerüchte gehört, das ist alles. Er soll eine neue unterirdische Basis haben, außerhalb von London, an einem Ort mit uralter Macht. Du hättest ihn töten sollen, als du die Gelegenheit hattest, Drood.«
»Ich werde es das nächste Mal noch ernsthafter versuchen«, sagte ich. »Bist du so weit?«
»Verdammt, ja. Ist ja nicht grade so, als würde mich hier irgendwas halten, oder? Oder als ob es etwas gäbe, was ich mitnehmen wollte.«
Ich tat das Übliche mit Merlins Spiegel und schubste sie durch die Öffnung in die Waffenmeisterei, aus der Onkel Jack mich finster anstarrte. »Eddie, verdammt, jetzt warte doch mal eine Minute!«
»Tut mir leid, Onkel Jack, keine Zeit! Bis später!«
Dann ließ ich den Spiegel wieder zusammenschnurren, damit er mir nicht all die Gründe aufzählen konnte, warum ich ihn nicht laufend mit meinen neuen Tutoren belästigen konnte. Molly sah mich an. »Was glaubst du, wollte er von dir?«
»Nichts, was nicht warten könnte, bis wir zurück sind«, sagte ich leichthin. »Und jetzt zu Mr. Stich.«
»Ich wünschte, du würdest aufhören, solche Grimassen zu schneiden, Eddie, ich bin sicher, das ist nicht gut für dich.«
»Ich gehe auf deinen Vorschlag hin ein höllisches Risiko ein«, sagte ich. »Wenn er erst einmal im Herrenhaus ist und etwas schiefgeht …«
»Dann ist alles meine Schuld, ja, das haben wir ja schon festgelegt. Sieh mal, Eddie, ich weiß, wie gefährlich er ist. Ich weiß das besser als jeder andere. Aber ich werde da sein und ein sehr strenges Auge auf ihn haben. Und … na ja, was kann er in einem Haus voller Droods denn schon anstellen? Nicht mal seine alte Magie kann einer Rüstung etwas entgegensetzen. Du musst mir da einfach vertrauen, Eddie.«
»Dir vertraue ich«, erwiderte ich. »Ihm aber nicht. Aber wenn er dir so wichtig ist …«
»Das ist er«, sagte Molly. »Ich muss daran glauben, dass Leute sich ändern können. Selbst die Schlimmsten.«
»In Ordnung. Wo glaubst du also, dass wir ihn zuerst suchen sollten, den berüchtigsten ungefassten Serienmörder von London?«
»Ich habe schon darüber nachgedacht. Und ich glaube, wir sollten beim Orden der Jenseitigen anfangen.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Meinst du diese Kaschemme unten am Grafton Way, wo besessene Leute herumsitzen und irgendwelches Geschwafel von sich geben? Warum sollte Mr. Stich sich denn ausgerechnet da rumtreiben?«
»Zuhören«, antwortete Molly. »Er glaubt, dass er etwas lernt, wenn er lange genug zuhört, irgendein altes Geheimnis oder ein altes Wissen, um die Bedingungen seiner Unsterblichkeit zu ändern.«
»Damit er sich heilen kann?«
»Oder damit er noch besser töten kann.«
»Damit erhöhst du mein Vertrauen in ihn nicht gerade, Molly.«
»Na, komm schon.«
»Bevor oder nachdem wir noch etwas Vernunft in unsere Schädel geprügelt haben?«
»Ach, sei still. Sei ein guter Junge und ich werde dich danach zu einem schönen Abendessen einladen.«
»Ich bin zu leicht zu bestechen.«
Merlins Spiegel brachte uns direkt zum Grafton Way, in eins der älteren, eher traditionelleren Viertel des West Ends. Hier können Sie alles finden: Botschaften von kleineren Staaten, Bürohäuser, Literatur-Agenten - und der Orden der Jenseitigen befindet sich mitten in einem gewöhnlichen, unauffälligen terrassenförmigen Bürohaus. Nichts weist auf ihn hin als eine einfache Messingplakette am Eingang, die den Namen preisgibt und die strenge Ermahnung: »Keine Wiedergänger, Wiedergeburten oder Zwangsvollstrecker«. Ich drückte die Klingel und als mich eine kalte Stimme über das Interkom nach meinem Namen und meinem Begehr fragte, sagte ich nur »Shaman Bond«. Nach einer Pause ging die Tür mit einem Klicken auf. Meine Tarnidentität hat einen langen und sorgfältig gepflegten Ruf, überall mal aufzutauchen und im Prinzip harmlos zu sein. Einfach nur ein weiteres Gesicht, mit einem regen Interesse an allem, was illegal, unmoralisch oder unnatürlich war. Shaman Bond war ein Glücksritter, ein kleiner Gauner und überhaupt nicht wie Eddie Drood. Das mochte ich am meisten an ihm.
Die Rezeption erwies sich als bewusst leer und anonym, ohne Hinweis auf das, was einen erwartete. Leere Wände, ein leerer Boden und eine sehr professionelle Empfangsdame hinter einem sehr einfachen Empfangstresen. Die Empfangsdame schien hinreichend austauschbar, mit dem üblichen leeren, aber attraktiven Gesicht, Augen aus purem Eis und einem Lächeln, das überhaupt nichts bedeutete. Die Art, die mit ihrem Kalender lebte und starb und für niemanden eine Ausnahme machte, selbst wenn man das massiv gesprayte Haar anzündete. Ich wusste von Anfang an, dass wir nicht miteinander auskommen würden. Molly und ich schlenderten zu dem Tresen hinüber, als wollten wir mal sehen, warum er wohl dastand, und stellten uns direkt vor die Rezeptionistin. Sie ignorierte uns natürlich und konzentrierte sich voll auf die Papiere, die vor ihr ausgebreitet waren, um uns zu zeigen, wo wir hingehörten. Also lehnte ich mich nach vorn, raffte all die Papiere zusammen und warf sie in die Luft. Dann lächelte ich ihr ins entsetzte Gesicht, als das Papier um uns herum zu Boden flatterte.
»Hi«, sagte ich. »Ich bin Shaman Bond, zu Ihren Diensten. Die sehr gefährliche Person neben mir ist Molly Metcalf, die ausgesprochen legendäre wilde Waldhexe. Sie hat Interesse an dem geäußert, was hier beim Orden der Jenseitigen so vor sich geht und ich, weil ich viel zu viel Angst habe, ihr das abzuschlagen, sagte, dass ich sicher sei, Sie lassen sie herein.«
»Weil, wenn Sie das nicht tun, dann werde ich mir verschiedene Namen merken und Arschtritte verteilen«, sagte Molly fröhlich.
Die Empfangsdame kämpfte um ihre Haltung. »Haben Sie einen Termin?«
»Nein«, sagte Molly. »Ich werde viel Spaß haben. Und anfangen werde ich mit Ihnen, wenn Sie nicht voran machen.«
Ich sah, wie die Empfangsdame nach dem Alarmknopf unter dem Tisch angelte und wackelte mit dem Finger vor ihrer Nase herum. »Molly Metcalf? Verwandelt Menschen in Sachen? Hat einen ganz grässlichen Sinn für Humor - klingelt da bei Ihnen was?«
»Gehen Sie einfach den Gang hinunter«, sagte die Empfangsdame. »Ich wollte diesen Job sowieso nie.«
Sie drückte einen anderen Knopf unter ihrem Tisch und eine große Falltür öffnete sich auf der anderen Seite des Raums im Boden, still und wie von selbst. Molly und ich gingen hinüber und sahen hinunter. Eine lange, steinerne Treppe führte hinab tief in die Erde. Da war ein starker Geruch nach Blut und Schwefel und ein entferntes Stimmengemurmel. Ich bestand darauf, zuerst zu gehen, und Molly ließ mich das büßen, indem sie sich die ganze Zeit gegen meinen Rücken drängte. Die Falltür schlug hinter uns mit einem lauten, satten und sehr endgültig klingenden Knall wieder zu. Von den nackten Steinmauern lief Wasser wie Schweiß und die Luft wurde heiß und stickig, als wir weiter hinabgingen. Ich konnte spüren, dass dort unten Präsenzen waren, wie schwere Gewichte, die sich auf die Welt drückten und sie schreien ließen. Wir gingen an einen bösen Ort, wo schlechte Dinge auf uns warteten.
Schließlich bogen die Stufen in einem scharfen Knick zu einer Seite hin ab und führten uns in eine große Höhle aus natürlichem Stein, tief unter der Straße gelegen. Der Steinboden erstreckte sich in alle Richtungen und war über und über mit blauen Kreide-Pentagrammen, Salzkreisen und Reihen von gedrungenen Käfigen aus Stahl, Silber oder Messing übersät. Alles war dazu da, die armen besessenen Kreaturen festzuhalten, die den eigentlichen Zweck des Ordens der Jenseitigen ausmachten. Da gab es Männer und Frauen und selbst Kinder, gefangen wie Tiere. Einige saßen da und erklärten vernünftig, warum sie nicht an einen solchen Ort gehörten. Andere heulten und tobten und warfen sich immer wieder gegen die Gitter, die sie festhielten und schlugen mit bloßen Händen, die keinen Schmerz kannten, gegen die soliden Stäbe. Andere saßen einfach nur herum, starrten trotzig vor sich hin, hasserfüllt, ohne zu blinzeln und warteten darauf, dass jemand einen Fehler machte.
Vor jedem besessenen Gefangenen war ein Mitglied des Ordens platziert, der ihn mit Schmeicheln und Locken dazu brachte, mit ihm zu reden. Normalerweise brauchte es nicht viel dazu. Besessene lieben es zu reden, jemanden zu ärgern und ihm zu drohen und das Publikum mit Lügen, Halbwahrheiten und schrecklichen Tatsachen zu erschrecken.
Keiner, der dem Orden der Jenseitigen angehörte, war daran interessiert, auch nur einem einzigen dieser Leute zu helfen. Sie scherten sich einen Dreck um die Opfer. Sie wollten nur zuhören und alles aufschreiben, was sie hörten. Überall gab es Mikrofone, das ausgeklügeltste Equipment. Eine ganze Bande von Schreibern wartete darauf niederzulegen, was von diesen Stimmen gesagt wurde, das man nicht aufnehmen konnte, weil die Technologie nicht hinnahm, dass es existierte.
Und überall in bequemen Sesseln saßen die geladenen Gäste, die sehr gut dafür zahlenden Kunden des Ordens der Jenseitigen, und hörten konzentriert zu. Dazu gehörte, wer auch immer darauf hoffte, etwas über das Verbotene Wissen oder die Hinweise auf Geheimnisse von Himmel und Hölle zu erfahren. Der Orden der Jenseitigen schickte komplette Transkripte von allem Gehörten an einen großen Verteiler; gegen eine exorbitante Gebühr, versteht sich. Aber es ging nichts darüber, persönlich hier zu sein, um selbst alles zu hören. Und jedem anderen damit voraus zu sein.
Molly und ich standen wachsam am Fuß der Steintreppe und nahmen uns die Zeit, uns an das dämmrige Licht zu gewöhnen, das Auf- und Abschwellen der harten, sich überlappenden Stimmen und den Geruch von Hass und Furcht und den Dingen, die in unserer, wie wir glaubten, geistig gesunden und rationalen Welt nicht erlaubt sein sollten. Nicht alle Stimmen klangen menschlich, auch wenn sie von menschlichen Lippen stammten.
Da ist ein Fluss in der Hölle, der aus den Tränen der Selbstmörder besteht. Tränen sind unter den Verdammten wie Wein.
Habt acht vor den Vielwinkligen, der Hyperbrut! Habt acht vor der Schwarzen Sonne und dem, was darin brütet! Habt acht vor dem endlosen Heulen und den Zähnen, die die menschliche Seele zerfleischen! Selbst der Tod ist kein Ausweg aus dem, was da wartet, in den Welten jenseits aller Welten!
Sie beobachten dich von der anderen Seite deiner Spiegel und geben nur vor, dein Spiegelbild zu sein, denn sie warten darauf, dass ihre Zeit kommt. Und dann, mitten in der Nacht, kommen sie heraus. Während du schläfst, greifen sie nach dir und zwingen dich auf die andere Seite des Spiegels, sodass sie deinen Platz einnehmen können und tun schreckliche Dinge an deiner Stelle. Nur, weil sie so aussehen wie du, sind sie es noch lange nicht.
Blut soll es regnen und Gedärm und das große Tier, dass da heißt Babylon, wird wiederkehren und die Hölle wird mit ihm kommen …
Die Himmlischen werden kommen und ihr Urteil über uns sprechen in ihren Raumschiffen, die über eine Million Meilen lang sind und vor ihnen werden wir wie die Ameisen sein …
Bitte, ich will nicht hier sein, ich sollte nicht hier sein, da ist etwas, das in mir auf- und abläuft und es tut weh, so weh, so weh …
Man kann jeden Tag Sendungen von Himmel und Hölle empfangen, auf ganz bestimmten Frequenzen. Um eine zu hören, wählen Sie einfach nur diese Nummer …
»Okay«, sagte Molly. »Das meiste davon ist Bullshit und ich sollte das wirklich wissen.«
»Ich wünschte, du würdest so etwas nicht sagen«, meinte ich. »Ich finde es wirklich sehr beunruhigend, immer daran erinnert zu werden, dass ich in ein veritables Höllenmädchen verliebt bin.«
Molly zuckte mit den Achseln. »Man ist keine ernstzunehmende Hexe, wenn man sich nicht alle Seiten offenhält. Und ich muss dir sagen, Eddie, welche Seite welche ist, kommt sehr auf den Standpunkt an.« Sie betrachtete die düsteren Gestalten in den verschiedenen Käfigen genauer und zog die Nase hörbar hoch. »Die Leute bezahlen wirklich Geld für diesen Mist? Ich habe fast erwartet, dass einer von denen Erbsensuppe ausspuckt und dabei schreit ›Deine Mutter strickt Socken in der Hölle!‹. Dämonen lügen. Das tun sie nun mal.«
»Außer, wenn eine Wahrheit einen mehr treffen kann«, erinnerte ich sie.
Und dann rief mich ein ekelhaft fetter Mann, über dessen halbem Gesicht sich ein purpurfarbenes Muttermal ausbreitete, beim Namen. Bei meinem richtigen Namen, nicht meiner Cover-Identität. Ich war sicher, es wäre in dem enormen Stimmengewirr fürs Erste untergegangen, aber ich ging schnell zu seinem Käfig mit silbernen Gitterstäben hinüber, bevor er den Namen noch einmal verwenden konnte. Mein Reif würde die Aufnahmebänder daran hindern, etwas aufzunehmen, das Besorgnis erregen könnte, aber ich wollte niemandes Aufmerksamkeit erregen. Ich wollte hier nur Shaman Bond sein. Der Besessene war komplett nackt, seltsame Zeichen aus getrocknetem Blut, Exkrementen und Kotze waren auf seine totenbleiche Haut geschmiert. Er kicherte sanft und tätschelte mit seinen fetten Händen die Gitterstäbe, sodass ich sehen konnte, dass er all seine Finger abgenagt hatte. Seine Augen blinzelten nicht und waren voller Blut, und wenn er sprach, klang seine Stimme wie ein Kind, das mit Rasierklingen gurgelte. So, als würde dein bester Freund sagen, er hätte mit deiner Frau geschlafen oder wie ein Tumor reden würde, wenn er Stimmbänder hätte.
»Edwin Drood, süßer Prinz einer ruinierten Familie, da treffen wir uns wieder. Erinnerst du dich an mich? Wir haben schon einmal miteinander gesprochen, unter Dr. Dee's Exorzistenhaus. Ich versprach dir die Welt und alles darin, doch du hast mich im Stich gelassen. Warst dir zu gut, um meinesgleichen zu lauschen. Aber nun bist du hier, um nach der Weisheit am seltsamsten aller Orte zu suchen. Soll ich dir sagen, was du wissen musst, süßer Drood?«
»Du weißt nichts, was ich wissen müsste«, erwiderte ich.
»Aber das tue ich, das tue ich! Nichts ist versteckt, sei es vor dem Himmel oder der Hölle. Du suchst den unsterblichen Killer, den Heiligen Schlächter, Mr. Stich. Und ich weiß, wo er ist.«
»Und für welchen Preis würdest du uns das sagen?«, fragte Molly, die dicht neben mir stand, als wolle sie mich beschützen. »Was sollen wir tun, dich hier rausholen? Das glaube ich kaum.«
»Kein Preis, gar kein Preis, kleine Hexe«, krächzte das ekelhafte Wesen hinter den starren Augen des fetten Mannes. »Weil das, was ihr wollt, euch nicht glücklich machen wird, oder frei, oder weise. Ihr Menschen bringt euch mit jedem Schritt, den ihr tut, selbst in die Hölle. Und deshalb gebe ich euch Mr. Stich. Mein höchsteigener vergifteter Kelch, ein Geschenk aus der Hölle, um es an den Busen eurer Familie zu legen.«
»Ihr Dämonen seid derart selbstüberzeugt«, sagte Molly. »Wenn du was zu sagen hast, dann sag's.«
»Wie du willst, liebe kleine beschränkte Seele. Gehe nun zum Café Nacht, und dort wird dir jemand sagen, wo du Mr. Stich finden kannst.«
Er lachte immer noch, als wir wieder gingen, ein schreckliches, schmutziges und beunruhigendes Geräusch, selbst als die Aufseher ihn wieder und wieder wie Vieh mit Elektroschockern traktierten, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Mit Hilfe von Merlins Spiegel gingen wir direkt ins Café Nacht, eine ausgesprochen dunkle und düstere Spelunke, die sich in einer Ecke von Kensington befand, die man nicht ohne große Mühen auftreiben konnte. Von außen sah das Café aus wie jedes andere Kaffeehaus: ein Platz, wo Vorstadt-Mamis sich nach einem harten Tag voller Einkaufstouren niederlassen und klatschen können. Aber das war nur ein einfacher Illusionszauber, kombiniert mit einem ›Hier gibt es nichts zu sehen, bitte gehen Sie weiter‹-Spruch, um die Uneingeweihten von den Besuchern zu trennen. Das Café Nacht hat strikte Eintrittsregeln und Nichtmitglieder versuchen es auf absolut eigene Gefahr. Ursprünglich war dieser Ort mal ein Treffpunkt für Vampire und diese idiotischen Romantiker gewesen, die sich danach sehnen, ihre Opfer zu sein. Damals hieß es noch das Renfield. Heutzutage bediente das Café Nacht die Unsterblichen, die man nirgendwo sonst haben wollte.
Ich trat die Tür auf und schlenderte hinein, als wollte ich den Platz auf seine moralische Gesundheit hin überprüfen. Das Café war angemessen düster, kaum beleuchtet von kunstvoll arrangiertem Licht, das dafür sorgte, dass es dunkel blieb, während man doch immer noch erkennen konnte, mit wem oder was man gerade sprach. Die Hintergrundmusik schwankte zwischen The Cure oder The Mission bis hin zu Gregorianischen Gesängen und die Luft war geschwängert mit dem Übelkeit erregenenden Duft von verfaulenden Lilien. Das Café Nacht hatte eine großartige Atmosphäre.
Schattige Gesichter starrten mich böse von jedem Tisch aus an, aber niemand bewegte sich oder sagte etwas, weil ich vorsichtig genug gewesen war, hochzurüsten, bevor ich hereingeplatzt war. Zu einem kleinen Licht wie Shaman Bond hätte hier niemand auch nur ein Wort gesagt, also war es an der Zeit, Eddie Drood heraushängen zu lassen und Respekt auf die brutale Art einzufordern. Meine silberne Rüstung war vielleicht noch nicht so bekannt wie die goldene, aber sie zeichnete mich immer noch als das aus, was und wer ich war. Und was ich vielleicht tun würde, wenn ich nicht die Antworten bekäme, die ich wollte. Also waren die verschiedenen unsterblichen, dunklen und gefährlichen und sonst so eigenständigen Kreaturen froh, einfach nur still mit gesenktem Kopf dazusitzen und zu hoffen, dass ich jemanden anderes suchte.
Ein paar standen in dem Moment, in dem ich hereinkam, auf, um zu gehen und wollten sich durch die Hintertür davonmachen. Aber ich hatte Molly bereits dorthin geschickt und die flüchtenden Unsterblichen hielten urplötzlich an, als sie Molly bedrohlich an der hinteren Tür herumlungern sahen. Sie kehrten widerwillig an ihre Plätze zurück und Molly kam vor ins Café, um mich anzulächeln. Von überall her richteten sich nun kalte Blicke auf mich, auf Molly und wieder zurück, aber immer noch sagte keiner ein Wort. Sie hatten nicht so lange gelebt, ohne gelernt zu haben, dass man den Mund hielt, bis man wusste, was abging.
Hinter meiner formlosen silbernen Maske sah ich gemächlich in die Runde (da ist wirklich etwas an fehlenden Augenhöhlen, dass Leute in Angst und Schrecken versetzt) und ließ meinen Blick schließlich auf den paar wirklich wichtigen Personen ruhen, die hier waren. Die einzigen, die vielleicht zugeben würden, Mr. Stich zu kennen und die möglicherweise auch wussten, wo er sich gerade aufhielt. Sie gehörten nicht gerade zur Oberliga, keiner von ihnen. Ein Elbenlord in einer ausgesprochen fein verzierten Brünne, mit eingravierten Schutzzaubern in altem Elbisch. Ein Mönch in einer zerrissenen roten Robe mit einem so faltigen Gesicht, dass es fast unmöglich war, seine Gesichtszüge zu erkennen. Dass er interessant war, konnte man nur an dem sumerischen Amulett sehen, dass er um den Hals trug. Ein Paar von Baron Frankensteins erfolgreicheren Kreationen, von Kopf bis Fuß in schwarzes Leder gekleidet, um ihre vielen Narben zu verstecken. Und eine geradezu schmerzhaft magere Gestalt in einem schmuddeligen T-Shirt und ausgeblichenen Jeans, die ich nur vom Namen her kannte: Das Hungrige Herz. Er hatte einen Teller mit frischem rohem Fleisch vor sich stehen und schlang es so schnell herunter, wie er nur konnte. Blut tropfte unbemerkt sein Kinn herab.
Wenn es noch Beweise gebraucht hätte, dass Unsterblichkeit nicht alles ist, hier hatte man sie vor sich.
Der Elbenlord kam mir vage bekannt vor, also fing ich bei ihm an. Er schnaubte hörbar, als ich zu seinem Tisch hinüberkam, deutliche Geringschätzung in seinem arroganten Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Er rührte sich nicht, stand nicht auf und griff auch nicht nach seiner Waffe, aber selbst wenn er still saß, mit beiden Händen ruhig auf der Tischplatte, war er der gefährlichste Typ hier im Café und wir wussten das beide.
»Ich kenne dich«, sagte ich. »Woher kenne ich dich, Elbenlord?«
»Ich war dabei«, sagte er mit seiner süßen, Übelkeit erregenden, magischen Stimme. »Ich habe die Attacke auf dich angeführt, unseren Hinterhalt auf der Autobahn. Nachdem dich deine eigene Familie an uns verraten hat. Wir sind auf unseren Drachen gekommen, haben unsere Schlachtlieder gesungen, mit unseren schönen neuen Waffen. Wir waren in der Überzahl, wir hatten Pfeile mit seltsamer Materie und doch hast du triumphiert. Elbenlords und -ladies aus altem Geschlecht, Freunde und Familie, die ich über Jahrhunderte gekannt habe, alle sind sie unter dem Donner deiner schrecklichen Schusswaffe gefallen. Ich bin der einzige Überlebende dieses Tages, aber sei versichert, übler und verfluchter Drood - der Hof von Unseeli vergisst oder vergibt nie.«
»Klasse«, sagte ich. »Ich auch nicht.«
»Ich werde dir den Rest deines Lebens auf den Fersen sein!«
»Natürlich wirst du das«, erwiderte ich. »Du bist ein Elb.«
Damit kehrte ich ihm den Rücken zu und ignorierte ihn. Ich wusste, das würde ihn am meisten verärgern. Es war sinnlos, einen Elben zu verhören. Er würde sich eher seine Zunge herausschneiden, als dass er das Risiko einging, er könnte irgendetwas sagen, dass mir helfen würde. Ich sah nachdenklich zu dem Mönch in der scharlachroten Robe und er straffte sich selbstbewusst unter meinem silbernen Blick. »Wisse, o Sterblicher«, sagte er in einer überraschend vollen, tiefen und befehlsgewohnten Stimme. »Wisse, dass ich Melmoth der Wanderer bin, die ursprüngliche verlorene Seele, auf der die Legende gegründet ist. Lange bin ich gewandert, über die ganze Welt, durch Länder und zu Völkern, von denen selbst die Namen vergessen sind.«
Und dann hörte er auf, weil ihn jeder im Café auslachte. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Ich habe schon zu meiner Zeit ein Dutzend Melmoths getroffen, die alle für sich beanspruchten, das Original zu sein, und ebenso viele Draculas, Fausts oder Grafen von St. Germaine. Selbst Unsterbliche haben ihre Vorbilder. Ich lehnte mich weiter nach vorn, um das sumerische Amulett näher betrachten zu können, und der Mönch zuckte in seinem Stuhl zurück. Aus der Nähe war das Ding ganz klar als Fälschung zu erkennen, und ich drehte dem Mönch ebenso meinen Rücken zu. Ich ging zu den Frankenstein-Monstern.
Sie waren beide groß und ziemlich stämmig, aber sie konnten immer noch als menschlich durchgehen, wenn sie sich nur gut einpackten. Hier im Café Nacht, wo sie unter sich waren, kümmerte sie das nicht. Ihre schwarzen Motorradjacken hingen weit offen und enthüllten die Y-förmigen Autopsienarben auf ihrer Brust. Einer war mal ein Mann, der andere eine Frau gewesen, aber derart subtile Unterscheidungen hatten ihre chirurgische Wiedergeburt nicht überlebt. Es waren Monster, mit nichts Menschlichem mehr in ihren Gesichtern oder Gedanken. Ihre Gesichter waren grau, die Lippen schwarz, ihre Augen gelb wie Urin, die Augenlider fielen schlaff von trockenen Augäpfeln weg. Lange Reihen von Stichnarben konnte man auf ihrer Stirn sehen, wo der Baron ihre Schädel aufgesägt hatte, um ein neues Hirn hineinfallen zu lassen. Im Gegensatz zu allen anderen in diesem Café waren die beiden von mir nicht eingeschüchtert oder auch nur beeindruckt. Solche Gefühle hatten sie hinter sich gelassen, im Grab. Ihre Gedanken und Herzen waren kalt und sie kümmerten sich um nichts, womit ich ihnen hätte drohen können, weil ihnen das Schlimmste schon geschehen war. Es ergab keinen Sinn, sie irgendetwas zu fragen.
Blieb nur noch das Hungrige Herz, das allein an seinem Tisch saß, in gebührendem Abstand zu jedem anderen, weil einige Dinge eben einfach zu beunruhigend sind. Selbst für Unsterbliche. Ein Mann, der so dünn war, dass er beinahe schon nicht mehr anwesend war, aber getrieben von einer schrecklichen Energie. Als wir seinen Tisch erreichten, sah er zu Molly und mir auf, fuhr aber trotzdem fort, sein rohes Fleisch zu essen. Er kaute verzweifelt und schob sich mit seinen dünnen, knochigen Fingern Stücke in den Mund zurück. Er brachte eine Art Lächeln zustande, und Blut lief sein Kinn herunter.
Ich kannte seine Geschichte, das tat jeder. Es ist in unserer Zeit eines der großen, warnenden Beispiele mit Moral: Verärgere niemals einen Voodoo-Priester mit einem fiesen Sinn für Humor. Das Hungrige Herz lebt für immer im Griff eines niemals nachlassenden Hungers, der nie gesättigt werden kann und es kann nur überleben, wenn es alle 24 Stunden sein eigenes Körpergewicht in rohem Fleisch isst. Er muss sich schwer sedieren, um überhaupt hin und wieder ein paar Stunden schlafen zu können.
Also - schlafen Sie nie mit der Tochter eines Voodoo-Priesters, schwängern Sie sie unter keinen Umständen und laufen Sie auf keinen Fall hinterher davon, weil Sie glauben, einmal um die halbe Welt zu fliehen, könnte Sie aus der Reichweite des Vaters bringen.
Ich schätze, es war gut, dass das Hungrige Herz kein Vegetarier war. Das wäre wirklich schrecklich gewesen.
Keiner weiß, wie alt das Hungrige Herz wirklich ist. Oder wie lange der arme Bastard wohl noch leben wird. Ich glaube, es kommt auf seine Stärke oder seinen Willen an. Er beendete den letzten Bissen des rohen Fleischs auf seinem Teller, leckte seine blutigen Finger ab, sah traurig auf den leeren Teller und erst dann auf Molly und mich.
»Jedes Fleisch ist mir recht«, sagte er in einer überraschend sanften und alltäglichen Stimme. »So lange es roh ist. Menschenfleisch ist das beste. Wie eine Droge. Ich bin süchtig danach geworden. Ich frage mich: Wie geil wäre es, wenn ich etwas von einem … Drood zu essen bekäme?«
»Tut mir leid«, sagte ich prompt. »Dosenfleisch ist heute nicht auf der Karte.«
»Was wollt ihr hier?«, fragte das Hungrige Herz, und alle Müdigkeit der Welt lag in seiner Stimme. »Keiner hier will irgendwelchen Ärger. Wir haben selbst alle genug. Alles, was wir wollen, ist unsere eigenen Wunden lecken und dabei unter uns bleiben.«
»Wir wollen nur eine kleine Information«, sagte Molly heiter. »Wir möchten wissen, wo sich Mr. Stich aufhält, und uns wurde zu verstehen gegeben, dass er hier manchmal auftaucht.«
»Das ist nun wirklich eine Beleidigung«, sagte der Elbenlord und stand anmutig auf. In seiner Hand blitzte ein schlanker, schimmernder Dolch auf. »Als ob wir so einen Verruchten wie Mr. Stich in unserem ausgesuchten kleinen Kreis dulden würden. Wir haben unser Niveau.«
»Ja«, sagte der Mönch und stand ebenfalls auf. Er schob die Ärmel seiner scharlachroten Robe über muskelbepackte Unterarme. »Ihr kommt her und beleidigt uns ins Gesicht? Werft uns mit jemandem wie Mr. Stich in einen Topf? Es gibt auch für uns eine Grenze, bis zu der wir uns ausnutzen lassen.«
Die Frankenstein-Monster waren jetzt auch aufgestanden und sahen so noch imposanter und größer aus. Und das Hungrige Herz seufzte, schob seinen leeren Teller weg und erhob sich ebenfalls. »Ich habe Hunger«, sagte es. »Hat jemand einen Dosenöffner?«
»Ich vielleicht«, sagte der Mönch. Er zog ein kurzes Messer unter seiner Robe hervor. »Das ist das Messer, das Judas Ischariot vom Baum schnitt, nachdem er sich daran erhängt hatte, auf dem Blutacker, dem Hakeldama. Die Legende sagt, dass dieses Messer durch alles schneiden kann. Vielleicht sogar durch eine Drood-Rüstung.«
Für jemanden, der so alt war, zuckte er unglaublich schnell nach vorn. Der Dolch bohrte sich in meine Seite, rutschte an der silbernen Rüstung funkenschlagend ab und ließ sie vollkommen unbeschädigt. Der Mönch stolperte, verlor die Balance und ich schlug ihm auf den Kopf. Die ganze linke Seite seines Gesichts wurde platt, Knochen krachten und splitterten, aber er fiel nicht. Er hob sein Messer erneut, um nach mir zu stechen, also schnappte ich mir mit beiden silbernen Händen seinen Kopf und drehte ihn so um, dass er nach hinten sah. Sein Genick brach mit lautem Knacken, aber immer noch fiel er nicht. Ich schubste ihn weg und er stolperte im Café herum, verwirrt und fassungslos.
Jetzt war jeder im Café zum Ausgang gestürzt, weil er sich nicht mit einem Drood in voller Rüstung anlegen wollte und ich war froh, sie gehen zu sehen. Sie wären nur im Weg gewesen. Die beiden Frankenstein-Kreaturen hatten Molly umzingelt und griffen mit großen, nicht zusammenpassenden Händen nach ihr. Molly lachte ihnen in ihre hässlichen Gesichter und traf sie mit einem einfachen Zauberspruch, mit dem sich all ihre Nähte auf einmal lösten. Die beiden Monster schrien mit schrillen, hoffnungslosen Stimmen auf, als uraltes Katgut wie durch Feuerwerk in ihrer Haut aufplatzte und die Narben aufgehen ließ wie Reißverschlüsse. Sie fielen auseinander, Stück für Stück, und ihre Einzelteile platschten auf den Boden. Erst langsam, dann immer schneller. Hände fielen von Armen, Arme von Ellbogen und dann von den Schultern. Beine brachen zusammen. Torsi fielen zu Boden, brachen auf und verteilten längst abgestorbene und konservierte Organe auf dem Fußboden. Die Köpfe waren zuletzt dran. Ihre Gesichtszüge glitten einer nach dem anderen herunter, bis schließlich die Schädel aufplatzten und das vertrocknete, graue Hirn herausfiel.
Zu diesem Zeitpunkt hatte ich allerdings schon andere Probleme. Der Elbenlord kam auf mich zu und lächelte sein widerliches, überlegenes Lächeln. Er wedelte mit seinem langen, schimmernden Dolch vor meiner Nase herum und ich wusste, was das war; was das sein musste. Die Klinge war aus seltsamer Materie, wahrscheinlich aus den Schmiederesten der Silberpfeile gemacht, die mich nach dem Autobahn-Hinterhalt beinahe umgebracht hatten. Aber konnte eine Klinge aus seltsamer Materie durch eine Rüstung aus demselben Material schneiden? Ich entschied mich dafür, es nicht drauf ankommen zu lassen. Ich konzentrierte mich und die Rüstung um mich herum erweiterte sich an meinen Händen zu zwei tödlichen langen Klingen. Wie es mein Onkel James mir beigebracht hatte, als er versucht hatte, mich zu töten.
Der Elbenlord und ich umkreisten einander langsam, nahmen uns Zeit und hielten nach Schwächen in Stil und Haltung Ausschau, nach Zögerlichkeiten und Eröffnungen. Endlich schossen wir vor und zurück, stachen nacheinander mit glänzenden Klingen; hin und wieder weg in einem Moment. Die Rüstung machte mich übernatürlich stark und schnell, aber er war ein Elb, also waren wir ebenbürtig. Und während ich mein familiäres Training hatte, hatte er jahrhundertelange Erfahrung, also traf er zuerst. Sein Dolch kam aus dem Nichts, durchbrach elegant meine Verteidigung und rammte sich mir in die Rippen. Unwillkürlich schrie ich auf, aber als die Klinge meine Rüstung traf, nahm diese den Dolch einfach in sich auf. Der Elbenlord stand auf einmal nur mit einem Heft in der Hand da.
Ich rannte ihn um. Wenn Sie eine Chance bei einem Elb haben, dann nutzen Sie die, Sie kriegen vielleicht keine zweite. Meine Hand schlug gegen seine Brust und meine erweiterte Klinge schnitt sein Herz entzwei. Er packte meinen Arm mit beiden Händen, als würde ihn das aufhalten. Ich drehte die Klinge und er fiel hin und starb.
Ich ließ die Klingen wieder zu Händen schrumpfen, bog probeweise die Finger und sah mich nach Molly um. Sie starrte angewidert auf das Hungrige Herz, das sich über die aufgelösten Frankenstein-Kreaturen und ihr vergammeltes Fleisch hergemacht hatte. Er sah auf und lächelte entschuldigend.
»Das schmeckt wie Staub, aber Fleisch ist Fleisch und in der Not frisst der Teufel bekanntlich Fliegen. Wenn ihr wirklich Mr. Stich finden müsst, und ich kann mir nicht denken, warum ihr das müsstet, dann solltet ihr es mal auf dem Woolwich-Friedhof versuchen.«
»Was sollte er denn dort tun?«
»Fragt ihn selbst«, erwiderte das Hungrige Herz. »Ich würde mich das nicht trauen.«
Merlins Spiegel transportierte uns umgehend zu einem trüben, verwilderten und verlassenen Friedhof im Woolwich Arsenal, tief im Herzen des East Ends, am anderen Ufer der Themse. Der Friedhof bestand hauptsächlich aus viktorianischen Gräbern, mit überdimensionalen Grüften, Mausoleen und noblen Gräbern. Dieses ganze Zeitalter war vom Tod und seinen Allegorien fasziniert gewesen und der gesamte Friedhof war förmlich übersät mit Statuen von weinenden Engeln, klagenden Putten und genug morbiden Statuen und Gravierungen, um selbst einen Totengräber ›Mein Gott, besorgt euch ein Leben, verdammt!‹ ausrufen zu lassen. Die Zeit hatte die Engelsgesichter verwittern lassen, was den Statuen einen bitteren, surrealistischen Ausdruck verliehen hatte. Die Putten sahen allerdings immer noch wie tote Babys aus. Eigentlich erinnerten sie mich sogar an eine Zeichentrickserie, die ich als Kind immer gesehen hatte: Casper, das tote Baby.
Molly und ich folgten dem einzigen Kiesweg und gingen immer tiefer in den weitläufigen Friedhof hinein. Der Ort sah verlassen aus. Das Gras hatte man wachsen lassen und es gab überall Unkraut, selbst auf dem Kiesweg wuchs es in dichten Büscheln. Es gab keine Blumen auf den Gräbern und die Grabsteine waren so verwittert, dass es schwerfiel, die Inschriften zu lesen. Ein kalter Wind blies, das Licht wurde dämmrig, weil es Abend wurde, und die Schatten kamen von überall auf uns zugekrochen.
»Ich mag diesen Ort«, sagte Molly.
»Das denke ich mir«, erwiderte ich.
»Nein wirklich, er ist friedlich. Moderne Friedhöfe sind für meinen Geschmack viel zu hektisch. Wenn ich mal gestorben bin, dann möchte ich keine Besucher und keine Blumen. Begrab mich nur tief, setz ein paar Minen, um Leichendiebe abzuschrecken, und lass mich friedlich bis zum Jüngsten Tag schlafen. Ich werde die Ruhe und die Stille brauchen, um mir ein paar gute Ausreden auszudenken.«
»Alle Droods werden verbrannt«, sagte ich. »Nur um sicherzugehen, dass keiner unserer Feinde mit unseren Überresten irgendwas anstellen kann.«
»Vielleicht könntest du deine Asche ins Weltall schicken wie Timothy Leary«, schlug Molly vor.
Ich musste lächeln. »Alles, um von meiner Familie wegzukommen.«
»Ich sehe Mr. Stich nirgendwo«, meinte Molly. »Und ich verstehe sowieso nicht, was er an so einem Ort wollen könnte.«
»Wir sind nicht weit von seinen ursprünglichen Tatorten entfernt. Damals, als er sich zuerst einen Namen gemacht hat, in 1888.«
»Vielleicht sind ein paar seiner Opfer hier begraben.«
»Irgendwie denke ich nicht, dass Mr. Stich da sehr sentimental ist«, sagte ich. »Und überhaupt, nach allem, was man auf diesen Grabsteinen so lesen kann, sind sie beinahe alle älter als Jack the Ripper.«
Wir gingen auf dem Friedhof auf und ab und her und hin und fanden kein Anzeichen dafür, dass Mr. Stich hier gewesen wäre. Zog man die Größe des Areals in Betracht, hätte es Stunden gedauert, alles abzusuchen und außerdem wurde ich ungeduldig. Und mir wurde kalt. Ich hatte meine Rüstung heruntergefahren, als wir das Café Nacht verlassen hatten, aber jetzt murmelte ich die Worte und rief gerade genug der Rüstung herbei, um mein Gesicht zu bedecken. Mit ein wenig Konzentration konnte ich Infrarot durch die Maske sehen und es dauerte nicht lange, bis ich die einzige andere menschliche Wärmequelle außer uns auf dem dunkler werdenden Friedhof gefunden hatte. Ich fuhr die Rüstung wieder herunter, um Mr. Stich nicht in die Defensive zu jagen, und ging zu der Stelle voran, an der er sich befand. Ich tat mein Bestes, um ruhig und nicht bedrohlich, aber auch nicht im Geringsten besorgt zu wirken. Er mag es nicht, wenn die Leute, mit denen er sich unterhalten will, sich die Scheiße aus dem Leib fürchten. Tatsächlich war Mr. Stich für einen unsterblichen Serienkiller bemerkenswert empfindlich.
Er war formal in die Kleider seiner Epoche gekleidet, alles rein schwarz oder weiß, mit einem Zylinder und sogar einem Opernmantel. Wenn er seine Opfer verfolgte, dann konnte er in der Menge verschwinden wie jeder andere, aber wenn er sozusagen außerdienstlich war, zog er die Kleider vor, in denen er sich am wohlsten fühlte. Er war ein großer und kraftvoller Mann, mit breiten Schultern und langen Armen. Er hatte ein breites, väterliches Gesicht, wie ein freundlicher alter Familienarzt - bis man ihm in die Augen sah. Und alle Schrecken der Hölle einen anstarrten.
Er wandte uns langsam sein Gesicht zu, während wir näher kamen. »Molly,«, sagte er, »wie nett. Und Edwin Drood - mal wieder. Es ist mir eine Ehre.«
»Was machst du ausgerechnet hier?«, fragte Molly so direkt wie immer.
»Ich bin … nur zu Besuch«, erwiderte Mr. Stich. Er lächelte und zeigte große, quadratische Zähne, die von der Zeit ganz braun waren. Er deutete auf die Gräber um ihn herum. »Das hier war einmal ein bekannter Ort, die Leute sind buchstäblich dafür gestorben, hierher zu kommen. Es gab Sonderzüge, die die glücklichen Verstorbenen aus dem ganzen Land hierhergebracht haben. Das ist jetzt lange her und niemand erinnert sich mehr daran. Außer mir. Ich habe Freunde und Familie hier. Leute, die mich kannten, als ich noch nichts weiter als ein Mensch war. Die Letzten, die mich noch so kannten, wie ich war, bevor ich zu einem Namen wurde, mit dem man Leute erschreckt.«
Ich fand es schwierig, mir vorzustellen, dass Mr. Stich je normal gewesen war, mit einem normalen Leben. Er muss das gespürt haben, denn er machte eine kurze, abschließende Geste und sah mich bloß noch kalt an.
»Was willst du von mir, Edwin Drood?«
Ich erklärte die Situation, aber er schüttelte den Kopf, bevor ich geendet hatte. »Was lässt dich glauben, dass ich so vertrauensvoll und dumm wäre, mich selbst in die Hand meiner langjährigen Feinde zu geben? Und was noch wichtiger ist: Selbst wenn du es schaffen würdest, mich von meiner Sicherheit zu überzeugen, warum sollte ich an den einen Ort gehen, an dem mir niemals gestattet würde zu töten? Ich muss morden, Edwin. Das ist meine Natur.«
»Nachdem die Tutorentätigkeit beendet ist, kannst du so viele der Abscheulichen umbringen wie du willst.«
»Die Droods haben ihre alte Bibliothek geöffnet«, sagte Molly. »Sie ist voll von vergessenen und verbotenen Texten, die Jahrhunderte alt sind. Irgendwo in dieser Bibliothek müssen sich auch Informationen darüber befinden, wie man dir helfen kann. Wenn man dich vielleicht auch nicht heilen kann, ist es aber eventuell möglich den Zwang, unter dem deine Unsterblichkeit steht, zu lindern. Du kannst vielleicht die Kontrolle darüber erlangen und müsstest nicht mehr ständig töten.«
Mr. Stich sah sie nachdenklich an. »Und was lässt dich annehmen, dass ich das möchte?«
»Weil du dich weigerst, mich zu töten und meine Freunde«, sagte Molly. »Und ich wüsste nicht, dass du das je für jemanden anderen getan hättest.«
Er nickte langsam. »Du willst also, dass ich das tue, Molly? Auch wenn du wissen müsstest, dass das alles in Tränen enden wird?«
»Ich will, dass du das tust, also wird es nicht in Tränen enden«, antwortete Molly.
»Dann soll es so sein«, sagte Mr. Stich.
Ich öffnete Merlins Spiegel zur Waffenmeisterei und winkte Mr. Stich durch. Er wurde von einem sehr genervt aussehenden Waffenmeister in Empfang genommen, und ich schloss den Spiegel schnell wieder, bevor Onkel Jack etwas sagen konnte. Er sah ganz so aus, als wollte er etwas sagen, aber ich war sehr sicher, dass es nichts war, das ich hören wollte. Ich steckte den Spiegel weg und sah zu Molly.
»Ich denke, wir haben für einen Tag genug gearbeitet, meinst du nicht? Ich glaube, wir haben uns ein wenig Freizeit verdient, bevor wir wieder zurückmüssen. Was sollen wir machen?«
»Naja«, sagte Molly und steckte ihren Arm durch meinen. »Ich habe dir ein gutes Abendessen versprochen und weil wir schon mal in London sind … was meinst du, eine Show im West End und danach ein Dinner im Ritz?«
»Klingt sehr gut«, sagte ich. »Aber wir werden so kurzfristig niemals Karten für irgendetwas Anständiges kriegen.«
»Liebelein, ich bin eine Hexe, schon vergessen? Vertrau mir, Karten sind kein Problem.«
Ich dachte, es sei das Beste, wenn ich der Familie Zeit gäbe, sich an die Tutoren zu gewöhnen, bevor ich mich wieder im Herrenhaus zeigte und so genoss ich die Show und das Abendessen. Wir sahen uns die neue Produktion in der Shaftesbury Avenue an: König der Diebe: Das Musical. In den Hauptrollen waren Robbie Williams als Robin Hood, Paris Hilton als Lady Marian und Ricky Gervais als der Sheriff zu sehen. Musik, Handlung und Texte von niemandem, von dem Sie je gehört hätten. Karten waren wirklich kein Problem: Molly wandte eine Art Jedi-Gedankentrick am Theaterpersonal an und so hatten wir eine Loge ganz für uns. Danach gingen wir ins Ritz und bestellten in dem Wissen, dass wir nicht die geringste Absicht hatten, für irgendetwas zu zahlen, das Beste von allem.
Hey, ich sorge dafür, dass die Welt sicher und die Menschheit geschützt ist. Mir stehen ein paar Sonderzulagen und Privilegien zu.
»Eine interessante Produktion«, sagte ich zu Molly über den leicht gebräunten Toastscheiben, auf die wir Beluga-Kaviar gehäuft hatten.
»Ja - aber warum diese Besessenheit, erfolgreiche Filme in Bühnenmusicals umzuschreiben? Und warum haben sie den Bryan-Adams-Song nicht gesungen? Er ist sowieso das Einzige, woran sich die Leute bei dem Film erinnern.«
Ein paar Flaschen wirklich guten Champagner später gaben wir dem Kellner eine imaginäre Kreditkarte, tanzten im Tango die Treppe des Ritz hinunter und benutzten Merlins Spiegel, um nach Hause zu kommen. Wir gingen durch die Waffenkammer, wo der Waffenmeister auf uns wartete. Er sah gar nicht glücklich aus.
»Was habt ihr euch dabei gedacht, mir diese vier Psychopathen zu schicken? Ich habe genug Ärger damit, die Psychopathen unter Kontrolle zu halten, die unter mir arbeiten! Und ich habe mehr als genug Arbeit, auch ohne die besonderen Bedürfnisse eurer Freunde zu befriedigen!«
Ich sah mich um, aber von meinen Tutoren war nichts zu sehen. Ich sah den Waffenmeister misstrauisch an. »Onkel Jack, was hast du mit ihnen gemacht?«
Er zog beleidigt die Nase hoch. »Ich habe sie Penny überlassen, damit sie auf sie aufpasst. Du weißt ja, wie sie es liebt, Dinge zu organisieren. Und Leute.«
Ich sah ihn an, erschrocken und plötzlich stocknüchtern. »Du hast was gemacht? Sie ist niemals in der Lage, mit einer so gefährlichen Bande fertig zu werden. Allein schon der Blaue Elf könnte Penny völlig fertigmachen, ohne in Schweiß auszubrechen, von Mr. Stich mal gar nicht zu reden! Wo sind sie jetzt?«
»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Frag Penny. Und jetzt raus hier. Ich muss mich um ein Taschenuniversum kümmern, dass Stabilisierung braucht.«
Ich aktivierte meine geistige Verbindung zu Seltsam im Sanktum.
»Roter Alarm, Notfall, Notfall!«
»Hi, Eddie! Willkommen zurück. Hattest du eine schöne Zeit in der Stadt? Hast du mir was mitgebracht, ein Geschenk?«
»Lass das jetzt.«
»Hast du nicht, oder? Du hast mich einfach vergessen.«
»Wo sind Penny und die vier Tutoren, die sie beaufsichtigen sollte?«
»Sie sind natürlich in ein paar der Hörsäle. Sie hat schon die ersten Seminare organisiert, sie laufen bereits. Das ist alles so aufregend!«
Ich unterbrach die Verbindung zu Seltsam, bevor ich etwas sagen konnte, was ihm und mir später leid tun würde, und benutzte Merlins Spiegel, um Molly und mich direkt zu den Vorlesungssälen im Südflügel zu bringen. Ich hatte dieses schreckliche Bild vor meinem geistigen Auge: Ein ganzer Hörsaal voller toter Droods, mit Blut, das die Gänge zwischen den Stuhlreihen herunterlief, während Janitscharen Jane und Mr. Stich mit ihren abgeschlagenen Köpfen Football spielten.
Aber als wir in der Lobby vor den Hörsälen ankamen, schien alles ruhig und still zu sein. Penny ging seelenruhig auf und ab und hörte mal an der einen, dann an der anderen Tür. Sie zuckte ein wenig zusammen, als Molly und ich durch den Spiegel kamen und kam dann zu uns herübergelaufen. Sie bedeutete uns, leise zu sein.
»Vielen Dank für diese vier!«, sagte sie, und weil sie flüsterte, kam der begeisterte Dank ein wenig gedämpft rüber.
»Gib dem Waffenmeister die Schuld«, sagte ich automatisch. »Wo sind sie, Penny? Hat es Ärger
gegeben?«
»Überhaupt nicht«, sagte sie. »Ich dachte, es sei das Beste, wenn ich sie gleich alle miteinander zum Arbeiten schicke. Und die Familie mal sehen lasse, was sie tun können. Also habe ich jedem einen Hörsaal gegeben, damit sie über das reden können, was immer sie wollen - und sehr zu meiner Überraschung flutscht es. Es funktioniert prima. Es gibt nur noch Stehplätze, in allen vier Sälen, und wann hatten wir das das letzte Mal?«
»Und es hat keine … Vorfälle gegeben?«, fragte Molly.
»Noch nicht«, erwiderte Penny. »Ein Teil von mir wartet noch darauf, dass die Bombe platzt.«
»Warum flüstern wir?«, flüsterte ich.
Penny hob eine Augenbraue. »Wir wollen sie doch nicht unterbrechen, oder?«
Ich ging zur nächsten Tür hinüber und schlüpfte leise hinein, um mich hinten hinzustellen. Molly war schnell neben mir. U-Bahn Ute war vorn am Pult, ging hin und her und bombardierte das faszinierte und von ihrer Erzählung gefesselte Publikum damit, wie es war, am Rand der Gesellschaft zu leben. In der Stadt zu sein, aber kein Teil davon, allein und ohne Unterstützung, nur auf den eigenen Verstand angewiesen, um zu überleben.
»Ihr wisst nicht, wie leicht es ist, durch das Raster zu fallen«, sagte sie. »Alles, was es braucht, ist ein richtig mieser Tag und ihr könntet enden wie ich. Ich hatte einmal ein Heim, einen Job und ein Leben. Ich hatte Freunde und eine Familie. Und dann habe ich sie einer nach dem anderen verloren, alle. Ich habe sie verloren oder sie wurden mir genommen. Und schließlich endete ich als eine Obdachlose, lebte auf den Straßen. Denn selbst wenn du nichts mehr hast, sind die Straßen doch immer noch da. Nach einiger Zeit wurde ich zur Glücksvampirin und habe mir ein neues Leben aufgebaut. Ich hätte in mein altes Leben zurückkehren können, aber ich wollte es nicht mehr. Aber wieder war nur ein einziger mieser Tag nötig und ich habe noch einmal alles verloren. Was ihr lernen müsst, ist, sich niemals auf andere zu verlassen, nur auf euch selbst. Weil es nichts gibt, was ihr haben könnt, das die Welt euch nicht wegnehmen kann.«
Die Zuhörer waren völlig gefesselt, atemlos. Sie hatten noch nie jemanden wie U-Bahn Ute getroffen. Ich schlich mich aus der Hintertür, Molly hinter mir her und wir gingen, um nach Mr. Stich zu sehen. Er stand völlig entspannt auf der Bühne und funkelte sein ähnlich gefesseltes Publikum an, während er ihnen von der Kunst des Tötens, dem Verfolgen von Opfern und den Freuden des Abschlachtens erzählte - und wie selbst der kleinste Spross des Bösen in einem Menschen aufkeimen und ihn korrumpieren kann. Er sprach davon, die Beute zu jagen, unverdächtig ein Ziel zu verfolgen, tagelang oder sogar wochenlang, wenn nötig.
»Sie müssen diese Dinge wissen«, sagte er. »Sie haben Ihre legendäre Rüstung nicht mehr, Sie sind keine unüberwindlichen Krieger mehr, also müssen Sie zu Jägern werden. Sie müssen sich die Techniken des Hinterhalts und des Kampfes und des Tötens aneignen. Und darüber weiß niemand mehr als ich. Lernen Sie von mir und ich garantiere Ihnen, dass die meisten von Ihnen den großen Krieg, der kommen wird, überleben werden.«
Im nächsten Hörsaal lümmelte der Blaue Elf auf einem Barhocker auf dem Podium und nippte an einem Cocktail mit einem kleinen Papierschirmchen darin. Er hielt einen Vortrag über Elben und ihre oft unerwarteten Einmischungen in die moderne Welt.
»Elben und Elfen gibt es schon lange nicht mehr«, sagte er leichthin. »Sie wanderten vor Jahrhunderten neben die Sonne und verließen unsere Welt für immer. Jeder weiß das, aber - wie ebenfalls jeder weiß - ist das einfach Schwachsinn. Die meisten Elfen und Elben sind weg, aber einige gibt es immer noch und sie sind auf Rache aus. Sie hassen die Menschheit, weil sie die Welt regieren, die einst ihnen gehörte und sie leben, um uns zu schaden und uns fertigzumachen. Sie werden auf jedermanns Seite stehen, oder auf der Seite von jedem Ding, wenn es ihnen bei ihrer bitteren, endlosen Sache nutzt.«
Und zuletzt hörten wir Janitscharen Jane zu, wie sie der Familie erzählte, wie man Dämonen bekämpft. Sie marschierte auf ihrem Podium hin und her. Ihre kalte, pragmatische Stimme ließ das, was sie zu sagen hatte, noch verstörender und beängstigender klingen.
»Mit Dämonen kann man nicht diskutieren«, sagte sie rundheraus. »Man kann sie auch nicht bestechen. Man kann mit ihnen nicht verhandeln. Sie sehen uns nur als Gegenstand; etwas, das man benutzen kann. Einige kommen aus der Hölle, andere aus der Vergangenheit oder der Zukunft und einige von anderen Welten oder aus anderen Dimensionen. Das ist egal. Alles, woran ihr euch erinnern müsst, ist, dass sie nur existieren, um das, was ihr liebt, zu zerstören. Sie nehmen euch euer Leben, eure Welt, eure Seelen und benutzen alles für ihre eigenen Zwecke. Es sind Heuschrecken, die über eine Gegend herfallen und nichts übrig lassen - wenn ihr sie nicht mit allem, was ihr habt, bekämpft. Ihr werdet lernen müssen, zu kämpfen wie eine Armee, denn das hier ist ein Krieg. Ihr könnt keine Krieger mehr sein, die eigene Duelle ausfechten. Ihr könnt keine Helden mehr sein. Ihr müsst zu Soldaten werden, die für eine größere Sache kämpfen. Ihr müsst lernen, in einer Armee zu kämpfen, denn es gibt Armeen von ihnen.«
Penny lächelte, als Molly und ich ein wenig überwältigt in die Lobby zurückkamen.
»Na, Eddie«, sagte sie. »Sieht fast so aus, als hättest du mal was richtig gemacht.«
»Siehst du wohl«, erwiderte ich.
»Arsch«, sagte Molly.
»Siehst du wohl, Arsch!«, antwortete ich.