Kapitel Drei Gut und Böse - alles miteinander verwandt

Wenn in den alten Tagen Generalalarm gegeben wurde, rannte die ganze Familie, um das Herrenhaus zu schützen. Aber damals waren wir auch Krieger.

Jetzt rannten alle in die vorgesehenen Schutzräume, um sich zu verstecken, bis es vorbei war. Alles meine Schuld, klar, weil ich ihnen ihre goldenen Torques weggenommen hatte. Die Droods waren es nicht gewohnt, sich menschlich und verwundbar zu fühlen. Deshalb waren das Sanktum und die daran angrenzenden Zimmer so etwas wie der neue Panikraum für die Droods geworden, obwohl natürlich im Traum niemandem eingefallen wäre, so einen Ausdruck zu benutzen. Aber als ich, gefolgt vom Rest des Inneren Zirkels, das Sanktum verließ, kamen so viele Familienmitglieder, denen Angst und Verzweiflung deutlich in den Gesichtern geschrieben stand, durch den Korridor auf mich zu gerannt, dass ich beunruhigt feststellen musste, wie leicht der Geist meiner Familie gebrochen werden konnte.

Dagegen würde ich etwas unternehmen müssen, und zwar schnell.

Seltsam bewachte das Sanktum und die anderen Zimmer; seine andersdimensionalen Schilde schützten die Familie vor jeglichen Angriffen von außerhalb. Die Familie wäre dort sicher, während ich untersuchte, wer oder was es wagte, uns anzugreifen. Seltsam war auch für den Betrieb all unserer auf Wissenschaft und Zauberei beruhenden Verteidigungsanlagen verantwortlich, und es bestürzte mich, wie schnell wir von diesem neuen Ersatz für das zerstörte Herz abhängig geworden waren. Ich hatte uns nicht von einem andersdimensionalen Herrn befreit, nur um uns an einen anderen auszuliefern - egal wie wohlwollend er schien. Noch etwas, worüber ich mir Sorgen machen musste …

Seltsam hatte gesagt, er könne noch mehr für uns tun, aber das hätte bedeutet, noch mehr von seiner Substanz in diese Dimension zu bringen, und sogar er musste zugeben, dass er keine Ahnung hatte, wie genau sich so viel fremde Materie auf die physikalischen Gesetze unserer Realität auswirken würde. Fremde Materie folgte nicht den hiesigen Naturgesetzen, und unserer Welt gefiel es nicht, sie hierzuhaben. Außerdem war Seltsam, so wie er war, mächtig genug. Vertrauen ist schon immer eine schwierige Angelegenheit für mich gewesen, selbst bevor ich herausgefunden hatte, was das Herz tatsächlich war. Deshalb hatte ich, im Namen der Familie, Seltsams Angebot höflich abgelehnt.

Weshalb es jetzt an mir lag, die ganze verdammte Familie vor dem Angriff zu beschützen.

Die Droods strömten durch die Flure auf das Sanktum zu, die Gesichter blass und angespannt. Die Alarmglocken waren unerträglich laut, doch selbst bei diesem Krach verschaffte der Seneschall sich Gehör und brachte mit flammenden Worten und Drohungen eine gewisse Ordnung in die Menge, sodass sie in einer Reihe, aber nichtsdestoweniger schnell ins Sanktum marschierten. Er brauchte nicht viel von seiner charakteristischen Brutalität einzusetzen; die meisten Familienmitglieder waren froh, eine gebieterische Stimme zu hören, die ihnen sagte, was sie machen sollten. Aber andererseits war das schon immer ihr Problem gewesen. Der Seneschall blickte die nervösen Gesichter, die an ihm vorbeiströmten, finster an und schien tatsächlich beschämt, die Familie in einem solchen Zustand zu sehen. Mich blickte er nicht an, aber das brauchte er auch nicht - ich wusste schon, wem er die Schuld daran gab.

»Ich gehe in den Lageraum!«, sagte Penny schreiend zu mir, um über dem allgemeinen Lärm gehört zu werden. »Jemand muss das Gesamtbild im Auge behalten! Durchaus denkbar, dass dieser Angriff dazu vorgesehen ist, um uns von etwas richtig Großem abzulenken, das woanders stattfindet.«

»In Ordnung!«, antwortete ich. »Geh! Melde dich wieder, wenn du eine Gelegenheit bekommst!«

Aber sie war schon losgelaufen und bahnte sich ihren Weg durch die Flut der herannahenden Droods durch bloßes sicheres Auftreten. Mit ihr hatte ich eine gute Wahl getroffen. Ich sah mich nach Jacob um, doch der war verschwunden. Ich wandte mich an den Seneschall.

»Du bleibst hier und hältst die Lage unter Kontrolle! Molly, Onkel Jack, wir müssen in den Einsatzraum und herausfinden, mit wem oder was wir es zu tun haben, bevor wir rausgehen und dem Feind gegenübertreten. Seneschall, falls die Angreifer an uns vorbei und hier reinkommen sollten … improvisierst du.«

Ich machte mich auf den Weg und pflügte mit gleichmäßigem Tempo durch die immer voller werdenden Flure, Molly und der Waffenmeister folgten mir auf dem Fuß. Ein zunehmendes Gefühl der Panik lag in der Luft. Mein erster Instinkt war, hochzurüsten, aber das durfte ich nicht: Es hätte nur alle anderen Droods in Wut versetzt, die ihre Rüstung meinetwegen nicht mehr hatten.

Ich hatte Lust zu rufen: Hört zu, zu der Zeit schien es eine gute Idee zu sein, okay?

»Was glaubst du, wer dahintersteckt?«, fragte Molly und zwängte sich dicht neben mich. »Vielleicht das Manifeste Schicksal? Könnte Truman am Ende die Kurve doch wieder gekriegt haben?«

»Unwahrscheinlich«, erwiderte ich. »Davon hätten wir gehört.«

»Könnte der Premierminister sein«, meinte der Waffenmeister, »der sein Missfallen darüber zum Ausdruck bringt, dass seine besten Agenten in Särgen zu ihm zurückgeschickt worden sind.«

»Wenn sie imstande gewesen wären, mich zu fangen, dann wäre vielleicht das Herrenhaus als Nächstes dran gewesen«, sagte ich. »Aber nach dem, was ich mit seinen fittesten Jungs angestellt habe, verkriecht er sich vermutlich immer noch wimmernd unter seinem Schreibtisch. Nein, das hier könnte jede der Gruppen sein, über die wir vorhin gesprochen haben, weil sie ihre Präventivschläge unbedingt zuerst landen wollen. Hört zu, spart euch den Atem fürs Laufen, Leute! Wir müssen wissen, worauf wir uns einlassen, bevor wir unsere Gesichter draußen zeigen!«


Der Einsatzraum befand sich weit drüben im Südflügel, und der Weg dorthin führte uns durch zunehmend leere Gänge und Korridore, die trotz des heulenden Alarms schon bald wie ausgestorben dalagen. Außer Atem erreichten wir schließlich unser Ziel. Der Einsatzraum ist eine Hightechzentrale, die dazu bestimmt ist, sämtliche Verteidigungsanlagen des Herrenhauses zu überwachen, von Sensoren über Schilde bis hin zu unseren verschiedenen Waffensystemen. Es dauerte ein paar Minuten, bis wir drei die strengen Sicherheitsprotokolle durchlaufen hatten, dann eilten Molly, der Waffenmeister und ich in den Raum, und hinter uns schloss sich zischend die große Stahltür und sperrte das Getöse der Alarme aus. Die plötzliche Stille, die nur durch die ruhigen und professionellen Stimmen der Anwesenden unterbrochen wurde, war eine regelrechte Wohltat, und ich atmete lang und tief durch, um mich zu beruhigen.

Ich war vorher noch nie hier gewesen; der Einsatzraum hatte sich noch in Konstruktion befunden, als ich von zu Hause fortgegangen war. Im Gegensatz zum Lageraum ist der Einsatzraum eine viel bescheidenere Angelegenheit: nur ein Raum überschaubarer Größe, der mit Computern und anderem verwirrenden Hightechkram vollgestopft ist, bedient von etwa einem Dutzend Technikern unter der Führung des Einsatzleiters. Hier gab es weder Eile noch Hektik noch das Gefühl der Dringlichkeit; Männer und Frauen saßen ruhig an ihren Bildschirmarbeitsplätzen und verrichteten effizient und professionell ihre Arbeit. Diese Leute hatten nicht vergessen, was es hieß, ein Drood zu sein. Sie bewahrten in einer Notsituation kühlen Kopf, weil es das war, was man ihnen eingedrillt hatte, denn die Entscheidungen, die in diesem Raum getroffen wurden, konnten Auswirkungen auf die Sicherheit der ganzen Familie haben.

Holografische Anzeigen schalteten sich in der Luft schwebend ein und aus und zeigten schnell wechselnde Bilder des Herrenhauses von innen und von außen, außerdem umfassende Ansichten der Parkanlagen und aller möglichen Zugänge zum Gebäude. Ich ging rasch von Bildschirm zu Bildschirm, aber der Teufel sollte mich holen, wenn ich irgendein Zeichen für eine eindringende Streitmacht entdecken konnte. Der Himmel war leer, die Anlagen friedlich und verlassen und alle Schilde unversehrt und am richtigen Platz. Etwas musste die Alarme ausgelöst haben, aber was? Ich begab mich in die Mitte des Einsatzraums, und wie selbstverständlich schlossen Molly und der Waffenmeister sich mir zu beiden Seiten an. Ich war froh, sie bei mir zu haben, denn allmählich wurde ich ziemlich unsicher. Aufmerksam lauschte ich dem Murmeln der Stimmen der Techniker um mich herum, die leise, professionell und äußerst wirr miteinander sprachen.

»Ich habe ansteigende Energiepegel. Alle Anzeigetafeln sind grün, alle Waffensysteme online.«

»Kann jemand was sehen? Meine Sensoren sind jungfräulich, quer über die ganze Tafel.«

»Wartet mal; ich krieg was rein! Eine eindeutig infernale Präsenz.«

»Infernal? Bist du sicher?«

»Hey, das ist schließlich nichts, was man leicht verwechseln kann. Da ist was aus der Hölle, genau hier im Garten hinterm Haus!«

»Macht euch bereit, die Rasensprenger auf Weihwasser umzustellen! Und jemand soll all unsern Klerikern Bescheid geben!«

»Code Rot. Ich wiederhole, wir haben Code Rot! Alle nicht notwendigen System werden für die Dauer des Alarms abgeschaltet.«

»Warum wurden wir nicht gewarnt? Was ist mit den ganzen wunderbaren und ausgesprochen kostspieligen neuen Sensoren passiert, mit deren Installation ich die gesamte letzte Woche zugebracht habe?«

»Stumm wie ein Grab, der ganze Haufen. Was auch da draußen ist, die Sensoren können es nicht sehen. Nicht mal die Greifen haben es kommen sehen.«

»Wer hat meine Jaffa Cakes? Ihr wisst doch, dass ich ohne Jaffa Cakes nicht funktionstüchtig bin!«

»Alle Waffensysteme online und verfügbar. Verschafft mir nur noch ein Ziel, und ich werde blutige Batzen aus ihm heraussprengen!«

»Da drüben!«, sagte der Waffenmeister mir leise ins Ohr. »Siehst du den großen, angespannten Typen in dem Anzug mit dem festgeknöpften Kragen? Das ist Howard, der neue Einsatzleiter. Ich hatte ihn früher unten in der Waffenkammer bei mir, aber er hatte nicht die nötige Geduld. Allerdings war er ein gutes Stück gescheiter als der durchschnittliche Drood, deshalb haben wir ihn hierher gesteckt, und binnen eines Jahres hat er die Leitung des Ladens übernommen. Ah, schau; er hat endlich geruht, uns zu bemerken und kommt rüber. Das verspricht spaßig zu werden!«

»War hier früher nicht die alte Wäscherei?«, fragte ich.

»Diese Arbeit haben wir außer Haus gegeben, um Platz für die neue, hochmoderne Einsatzzentrale zu schaffen«, klärte der Waffenmeister mich auf. »In der alten mussten ständig Geräte ersetzt werden, außerdem wurde sie sowieso nur noch von Spucke und Siegellack zusammengehalten. Wir haben die letzten zehn Jahre damit zugebracht, die ausgeklügeltsten Waffensysteme zu installieren, die diese Familie je gesehen hat. Zusammen mit den Computern, um sie zu bedienen, könnten wir eine ganze Armee von hier aus abwehren.«

»Wenn wir sie sehen könnten«, murmelte ich.

Der Waffenmeister blickte finster. »Ich verstehe es nicht! Die Anlagen sind vollgestopft mit allen möglichen Überwachungssystemen. Ein Maulwurf könnte keinen Furz lassen, ohne dass wir alles darüber erfahren. Ah, Howard! Schön dich zu sehen!«

»Schön?«, blaffte er und machte jählings vor uns Halt. »Was zum Teufel soll denn daran schön sein? Für das hier mache ich dich verantwortlich, Edwin!«

»Irgendwie hatte ich mir so was schon gedacht«, entgegnete ich. »Hallo, Howard.«

Er schnaubte verächtlich. Er war groß und ungeschlacht mit rotem Gesicht und vorzeitig zurückweichendem Haaransatz. Seine Hände hingen an den Seiten herab und waren zu frustrierten Fäusten geballt.

»Die Sicherheitsanlagen des Herrenhauses sind völlig durcheinander, seit ihr, du und deine Freundin, geradewegs durch alle unsere besten Verteidigungen marschiert seid«, sagte er verbittert. »Sie sind ausgesprochen sensibel und du hast sie aus der Fassung gebracht. Wir haben Wochen gebraucht, um sie wieder so weit zu beruhigen, dass sie wieder ordentlich funktionierten, und jetzt das! Sind das da draußen noch welche von deinen Freunden?«

»Das bezweifle ich stark«, meinte ich. »Und Howard, beschränke dich auf ein Brüllen, wenn du mit mir redest, sei so nett! Andernfalls werde ich dich von Molly in etwas Kleines und Nasses und Matschiges verwandeln lassen, auf das ich anschließend treten werde.«

»Was bin ich«, fragte Molly, »dein Kampfhund etwa?«

»Du weißt, dass du das liebst.«

»Grrr!«, machte Molly.

Ich schaute Howard wieder an. »Lasst uns alle ganz ruhig und professionell bleiben, während wir herausfinden, was zum Teufel eigentlich hier los ist.«

Wieder schnaubte Howard. »Okay. Nun gut. Wir tun unser Möglichstes mit der Ausrüstung, die uns zur Verfügung steht. Versuch du mal, ein Verteidigungssystem des einundzwanzigsten Jahrhunderts mit einem Budget aus dem neunzehnten Jahrhundert laufen zu lassen! Ich hab's der Matriarchin ins Gesicht gesagt: Man kriegt das, wofür man bezahlt.«

Ich fing an, ihn ein bisschen besser leiden zu können. »Ich wette, das kam gut bei ihr an!«

Zum ersten Mal lächelte er ein wenig. »Ich wurde so schnell aus dem Lageraum eskortiert, dass meine Füße den Boden nicht einmal berührten. Na schön, alle mal hergehört, lasst uns die Sensoren noch mal probieren! Gebt mehr Energie drauf und schließt alle Extras an; mal sehen, ob wir für unsere illustren Gäste ein oder zwei brauchbare Bilder herbeizaubern können! Solange du nur verstehst, dass das alles deine Schuld ist, Edwin - was auch geschieht.«

»Geht mir immer so«, antwortete ich.

Der Einsatzleiter bewegte sich schnell zwischen seinen Leuten hin und her, sprach hier eine Ermunterung aus, ging dort jemandem um den Bart und holte mit ruhiger Effizienz das Beste aus jedem heraus. Plötzlich kam Leben in die Verteidigungssysteme des Herrenhauses und sie suchten nach einem Ziel: Es stand genug Feuerkraft zur Verfügung, um ein Loch durch den Mond zu sprengen oder ihn aus dem Orbit zu schießen. Ich beobachtete fasziniert, wie die holografischen Anzeigen Hunderte von Gewehren zeigten, die sich aus den weitläufigen Rasenflächen hoben und mit langen Läufen hin und her schwenkten, während die Zielerfassungscomputer sich bemühten, ihnen ein Ziel zu liefern. Schallwaffen, Teilchenstrahlen, Nervengase, stroboskopische Lichter und halluzinogene Nebel. Nein, wir geben keinen Pfifferling auf die Genfer Konventionen. Hätte ich von all dem gewusst, hätte ich niemals gewagt hier einzubrechen. Natürlich hatte ich damals das Confusulum zu meiner Unterstützung. Hoffentlich hatten die geheimnisvollen neuen Eindringlinge keins.

Howard kam wieder zu uns zurück. Sein Gesicht war noch erhitzter und er hatte sich tatsächlich den Kragen aufgeknöpft. »Wir haben immer noch Probleme, ein deutliches Bild von unseren Eindringlingen zu bekommen. Wir haben ihren aktuellen Aufenthaltsort auf irgendwo in der Nähe des Sees eingegrenzt, nicht weit von den Bootsschuppen entfernt, aber etwas in ihrer grundlegenden Natur bringt die Sensoren völlig durcheinander.«

»Ich hörte jemand das Wort infernal benutzen«, sagte Molly.

»Tja, nun«, meinte Howard. »Dieses Wort zu hören ist immer beunruhigend, nicht wahr? Heutzutage sind die meisten unserer Verteidigungsanlagen wissenschaftlich und weniger magisch oder mystisch.«

»Dann lasst mich helfen!«, bot Molly an. »Ich weiß viel über infernale Wesen.«

Sie ging zum nächsten Bildschirmarbeitsplatz hinüber und murmelte dabei im Flüsterton gewisse unerfreuliche Worte. Dann lehnte sie sich an einem überraschten Techniker vorbei und schob den linken Arm bis zum Ellbogen durch seinen Kontrollschirm. Der Unterarm geisterte durch den Monitor, und plötzlich wurde der gesamte Einsatzraum von einem hellen, andersweltlichen Licht erfüllt, als Mollys Magie sich in allen Systemen gleichzeitig manifestierte. Sich entladende Energien umzischten sie wie ätherisches Feuerwerk. Ein mächtiger Kraftstoß schoss durch sämtliche Computer, als Mollys Magie sich mit allen Systemen des Einsatzraums verband und ihre Leistungsfähigkeit erhöhte. Und plötzlich erschien vor uns in der Luft ein Bild, das die kristallklare Ansicht zweier Männer zeigte, die zusammen dicht beim See standen, genau in der Mitte der weitläufigen Anlagen des Herrenhauses. Das Bild zoomte heran und lieferte uns eine Nahaufnahme ihrer Gesichter.

»Gern geschehen!«, sagte Molly.

Zwei alltäglich aussehende Männer, einer davon in meinem Alter, Anfang dreißig. Groß, hinlänglich angenehme Züge, Stahlbrille. Der andere war blass, dunkelhaarig, beunruhigend gut aussehend. Er sah ziemlich jung aus, bis man in seine außerordentlich dunklen Augen blickte, und danach schien er verdammt viel älter zu sein. Einfach nur zwei Männer, die zusammenstanden. Keine Armee. Keine offensichtliche Bedrohung. Nur dass sie nicht so weit hätten kommen können, wenn sie nicht ganz außergewöhnliche Leute gewesen wären.

Howard beugte sich jäh vor. »Das ist es! Wir haben sie erfasst! Achtung, wir werden ihnen gleich alles geben, was wir haben!«

»Nein, werdet ihr nicht«, sagte der Waffenmeister. »Wir müssen mit ihnen reden. Und außerdem würde es auch nichts nützen.«

»Was?« Howard blickte den Waffenmeister bedeppert an.

»Ich weiß, wer sie sind«, erklärte der Waffenmeister. »Oder wenigstens erkenne ich, wer einer von ihnen ist und was der andere ist. Der mit der Brille gehört zur Familie.«

»Ha!«, sagte Howard bitter. »Ich hätte es wissen können! Nur ein Familienmitglied konnte an den Familienverteidigungsanlagen vorbeikommen.« Er beäugte das Bild unschlüssig. »Kann nicht sagen, dass er mir bekannt vorkommt.«

»Kann er auch nicht«, sagte der Waffenmeister. »Er kommt kaum jemals nach Hause. Das ist Harry Drood, James' einziger legitimer Sohn.«

»Und bedauerlicherweise erkenne ich den anderen Kerl wieder«, sagte ich. »Ich habe ihn einmal vorher gesehen, kurz, in den Gefängniszellen unter dem alten Hauptquartier des Manifesten Schicksals. Sie hatten ein Pentagramm um ihn herum in den Zellenboden geritzt und ihm für alle Fälle noch die Zunge herausgeschnitten. Und trotzdem war er noch das gefährlichste Geschöpf dort. Er ist ein Dämonenhalbblut, der Abkömmling eines Sukkubus. Ich ließ ihn dort zum Sterben zurück, als ich Trumans Organisation um seinen Kopf herum zum Einstürzen brachte. Ich hätte ihn töten sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«

»Du hattest nie die Gelegenheit«, wandte Molly ein. »Mischlinge wie er sind sehr schwer zu töten. Sie mögen aussehen wie wir, aber sie haben alle einen Fuß in der Hölle. Aber was tut er hier, Seite an Seite mit einem Drood?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich, »aber es wird nichts Gutes sein. Harry Drood. Ich habe Geschichten über ihn gehört.«

»Die meisten davon stimmen«, meinte der Waffenmeister. »Harry war immer einer unserer besten Frontagenten, wenn auch ein bisschen zu unabhängig. Dir nicht unähnlich, Eddie, in vielerlei Hinsicht.«

»Aber warum sollte er plötzlich so aus dem Nichts auftauchen«, wunderte ich mich, »in Gesellschaft eines Dämons?«

»Du hast seinen Vater getötet«, sagte der Waffenmeister.

»Ja«, gab ich ihm recht. »Das wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen, stimmt's?«

»Wenigstens wissen wir jetzt, wie sie hereingekommen sind«, meinte Howard und hörte sich ein bisschen fröhlicher an. »Kein Geheimnis mehr: Unsere Verteidigungssysteme waren nie darauf angelegt, etwas so Seltenes oder Unnatürliches wie ein halbblütiges Höllengezücht zu erkennen.«

»Also schön, Howard«, sagte ich. »Sorg dafür, dass der Einsatzraum in Bereitschaft und alle Waffen online bleiben - nur für den Fall, dass Harry weitere Freunde eingeladen hat, später noch vorbeizuschauen. Unternimm aber nichts ohne ausdrückliche Anweisungen von mir! Molly, Onkel Jack, lasst uns gehen und Harry zu Hause willkommen heißen!«

»Geht es in Ordnung, wenn ich zuerst meinen Arm aus dem Computer nehme?«, fragte Molly.


Molly bot uns an, uns direkt zum See zu teleportieren, aber ich hielt es für besser, uns Zeit zu lassen und zu Fuß zu gehen. Ich wollte nicht, dass Harry auf den Gedanken kam, er könnte uns in Panik versetzen und zu überstürztem Handeln verleiten. Nein, sollte er ruhig warten. Wir drei verließen das Herrenhaus und schlenderten ohne Eile über die weitläufigen freien Rasenflächen auf den See zu. Es war ein schöner Sommertag mit warmem Sonnenschein und einer angenehmen Brise. Strahlend blauer Himmel, kaum eine Wolke. Und es wäre auch ein recht angenehmer Spaziergang gewesen, wenn ich nicht so ein schlechtes Gefühl wegen der bevorstehenden Begegnung gehabt hätte.

Ein Drood und eine Höllenbrut, zusammen? Noch vor nicht allzu langer Zeit hätte ich gesagt, dass so etwas unmöglich ist. Aber seitdem hatte ich viel darüber gelernt, wozu die Familie fähig war - wenig davon Gutes.

Molly hakte sich bei mir unter, als wir dahinschlenderten. Sie war immer zufriedener, wenn sie draußen in den Anlagen war. Sie war schließlich eine Hexe der wilden Wälder, und der alte, graue Stein des Herrenhauses lastete auf ihrer freien und unbeschwerten Natur. Sie schwatzte fröhlich beim Gehen und ich tat mein Möglichstes mitzumachen. Aber wir wussten beide, dass ich nicht mit dem Herzen dabei war; mein Verstand war uns vorausgeeilt und befand sich schon am See.

»Harry Drood«, wandte ich mich schließlich an den Waffenmeister. »Da gab es doch einen Skandal, in den er verwickelt war, nicht wahr?«

»O ja!«, bestätigte der Waffenmeister. »Die Angelegenheit wurde allerdings nie außerhalb des Rats der Matriarchin besprochen. Weißt du, James hat nur einmal geheiratet, und das gegen den ausdrücklichen Willen der Matriarchin. Nur er konnte mit so was davonkommen. Er heiratete die verrufene Abenteurerin und freiberufliche Spionin Melanie Blaze. Eine sehr erfolgreiche Privatdetektivin, auf ihre eigene raffinierte, machiavellistische und hinterhältige Weise. Sie und James gaben ein großartiges Team ab und waren damals in den Sechzigern bedeutende Spieler. Wann immer man von einer geheimen Basis hörte, die in die Luft gejagt worden war, oder von einem unantastbaren Schurken, der einem Attentat zum Opfer gefallen war, wusste man, dass es James und Melanie gewesen sein mussten. Alle bewunderten sie, sogar ihre Feinde, und jeder Drood wollte sein wie sie.

James hat Melanie nur ein paar Mal mit nach Hause gebracht, die Matriarchin war sehr frostig.

Und dann verschwand Melanie für irgendeine geheime Mission in die Hinteren Reiche und tauchte nie wieder auf. Das ist jetzt … fünfzehn Jahre her. James ist ihr noch einige Male hinein gefolgt, mit und ohne Billigung der Familie, aber er hat sie nie gefunden. Danach war er nie mehr derselbe.«

»James war wie ein zweiter Vater für mich«, sagte ich. »Er zog mich groß, nachdem meine Eltern getötet worden waren. Aber ich glaube nicht, dass ich Harry überhaupt schon einmal gesehen habe.«

»Harry war immer ganz der Sohn seiner Mutter«, erklärte der Waffenmeister. »Sie hat ihn außerhalb des Herrenhauses aufgezogen, fern von der Matriarchin. James besuchte ihn so oft er konnte, aber … ach, ich weiß nicht, Eddie. James und ich standen uns nahe, aber es gab ein paar Dinge, über die er einfach nicht reden wollte. Da war irgendetwas mit Melanie, oder mit Harry, aber … Na, jedenfalls, nach Melanies Verschwinden bestand James darauf, dass wir Arbeit für Harry als Frontagenten finden, und die Matriarchin hielt ihn mit Aufträgen in fremden Gegenden beschäftigt. Und genau wie du, Eddie, lebte Harry für seine Arbeit und kam nie nach Hause.«

»Ich durfte nie das Land verlassen«, wandte ich wehmütig ein.

»Aber Harry war James' Sohn«, erinnerte mich der Waffenmeister, »und James war immer Mutters Liebling. Doch Harry erwies sich als ausgezeichneter Frontagent; äußerst einfallsreich erledigte er immer seinen Job.«

»Aber was für ein Mensch ist er?«, wollte Molly wissen.

»Ich habe keine Ahnung«, gestand der Waffenmeister und lachte in sich hinein. »Harry war James einziger legitimer Sohn, aber er hat unzählige Stiefbrüder und -schwestern, die über sämtliche Länder der Erde verstreut sind, von den ganzen Frauen, mit denen James … Beziehungen hatte, durch die Jahre hindurch.«

»Er konnte ihn nie in der Hose behalten«, bestätigte ich. »Ich will gar nicht darüber nachdenken, wie oft ihn das in Schwierigkeiten gebracht hat.«

»James war halt sehr romantisch!«, verteidigte ihn der Waffenmeister entschlossen. »Er verliebte sich immer schnell in ein hübsches Gesicht und bereute es anschließend meistens. Die Familie hat nie offiziell irgendeinen dieser Sprösslinge anerkannt, aber um James' Zufriedenheit willen trafen wir für gewöhnlich Arrangements, um sie erwerbstätig zu halten, und ließen sie nützliche Arbeit für die Familie tun. Ab und zu, wenn wir mehr als üblich Abstand halten oder ableugnen mussten.«

»Ich dachte, eure Familie billigt kein Halbblut?«, warf Molly ein.

»Tun wir auch nicht«, bestätigte ich. »Sie werden nie nach Hause eingeladen und wir schicken ihnen keine Weihnachtskarten. Die Droods sind in mancherlei Hinsicht eine sehr altmodische Familie, aber das kommt eben vor, wenn man schon Jahrhunderte auf dem Buckel hat.«

»Aber sie für gefährliche Aufgaben zu benutzen, ist trotzdem in Ordnung?«

»Die Familie kann sehr pragmatisch sein, wenn sie will«, erklärte der Waffenmeister. »Nur so konnten wir jahrhundertelang überleben.«

Schließlich erreichten wir den See. Die dunkle, blaugrüne Oberfläche des Wassers erstreckte sich vor uns, ruhig und unberührt, das andere Ufer so weit weg, dass wir es nicht einmal sehen konnten. Irgendwo im See gibt es eine Wassernixe, aber sie bleibt für sich. Das Erste, was mir auffiel, war, dass sämtliche Schwäne verschwunden waren, vermutlich ans andere Ende des Sees geflohen. Und als ich die beiden Männer am Seeufer vor uns stehen sah, verstand ich warum.

Harry Drood lächelte dem Waffenmeister kurz zu, starrte mich kühl an und bedachte Molly mit einem knappen Nicken. Er sah in seinem elegant geschnittenen grauen Anzug groß und gut gebaut aus und das Gesicht hinter der Stahlbrille hatte jenes alltägliche Aussehen, das die Droods zu so ausgezeichneten Geheimagenten machte. Niemand schaut auf der Straße ein zweites Mal nach uns, und so mögen wir es auch. Harry hielt einen toten Schwan an seinem gebrochenen Hals fest, als ob es etwas sei, das er zufällig aufgehoben habe. Für einen Eindringling und Schwanenkiller machte er einen bemerkenswert lässigen und ungezwungenen Eindruck.

Der Halbblutdämon neben ihm strahlte die ganze Gelassenheit und Sicherheit eines Raubtiers aus, das niedergekauert und bereit zum Angriff auf seine Beute lauert. Er sah hinlänglich menschlich aus, bis man die Einzelheiten in sich aufnahm. Er war knapp zwei Meter groß, schlank, aber athletisch gebaut und hatte ein unnatürlich blasses Gesicht, nachtschwarze Haare und Augen und einen Mund, der so schmal war, dass er fast keine Lippen aufwies. Er trug einen Armani-Anzug und trug ihn gut, dazu eine altmodisch-traditionelle Krawatte, von der ich nicht glauben konnte, dass er sie auf ehrlichem Wege erworben hatte. Seine beiden Hände steckten tief in den Taschen, und er lächelte uns alle unbefangen an. Es lag kein Humor in dem Lächeln - bloß ein Raubtier, das die Zähne zeigte.

Von Nahem roch er nach dem Höllenschlund; ein saurer und Übelkeit erregender Gestank nach Schwefel und Blut. Das Gras unter seinen Füßen war geschwärzt und schwelte.

»Hallo, Onkel Jack!«, sagte Harry mit leichter, angenehmer Stimme. »Ich bin nach Hause gekommen. Ist nicht nötig, ein gemästetes Kalb für den verlorenen Sohn zu schlachten, ich denke, ich werde stattdessen Schwan nehmen. Ich mochte Schwan schon immer sehr gern.«

»Du hättest vorher fragen können«, erwiderte der Waffenmeister.

»Aber dann hättest du vielleicht nein gesagt«, meinte Harry vernünftig. »Und ich finde wirklich, dass ich ein Anrecht auf etwas Besonderes zur Feier meiner Heimkehr habe, nachdem ich so lang fort war.«

»Willst du uns nicht deinen beunruhigenden Begleiter vorstellen?«, fragte ich.

Harry lächelte mich kurz an. »Aber ja, wie ausgesprochen unhöflich von mir! Dies ist mein guter Kamerad und Freund, Roger Morgenstern.«

»Ich weiß, wer du bist, du Hurensohn!«, sagte Molly, und ihre Stimme war sehr kalt. »Ich habe dir gesagt, was ich mit dir machen würde, falls ich dich je wiedersähe.«

Sie warf die Arme in einer Beschwörungshaltung hoch. Dunkle Wolken brodelten am Himmel. Blitzstrahlen stießen herab und sprengten den Boden rings um Roger weg, aber ihm selbst konnten sie nichts anhaben. Er stand bloß da und lächelte Molly ungezwungen an, während wir Übrigen uns in Deckung warfen. Molly schrie wutentbrannt auf und entfesselte sämtliche Elemente zugleich gegen die Höllenbrut.

Harry und der Waffenmeister duckten sich und hasteten außer Reichweite, wohingegen ich hochrüstete. Hagel hämmerte herab, dicke Eisscherben mit rasiermesserscharfen Rändern. Ich stellte mich zwischen Harry und den Waffenmeister auf der einen und das ärgste Unwetter auf der anderen Seite und schirmte sie ab, so gut ich konnte. Roger wurde überhaupt nicht verletzt. Sturmwinde bliesen, Blitze schlugen ein, Hagel prasselte herunter, und Roger Morgenstern rührte sich nicht von der Stelle, stand unbewegt und unversehrt da und lächelte sein enervierendes Lächeln.

Molly verausgabte sich schnell und konnte bald nur noch zischende Feuerbälle nach Roger werfen, von denen keiner ihn auch nur ansatzweise streifte. Die dunklen Wolken trieben davon und die Elemente beruhigten sich. Rasch ging ich zu Molly hinüber, bevor sie zur Anwendung gefährlicherer Methoden schreiten konnte, rüstete ab und murmelte ihr aus sicherer Entfernung beruhigende, beschwichtigende Worte ins Ohr, bis sie aufhörte, Roger wütend anzustarren, sich abrupt wegdrehte und die Arme um sich schlang. Ich war schlau genug, sie nicht zu stören, solange sie in einer solchen Stimmung war.

Harry und der Waffenmeister kamen wieder zu uns. »Würde mir bitte mal jemand erklären, was das gerade war?«, fragte der Waffenmeister ein klein wenig gereizt.

»Wir sind früher ein paar Mal miteinander ausgegangen«, sagte Roger mit überraschend angenehmer Stimme.

»Das war vor langer Zeit!«, fauchte Molly, mied aber nach wie vor seinen Blick.

»Und du hast vorher nie daran gedacht, das zu erwähnen?«, fragte ich.

Sie funkelte mich an. »Nehme ich dich etwa wegen deiner alten Freundinnen ins Verhör?«

»Ja.«

Sie schnaubte. »Bei einem Mädchen ist das was anderes!«

»Aber er ist ein Höllengezücht!«, entrüstete ich mich. »Ein Dämonenhalbblut!«

Sie zuckte die Achsel. »Es sind immer die bösen Jungs, die das Herz einer Frau ein kleines bisschen schneller schlagen lassen.«

Bei manchen Unterhaltungen weiß man einfach, dass nichts Gutes dabei rauskommen kann, deshalb richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Roger. »Als ich dich das letzte Mal sah, hatte dich Truman in einen seiner Gefängnispferche gesperrt. Mit herausgeschnittener Zunge.«

»Und du hast mich zum Sterben dort zurückgelassen«, sagte Roger locker. »Wie ausgesprochen drood von dir! Aber inmitten des allgemeinen Chaos bin ich entkommen. Niemand hat versucht, mich aufzuhalten - niemand hat es gewagt. Und die Zunge habe ich mir wieder wachsen lassen. Wir Höllengezüchte sind sehr schwer umzubringen.«

»Und wie konnte Truman dich dann überhaupt fangen und verstümmeln?«, fragte ich, vielleicht ein bisschen bissig.

Wieder zeigte Roger mit einem Lächeln, das keins war, seine Zähne. »O bitte, als ob ich so töricht wäre, dir das zu verraten!«

»Na schön«, sagte ich. »Warum bist du hier?«

»Rache!«, erklärte Roger, und für einen winzigen Moment flackerten helle, feuerrote Flammen in seinen dunklen Augen. »Truman muss bezahlen für das, was er mir angetan hat … Aber nicht einmal ich darf hoffen, eine Organisation von der Größe des Manifesten Schicksals allein auseinanderzunehmen. Was bedeutet, dass ich Verbündete brauche, und deine Familie scheint für diese Rolle am geeignetsten. Ihr wollt ihre Vernichtung fast so sehr wie ich, und der Feind meines Feindes kann mein Verbündeter sein, wenn auch nicht mein Freund.«

»Du erwartest von uns, dass wir dir vertrauen?«, fragte der Waffenmeister.

»Natürlich nicht. Aber solange wir an einer gemeinsamen Sache arbeiten, liegt es in meinem eigenen Interesse, euch nützlich zu sein.«

»Und er ist mit mir da«, warf Harry sehr bestimmt ein. Er stand wieder neben Roger, als ob er dorthin gehörte. »Roger und ich kennen uns seit ewigen Zeiten: alte Freunde, alte Verbündete.«

»Großer Gott!«, sagte der Waffenmeister. Er klang ehrlich schockiert. »Was hast du getan, Harry, in welche Tiefen bist du gesunken, dass du auch nur in Betracht ziehen konntest, dich mit einem Geschöpf der Hölle anzufreunden?«

»Wenn deine Familie dir den Rücken kehrt, dann musst du dir die Freunde suchen, wo du kannst«, erwiderte Harry. »Nicht wahr, Eddie? Nun, wie sieht's aus, kein Willkommen daheim für mich, Onkel Jack? Nach all den langen Jahren, die ich von zu Hause fort war und in denen ich der Familie treu und gut in fremden Breiten gedient habe, ohne je auch nur ein Dankeschön dafür zu hören?«

»Du hättest jederzeit heimkommen können«, erwiderte der Waffenmeister. »Die Matriarchin wäre vielleicht nicht allzu glücklich darüber gewesen, aber dein Vater und ich hätten dir zur Seite gestanden. Das haben wir dir gesagt; das haben wir dir beide oft genug gesagt. Aber du hattest ja immer irgendeine Ausrede!«

»Jetzt bin ich da, Onkel Jack. Wegen meines Vaters.«

»Du hast es also gehört«, stellte ich fest.

»Natürlich habe ich es gehört. Die ganze Welt weiß, dass du meinen Vater ermordet hast, lieber Cousin Eddie. Und nun bin ich hier, stellvertretend für alle alten Freunde, Verbündeten, Geliebten und Feinde des Grauen Fuchses, die alle äußerst verärgert darüber sind, dass der legendäre James Drood tot ist. Wir wollen wissen warum. Wir verlangen Antworten.«

»Es war ein Zweikampf«, sagte ich schlicht. »Rüstung gegen Rüstung. Er kämpfte gut und starb ehrenvoll.«

Ich warf nicht einmal einen Blick in Mollys Richtung. Ihre Rolle bei James' Tod ging niemanden außer sie selbst etwas an.

Harry sah mich mit leicht schräg gestelltem Kopf an. »Das ist alles? Das ist alles, was du zu sagen hast?«

»Das ist alles, was es zu sagen gibt«, entgegnete ich. »Ich führte Krieg gegen meine Familie, und er kam einfach in den Weg.«

»Dann - dann hast du nicht einfach meinen Vater ermordet und allen die Torques weggenommen … damit du die Macht über die Familie übernehmen und sie unbehindert führen konntest?«

»Nein«, antwortete ich ruhig. »So war es nicht.«

»So war es wirklich nicht«, bestätigte der Waffenmeister. »Er sagt die Wahrheit, Harry. Meinst du, ich hätte meinen Bruder inzwischen nicht gerächt, wenn ich dächte, er müsste gerächt werden?«

»Nun«, sagte Harry, »das ist ja äußerst interessant. Ich sehe schon, dass ich weitere Nachforschungen anstellen muss. Wie dem auch sei, jedenfalls bin ich endlich mit meinem guten Freund Roger heimgekommen, um der Familie in der Stunde der Not zu dienen. Sagt mir, wie dankbar ihr alle seid!«

»Für einen erfahrenen Frontagenten mehr haben wir immer Verwendung«, sagte ich. »Aber die Höllenbrut …«

»Bitte, nennt mich Roger!«

»Trau ihm nicht, Eddie!«, warnte Molly, die wieder an meiner Seite war. »Du kannst dich auf nichts verlassen, was er sagt. Die Hölle lügt immer, außer wenn eine Wahrheit einem mehr wehtun kann.«

»Ich sage es noch einmal, für die Begriffsstutzigen in der letzten Reihe«, sagte Harry. »Roger ist auf meiner Seite. Ich verbürge mich für ihn und garantiere für sein Verhalten, solange er hier im Herrenhaus ist. Und er hat auch das Recht, hier zu sein. Er gehört zur Familie, genau wie ich.«

»Was?«, rief der Waffenmeister. »Hast du den Verstand verloren, Harry? Wie kann ein Geschöpf der Hölle zur Familie gehören?«

»Indem wir denselben Vater haben«, erklärte Harry.

Roger lächelte breit. »Mutter war ein Sukkubus, mein Vater der illustre James Drood. Wie wär's mit einer dicken familiären Umarmung?«

Der Waffenmeister schüttelte langsam den Kopf, schwerfällig, als ob man ihn heftig geohrfeigt hätte. Auf einmal sah er älter aus und gebrechlicher. Ich muss sagen, dass es auch mir den Atem verschlug. Ich schaute Molly an, aber sie zuckte bloß die Schulter, um zu zeigen, dass es auch für sie eine Neuigkeit war.

»Das ist richtig«, sagte Harry munter. »Roger ist mein Stiefbruder. Und dein Neffe, Onkel Jack.«

»Der alte Graue Fuchs war sexuell wirklich sehr aktiv«, sagte Molly. »Aber selbst dann - ein Sukkubus? Das ist einfach … geschmacklos.«

»Lustdämonen sind Aristokraten in der Hölle«, erläuterte Roger. »Und gesammelte Seelen sind die Währung.«

»Halt die Klappe!«, sagte der Waffenmeister. »Halt einfach die Klappe!«

»Jawohl, Onkel«, sagte Roger.

»Es ist spaßig, wie Roger und ich uns kennengelernt haben«, erzählte Harry. »Das kam nur, weil wir alle verwandt sind. Vater und ich arbeiteten gemeinsam an einer Mission, wie wir es häufig taten, wenn wir gleichzeitig im selben Teil der Welt landeten. Vater und ich waren in Paris und dort dem Fantom, dem legendären Dieb und Attentäter, auf der Spur. Er führte mich in einen gewissen kleinen, abgelegenen Nachtclub am Westufer, wo man Informationen aller Art erhalten konnte, wenn man sich ein wenig Mühe gab. Ein schmieriges Lokal, das sich das Plus Ca Change nannte … Und dort bin ich Roger begegnet. Wir kamen ins Plaudern, während Vater die benötigten Informationen aus einem Haufen Rocker-Werwölfen herausprügelte. Wir beide kamen fabelhaft miteinander aus - das Fantom haben Vater und ich zwar nie eingeholt, aber Roger und ich blieben miteinander in Verbindung.«

»Dann willkommen zu Hause, Harry«, sagte ich. »Und du auch, Roger. Kommt mit uns ins Herrenhaus, wir werden euch schon unterbringen. Aber wenn einer von euch auch nur einmal außer Kontrolle gerät, dann werde ich ihn niederschlagen und auf seinem Kopf eine Riverdance-Vorführung geben!«

»Das ist bloß raue Liebe«, erklärte Harry Roger, »du wirst dich daran gewöhnen. Das ist eben die Drood-Art. Was macht unser lieber alter Seneschall, Eddie?«

»Schmeißt den Laden immer noch mit eiserner Faust in eisernem Handschuh«, antwortete ich, ohne mich ködern zu lassen. »Kommt mit - und nimm deinen Schwan mit, Harry. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not.«

»Schön zu Hause zu sein, Eddie«, sagte Harry. »Kann nicht behaupten, dass ich mich jemals so willkommen gefühlt habe. Ich vermute, wenigstens das haben du und ich gemeinsam: Die Lieblingssöhne unserer Familie waren wir nie.«

Plötzlich ertönten schnaubende, hustende Geräusche, und wir blickten uns beide um. Die Greifen hatten uns endlich aufgespürt und kamen herübergeschlendert, um die Neuankömmlinge mit einem ordentlichen Schnüffeln zu überprüfen. Harry ließ es resigniert über sich ergehen, und dann wandten die Greifen sich Roger zu. Sein Geruch gefiel ihnen überhaupt nicht; mit tiefen, grollenden Stimmen knurrten sie ihn an. Einer schnappte sogar nach ihm und Roger trat ihm so in die Rippen, dass er drei, vier Meter durch die Luft segelte. Mit schnellen Bewegungen stellte ich mich zwischen Roger und die Greifen.

»Tu das nicht!«, sagte ich.

»Sonst?«, sagte er.

Es war eine unverblümte Herausforderung - und eine, der ich begegnen musste, wenn ich irgendeine Autorität im Herrenhaus für mich beanspruchen wollte. Ich sprach innerlich die Worte und rüstete binnen eines Moments hoch, und die silberne fremde Materie floss über mich wie eine zweite Haut. Ich ballte eine silberne Hand zur Faust und hielt sie Roger vors Gesicht. Unter seinen Augen ließ ich dicke, silberne Dornen aus den Knöcheln wachsen. Unmenschlich schnell schoss Roger nach vorn, die Finger wie Klauen, das unglaublich breite Lächeln voller Zähne wie die eines Haifischs. Ich wich nicht von der Stelle und versetzte ihm einen Faustschlag ins Gesicht, hinter dem meine ganze gepanzerte Kraft lag. Wie vom Blitz getroffen blieb er stehen, und die schiere Wucht des Aufpralls ließ seinen Kopf so hart nach hinten fliegen, dass es einem normalen Menschen das Genick gebrochen hätte. Roger taumelte zurück, dann fing er sich rasch wieder. Langsam schüttelte er den Kopf und fuhr sich mit einer Hand ans Gesicht: Seine Nase war gebrochen, wenngleich kein Blut floss. Roger packte die Nase mit der linken Hand und brachte sie mit einem Ruck, der von einem schmerzhaft klingenden Knacken begleitet wurde, wieder in die richtige Stellung. Ich zuckte bei dem Geräusch zusammen, und ich bin mir sicher, dass es mir nicht allein so ging.

»Angeber!«, sagte Harry nachsichtig zu Roger. »Jetzt benimm dich! Ich habe für dein Verhalten garantiert, schon vergessen? Willst du mich schlecht aussehen lassen?«

»Sicher. Es tut mir leid, Harry.« Roger lächelte mir kurz zu. »Es wird nicht wieder vorkommen. Nicht böse sein, ja?«

Ich rüstete ab und schaute erst ihn an und dann Harry. Mir kam der Gedanke, dass die beiden dieses kleine Schauspiel vielleicht nur inszeniert hatten, um zu sehen, wozu die neue Rüstung in der Lage war. Durchtrieben, hinterlistig und ein kleines bisschen paranoid - schließlich waren sie Droods.

»Lasst uns zurück ins Haus gehen«, sagte der Waffenmeister. »Es wird allmählich kalt hier draußen.«

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