Zehntes Kapitel. Feuerland

Noch nie hatte Marie Gleise gesehen, diese Eisenbänder, die den Blick schneller und unbedingter mit sich wegziehen als jede Straße, und sie verlor sich in diesem Band, bis an seinem einen Ende, ein Stück nur entfernt von der Plattform, auf der sie wartete, der ächzende und zischende Dampfwagen von vielen Männern unter Mühen herumgedreht wurde, der dabei dampfend stillhielt wie ein sehr großes Tier.

Und als das eiserne Tier mit seinem Gesicht in die Flucht der Eisenbänder hineinglotzte, zischte und ächzte es plötzlich lauter, und dann, ohne daß man zuvor irgendeinen Willen oder eine Anspannung bemerkt hätte, kam es zu ihnen heran. Marie entdeckte auf dem offenen Führerstand der Lokomotive einen Mann in Uniform, der sich an Hebeln zu schaffen machte, dann kam der Tender, dann kamen die grünen Wagen, eingehüllt vom Dampf, in dem das alles vor ihr mit einem Schreien von Metall auf Metall auch schon wieder zum Stehen kam, und Marie schlug das Herz bis zum Hals. Als wäre es das Normalste, setzten die vielen Menschen um sie her, die mit ihr gewartet hatten, sich im selben Moment in Bewegung, kaum ihre Unterhaltung dabei unterbrechend, während zugleich uniformierte und allesamt schnurrbärtige Männer auf die hölzernen Trittbretter sprangen, die entlang der Waggons verliefen, und die vielen Türen öffneten, in die alles hineindrängte.

Die Trittbretter waren für Marie in einer höchst unbequemen Höhe angebracht, doch als sie davor zögerte, spürte sie auch schon Maschas Hand auf der Schulter, die sie nach vorn schob und dann mit einem beherzten Griff unter die Achseln auf das Trittbrett zum Abteil II. Klasse stellte, für das sie ihre Billets gelöst hatten. Dankbar, daß ihr Peinlichkeiten erspart blieben, stieg Marie die letzte Stufe hinauf und in den Wagen hinein, und bevor noch Mascha und sie ihre Sitze eingenommen hatten, wurde die Tür zu ihrem Abteil schon wieder zugeschlagen, ein Zittern durchlief die Wagen, ein schriller Pfiff war zu hören, und der Zug fuhr los. Schnell kletterte Marie auf die weich gepolsterte Sitzbank am Fenster. Das Glas klirrte im Rahmen, die gerafften schweren Vorhänge schaukelten, während der Zug Fahrt aufnahm und der rußige Dampf, dessen Geruch sie nicht mehr würde vergessen können, durch alle Ritzen zu ihnen hereindrang. Sie waren ganz allein im Abteil.

Mascha, in Berlin aufgewachsen, besuchte ihren Verlobten in der Stadt, und Marie hatte gebeten, sie begleiten zu dürfen, um endlich auch einmal Berlin zu sehen. Daß sie ein anderes Ziel hatte, hatte sie niemandem erzählt und so ihre eigentliche Absicht ein wenig auch vor sich selbst geheimgehalten. Und nun saß sie da und konnte kaum glauben, daß sie es wirklich getan, die Insel verlassen hatte, und hielt das kleine rechteckige Pappkärtchen fest in der Hand, auf dem Von Potsdam nach Berlin stand, und darunter: 2. Klasse bezahlt mit 15 Sgr. Zur Beachtung: 1. Dieses Billet ist nur für die durch den aufgedruckten Stempel bezeichnete Fahrt gültig. 2. Dasselbe wird vor der Abfahrt vom Schaffner coupiert, ist aber auf Verlangen auch während der Fahrt zur Vermeidung einer Nachzahlung des Fahrgeldes vorzuzeigen. 3. Jedem Passagier werden 50 Pfd. Reisegepäck frei befördert. In der linken oberen Ecke des Billets prangte der Datumsstempel: 12. Juni 1860.

Am Morgen dieses Sommertages, der heiß zu werden versprach, waren sie, nachdem die Inselbesucher heruntergeströmt waren, mit dem ersten Ausflugsschiff als einzige Fahrgäste nach Potsdam zurückgekehrt. Die Havel, ein flaches schmales Dampfboot, dessen Bug sich kraftvoll aufbog, ganz weiß gestrichen und mit einem hohen Schornstein in der Mitte, das Deck von einer glänzenden Messingreling umgeben und mit einer weißen Plane überspannt, hatte langsam den Jungfernsee überquert, während Mascha mit den Matrosen scherzte, die sie alle kannte, weil sie die Fahrt öfter unternahm, und Marie das glitzernde Wasser betrachtete und wie der Himmel über ihnen aufging und sich dabei an ihre allererste Fahrt erinnerte, als sie zusammen mit Christian auf die Pfaueninsel gekommen war.

Und noch jetzt im Zug spürte sie, wie glücklich sie damals gewesen war, so glücklich wie Kinder es sind, ohne auch nur zu ahnen, daß jene Fahrt ihr ganzes Leben bestimmen würde, mit allem, was schön darin war und furchtbar. Leicht war das Boot durch das Wasser geglitten, so leicht, wie ihre Freude gewesen war, und als sie jetzt daran zurückdachte, kam es ihr so vor, als könnte auch diese Fahrt jetzt eine sein in ein anderes Leben. Nicht in eines, das ihr bevorstand, sondern das sie auch hätte haben können. Nie mehr, seit die Großmutter damals mit Christian und ihr nach Potsdam aufgebrochen war, war sie jemals in Rixdorf gewesen, woher sie stammte, aber das Wort bewahrte doch ihr ganzes Leben hindurch seinen besonderen Klang für sie. Daran dachte sie, und der Zug hatte längst die verschiedenen Arme der Nuthe überquert, auch schon Nowaweß, die Webersiedlung mit ihren niedrigen, akkurat angelegten Häuschen hinter sich gelassen und bei Kohlhasenbrück die steinerne Brücke über die Bäke passiert und fuhr gerade durch den Machnower Wald, als Marie, immerzu hinaussehend und noch immer aufgeregt, während das Getöse von vorn, vom Dampfwagen her mit dem Rauch sie umgab wie eine Schärpe, endlich in den Sinn kam, wohin zu fahren sie beschlossen hatte.

Nicht einen Moment lang hatte sie nach ihrer Begegnung mit dem Koch ernsthaft erwogen, seine Einladung anders denn als charmanten Scherz aufzufassen, doch die Erinnerung daran hatte sie, gerade weil sie so schnell seltsam bruchstückhaft geworden war, nicht mehr losgelassen. Tatsächlich kam es ihr jetzt, kaum acht Wochen nach ihrer Begegnung, so vor, als hätte er sie zärtlich gefüttert, obwohl sie wußte, daß das natürlich nicht stimmte. Als hätte er sie gar nicht angesehen, jedenfalls konnte sie sich seine Blicke nicht mehr vergegenwärtigen. Und auch das, was er gesagt haben mochte, fiel ihr nicht mehr ein. Einzig den Geschmack jener köstlichen Teigtaschen wußte sie noch, wie sie sich noch niemals an den Geschmack einer Speise erinnert hatte. Und wie sie hatte lächeln müssen, als er sich in ihrem Mund ausbreitete, äußerst unpassend für die alte Frau, die sie ja inzwischen war.

Und dennoch hatte sie gestern am Abend von der Klugin einen Bottich heißes Wasser erbeten und mit dem Rasiermesser ihren kleinen Körper wie früher gründlich enthaart, rasiert und gezupft, ihre Achseln und die Haare auf ihren Beinen und selbst ihr Geschlecht, ganz so, wie sie es früher getan hatte, und dabei ihren alten Körper, den sie für gewöhnlich so wenig wie möglich beachtete, seit langem das erste Mal wieder gemustert und überall berührt voller Resignation über das, was aus ihr geworden war. Sechzig Jahre war sie nun alt, und dennoch aufgeregt gewesen wie ein junges Mädchen. Es war absurd, und wenn sie jetzt daran dachte, spürte sie, wie sie errötete, und starrte hinaus, damit Mascha es nicht merke.

Aus dem Wald hinaus, fuhren sie durch die offene Heide, hielten in Zehlendorf und passierten die Dörfer Steglitz und Schöneberg, und dann tauchte auch schon die Stadt vor ihnen auf. Eine Brücke führte über den gerade fertiggestellten Kanal, der früher Landwehrgraben und vor wenigen Jahren noch Schafsgraben hieß, der Zug verlangsamte seine Fahrt unter unerträglichem Quietschen und lief in den Bahnhof ein. Wie alle Kopfbahnhöfe, die in jenen Jahren in Berlin entstanden, befand er sich vor der Akzisemauer, direkt vor dem Potsdamer Tor, wo sich, umsäumt von den Ausläufern des Tiergartens, der Ringweg an der Stadtmauer und die Landstraße nach Potsdam trafen, die hier ihren Ausgangspunkt hatte. Ihr entlang waren mit der Bebauung der Friedrichs-Vorstadt luxuriöse Geschäftshäuser und Villen entstanden und der Leipziger Platz zu einem verkehrsreichen Ort geworden, auf dem sich jetzt Bellevue-, Potsdamer, Leipziger und Linkstraße kreuzten. Erst vor wenigen Jahren war das alte, baufällige Tor durch zwei Torhäuser nach einem Entwurf Schinkels ersetzt worden. Der Bahnhof war der erste in Preußen, erbaut in den Jahren 1835 bis 1838, die Halle, die in jener Zeit Bahnwagenhalle hieß, ein eingeschossiger Flachbau, der nur ein einziges Gleis enthielt.

In Marie zitterte noch das Zittern des Zuges nach, aber auch die Aufregung, nun endlich hier zu sein. Es herrschte ein Gedränge, wie Marie es nicht kannte, es wurde geschrien und gerufen, ein Betrunkener ließ eine Flasche am Randstein zerschellen, ein Gendarm eilte herbei, Pferde wieherten und stampften in der Hitze, Wagenräder quietschten, und durch all das hindurch gingen scheinbar ungerührt Menschen, deren Kleidung Marie beschämte, sah sie doch, wie démodé ihre Haube mit dem breiten Band war, ihr Kleid mit den Keulenärmeln und dem weiten Dekolleté, die Schnecken, zu denen sie ihr Haar gelegt hatte. Die Frauen hier trugen weitschwingende Röcke mit Volants und hochgeschlossene Kleider aus Moiré oder Taft, die Haare in einem tiefsitzenden Chignon zusammengefaßt, die Männer zweireihige, ebenfalls hochgeschlossene Jacken, wie sie sie noch nie gesehen hatte, braun und grau, dunkelblau oder grün, darunter ein weißes Chemisett und ebensolche Manschetten, schwere Uhrenketten und dünne Stöckchen.

Unentwegt bimmelnd kreuzte die Verbindungsbahn den Platz, eine kleine rauchende und in den engen Kurvenradien ächzende Lokomotive mit einer langen Kette von Güterwaggons. Droschken warteten in langen Reihen auf Kunden, die Pferde müde und stumm, dazu die großen Kremser, die ihre Fahrgäste gegen kleines Geld eng gedrängt aufnahmen. Dazwischen suchten die gelben Pferde-Omnibusse, von Schöneberg kommend, ihren Weg nach dem Molkenmarkt, luden die Passagiere ab, und gleich strömten neue hinein. Und alle, schien es Marie, sahen sie an. Doch völlig anders als auf der Insel. Kalte, unverständliche Blicke trafen sie, und solche von einer ebenso kalten Neugier. Obwohl alles Heldenhafte unserer Zeit sich in Städten zuträgt, ist die Stadt kein Ort für Helden, was am notwendigen Vergessen liegt. Unerträglich wären die unendlich vielen Tode in den übereinander-, nebeneinander-, ineinandergepackten Wohnungen, gäbe es das Vergessen nicht, das in der Stadt so schnell greift wie in der besonders fetten Erde mancher Friedhöfe die Verwesung. Alles ist hier einmal neue Zeit, doch nichts wird überwunden, alles vielmehr zur Seite geschoben, und man selbst spürt nicht einmal, wie der Boden der Zeit sich unter den eigenen Füßen bewegt. Doch plötzlich ist das, was eben noch ein Versprechen auf Zukunft war, in die Vergangenheit gerückt, und etwas Neues scheint unwiderstehlich.

Noch immer standen die beiden Frauen unter den Arkaden des Bahnhofsgebäudes wie am Rand eines aufgewühlten Meers, doch dann nahm Marie allen Mut zusammen und erklärte ihrer Begleiterin, sie werde nun allein weitergehen. Mascha, die ihr auf der Zugfahrt ausgemalt hatte, wie sie gemeinsam unter den Linden flanieren würden, war so überrascht, daß sie nicht fragte, wohin Marie wolle, die, auf dem Weg zu den Droschken, mit einem Schritt in der Menge verschwand.

Der Droschkenkutscher half Marie hinauf, ohne eine Miene zu verziehen. Sie wolle nach der Linienstraße, erklärte sie und nannte die Hausnummer. Das sei dort, nickte er berlinernd, wo sich das Filiale von das Königliche Leihhaus in die Jägerstraße befinde, drückte seinen alten Zylinder mit der zerzausten schwarzweißen preußischen Kokarde wieder ins Gesicht, schwang sich auf den Bock, und schon zog das Pferd an. Marie rutschte tief in das speckigglatte Lederpolster hinein. Das Octogon des Leipziger Platzes weitete und schloß sich wieder, die Leipziger Straße legte ihre schnurgerade Schneise durch die Häuserzeilen, der Wilhelmsplatz mit dem Palais des Prinzen Carl lag plötzlich da wie eine grüne Decke, dann ging es die stille Jägerstraße entlang, in der die Hufe des Pferdes und die eisernen Radreifen auf dem Pflaster klapperten, in die Friedrichstraße hinein und über die Linden hinweg, am Holzmarkt vorüber und über die gußeiserne Weidendammer Brücke immer nach Norden, die Straße nun von Bäumen gesäumt. Marie, in der Hitze des Mittags und über sich den blauen Himmel, sog begierig die Eindrücke der Häuser auf, die vorüberzogen, und sah dabei zu, wie die Stadt sich während der Fahrt veränderte.

In nur einem halben Jahrhundert hatte die Bevölkerung Berlins sich auf weit über vierhunderttausend Einwohner mehr als verdoppelt, und vor allem die Vororte nahmen ständig weitere Zuwanderer auf. Während im Westen immer neue bürgerliche Viertel entstanden, sammelte sich dort, wohin sie jetzt fuhr, im Osten und im Norden der Stadt, die Armut, im Neu-Vogtland, in der Obdachlosenkolonie am Kottbusser Tor und in der qualvollen Enge im Scheunenviertel um die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße, deren Bau erst im letzten Jahr begonnen worden war und wo die Juden sich niederließen, die vor den Pogromen in Rußland und Polen flohen. Hier war der Wohnraum billig, und hier vor dem Oranienburger Tor war auch Platz für die neuen Fabriken.

Feuerland, murmelte der Kutscher, sich nach ihr umsehend und in derselben Bewegung die Zügel anziehend, daß das Pferd hielt. Die Straße schien am Oranienburger Tor zu enden. Jenseits sah Marie Rauch, der zum Himmel stieg, und hörte ein unangenehmes Wummern, das, je näher sie gekommen waren, desto lauter geworden war. Der Kutscher nickte in die Linienstraße hinein. Marie zahlte und stieg aus. Er wendete und fuhr davon. Die Straße breit und staubig und leer am Mittag. Mauersegler stürzten sich kreischend von den heißen Wänden herab. Auf alles war sie gefaßt gewesen, auf das atemlose Hasten der Weltstadt, das Durcheinander der Menschen, aber nicht auf leere Bürgersteige, blanke Fahrdämme, auf Öde und trostloses Mittagslicht. Dieses Wummern, das dumpfe Pochen mächtiger Dampfhämmer, durchdrang alles und schien den Boden selbst zu erschüttern. Der Droschkenkutscher hatte Marie gewarnt. Das sei keine Gegend für eine Dame wie sie. Marie spazierte die paar Schritte zum Tor hinüber, das ein kleiner Obelisk krönte, und spähte durch einen der Bögen hindurch. Feuerland, hatte der Kutscher gesagt.

Feuerland, so nannten die Berliner damals die Gegend nordöstlich des Oranienburger Tors, in der sich in den letzten Jahrzehnten Betriebe angesiedelt hatten, wie es sie noch niemals gegeben hatte, Eisen- und Walzwerke, rauchende Schlote, feurige Essen, die Königlich Preußische Eisengießerei am Ufer der Panke, die berühmte Lokomotivenfabrik von Borsig, die Pflugsche Waggonfabrik, dann Wöhlerts Maschinenbauanstalt. Aus unzähligen Schornsteinen stieg schwarzer Rauch in den Himmel, Abertausende fanden hier ihr Brot, und zu manchen Stunden des Tages wurde die Chausseestraße zum Flußbett eines Stroms von Arbeitern, ohne daß dieses Wort damals schon seinen heutigen Klang gehabt hätte. Ihr Jahrhundert begann erst.

Marie zögerte, ob sie dem Wummern und Hämmern nachgehen sollte, das sie von jenseits des Tors hörte, bog aber dann doch in die Linienstraße ein, die der Koch ihr genannt hatte. Die Linienstraße, die auch heute noch parallel zur Torstraße deren leichtem Bogen folgt und am Oranienburger Tor beginnt, war damals eine Straße der Trödler und Kesselflicker, Hehler, Dirnen und Wucherer, die in kleinen, engen Wohnungen, in Hinterhäusern und Souterrains als Schlafburschen und Chambregarnisten hausten. Ruhr und Scharlach zogen epidemisch von einem der feuchten Keller in den nächsten und die schiefen Stiegen hinauf bis unter die Dächer. Marie, die doch die Tagelöhner kannte, die auf der Insel arbeiteten, waren Menschen wie die, in deren Gesichter sie jetzt sah, noch nie in ihrem Leben begegnet. Als ob es in der Stadt eine andere Art von Schmutz und Armut gäbe. Wie schon am Bahnhof erschreckte sie die Kälte, die aus den Augen herausschaute, und ihre Unsicherheit wuchs, während sie die Nummern Haus für Haus herabzählte, bis sie vor der richtigen Adresse stand.

Im offenen Tordurchgang warteten tiefe Schatten, und Marie mußte sich überwinden hineinzugehen. Mit langsamen Schritten tastete sie sich aus der trockenen Straßenhitze in die kühle Kellerluft vor, die nach feuchtem Putz roch und nach Kohl. Niemand, der ihr hätte Auskunft geben können. An der Wand der Durchfahrt entdeckte sie schließlich den Stillen Portier, einen Holzkasten, in dem hinter einer Glasscheibe die Namen aller Mieter aufgeführt waren, unterteilt in Vorderhaus, Seitenflügel und mehrere Quergebäude, etagenweise geordnet. Ganz oben las Marie seinen Namen.

Nun kam sie sich lächerlich vor. Was tat sie hier? Sie blinzelte zögernd in das kleine Himmelsquadrat, zu dem die hohen Wände mit den unzähligen Fenstern vom ersten Hof hinaufstiegen. Doch schließlich gab sie sich einen Ruck und ging durch all die Torbögen und Höfe, das Buckelpflaster uneben und schadhaft, bis sie im letzten eine Pumpe sah, davor eine alte Frau an ihrem Waschtrog, und an der Brandwand zum Nachbarhaus eine Reihe von Aborten, von deren angefressenen Holztüren die Farbe abblätterte. Die Tür zum IV. Quergebäude so niedrig und klein, daß Marie sie beinahe nicht entdeckt hätte, und als sie sie öffnete, drängte im selben Augenblick ein Sandjunge, auf der Schulter die leere Molle, heraus. Madamken, Madamken, murmelte die abgerissene Gestalt vorwurfsvoll und drückte sich an ihr vorbei.

Langsam stieg Marie die vielen Stufen in den vierten Stock hinauf. Nach all dem Fremden, das sie in der Stadt in so kurzer Zeit gesehen hatte, fühlte sie sich wie betäubt, und es schien ihr, als ob in dem unablässigen Wummern, das auch hier im Treppenhaus noch zu hören war, die Stadt selbst nicht aufhörte, sie zu verfolgen. Kein Ort zum Bleiben. Ihr Ziel nur mehr etwas, an dem sie festhielt. Als sie die letzte der ochsenblutrot gestrichenen Stufen hinauf war, rang sie einen Moment lang nach Atem, bevor sie klopfte.

Er sah einfach zu ihr herab und lächelte. Strich sich mit der breiten Hand über den rasierten Schädel und lächelte sie sichtlich erfreut an. Marie hatte, was sie erst in diesem Moment bemerkte, völlig vergessen gehabt, wie er aussah, seine gedrungene Gestalt mit den schweren Gliedern. Jetzt erinnerte sie sich wieder, daß sie ihn für einen Fischer gehalten und daß er auch auf der Insel dasselbe weitaufgeknöpfte Hemd über den Kniehosen getragen hatte, die Ärmel aufgekrempelt. Wortlos ging er den kleinen Flur vor ihr her und führte sie in die Küche. Verschwand gleich wieder im Flur. Und sie wartete, völlig ruhig mit einem Mal. Das Wummern, das auch hier hereindrang, störte sie nicht mehr. Marie hörte die Gläser im Schrank aneinanderklirren und meinte zu spüren, wie der Fußboden im Takt zitterte.

Dann war er wieder da, in der Hand ein braunes Samtkissen, daß er auf einen der beiden Stühle legte, den er unter dem Küchentisch hervorzog. Daß sie sich doch bitte setzen solle, war das erste, was er sagte, und sie tat es. Er lehnte an der graphitschwarzen Herdplatte, auf der ein großer Topf stand, in dem es leise simmerte, und betrachtete sie lange. Er freue sich sehr, daß sie gekommen sei. Ja, sagte sie.

Der gemauerte Herd mit gelbglasierten Kacheln in der Ecke des Raums, Feuerholz unter einem hölzernen Regal daneben, darauf ein Zinkeimer mit Wasser, auf dem Boden ein zweiter, über dem Herd an der Wand Töpfe und Pfannen, Kasserollen, Kellen, Schaumlöffel, Siebe und Kochlöffel. Auf einem Bord irdene Töpfe, Blechdosen, ein großer und ein kleiner Mörser aus grünlichem Stein, Holzbrettchen, Schüsseln aus Blech und ein Durchschlag, an Haken darunter Tassen an ihren Henkeln. Eine Wäscheleine über eine Ecke des Raumes gespannt. Vor dem offenen Fenster, an dem sie saß, Kräuter in kleinen Töpfen, deren Geruch hereinzog. Neben dem Küchentisch das Buffet, in dem die Gläser leise klirrten. Der Küchentisch selbst hatte eine Marmorplatte, über die sie jetzt mit der Hand strich. Die Kühle des Marmors fühlte sich schön an.

Er folgte amüsiert ihrem Blick. Er sei nur ein armer Chambregarnist, sagte er mit einem entschuldigenden Lächeln, ein möbliertes Schlafzimmer nach hinten hinaus und die Küche hier, das sei seine ganze Wohnung. Da sei sie in ihrem Schloß sicherlich anderes gewohnt.

Marie schüttelte den Kopf. »Ich bin so froh, Sie anzutreffen!«

»Und? Haben Sie Hunger?«

»Ja!« antwortete sie umstandslos.

Er lachte und drehte sich zum Herd um. Es dauere nur einen Moment, sagte er und rückte den großen Topf zurück auf die Flamme, holte Gläser aus dem Schrank, zog den Strohpfropfen aus einer Weinflasche, goß ihnen beiden ein, und sie tranken. Dabei erzählte er, als wäre es nichts Besonderes, daß sie jetzt hier bei ihm in der Küche saß, von einem Auftrag, den er heute habe, weshalb er später leider wegmüsse, auch noch einiges zu tun sei, obwohl er schon den ganzen Morgen gekocht habe und sie die Suppe gern probieren könne, die sei gleich fertig. Aber er habe etwas, um die Zeit zu überbrücken, sagte er, griff sich das Glas und trank es aus. Es sei zwar von gestern, aber was warm schmecke, sei auch kalt gut.

Marie erinnerte sich, daß er das auch auf der Insel gesagt hatte, während er einen großen Teller aus dem Schrank holte und vor ihr auf den Tisch stellte. Sie solle sich bitte bedienen, die Suppe komme gleich. Er schenkte sich nach, prostete ihr lächelnd zu, dann wandte er sich wieder an den Herd. Marie spürte, wie der Alkohol in ihren Körper sackte und Ruhe sich in ihr ausbreitete. Auf dem Teller lag ein halbes Dutzend Pasteten, kleine runde Törtchen, sie nahm eine mit den Fingern, besah sie erst von allen Seiten und biß dann hinein. Und tatsächlich, da war der Geschmack wieder, diese erdigen, wie feuchten Aromen.

»Oh, das ist wieder wunderbar! Ich liebe den Geschmack von Pilzen.«

»Ja, seltsame Dinger.«

Der Koch hatte inzwischen den Topf zur Seite gezogen und mit einem Schürhaken die Feueröffnung geschlossen, einen zweiten Topf und ein Sieb geholt und die Suppe passiert, war dann zu einem Gerät gegangen, das ganz in der Ecke auf dem Regal stand, hatte sich daran zu schaffen gemacht und schließlich die verkochten Gemüse aus dem Sieb hineingetan. Jetzt drehte er an einer Spindel, und bronzefarbener duftender Saft rann aus dem Gerät, während er sie ansah und nochmals sagte: »Seltsame Dinger. Irgendwie halb Tier und halb Pflanze.«

»Ach.«

Er erzählte vom Fleisch der Pilze und wie sie zusammenstünden im Wald, wie eine Herde, und Marie hörte ihm zu und achtete gar nicht mehr darauf, was er währenddessen tat. Schließlich aber schob er die Pastetchen zur Seite und setzte sich mit zwei Tellern zu ihr an den Tisch, holte Löffel aus der Lade, polierte den einen kurz mit einem Leintuch und gab ihn ihr. Er bat sie, noch einen Augenblick zu warten, bis das Brot weich geworden sei. Marie atmete den würzigen Gemüseduft ein. Lächelnd schüttelte er den Kopf über ihren seligen Gesichtsausdruck, nickte ihr aufmunternd zu, und sie nahm einen Löffel von der Suppe mit einem Stück des gerösteten Brots, das darin lag und dessen nussig-buttriger Geschmack sich wunderbar mit dem des Gemüses verband.

»Hmm. Was für Kräutlein sind denn darinnen?«

»Mohrrüben, Sellerie, Petersilienwurzel, Lauch, Zwiebel, etwas Rote Bete.«

Er sah ihr beim Essen zu, bis sie ihren Teller ganz leergelöffelt hatte, doch seine Blicke störten sie nicht, wenngleich sie sich nicht vorstellen konnte, was er da sah. Vom ersten Moment an, als sie ihm auf der Schloßwiese begegnet war, hatte sie das Gefühl gehabt, in diesem Blick sich ausruhen zu können, und wenn sie sich auch gleich gefragt hatte, ob sie dafür zu tadeln wäre, vermochte sie es nicht. Nicht einmal verhindern konnte sie, daß sie ihn immerzu anlächelte, auch, als der Teller leer war und sie den Löffel ableckte, obwohl sich das nicht gehörte.

Zufrieden und zugleich so, als hätte er einen Entschluß gefaßt, nickte der Koch, stand auf und nahm ein weißgescheuertes Brettchen vom Küchenbord, ein Messer aus der Lade, aus dem Schrank Zwiebeln und Möhren und begann beides zu schälen und kleinzuschneiden. Dann holte er aus dem Schrank, eingeschlagen in Papier, das an manchen Stellen durchblutet war, ein Stück Fleisch, wie Marie es noch nie gesehen hatte. Ochsenschwanz, erklärte er. Den müsse er eigentlich für seinen heutigen Auftraggeber zubereiten. Eigentlich? Er habe sich gerade überlegt, sagte er, wieder mit diesem triumphierenden Grinsen im Gesicht, daß er ihn lieber für sie braten wolle. Marie sah ihn ungläubig an. Sie verstehe nicht. Ach, sie verstehe ihn schon. Bevor sie etwas erwidern konnte, begann er das Fleisch sorgfältig zu parieren. Es werde allerdings seine Zeit dauern, sagte er, ohne dabei aufzusehen. Aber jetzt sei sie ja wohl erst einmal satt. Sie mußte lachen.

Und sah ihm zu, wie er zunächst Holz nachlegte und das Feuer anschürte, dann ein Fleischerbeil nahm und zwei Scheiben vom oberen, dickeren Ende des Ochsenschwanzes hackte, Butter in eine Pfanne tat und das Fleisch langsam von beiden Seiten anbriet, es in ein Kasserol hob, dem Bratensatz in der Pfanne die Zwiebeln und die Möhren zugab und anschwitzte, mit Rotwein aus der Flasche auf dem Tisch ablöschte, dann den Sud zum Fleisch gab und das Kasserol ein Stück vom Feuer nahm. Marie dachte an die langen Jahre, die sie jetzt schon allein verbracht hatte. Genoß es, wie all diese Verrichtungen die Zeit aufschoben. Das Zögern vor dem, was kommen mußte. Es gab keinen Grund zur Eile. Als alles getan war, setzte er sich zu ihr und sie sahen schweigend aus dem Fenster in das Stück Himmel hinaus. Sie tranken den Wein in kleinen Schlucken, und als die Flasche leer war, entkorkte er eine zweite.

Was das für ein Wummern draußen sei, fragte Marie irgendwann. Das ist Borsig, sagte er, den Blick im Himmel, und sie nickte, ohne zu verstehen, was er damit meinte.

Der Nachmittag verging, und dann hörte das Wummern auf, und Marie hörte das Schreien der Mauersegler wieder. Der Koch holte ein Schälchen mit Gänselebern und hackte sie klein, schnitt Weißbrot in Scheiben, weichte es in Wasser ein, drückte es aus, schlug Eier auf, vermischte das Brot mit dem Eigelb und der Leber, würzte mit Salz und Pfeffer, holte eine bauchige Flasche vom Regal und goß etwas daraus zu der Farce. Cognac, sagte er, und sie nickte wieder. Wie hatte sie nur denken können, es hätte kein anderes Leben gegeben für sie. Immer mal ging er an den Herd und sah nach dem Fleisch. Fragte sie nach der Insel, und sie erzählte von den Tieren. Ob er Palmen möge, wollte sie wissen, und er zuckte die Achseln. Dann lag einmal ihre Hand auf dem kühlen Marmor des Tisches, und er legte seine darüber. Dann nahm er sie, ganz vorsichtig, als wäre sie eine seiner Pastetchen, führte sie an den Mund und küßte sie. Marie genoß die Berührung.

Es ist schön, sagte sie irgendwann, und er nickte, ohne daß daraus etwas gefolgt wäre. Aus dem Kasserol stieg der Bratenduft. Er nahm eine Schüssel vom Regal und füllte süßen Rahm hinein, der in einem irdenen Kännchen im Schrank gestanden hatte, hielt die Schüssel in das kühle Wasser des Eimers und schlug den Rahm mit einem Schneebesen zu Sahne. Marie betrachtete seinen Rücken. Das Klappern des Schneebesens hörte auf, und er sah sie mit gespielter Erschöpfung an, als wollte er gelobt werden für seine Mühe. Lachend tat sie es, und er setzte sich wieder zu ihr, in der Hand nun ein Weidenkörbchen mit Biscuits, die er in zwei Schälchen bröselte und mit einer Flüssigkeit aus einer kleinen Flasche tränkte. Maraschino, sagte er diesmal, und wieder nickte sie dazu. Er bedeckte den Biscuit mit der Sahne, tat eine weitere Schicht des Gebäcks darauf, die er wiederum mit dem Likör tränkte, und fuhr damit fort, bis die Schälchen gefüllt waren.

»Ist gleich soweit.«

»Eilt aber nicht.«

»Nein?«

»Nein. Wir haben doch Zeit.«

»Ja. Wir haben Zeit.«

Zeit. Wir haben Zeit. Immer war es ihr vorgekommen, als stünde ihre Zeit offen in eine Vergangenheit hinein, die so vieles größer war als sie und die sie nicht zu beschreiben vermocht hätte. Das machte die Jahre, die vergingen, klein. So viel Zeit war nun schon vergangen, seit sie auf der Insel war, und fast nichts von dem, was in der Welt geschehen war, hatte sie gesehen. Wie verging einem Tier im Käfig seine Zeit? Oder hatten die Tiere, die ja nicht wußten, daß sie sterben mußten, gar keine? Marie beugte sich vor und strich dem Koch mit ihrer kleinen Hand über das Gesicht. Kleine, unruhige Augen hatte er. Wieder nahm er ihre Hand, doch diesmal küßte er, als wäre sie eine zierliche Schale, in ihre Handfläche hinein. So, sagte er dann, jetzt ist es soweit. Und sie klatschte in die Hände, in denen sie seinen Kuß noch spürte.

Er ging zum Herd und hob die Ochsenschwanzscheiben aus dem Topf auf ein Brett, entbeinte sie vorsichtig mit einem kleinen Messer und füllte die Farce in die Lücken. Den Sud schmeckte er mit Rotwein ab, nahm ein Sieb von der Wand, schüttete ihn hindurch und gab ihn in das Kasserol zurück. Schlug erneut Eier auf, verquirlte etwas von der Soße mit den Eigelben und rührte mit dem Schneebesen die Liaison langsam wieder in den Sud, legte das Fleisch dazu und einige Trockenpflaumen, schob das Kasserol noch einmal kurz aufs Feuer, dann konnten sie essen. Sie zerteilte das Fleisch, das wunderbar mürbe war, und nahm den ersten Bissen in den Mund.

»Und? Schmeckt es Ihnen?« fragte er fast im selben Moment.

Marie mußte kauend lachen darüber. »Ach, sehr! Wunderbar«, sagte sie, als sie wieder sprechen konnte. »Aber …«

»Aber?«

»Nenn’ mich Marie.«

»Marie.«

Sie konnte nicht anders, als wieder zu lachen, so ernst klang ihr Name aus seinem Mund. Und wie solle sie ihn nennen? Froelich, sagte er, einfach Froelich. Froelich, wiederholte sie, dann aßen sie weiter. Und wieder beobachtete er sie bei jedem Bissen, und sie sah, wie sehr es ihm gefiel, daß es ihr schmeckte. Und tatsächlich war das Fleisch weich und saftig, und der Rotwein und die Pflaumen ließen es dunkel schmecken und sehr intensiv.

Kaum hatte sie ihr Besteck mit einem glücklichen Seufzen zur Seite gelegt, stand er auf und kniete sich vor ihr auf den Boden, was sie so überraschte, daß sie wieder lachen mußte. Doch als er eine Hand an ihr Gesicht legte, wurde sie ernst. Er drängte zwischen ihre Beine, und dann war sein Gesicht ganz dicht vor ihrem Gesicht, und sie schloß die Augen und wartete, daß er sie küsse. Und dann küßte er sie tatsächlich, und sein Kuß war weich und zärtlich, und sie spürte, wie das Glück in sie hineinrann, und wollte ihm entgegenkommen. Doch ihr Mund blieb starr. Sie begriff nicht, was geschah, spürte seine Lippen, nichts anderes hatte sie sich ersehnt, doch alles war wie taub, und sie vermochte nichts anderes, als nur zu erdulden, wie er sie weiterküßte, und die Verzweiflung darüber und die Angst, daß er es merken würde, begannen das Glücksgefühl in ihr zu löschen, und das fühlte sich furchtbarerweise so an, als könnte es gar nicht anders sein. Hilflos griff sie mit ihren kleinen Händen in seinen Nacken, wollte ihn an sich ziehen, über jene Kluft hinweg, von der sie nicht begriff, weshalb sie sich auftat, und spürte wohl seine warme Haut, doch ihre Hände rutschten an ihm ab, als vermöchten sie nichts mehr, niemals mehr etwas zu halten, und fielen ihr mutlos in den eigenen Schoß.

Quälend lange bemühte er sich um sie, was sie nun nur noch ertrug. Darauf wartend, daß es vorbei sein würde. Und es würde vorbei sein. Und dann war es soweit. Vor Scham gelang es ihr nicht, die Augen zu öffnen. Sie spürte, wie er aufstand, und hörte ihn hantieren, und erst, als er sich wieder an den Tisch setzte, konnte sie ihn ansehen, waidwund wie ein Tier. Er stellte die Glasschälchen vor sie beide hin, nahm kleine Löffel aus der Lade. Nichts Besonderes, sagte er mit traurigem Blick. Als er die Schälchen auf den Tisch gestellt hatte, war das Porzellan hart auf dem Marmor geschlagen. Bagatellen, sagte er.

»Bagatellen?« fragte sie tonlos.

»Ja, so heißt das. Bagatellen.«

Nickend beugte sie sich über ihr Schälchen, damit er nicht sähe, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Die Süße von Sahne und Likör füllte ihren Mund schmeichelnd und üppig aus. Sie ertrug es nicht. Ohne etwas zu sagen, ohne aber auch das Weinen länger unterdrücken zu können, rutschte sie von dem Kissen und von ihrem Stuhl herunter und lief aus der Küche hinaus in den Flur, wollte erst zur Wohnungstür, überlegte es sich dann aber schluchzend anders und stieß die Tür zum anderen Zimmer auf.

Sie hatte nicht bemerkt, daß es längst Abend geworden war. Und so überraschte sie der rote Feuerschein, der durchs Fenster hereinfiel und über Wände und Decken des winzigen, karg möblierten Raums flackerte, aus dessen Ecken das Dunkel kroch, unter dem schmalen Bett und hinter dem Schrank hervor, als ob draußen schon finsterste Nacht wäre. Eine Nacht, in der große Feuer brannten, ja die Stadt selbst. Unwiderstehlich angezogen von dem roten Licht, ging sie schluchzend zum Fenster, und da es zu hoch war, als daß sie hätte hinaussehen können, stieg sie auf das Bett, dessen Kopfende unter dem Fensterbrett stand. Der Anblick, der sich ihr da bot, nahm ihr den Atem. Feuerland, dachte sie, das war Feuerland. Und konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten und mußte weinen wie ein kleines Kind.

Es öffnete der Blick sich weit über die Akzisemauer hinweg ins Land. Rechts die Anhöhe des Prenzlauer Bergs lag tatsächlich schon im Dunkeln, aber direkt vor sich sah Marie mächtige Ziegelhallen und hohe Schornsteine, dicht hintereinander gestaffelt, und durch all die Fensterfronten und offenen Tore leuchtete es so feuerrot hervor, daß der Rauch, der über allem lag und in den Nachthimmel stieg, davon glühte. Und dieser ganz fremdartige Anblick machte sie unendlich traurig, denn nun erst begriff sie: Die Welt war längst eine andere geworden, längst nicht mehr die ihre, und so gab es für sie auch keinen Weg mehr in ein anderes Leben hinein. Ihres war zu Ende. Sie mußte an Christian denken und wie er tot am Boden des Palmenhauses gelegen und wie tot sie selbst sich gefühlt hatte, als man ihr das Kind wegnahm. Da war sie gestorben. So lange es auch noch dauerte.

Und Marie starrte weinend in die rote Glut dort unten, rot wie das Rubinglas, das sie so furchtbar lange schon mit sich trug, und wußte, bald schon würde die Stadt dort unten nach ihrer Insel greifen, bald schon. Und alles, was sie kannte, würde verbrennen. Und die Süßigkeit der Sahne und des Likörs noch im Mund, wußte sie, sie mußte zurück auf ihre Insel, so schwer es ihr auch fiel. Sah nicht, daß die Tränen auf ihren Wangen rot glitzerten im Widerschein der Feuer.

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