Zweites Kapitel. Ein rotes Glas

Wir sagen: Die Zeit vergeht. Dabei sind wir es, die verschwinden. Und sie? Ist vielleicht nur so etwas wie eine Temperatur der Dinge, eine Färbung, die alles durchdringt, ein Schleier, der alles bedeckt, alles, von dem man sagt, daß es einmal war. Und in Wirklichkeit ist alles noch da, und auch wir sind alle noch da, nur nicht im Jetzt, sondern zugedeckt von ihr, der Zeit, im Setzkasten der Ewigkeit. Denn zwar stirbt alles, doch es bleibt etwas dort, wo etwas war. Zunächst sind es die Orte, die länger bleiben als wir. Was tut die Zeit mit ihnen?

Niemand, der die Flossenschläge des Inselfisches in der Havel gehört hätte. Dann aber Klingen und Abschläge aus Feuerstein, Überbleibsel mesolithischer Jäger, die hier rasten, zum ersten Mal der Geruch von Feuer. Jemand, der die Erde aufreißt, mit Händen und Hacke, eilig, schon zur Flucht gewendet, und bronzene Ringe und Armspiralen in einem groben Topf aus Ton vergräbt, kaum einen halben Meter tief im Boden. In der Bronzezeit dann erstmals ein Netz von Siedlungen im ganzen Berliner Raum, Scherben und weitere Bronzeringe, ein Ringopfer, wie überall in Norddeutschland von den Germanen praktiziert, dann wieder Stille. Tausend Jahre Stille. Dann die kärglichen Reste einer Siedlung der Heveller. Immer ist es das Feuer, das sich in die Erde gräbt und in ihr seine Zeichen hinterläßt, feindlich den Pflanzen, die es erst verdorrt und dann verzehrt.

Marie stand auf der Schloßwiese und drehte sich im Kreis, immer schneller und immer schneller, und trommelte mit ihren neuen Stiefelchen dabei immer heftiger auf den gefrorenen Boden, bis ihr die kalte Winterluft in der Nase stach. Ihr wurde schwindelig. Sie ließ die Arme herabsinken, wurde langsamer, blieb, außer Atem, stehen. Peitschenkreisel, Triesel, Tanzknopfmarie, dachte sie. Vor einigen Tagen hatte sie zum ersten Mal geblutet und war weinend zur Tante gelaufen. Doch alles war gut. Sie horchte auf die Rufe der Pfauen, die ganz so klangen wie kleine Kinder.

Der König schloß die Augen und lehnte die Stirn an die kalte Scheibe. In allem das Gegenteil seines Vaters, schmal und groß, die Augen klein und wäßrig, helle Wimpern, die man kaum sah, schienen die dünnen Haare an seinem langen Schädel zu kleben, der Mund zu karpfenhaftem Schweigen geschürzt. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er nach dem Tod des Vaters im Winter 1797 hier, an diesem Fenster des gerade fertiggestellten Schlößchens, gestanden und auf den Park hinabgesehen hatte. Fast anderthalb Jahrzehnte war das jetzt her, er war noch keine dreißig gewesen, und für einen Moment hatte er damals tatsächlich geglaubt, die Geisterstimme Alexanders zu hören, seines Bruders, des toten Bastards, den sein Vater mit der Konkubine gehabt hatte, die er der Mutter vorzog.

Der Vater hatte die verwilderte Insel als junger Mann entdeckt und sich mit der zu Beginn erst dreizehnjährigen Wilhelmine Encke, Tochter eines Hornisten im Königlichen Orchester, oft hierher übersetzen lassen. Kaum war er König, ließ er die Pfaueninsel dem Waisenhaus abkaufen, dem sie gehörte, und veranstaltete romantische Feste auf ihr. Mit Gondeln ruderte man herüber, orientalische Zelte, kostbare Geschenke des Sultans, wurden ausgespannt, es gab Musik und Tanz, und erst mit der untergehenden Sonne kehrte man ins Marmorpalais nach Potsdam zurück. Wilhelmine war fünfzehn, als sie das erste Mal Mutter wurde. Es heißt, sie sei hier sehr glücklich gewesen. Eine Scheinheirat machte sie erst zu Madame Ritz und der König sie schließlich zur Gräfin Lichtenau. Kaum war das Schloß fertig, das er ihr hier bauen ließ, starb er.

Die Frau von der Insel zu jagen, die in den Stunden seines Todes beim Vater gewesen war und mit einem Tuch die Ströme des Blutes aufgefangen hatte, das er kotzte bis zuletzt, war beinahe das erste, was Friedrich Wilhelm III. tat, als er seinerseits König geworden war. Er ließ ihr den Prozeß machen und ihr Vermögen konfiszieren, und es sollte zehn Jahre dauern, bis Napoleon die schöne Wilhelmine, wie die Berliner sie nannten, rehabilitierte. Sie heiratete dann noch einmal, den viel jüngeren Theaterdichter Franz Ignaz Holbein von Holbeinsberg, doch die Ehe hielt nicht lange, die Gräfin blieb allein, starb 1820 und wurde in einer Gruft in der Hedwigskirche beigesetzt, ganz in der Nähe ihres Wohnhauses. 1943 räumte man die Gruft leer, um sie als Luftschutzkeller zu nutzen, und bettete ihre Überreste in einem schlichten Sarg auf den Hedwigskirchhof um. 1961 wurde sie dort wiederum exhumiert, weil ihr Grab nun im Todesstreifen der Mauer lag. Damit verliert sich die Spur ihres Körpers.

Der aber, der sie von der Insel vertrieben hatte, kehrte nur selten dorthin zurück. Meist, wie auch heute, am Todestag seiner Frau. Als er hörte, wie man die Flügeltüren des Saals öffnete und jemanden hereinließ, straffte er sich und blinzelte auf die neblige Havel hinunter. Der Hofgärtner Fintelmann hatte ihn bei seiner Ankunft darauf hingewiesen, eine Zwergin, die er selbst vor Jahren als königlichen Pflegling hierhergesetzt habe, bekleide nun formal das Amt eines Schloßfräuleins, und er hatte sich tatsächlich an das Kind erinnert, das ihm seinerzeit vorgeführt worden war, der Vater wohl im Felde gefallen, und befohlen, es solle ihm Gesellschaft leisten. Schritte trippelten über das Parkett heran, er drehte sich um, und Marie fiel in einen tadellosen Hofknicks. Der König nickte ihr zu, setzte sich in einen Sessel, den man ihm an eines der großen Fenster gerückt hatte, und starrte, ohne noch ein Wort an sie zu richten, hinaus in den Nebel.

Ein Ritual, das sich von nun an jedes Jahr wiederholen sollte. Außer, daß er ihr in seiner abgehackten Diktion, über die man sich allenthalben lustig machte, weil sie keine vollständigen Sätze kannte, kaum Verben und beinahe niemals ein Ich, hin und wieder eine Frage über die Insel stellte, wußte er nichts mit ihr anzufangen bei dem erstarrten Brüten, in das er in diesem Schloß unweigerlich verfiel. Nur, daß er sie gern im Blick hatte.

Er war schnell mit sich selbst dahingehend übereingekommen, bei seinen Besuchen hier auf der Insel handle es sich um seine Art der Trauer um Luise, die er so sehr geliebt hatte. Aber tatsächlich war es eher ein Warten. So, wie die Zwergin vor ihm neben dem Fenster stand und wartete, daß er etwas von ihr wolle, so wartete er selbst, und deshalb wohl auch mochte er, auf seine Weise, die kleine Person, von der er nichts wußte und auch nichts wissen wollte. Selbst den Gedanken, daß sie kleinwüchsig war, machte er sich nicht. Nur gelegentlich, wenn er sich an etwas erinnerte, was er nicht vergessen konnte, erzählte er Marie von seiner Königin.

»Zuletzt«, begann er etwa einmal, das war im zweiten Sommer nach ihrem Tod, »hatte meine Frau einen höchst seltsamen Traum. Glaubte mit mir auf einer angenehmen Wiese zu spazieren. Dann sich am Ufer eines Flusses zu befinden. Dann Friedrich II. in einem kleinen Boot zu bemerken. Auf sie zugesteuert gekommen und sie freundlich gewinkt. Aber totenbleich gewesen. Als sie darauf in den Nachen gestiegen, dieser so schnell vom Ufer abgestoßen, daß ich nicht mehr hinein hätte können. Habe mich immerzu gewunken, ihr nach zu kommen. Sei aber nicht möglich gewesen. Habe mir ihr Lebewohl gewinkt. Ihr sei immer leichter und wohler geworden, und endlich sei sie mit dem Nachen untergegangen.«

Marie sagte nichts.

»Meine Frau nichts weniger als abergläubisch. Und ließ doch zum Scherz sich Träume deuten. Des andern Morgens also zur Gräfin Tauentzien, weil diese die Reputation hatte, allerlei Mystisches auszulegen. Da nun aber dieser Traum nichts Gutes und jener dies wohl anzumerken war, fiel meine Frau gleich ihr in die Rede. Still, still, wenn es was Übles ist.«

Der König nickte, und so ihre Einlassung noch nachträglich gutheißend schwieg er wieder, als gälte ihre Aufforderung über das Grab hinweg nun ihm selbst. Was es wohl war, was er verschwieg? Ob er es selbst wußte? Zumeist saß er einfach da, und sein Blick glitt, ohne sich festzuhaken, über Marie hinweg nach draußen, während die Parkettböden des Schlößchens unter den Schritten derer knarrten, die vor der Tür unruhig antichambrierten und darauf warteten, daß ihr Herr endlich zurückfinde in die Wirklichkeit. Doch es war, als säße der König blind und taub im Parkettknarren seiner Diener und vergäße alles um sich her, und Marie, die Hände vor der Schnürung ihres Kleides gefaltet, stand geduldig bei ihm an der glänzenden Holztäfelung neben dem hohen Fenster.

Niemand hatte sie jemals auf diese Weise betrachtet. Der König sah sie an, ohne daß sein Blick irgend etwas an ihr zu finden schien, und als sie das bemerkte, spürte sie im selben Augenblick, wie sehr sie es genoß. Als könnte sie sich unter dem völlig gleichgültigen Blick selbst vergessen. Irgendwann wagte sie es, die Augen zu schließen, um diesem Gefühl nachzuspüren, dem Honigfluß dieses seltsamen Triumphes, der wohl darin bestand, dem König zu gehören. Der Rücken tat ihr weh, und ihre Füße, eingeschnürt in den ungewohnten Seidenschühchen, begannen erst zu kribbeln und dann zu pulsieren vor Schmerz, doch auch der Schmerz ließ sie triumphieren. Und obwohl ja nichts Unsittliches darin lag, flatterten ihr doch die Augenlider vor Erregung. Wie ein Tierchen war sie. Nein, wie etwas noch viel Geduldigeres. Noch viel Nachgiebigeres. Noch viel Stummeres. Stand mit zitternden Lidern vor dem König und spürte lächelnd auf der eigenen Haut, wie sein Vergessen sie zu einem Ding werden ließ.

Als sie sich das mit Herzklopfen zum ersten Mal eingestand, mußte sie einen Moment ihre Schenkel gegeneinanderdrücken, um die Spannung zu verringern. Sie war ein Ding. Ein Ding, das man benutzte, selbst dann, wenn man es vergaß. Denn auch dann war es da. Sie gehörte ihrem König wie die Insel, auf der sie waren, und die ebenso stumm blieb wie sie, was auch immer geschah. Und die immer da war. Hierher, wußte Marie, gehörte sie. Hier konnte ihr nichts geschehen. Hier war sie schön. Ich bin kein Monster, dachte sie. Und spürte, wie das Vergessenwerden ihr Fleisch mit seinem sehnenden, lustvollen Schmerz mazerierte. Sie triumphierte unter ihren geschlossenen, wenn auch zitternden Lidern, und ein Lächeln zuckte um ihre Lippen. Sie zwang sich, ganz flach zu atmen, und stand still, ganz still.

Der Schnee wollte lange nicht schmelzen im fahlen Licht des kalten Frühjahrs, das auf den Winter 1812 folgte, doch als das struppige Pferd seine Hufe zögerlich auf das Eis des Ufersaums setzte, zerbrach es mit lautem Krachen. Marie blieb überrascht stehen, im Arm das Bündel Reisig, das zu holen Fintelmann ihr und ihrem Bruder aufgetragen hatte. Christian war in diesem Moment viel zu weit weg, als daß er hören konnte, was sie hörte, und dennoch sah sie sich aufgeregt nach ihm um, während das Pferd durch das nun aufspritzende Wasser auf sie zustampfte.

Soldaten! War es nur einer, oder waren es mehrere? Marie rührte sich nicht, sie war ja so klein, vielleicht übersah man sie. Ein Kind, was sollte man auch damit? Verstohlen musterte sie die Uniform dessen, der da auf sie zukam. Wenn sie auch hier auf der Insel weit weg vom Krieg lebten, kannte sie doch wie alle die Uniformen der Franzosen, aber eine solche Aufmachung hatte Marie noch nie gesehen: eine schwarze Schafsfellmütze und ein weiter brauner Filzmantel, dessen Schöße über das Hinterteil des wirklich sehr struppigen Pferdes bis fast auf den Boden fielen. An den Kragenstücken weiße Litzen, orientalische Hosen, an der Taille von einem Gürtel gerafft, dazu schwarze Stiefel.

In diesem Winter sprach man auch auf der Pfaueninsel viel von den nicht enden wollenden Zügen der verwundeten und mit Erfrierungen bedeckten französischen Soldaten der Grande Armée, die auf ihrem Rückzug aus Rußland durch Berlin kamen, in Lumpen gewickelt, die Kürassiere ohne Pferde, ihre Sättel auf den Rücken, ohne Gewehre die Infanterie. Und von den Russen flüsterte man hinter vorgehaltener Hand, sie folgten ihnen bereits auf dem Fuße. Das, schoß es Marie durch den Kopf, mußte einer der Kosaken des Generals Tschernitschew sein, der die Oder überquert haben sollte. Oder einer der Kalmücken aus der asiatischen Steppe, von deren Grausamkeiten die Franzosen nur das Allerfürchterlichste berichtet hatten.

Bevor der Hof nach Breslau geflohen war, hatte Kronprinz Wilhelm seinem Freund Gustav noch ein Billett geschrieben: Im nächsten Sommer werde er zurück sein auf der Pfaueninsel. Dann die unerhörte Kapitulation Yorks. Die lange erhoffte Proklamation des Königs. Lützows wilde, verwegene Jagd. Auch die Hofgärtner schickten ihre Söhne in den Krieg. Ein Sello und ein Schulte waren gefallen. Von einem Fintelmann hieß es, er überbringe, als Bauer verkleidet, der mit Rosenwildlingen handele, geheime Depeschen ins Hauptquartier. Marie bezwang ihre Angst und schaute geradewegs in das breite Gesicht mit den gewaltigen Wangenknochen und sehr kleinen blinzelnden Augen.

Das Pferd stand jetzt still und dampfte im harten Licht. Von seinem nassen Fell tropfte an den Flanken und vor allem an dem sich schwer auswölbenden Bauch das Havelwasser hinab. Marie sah Handschuhe aus weißem Leder, zwei gekreuzte Pistolen im Koppel, an der Seite einen Säbel, in der Ellbeuge eine Lanze, der Schaft rot bemalt, mit einer Eisenspitze, die vor ihrem Gesicht auf und ab tanzte. Sie verstand nicht, was der Soldat sagte. Ließ vor Schreck das Holz fallen. Der Soldat lachte. Die Lanze tanzte. Und sie fiel in das Lachen ein, bis es verstummte. Der Soldat musterte sie nachdenklich. Dann deutete er lächelnd eine Verbeugung an und verschwand im Unterholz des Ufers. Marie hörte, wie die Hufe das Eis mit jedem Schritt zerstampften, nur allmählich wurde es leiser, dieses Krachen und das Prusten des Pferdes.

Marie tippte mit dem Zeigefinger ganz sanft gegen das Glas, und es begann sich mit klingelndem Scharren um eine imaginäre Achse zu drehen. Das rote Leuchten, dunkel und warm darin gefangen, warf zitternde Splitter um sich her auf das weißgestrichene Fensterbrett und das rauhe Steinzeug der Blumentöpfe. Dann lag das Glas wieder still. Ein altes Weinglas, das keinen Stiel mehr hatte und aus dessen gewölbtem Rand ein Stück ausgebrochen war wie ein zackiges Blatt und das so mehr einem Blütenkelch glich als einem Gefäß, dort im Fenster vor dem Sekretär des Onkels, zwischen den Töpfen mit den Pelargonien. Gustav hatte es entdeckt und auf einen Moment gewartet, an dem niemand zu Hause war außer ihnen beiden, um es Marie zu zeigen. Er hatte sie vor den Kelch geführt, dessen tiefdunkelrotes Glas das helle Sonnenlicht aufleuchten ließ, und Marie war sofort wie verzaubert. Die Pelargonien verbreiteten ihren Geruch nach Zitrone.

»Ist von Kunckel«, flüsterte Gustav.

Marie spürte die Aufgeregtheit und den Schauder in seiner Stimme. Großvater Fintelmann, der über Jahrzehnte den Obst- und Gemüsegarten des Schlosses Charlottenburg betreut hatte, nach seiner Pensionierung auf die Insel gekommen und schon im nächsten Jahr an Entkräftung gestorben war, hatte ihnen immer wieder die Geschichten vom Alchimisten und Goldmacher Johann Kunckel erzählt, der einst hier gelebt hatte. Das papierne Gesicht im Lehnstuhl mit der spitzen großen Nase, die Augen gelb. Kunckel war Marie egal, aber von dem roten Glas konnte sie den Blick nicht lassen, nicht genug bekommen von dem Feuer darin, wieder und immer wieder stieß sie den Kelch vorsichtig mit ihrem Zeigefinger an, ganz leicht nur, und immer wieder vollführte er seine Drehung um den imaginären Zirkelpunkt. Kippelte dann, mit winzigem Zittern, über unsichtbaren Unebenheiten des hölzernen Fensterbrettes und erstarrte schließlich laut- und bewegungslos.

Seine Härte, mit beinahe nichts zu ritzen, mit kaum etwas zu ätzen, macht Glas so fremd. Etwas, das sich nicht verbinden will und nicht vergeht. Und das in seiner Härte zu beinahe nichts zu gebrauchen ist. Behutsam greifen wir nach den Gläsern mit Wein, sorgsam schließen wir die Fenster, in achtsamem Abstand stehen wir vor den Spiegeln, die zu berühren wir vermeiden. Wir spüren in seiner Härte und in seiner Zerbrechlichkeit, daß es nicht vorgesehen ist in unserer Welt. Es braucht Vulkane, deren Lava es als Obsidian auf die Erde wirft, Meteoriten, deren Gestein in der Hitze des Aufpralls zu glasigen Tektiten zerschmilzt, Gewitter über den Wüsten, deren Blitzeinschläge im Sand als glänzend splittrige Fulgurite sichtbar bleiben. Marie stieß das Glas an. Es rollte und erstarrte erneut.

»Der Onkel sagt, die Sansculotten in Paris haben nach der Revolution die roten Scheiben aus den Kirchenfenstern gerissen.«

Mühsam machte Marie sich von dem Glas los und sah zu Gustav hinauf. Obwohl drei Jahre jünger, war der Neffe des Hofgärtners, gerade zwölf geworden, längst größer als sie.

»Weshalb?«

»Na, des Goldes wegen! Es braucht Gold, um rotes Glas zu machen.«

»Gold«, wiederholte Marie.

Sie stieß das Glas an, damit es sich drehe. Spürte dabei, wie Gustav sie betrachtete. Wenn doch Christian endlich käme. Sie hatte im Eßzimmer auf ihren Bruder gewartet, den sie kaum noch sah, seit er nicht mehr in ihrer gemeinsamen Dachkammer schlief, die eher ein Verschlag war, die rohen Latten weiß gestrichen, und in dem nur ein Bett für sie beide Platz gefunden hatte, als sie damals auf die Insel gekommen waren, ein ausrangiertes Kinderbett, direkt unter dem winzigen Fenster, das auf den Park ging.

Marie fragte ihn nicht, wo er jetzt seine Nächte verbrachte, er kam und ging, wie er wollte, zerstoßen und schmutzig, dazu mit einem Geruch nach Wald, den sie sehr mochte. Mein Bruder ist ein Faun, dachte sie. Oft, wenn sie nicht einschlafen konnte, spähte sie in den Park hinaus, ob er vielleicht komme, um sie zu holen. Und jetzt kam er, und Gustav sah zu, wie er seine Schwester, ohne sich lange mit ihm abzugeben, lachend hinausbugsierte in den strahlenden Sommertag. Dann war es wieder ganz still im Haus, und das Glas lag erstarrt auf der Fensterbank.

Vorsichtig folgte Gustav mit dem Finger der zarten Wölbung der Pelargonienblätter in den Blumentöpfen des Onkels, den feinen Blattadern, dem Schwung der Stengel, und bildete sich ein, eine Bewegung darin zu spüren. Doch dann ließ er von den Topfpflanzen ab und lief auch hinaus in die Sonne, denn ohne Marie mochte er nicht sein.

Von dem, was nach dem Krieg im Land an Veränderungen angestoßen wurde, nahm man auf der Insel nur wenig Notiz, von all den Reformen, dem Ende der Leibeigenschaft, dem Bau der Chausseen, der Gründung der Berliner Universität, an der Wilhelm von Humboldt im politisch machtlosen Preußen eine intellektuelle Macht versammelte mit Schleiermacher, Fichte und Savigny, mit Wolf, Klaproth, Niebuhr und Thaer. Daß Friedrich von Maltzahn, als er Gartenintendant wurde, die Intendantur ans Hofmarschallamt band, wodurch die Kasse, an die Ferdinand Fintelmann sich zu wenden hatte, von Sanssouci nach Berlin kam, mag bei Tisch Gesprächsstoff geboten haben. Daß der erste preußische Blitzableiter am Schloß der Pfaueninsel montiert wurde, haben Marie und Gustav selbst gesehen, auch die Einrichtung der ersten Fährverbindung erlebt, denn nun kamen Maultiere aus Sanssouci auf die Insel, Fasane, Herden von Schafen und Ziegen.

Doch wenn es Sommer wurde und Mahlke, der Hauslehrer, der aus Dogelin im Lebuser Land stammte, zu seiner Familie fuhr, und sie für ein paar Wochen kein Französisch lernen mußten, keine Mathematik und keine Psalmen, verschwand all das unter dem völlig gleichgültigen blauen Himmel jener stabilen Hochdruckgebiete, die sich im Juli und August so häufig über Schlesien bilden.

Und ganz langsam, aber Tag für Tag ein wenig mehr, blichen in diesem Sommerlicht die Erwachsenen aus, wurden durchsichtig und lösten sich schließlich ganz auf, so daß Marie sich am Abend anstrengen mußte, wenn sie wieder mit ihnen am Tisch saß, nicht durch sie hindurchzusehen und nicht zu überhören, was man zu ihr sagte, wenn es auch ganz gleichgültig war. Denn alle die Inselbewohner verschwanden in diesen Sommern nach dem Krieg, Gustav, Marie und Christian schüttelten sie einfach lachend ab, vor dem Kastellanshaus oder auf der Wiese am Schloß, bevor sie zu dritt hineintauchten in den Wald.

Da gab es das Ufer im Nordwesten, das sie in der Nähe der Küche und des Gartens entlangstreiften hinauf bis zum Parschenkessel. Da gab es auf der anderen Seite, nördlich der Anlegestelle, den lichten Wald aus uralten Eichen um die Hügelkuppe der Insel, und es gab manche Lichtung, auf der sie die Feste der Gräfin Lichtenau nachspielten, Marie nun tatsächlich ein Fräulein bei Hofe, im Reifrock und gepudert, und Gustav der König. Und wenn es dämmerte, fürchteten sie sich vor dem toten Sohn der Gräfin, der, wie es hieß, auf der Insel spuke. Sie kannten Wege durch das Schilf in der Nähe der Meierei, ganz im Nordwesten der Insel, wo der Blick über die Havel in Richtung Berlin geht. Dort malten sie sich die große Stadt aus, in der keiner der drei je gewesen war, mit ihren Avenuen und Plätzen, dem Schloß und den Linden, und dann dösten sie schweigend lange Arm in Arm in der Mittagshitze.

Unsere Erinnerung mißt die Kindheit nicht nach Jahren, und so wissen wir später, als Erwachsene, nie zu sagen, wann sie denn geendet hat. Unmerklich geschieht es. Bei den dreien war es so, daß nach und nach eine Unsicherheit zwischen ihnen Einzug hielt, die damit zusammenhing, daß Gustav und die Geschwister zunehmend in verschiedenen Dimensionen zu leben begannen. Es war, als paßte er immer weniger in die Welt hinein, die für Marie und Christian nicht zu vergehen schien. Er wuchs und sie taten es nicht, so einfach war das. Und in einem jener langen Sommer hockte er dann, während die Geschwister sich eng aneinanderschmiegten in einen der Orte ihrer kindlichen Phantasie, so lange allein vor ihnen auf dem Waldboden, bis er sich endlich entmutigt davonmachte. Wobei es nicht etwa so war, als ob sie ihren Freund absichtlich ausschlössen, aber immer öfter lehnten sie doch wieder nur zu zweit, außer Atem vom Laufen, an einem vermoosten Baumstamm, lachten wie über ein gewonnenes Spiel und spürten, ohne zu wissen, woran das liegen mochte, daß sie froh waren, allein zu sein.

»Für mich bist du schön«, flüsterte Christian, nahm Maries Arme an den Handgelenken und bog sie über ihren Kopf.

Und sie ließ sie liegen, wo er sie hinhaben wollte. Auf den Resten des längst verrotteten Grassodendachs ihres alten Unterschlupfs am Parschenkessel lagen sie weich. Sie konnte nicht genug davon bekommen, wie er sie ansah. Ein wenig fühlte das sich an wie der Blick des Königs und war doch intensiver, schneidender. Es war noch nicht lange her, da hatte sich seine rechte Hand das erste Mal unter ihre Röcke gewühlt. Ihr Leben lang würde sie sich daran erinnern, wie sie die Augen geschlossen und ihr ganzer kleiner Körper zu summen begonnen hatte, wie ihre Angst verschwunden und wie zum ersten Mal in ihrem Leben dann plötzlich um seine Hand zwischen ihren Schenkeln alles naß und zitternd und dankbar war.

Christian lag neben ihr, den Kopf auf einen Arm gestützt, und betrachtete sie so, wie er sie sich hingelegt hatte. Es war Mittag und drückend heiß, und sie waren beide nackt hier in ihrem Versteck. Wie der Schweiß auf seiner braungebrannten Haut glänzte. Sie sah seine muskulösen Arme und seine kurzen krummen Beine, noch im Liegen wie zum Sprung gespannt, riesig das Mannesglied an dem kleinen Körper. Ob das bei normalen Männern ebenso war? Und bei Gustav? Die Frage entstand und verschwand. Sie sah, wie er es mit der freien Hand zu reiben begann und wie es noch größer wurde dabei, während sein Blick über ihren Körper tastete. Sie schloß die Augen und spürte, wie wohl es ihr tat, die Arme so von sich zu strecken, die Beine auseinanderfallen zu lassen, hinein in den leichten Windhauch, der vom See her über sie hinstrich. Sie stellte sich ihre Brüste vor, die in der Hitze weich waren und ein wenig zur Seite fielen. Ihren Nabel, wie er sich im langsamen Atmen hob und senkte. Seine Hand, die sein Glied rieb, und wie es immer weiter wuchs, während er sie betrachtete.

Maries Körper begann wieder zu summen, und sie spürte, daß sie ein Ding war, das er ansah. Ganz so, wie wenn der König sie betrachtete. War ein Ding wie alle anderen in seiner Welt und meinte tatsächlich zu spüren, wie sie ihm, wie alle Dinge, eine Seite zeigte, die sie selbst nicht kannte. Die nur er sah.

Christian hockte sich auf ihre Brust, seine Schenkel an ihre Seiten gepreßt, als ritte er ein kleines Tier. Es gab keinen Grund, die Augen zu öffnen, wohl aber die Lippen, zwischen die jetzt die feuchte Spitze seines Gliedes drängte. Sie nahm so viel, wie sie konnte, davon in den Mund. Er bewegte sich vor und zurück, erst langsam, dann schneller. Sie hob den Kopf ein wenig und folgte achtsam seinen Bewegungen. Nach einer Weile schluckte sie, er verharrte einen Moment in ihr, dann stieg er wieder von ihr herunter. Sie schloß die Lippen und überlegte, ob sie wohl lächelte. Spürte die Lider über ihren geschlossenen Augen. Dann schlief sie in der Hitze ein.

Es war sehr heiß, Juli oder August, da entdeckte Gustav die Geschwister einmal an einer ihrer Lieblingsstellen auf der Westseite der Insel. Verborgen vom hohen Ufersaum saßen sie dort am Wasser, nur ein Schleichweg durch das Gestrüpp führte herab. Dicht am Ufer die mächtige alte Grauweide beschirmte sie mit ihren weit ins Wasser hängenden Zweigen. Beide lächelten ihm zu, als sie ihn herankommen sahen, machten jedoch keine Anstalten, ihre Umarmung in der Kuhle des Wurzelwerks der Weide zu lösen, die einer bequemen Achselhöhle glich, in der auch Gustav früher oft gelegen hatte. Doch da war kein Platz mehr für ihn, und so stand er eine Weile unsicher lächelnd vor den beiden, die sich ausgezogen und ihre Kleider auf einen kleinen Haufen gelegt hatten, als Marie plötzlich eine ruckartige Bewegung machte, deren Ursache er gar nicht begriff, und dann, seltsamerweise von der Umarmung ihres Bruders nicht gehalten, aus der Wurzelkuhle heraus- und hinabrutschte ins Wasser, das hier, wegen der steilen Uferböschung, sofort einigermaßen tief war.

Mit einem spitzen Schrei tauchte ihre nackte Gestalt unter, und bevor sie wieder auftauchte, und ohne daß er nachgedacht hätte, war Gustav ihr schon hinterhergesprungen. Er wußte, sie konnte nicht schwimmen, auch Christian seltsamerweise nicht, er selbst hatte es mit fünf oder sechs von einem Gärtnergehülfen gelernt, während die Zwerge auf dem Landungssteg gesessen und mißtrauisch zugesehen hatten.

Mit einem Griff um ihren zappelnden Leib hielt er sie. Sie hatte Wasser geschluckt, hustete und japste und paddelte wie ein junger Hund mit Armen und Beinen. Seine Füße faßten Grund. Er hielt sie ganz fest. Und spürte überrascht: Im Wasser war sie nicht kleiner als er, Wange an Wange waren sie, und je mehr sie sich wieder beruhigte und ihr Griff um seine Schulter sich lockerte, um so tiefer ließ er sich ins Wasser hineingleiten. Stieß sich vom Grund ab und schwamm ein Stück, sie in seinem Arm, ohne zu überlegen, was das sollte, und dann küßte er sie. Schwamm mit langsamen Beinschlägen um den Mittelpunkt ihrer beiden Köpfe herum, die nun ganz ruhig auf dem Wasser lagen, und Marie, die Augen geschlossen, ließ sich von ihm küssen. Sie trieben umeinander, er konnte nicht sagen, wie lange, dann löste sie sich von ihm und öffnete die Augen.

»Bring mich ans Ufer«, flüsterte sie.

Christian, der keinen Versuch unternommen hatte, seiner Schwester beizustehen, lag noch immer in der Wurzelhöhlung des Baumes und grinste sie an, während sie, nun wieder unbeholfen in ihren so verschiedenen Körpern, zu ihm hinaufkletterten. Das Herz schlug Gustav dabei bis zum Hals, und ein Durcheinander von Gefühlen tobte in ihm, Scham und Freude und Schwäche zugleich, und all das wollte er unbedingt vor den beiden, vor allem aber vor Christian, verbergen, der ihn spöttisch musterte. Braungebrannt und in seiner Mißgestalt sehr muskulös saß er da, und während Gustav die nackte Gestalt des Mädchens betrachtete, das er gerade geküßt hatte und das sich jetzt, tropfend und zitternd, wieder zu seinem Bruder setzte, zwinkerte er ihm sogar zu, und eine solche Intimität lag in diesem Zwinkern, daß Gustav errötete, denn gerade in diesem Moment dachte der spätere Hofgärtner der Pfaueninsel zum ersten Mal, daß er Maria Dorothea Strakon, die Zwergin, liebe. Doch seltsamerweise katapultierte ihn dieses Wissen, das sein Herz schlagen ließ, gleich wieder so unendlich weit von ihr weg, daß Gustav nicht anders konnte, als das Lächeln Christians zu erwidern.

Nur aus einem Grund steht das Schloß dort, wo es eben steht, so weit auf der Westspitze der Insel, um vom Marmorpalais in Potsdam aus als ferne Vedute gesehen zu werden. Jeder Blick, der uns trifft, zerstört unsere eigene Welt und stellt uns in seine eigene hinein. Marie hatte das von jeher gespürt, so, als trüge sie diesen Blick in sich, von ihrer allerersten und einzigen Überfahrt von Potsdam herüber, bei der sie sozusagen jenem Betrachter gefolgt war, der auf immer und unabänderlich und unsichtbar dort jenseits der Havel stand. Aufmerksam spähte sie in seine Richtung. Es war windig, und auf den kleinen, kabbeligen Wellen glitzerte es. Ob es diesen Glanz auf dem Wasser vielleicht nur gab, wenn der Himmel darüber leuchtete wie gerade jetzt, da die Wolken für einen Moment aufrissen? Keine Schönheit also, die nicht das Abbild eines Schönen war? Wenn Gustav mich liebte, überlegte sie, wäre ich dann also schön? Marie schob Kies mit dem Fuß hin und her und hielt das Tuch fest über der Brust zusammen. Nun war der Himmel wieder so grau und stumpf wie das Wasser, und sie fror, obwohl es doch Juni war. Schnell schlüpfte sie ins Schloß hinein.

Wenn auch der Onkel als Kastellan die Schlüssel sorgsam verwahrte, fand sie doch immer eine offene Tür, meinte als Schloßfräulein auch ein Recht zu haben, sich im Schloß aufzuhalten, und stieg meist zuerst die Treppe hinauf, die im südlichen der beiden Türme bis auf das Dach führte, von wo man einen weiten Blick über die Insel und den Fluß hatte. Über das ganze Königreich hinweg, hatte sie als Kind gedacht. Im Turmzimmer im ersten Stock mit dem Schreibtisch des Königs betrachtete sie dann die Aquarelle an den Wänden, setzte sich im Schlafcabinett für einen Moment auf sein schmales Feldbett. Glitt sie anschließend in den Saal hinein, der die ganze Breite zwischen den Türmen und die halbe Tiefe des Schlosses einnahm, lauschte sie darauf, wie das ganze hölzerne Gehäuse knackte, während der Wind um es strich. Sie mochte den Glanz auf allem, auf dem Marmor des Kamins, auf dem Glas der Lüster, auf den Mahagonistühlen und auf dem lackschwarzen Klavier, den stumpfen Glanz der schwarzen Roßhaarbezüge und das spiegelnde Intarsienparkett.

Heute aber tat sie etwas, was sie noch niemals getan hatte, wenn sie allein hier im Saal war. Vor den großen bodentiefen Spiegeln zog sie sich aus, fror schrecklich dabei, und als endlich all ihre Kleider um sie verstreut auf dem Parkett lagen, drehte sie sich zitternd hin und her, um sich einmal von allen Seiten zu betrachten. Im Kastellanshaus wechselte sie ihre Kleider morgens und abends hastig und ohne daß sie überhaupt noch merkte, wie sehr sie sich stets bemühte, den eigenen Körper zum Verschwinden zu bringen. Und auf eine Weise, die sie jetzt selbst irritierte, war ihr das auch tatsächlich gelungen, denn außer der Kälte spürte sie nichts, während sie sich ansah. Sie war eine junge Frau, und ihr fiel all das ins Auge, was sie von einer solchen unterschied, ihr vorgewölbter Bauch, der herausgestreckte Steiß und ihre Säbelbeine, verbogen, als lastete ein ungeheures Gewicht auf ihnen. Doch sie konnte nichts dabei empfinden.

Ungläubig ging sie immer näher an das Spiegelbild heran und musterte ihren vor Kälte schlotternden Körper so gründlich wie möglich, doch kein Gefühl wollte sich einstellen. Lange suchte sie dann im Spiegel ihren eigenen Blick, als wäre mit ihm etwas falsch. Doch ein Blick läßt sich nicht anblicken. Aus dem Spiegel sah niemand zurück, sosehr sie sich auch bemühte, sich selbst in die Augen zu sehen. Sie waren nichts als gleichgültige Kugeln, die leblos starrten. Gespenstisch, weil Marie ja wußte, daß diese Kugeln sie im selben Augenblick ansahen. Schaudernd machte sie sich von ihrem Abbild los, beeilte sich mit dem Anziehen und verließ eilig das kalte Schloß.

Jenes Jahr 1816, in dem der König in den preußischen Landen als Gedenktag für die Gefallenen der Napoleonischen Kriege den Totensonntag einführte, war nicht nur kühl, sondern eines ohne Sommer, denn im Herbst davor hatte der Vulkan Tambora auf Java Millionen Tonnen Staub und Asche in die Atmosphäre gespuckt, die sich wie ein Schleier um den ganzen Erdball gelegt hatten. Mißernten und Frost, selbst Schnee im August, waren die Folge, und ebenso wie Marie fror auch ein anderes junges Mädchen, das zudem denselben Vornamen wie sie trug und das jenen Sommer, der keiner war, mit Shelley, seinem Freund, in Lord Byrons Villa Diodati am Genfer See zubrachte. Statt über den See zu fahren und Sommerfeste zu feiern, blieb man im Dauerregen zu Hause, diskutierte über die gerade entdeckte Elektrizität und las sich so lange am lodernden Kamin Gespenstergeschichten vor, bis das Mädchen selbst zu schreiben begann, eine Geschichte, deren Helden sie Frankenstein nannte.

Währenddessen regnete es auch auf der Pfaueninsel fast die ganze Zeit. Die Gärtner fluchten, und Christian trieb es aus dem Wald zurück ins Haus. Ohne daß Marie ihn jemals hörte oder auch nur davon erwachte, schlüpfte er nachts lautlos zu ihr ins Bett, und was sie weckte, waren seine kalte Haut und sein intensiver Geruch nach nasser Erde. Er sprach nie. Seine Umarmungen hatten in ihrer Stummheit etwas Gewaltsames, ohne gewaltsam zu sein. Nur tat er ihr offenkundig nichts zu Gefallen. Doch sie genoß es, wie er sie sich zurechtlegte, und ließ alles geschehen, solange er sie nur betrachtete. Sie gierte nach seinem Blick. Er küßte sie nie auf den Mund. Meist ging er wortlos am Morgen. Doch heute hatte er etwas gesagt. Das graue Licht hatte gerade erst fahl in der Dachkammer zu glimmen begonnen. Sie war davon aufgewacht, daß er die dicke Daunendecke anhob und aus dem Bett stieg.

»Du liebst ihn«, hatte er gesagt.

Doch bevor sie ihn noch hatte fragen können, was er damit meine, hatte Christian die Tür schon hinter sich zugezogen und war die Treppe hinab, hinaus in den Regen dieses Tages, wohin auch immer.

Rubinglas fängt das Licht selbst dort, wo keines ist, und faßt es, wie Geschmeide, zum Feuer. In seiner Ars Vitraria Experimentalis von 1679 kommentierte und ergänzte Johann Kunckel nach eigenen Versuchen die verschiedenen Mischungen der Schmelze, die der Priester Antonio Neri 1612 in Florenz veröffentlicht hatte. Die Rezeptur aber für jenes rotleuchtende Glas, das ihn berühmt machte, gab Kunckel niemals preis.

Gustav tippte mit dem Zeigefinger gegen das Glas und sah zu, wie es sich auf dem Fensterbrett zwischen den Pelargonien drehte, gefangen darin, dunkel und warm, das rote Licht. Ein halbes Jahr war es jetzt her, daß Marie und er zusammen im See geschwommen waren und er sie geküßt hatte. Mit jenem Kuß war ihre Zeit zu dritt endgültig vorüber gewesen. Marie wurde sechzehn in diesem Jahr. Christian, inzwischen achtzehn, half seitdem beim Vieh. Und er? Er war noch nicht einmal konfirmiert. Wie so oft spürte er auch jetzt ihren Blick und wußte, sie wartete darauf, daß er etwas sage, aber er konnte nicht. Sicherlich war es ihr peinlich, ihn so zu sehen. Daß er immerzu ihre Nähe suchte, um dann in schweigendem Brüten zu versinken. Daß für ihn alles an einem Lachen von ihr hing. Sie mußte wissen, daß er sie liebte.

Um das Schweigen zwischen ihnen zu beenden, fragte Marie irgendwann, ob er inzwischen mehr über jenes Glas wisse.

»Der einzige«, antwortete Gustav zögerlich, »der darüber Bescheid weiß, ist der alte Gundmann.«

»Dann gehen wir zu Gundmann!« Sie lächelte ihn triumphierend an, als er überrascht aufsah.

»Zur Meierei? Aber es regnet!«

»Aber es regnet doch immer.«

Schon griff Marie sich ihr Kapuzenmäntelchen, das sie beim Hereinkommen über einen Stuhl geworfen hatte. Gustav zögerte, doch als sie ihn neckte, er sei langweilig, löste er sich endlich vom Fenster im Arbeitszimmer, nahm im Flur die Jakobinerjacke vom Haken, die er seit einer Weile und sehr gegen den Protest des Onkels trug, und die beiden machten sich auf den Weg.

Mochte die angebliche Klosterruine der Meierei auch ebenso künstlich und kulissenhaft entworfen worden sein wie das Schloß, orientierte sie sich doch an jenen in der Mark damals durchaus anzutreffenden Bauernhöfen, die sich nach der Säkularisierung in ruinösen Klosteranlagen eingenistet hatten. Und als man die Wälder auf der Insel rodete und das Land unter den Pflug nahm, wurde aus ihr das, was sie bis dahin nur vorgegeben hatte zu sein. Der prunkvolle Raum im Obergeschoß mit seinen gotischen Spitzbogenfenstern, dem erlesenen Parkett, der Trompe-l’œil-Malerei und den böhmischen Bleikristallüstern verwaiste, der Stall aber füllte sich, was überraschenderweise dem alten Gundmann entgegenzukommen schien, der den Bauern bis dahin mehr hatte spielen müssen, als der entsprechenden Arbeit tatsächlich nachzugehen. In kürzester Zeit wurde er wieder das, was er, bevor er auf die Insel kam, gewesen war. Als Kinder waren Marie und ihr Bruder oft mit Gustav bei ihm gewesen, er hatte sie die Kälbchen streicheln lassen und ihnen Milch ausgeschenkt, und Marie vermutete, daß ihr Bruder die Scheunen jetzt mitunter als Nachtquartier nutzte.

Der Regen war kalt, und alles troff vor Nässe, auf den Feldern stand das Wasser. Die Saat war spät und dann auch nur spärlich aufgegangen, überall schimmerte die nackte Erde naß zwischen den kümmerlichen Halmen. Im Wald krachten die Kiefern im Wind mit einem hellen, schreienden Geräusch aneinander, und in den Eichen rauschte es bedrohlich. Marie hatte überlegt, ob ihnen wohl Christian begegnen würde, und obwohl sie gar nicht wußte, weshalb das eine Rolle spielte, war sie froh, daß er sich nicht zeigte, meinte nur einmal seinen Blick in ihrem Rücken zu spüren, doch als sie sich umsah, war da nichts in der Wand aus regenschwarzen Stämmen und tropfenden Blättern, und dann lagen die sumpfigen Wiesen vor ihnen, die den nördlichen Teil der Insel bildeten. An dem kleinen Bach, der sie durchzog und das Wasser in die Havel brachte, vereinzelt alte Weiden. Jenseits der Wiesen, unter dem düsteren tiefen Himmel, die Meierei, zu der ein gewundener Sandweg hinführte. Sie fanden den alten Gundmann im Stall bei seinen Kühen.

»Marieken!«

Kaum hatte er die beiden durchnäßten Gestalten an der Tür entdeckt, nahm er die Zwergin ohne Umstände hoch und hielt sie lachend vor sich hin, um sie besser mustern zu können. Dann setzte er sie mit einem Schwung auf dem hohen Tisch ab, der ansonsten voller leerer Milchkannen stand. Auch sie mußte lachen, denn das tat er, seit sie ein Kind war, und für einen Moment gefiel ihr, daß er das immer tun konnte, während Gustav längst zu groß für derlei war, weshalb ihm Gundmann wie einem Erwachsenen einen guten Tag wünschte. Wie stets trug der Bauer trotz der Kälte nur ein einfaches flachsenes Wams, das weit offenstand und die weiße Brustbehaarung des alten Mannes zeigte. Unter dem knielangen Kittel lugten grobe Hosen hervor, die in weiten Stiefeln steckten, an denen Mist klebte. Auf dem bis auf einen mächtigen weißen Schnäuzer gänzlich kahlen Kopf schief ein rotes Käpsel.

Gundmann hatte die Zwergin immer besonders gemocht, so, wie ihm eines seiner Tiere besonders am Herzen liegen mochte. Er kam selten zum Kastellanshaus, und auch wenn er natürlich Fintelmann und die Gärtner ständig traf, wollte er doch zunächst von Marie wissen, was es Neues dort vorn gebe, wie er sich ausdrückte. Marie tat dem Alten den Gefallen und erzählte von der Tante und von Lehrer Mahlke und von den Sorgen des Onkels wegen des Regens, bis sie endlich auf das rote Glas zu sprechen kam.

Sie dabei genau betrachtend, schlug Gundmann Stahl und Stein aneinander und entzündete seine Pfeife. Für einen Moment war es still bis auf das malmende Kauen der Kühe und das Klirren ihrer Ketten. Um den Tabak in Brand zu bringen, paffte der Alte so sehr, daß der Rauch sie alle fast ganz einhüllte, und begann dabei die Geschichte von Johann Kunckel zu erzählen, wie er sie wußte und wie er sie offensichtlich schon oft erzählt hatte.

»Unsere Insel war zur Zeit des Großen Kurfürsten ein gefürchteter und von jedermann gemiedener Ort. Sie war nämlich der Aufenthaltsort des als Schwarzkünstler verschrienen Goldmachers Kunckel, dem seine Majestät sie für ein Laboratorium überließ, denn der Kunckel hatte ihm eingeredet, er könne bei seinen im übrigen für die staatliche Schatulle sehr kostspieligen Versuchen dem Goldmachen auf die Spur kommen. So schlug derselbe hier also seinen Wohnsitz auf und wußte durch scheinbare Zauberkünste das Publikum von der Insel fernzuhalten. Nie wagte ein Fischer mit seinem Kahn hier zu landen, denn wer es versuchte, mußte seine Neugierde mit dem Untergang seines Fahrzeugs büßen, das auf unerklärliche Weise wie faules Holz zerfiel oder wie ein Schwamm Wasser einsog und untersank.«

»Müßte man die im Wasser nicht noch entdecken können?«

Gustav, zu schüchtern, um ihn anzusehen, zog mit einem Strohhalm die Maserung des Holztisches nach, gegen den er sich lehnte. Gundmann blinzelte durch den Rauch auf ihn hinab und wartete wie jemand, der alle Einwände gegen das, was er berichtet, längst kennt, ob der Junge, der der Sohn seines Grundherrn war, noch andere Fragen hatte. Schließlich entgegnete er nur, die Boote seien eben zerfallen.

»Sobald jemand den gefürchteten Goldmacher auch nur von fern sah, wich er ihm erschreckt aus. Bei sich hatte er, nachdem ihn sein alter Diener Klaus verlassen hatte, der Heideläufer wurde und im Jahre 1650 zu Berlin wegen erwiesener Zauberei hingerichtet ward, niemand als einen mißgestalteten Menschen, der bald auch noch die Sprache verlor, ihm aber treu anhing. Außerdem hatte er einen schwarzen zottigen Hund, der von denen, die ihm im Wald begegneten, seiner glühenden Augen wegen für einen bösen Geist gehalten ward. Nach dem Tode des Großen Kurfürsten wurde der Schwarzkünstler vertrieben und sein Laboratorium von den Leuten niedergebrannt.«

Gundmann verstummte, als wäre dies das Ende der Geschichte, bevor die Frage nach dem Gold, die Gundmann erwartete, überhaupt nur gestellt worden war.

»Und wo war das?« wollte Gustav statt dessen wissen, obwohl er die Antwort ebensogut kannte wie Marie. Immer wieder waren die Kinder früher zu dem von einem Schauder umgebenen Ort geschlichen und hatten in den niedrigen Ruinen des Ziegelbaus nach dem Gold gescharrt, das sie dort erträumten, und mitunter auch Brocken glänzender Schlacke, verrostetes Werkzeug und Glasscherben gefunden, von denen aber nur wenige so rot leuchteten wie das Glas des Onkels.

»Und das Gold?« ging Marie über Gustavs Frage hinweg.

»Gold hat er keines gemacht, Marieken! Man sagt aber, sein Geist habe sich nicht von unserer Insel trennen können und werde zuweilen noch heute gesehen. Und auch der feurige Hund soll noch jetzt längs dem Strande der Havel bis zu der Badebucht seines Herrn hineilen und dann mit jämmerlichem Geheul im Walde verschwinden.«

»Hast du ihn gesehen?« fragte Marie.

Der alte Gundmann klopfte seine Pfeife in einen irdenen Napf aus, der auf dem Tisch stand, und wiegte vielsagend seinen Kopf.

»Man weiß nicht immer, was man sieht.«

»Vielleicht ist er verflucht, weil er den Kurfürsten um sein Gold betrogen hat.«

»Das war eine andere Zeit damals, Marieken.«

Gundmann versuchte ihr mit seiner viel zu großen Hand die Wange zu tätscheln, dabei eher ihren ganzen Kopf umfassend. »Wollt ihr wissen, was der Kunckel, als man ihn fragte, welchen Nutzen denn seine kostspieligen Versuche gehabt hätten, zur Antwort gab?«

Marie und Gustav nickten, den Blick jetzt beide auf den Alten gerichtet, der sich tatsächlich ein wenig in Positur warf und um klare Artikulation bemühte: »Der hochselige Herr Kurfürst war ein Liebhaber von seltenen und kuriosen Dingen und freute sich, wenn etwas zustande gebracht wurde, was schön und zierlich war. Was dieses genützt hat, diese Frage kann ich nicht beantworten.« Gundmann lachte laut auf. »Ha! Das war einmal ein Wort.«

Auch Marie lachte, denn sie mochte diese Antwort. Unnütz war sie selbst.

Gustav aber blieb ernst. »In Kunckels Buch über die Glasmacherkunst heißt es: Wann die Gläser nicht so zerbrechlich wären, sie wären dem Silber und Gold fürzuziehen. Ist das nicht ein seltsamer Satz für einen Goldmacher?«

»Du kennst ein Buch von Kunckel?« fragte Marie überrascht.

»Der Onkel hat es«, nickte Gustav. »Vielleicht war er überhaupt kein Goldmacher und Schwarzkünstler. Vielleicht galt all seine Schwarze Kunst nur dem Rubinglas?«

»Wohl. Hat Glas aus Gold gemacht. Und sollt’ es doch anders«, beendete der alte Gundmann das Gespräch, das in eine Richtung ging, die ihn nicht interessierte. »Willst du ein Glas Milch, Marieken?«

Es waren aber nur irdene Becher, in die er aus einer der Kannen die frische, fast noch warme Milch goß. Die beiden tranken sie auf einem Sitz aus, die Köpfe dabei wie als Kinder weit in den Nacken gelegt. Zum Zeichen, daß er nun zu tun habe, hob Gundmann Marie anschließend vom Tisch herunter. Einen Moment lang standen die beiden noch unter dem Dach vor dem Stall und sahen in den Regen hinaus, der stärker zu werden schien. Es donnerte, gar nicht weit entfernt, und der Wind pfiff kalt und naß. Marie war enttäuscht. Auch darüber, daß Gustav den Alten nicht besser examiniert hatte. Nichts hatten sie über das Rubinglas erfahren!

Dann lief sie los, lief durch den Regen um den ganzen Stall herum, an dessen Stirnseite, wie sie wußte, sich im ersten Stock eine große Lade befand, durch die man im Herbst das Heu auf den Boden brachte. Und tatsächlich: Die Leiter lehnte an der Wand. Ohne zu zögern, kletterte Marie hinauf und beugte sich erst von der obersten Sprosse zu Gustav hinab, der ihr natürlich gefolgt war und fragend zu ihr heraufsah. Was das solle, wollte er wissen. Sie lachte und beschwor ihn, leise zu sein, andernfalls könne Gundmann sie hören. Das Gewitter jedenfalls, das sich nun mit Donnergrollen und Blitzen zu entladen begann, soviel wußte sie, war nur ein Vorwand, hier heraufzusteigen, wenn sie auch selbst nicht verstand, worauf dies hinauslief. Mit Herzklopfen stieß sie die Lade auf.

Drinnen war es warm, viel wärmer, als sie erwartet hatte. Im ersten Moment hatte sie wiederum Angst, ihren Bruder hier vorzufinden, aber dann genügte ihr schon ein flüchtiger Blick über das Heu, das sich bis hoch in die Dachsparren und den Giebel türmte, um sich deswegen zu beruhigen, obgleich in dem Halbdunkel in Wirklichkeit beinahe nichts zu erkennen war. Statt dessen hüllte sie ein süßer trockener Geruch ein, und als wären sie in einer Kirche, tasteten Gustav und sie sich mit vorsichtigen, leisen Schritten in diesem Dunkel voran. Einmal hörte er am Rascheln, wohin sie sich bewegte, einmal strich ihr Atem ganz nah über sein Gesicht. Dann hörte er, wie sie sich hinsetzte, und tat es ihr nach. Ihr klopfte das Herz bis zum Hals. Sie wußte nur: Etwas würde geschehen, und dann wäre alles einfach.

»Ich muß immerzu an das Rubinglas denken«, flüsterte sie dicht neben ihm. »Davon hat der alte Gundmann gar nichts erzählt. Dabei interessierte mich das viel mehr als die Schauergeschichten von dem schwarzen Hund mit seinen glühenden Augen.«

Sie dachte einen Moment nach, und gleich kam es ihr so vor, als machte ihr Schweigen das Dunkel um sie her noch dunkler. »Denn es ist ja das Glas, das wirklich glüht.«

Wieder stockte sie, als müßte sie erst überlegen, wie sie ausdrücken sollte, was sie empfand. Und diesmal dauerte die Pause so lange, daß Gustav sich schon ausmalte, er sei allein. Kein Rascheln, kein Atmen hörte er, nur von draußen den grollenden Donner und das Klingeln der Tropfen auf den Ziegeln des Daches.

»Als ob Feuer darin wäre.«

Das sagte sie so schnell, als wäre ihr der Satz peinlich. Dann spürte er, wie sie sich dicht an ihn schmiegte. »Ich glaube, hätten wir es dabei, es würde uns hier alles hell machen.«

»Ja«, sagte Gustav leise und ohne sich zu rühren.

Marie wollte, daß er sie küßte. So, wie schon einmal. Dann würde sie wissen, ob ihr Bruder recht hatte. Und als Gustav es nicht tat, beschloß sie, es selbst zu tun, wenn ihr das auch falsch vorkam. Richtete sich auf und suchte im Dunkel Gustavs Mund, und er ließ es zu, ließ sich finden, fassen, seine Lippen weich, ihre hart.

»Couche avec moi«, flüsterte sie.

Er schien sie nicht zu hören.

Sie umfaßte ihn, so gut das ging, und drückte ihn an sich. Eine seiner Hände glitt unter ihren Mantel, unter ihr Kleid und fuhr über ihre Brust. Lächelnd öffnete sie die Augen, die sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Einen solch ängstlichen Blick hatte sie nicht erwartet. Es ist das erste Mal für ihn, dachte sie, und sagte lächelnd noch einmal: »Couche avec moi!«

Aber seine Hände lagen wie tot auf ihren Hüften. Dabei hatte er sich seit jenem Kuß im Wasser nichts mehr gewünscht, als Marie wieder so nah zu sein. Er begriff nicht, was ihn jetzt lähmte und weshalb er den völlig unpassenden Gedanken nicht aus seinem Kopf bekam, jenes Glas mit seinem Glitzern und Leuchten, von dem Marie so fasziniert war, sei nichts im Vergleich zu den Farben der Blumen. Zum sanften Blau der Pflanzen selbst.

Das dachte er in diesem Moment, statt Marie zu küssen, und je länger der Moment sich dehnte, um so höher stieg ihm die Verzweiflung würgend in den Hals, und dann fiel ihm plötzlich etwas ein, was er noch nie gedacht hatte. In der Liebe, dachte er, sind wir entweder Pflanze oder Tier. Es zeigt sich in ihr unsere eigentliche Gestalt, und es gibt kein Drittes, es sei denn, man wäre ein Ding. Aber dann wäre man tot wie jenes Glas, da mag es leuchten, soviel es will. Das dachte Gustav, während er spürte, wie er vor Verzweiflung zu zittern begann, ohne sich doch regen zu können. Und dann: Ich will kein Tier sein. Das Tierhafte bringt immer nur Tiere hervor, Tiere in all ihrer obszönen Vielfalt, die immerzu weiter fressen und begehren.

Und als wäre das etwas besonders Obszönes, mußte er in diesem Moment an die peinvollste Situation denken, die er jemals erlebt hatte, so nah an dem Schönsten, an das er sich erinnerte. Wie nämlich, als er damals Marie küßte, Christian ihn angesehen und wie er dort gelegen hatte im Schoß der Weide, nackt und mit jenem Grinsen und Zwinkern, als wüßte er etwas über ihn, was er selbst damals nicht und noch immer nicht wußte, auch jetzt nicht, da es, wie er spürte, nötiger wäre als alles andere.

»Ich gefalle dir nicht«, flüsterte Marie. »Du findest mich häßlich!«

Er konnte nur den Kopf schütteln.

»Eine Mißgeburt, ein Monster!«

»Nein, um Gottes willen nein, sei doch still«, platzte es aus ihm heraus. »Das stimmt nicht, sei still! Bitte!«

»Dann küß mich jetzt.«

Doch er schüttelte nur traurig den Kopf, und sie konnte nicht aufhören, im Dunkel seines Gesichts nach dem Grund für das zu suchen, was gerade geschah. Die Empfindung von Scham bedeutet, außerhalb seiner selbst zu sein, ohne irgendeinen Schutz, im absoluten Licht, das vom Blick des anderen ausgeht. Scham ist nicht das Gefühl, dieses oder jenes, sondern überhaupt Objekt zu sein. Ist das Gefühl des Sündenfalls mitten in die Dinge hinein. Marie riß sich den Mantel herunter und die Knöpfe des Kleides auf, stampfte aus ihm heraus und trat es ins Heu, zog noch im selben Moment ihr Unterkleid mit beiden Armen über den Kopf, warf es zur Seite, schnürte die Unterhose auf und ließ sie zu Boden gleiten. Stand da, heftig atmend, und funkelte Gustav wütend an.

»Ekelst du dich vor mir? Schau dir meine krummen Beine an. Sieh dir an, wie mein Bauch vorsteht. Siehst du meinen Popo, der sich wölbt wie bei der Negerin in der Fibel?«

Er wollte sie nicht ansehen. Begrub den Kopf in den Armen. Verblüfft sah sie ihn an, dann hörte sie, wie er schluchzte. »Mais je t’aime«, schluchzte er.

Und ihre Wut war mit einem Mal verschwunden. Müde setzte sie sich neben ihn und saß eine Weile einfach da. Nahm irgendwann ihr Cape und legte es sich um die Schultern. Und irgendwann sah er sie dann an, das Gesicht in dem spärlichen Licht furchtbar verweint. Mit keinem Blick musterte er ihre unter dem Cape noch immer nackte Gestalt. Versuchte etwas zu sagen, doch sie schüttelte den Kopf und legte ihm ihre sehr kleine Hand auf den Mund.

»Sei still«, flüsterte sie und lächelte müde. »Sei still. Es ist gut.«

Wie ein altes Werkzeug, fast schon vergessen unter anderem Gerümpel, war das Wort wieder aufgetaucht, als hätte es die ganze Zeit nur darauf gewartet, ihr zur Hand zu sein. Ich bin ein Monster, dachte sie traurig und lächelte.

Man erwartete sie zu Hause, bevor es dunkel war, aber für den Moment war das egal. Sie würden den Weg finden. Gustav, als sie sich neben ihn legte und er sie umarmte, fühlte ihren Herzschlag, der ihn so sehr ängstigte und quälte, daß er am liebsten ihr ganzes rotes Herz in die Hand genommen hätte. Und Marie? Sie spürte, wie verkrampft er neben ihr lag, immer bemüht, sie nicht wirklich zu berühren, und wie traurig sie darüber war, neben all der Liebe, die sie, wie sie jetzt zum ersten Mal wußte, für ihn empfand. Das Gewitter war vorbei, sie hatten es nicht bemerkt. Aber es regnete noch immer, und so hörten sie dem Wasser zu, das über die Ziegel tropfte und gurgelte, und ihnen war dabei unheimlich und heimelig zugleich.

Nicht lange, nachdem sie an jenem Abend schweigend ins Kastellanshaus zurückgekehrt waren, fragte Marie den Lehrer Mahlke, als sie einmal alleine mit ihm war, was ein Monster sei, und konnte nicht anders, als dabei zu weinen. Der Begriff, erklärte mit größter Verlegenheit der hohläugige Mann, dem die fettigen Strähnen ins Gesicht fielen, komme aus dem Lateinischen wie derjenige der Monstranz. Die Alten hätten in Mißbildungen göttliche Zeichen der Sünde gesehen, wovon er aber nichts halte. Die Welt sei groß und das, was wir nicht verstünden, eben nichts als ein noch unverstandener Teil der Welt. Alles Leben habe seinen Platz in der Entwicklungsgeschichte der Natur. Nichts stehe außerhalb. Das, was man früher gefürchtet habe und wovon die Märchen erzählten, Riesen und Zwerge, allerlei Ungeheuer, sei nichts als Aberglaube und in Wirklichkeit etwas, das, daran glaube er fest, im Zuge des Fortschritts der Wissenschaften eine Erklärung finden werde.

Und was, wollte Marie wissen, bleibe ihr jetzt zu tun? Mahlke musterte sie beschämt. Ob sie viel lese, fragte er, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte. Sie schüttelte den Kopf. Mahlke stand auf, ging in seine Kammer und kam mit Büchern zurück, die er ihr, wie zur Entschuldigung, überließ.

Marie begann zu lesen, was er ihr gab, zunächst Romane von Defoe und Swift, zu denen er anmerkte, es kämen Inseln darin vor, solche wie die Pfaueninsel, und er könne sich vorstellen, daß sie das interessiere. Als sie ihm die Bände zurückbrachte, sagte sie nicht viel dazu, obwohl der Lehrer wohl gern mit ihr darüber gesprochen hätte, und bat statt dessen nur um andere. Er gab ihr den Werther, jedoch nicht ohne den Kommentar, es handle sich um ein heikles Werk. Sie nickte und las es, doch auch dazu sagte sie nichts. Wie sie auch gegenüber den anderen Inselbewohnern nach dem Erlebnis in der Scheune immer verschlossener wurde, denen lediglich auffiel, wie oft Marie nun tagelang im Bett blieb oder sich im Sommer, fern von den anderen, mit einem Buch auf die Wiese legte.

Wobei sie lieber als von den fernen Ländern der englischen Romane und obwohl ihr das Schicksal des einsamen Robinson sehr zu Herzen gegangen war, die Bücher von Christian Heinrich Spieß las, erst das Petermännchen, dann Löwenritter und schließlich auch die Biographien der Wahnsinnigen, und es überhaupt mehr als alles andere genoß, sich in fremde Leben zu verkriechen, wenn diese durch Fluch und Schicksal und Geister aus der Bahn gerieten, um, am besten, ganz am Ende ihr Glück zu finden.

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