Mit wachem Blick stand der junge Mann während der kurzen Überfahrt am Bug des Kahns, als überquerte er ein weites Meer. Die Kutsche des Präsidenten Rother, die ihn vom Gendarmenmarkt hierher zur Fähre gebracht hatte, war da bereits wieder im Wald verschwunden.
Selbst für die Pfaueninsel, der es an Kuriositäten der Natur und Kunst nicht mangelte, war der junge Mann ein ungewöhnlicher Anblick: Groß und schlank und mit langem pechschwarzem Haar, das er in einem lockeren Knoten auf dem Rücken trug, die Haut dunkel und das halbe Gesicht mit einer großflächigen Tatauierung aus weit geschwungenen Linien versehen, deren Muster sich von der Stirn herab um das eine Auge legte, weiter wie eine Welle über die Wange verlief und den Hals hinab, im Ausschnitt des Hemdes verschwand, um auf dem rechten Handrücken wieder aufzutauchen. Wie gebannt schritt der junge Mann über den Steg an Land und ließ dabei nicht aus den Augen, was er vom Wasser aus erspäht hatte. Und stand dann staunend vor der Fächerpalme mit dem fast vier Meter hohen Stamm, die man hier an der Anlegestelle einfach hatte stehenlassen.
Noch war das Palmenhaus nicht fertiggestellt und im Sommer keine Unterbringung in einem der Gewächshäuser nötig, in die dieses beeindruckende Exemplar auch nicht gepaßt hätte, und so grüßte der mächtige Stamm mit seiner Krone weitausladender Palmblätter, die wiederum von einer Reihe kleiner Wedel gekrönt wurde, jeden Neuankömmling auf der Pfaueninsel. Wobei er, der gerade beide Hände an den Stamm legte und dabei mit einem Lächeln die Augen schloß, einer der ganzen wenigen Menschen war, die zu diesem Zeitpunkt in Europa behaupten konnten, unter ebensolchen Palmwedeln aufgewachsen zu sein. Wie betrunken folgte er, ohne einen Blick für das Kastellanshaus, den Rosengarten und alles andere, der Spur der Palmen, die sich entlang des Weges verteilten, ging von einer zur anderen, immer wieder ein Blatt zwischen die Finger nehmend, bis er schließlich auf die Schloßwiese kam, bei deren Anblick ihm das Herz bis zum Hals schlug.
Es war ihm, als wäre nun nicht nur er, sondern gleich seine ganze Heimat auf dieser seltsamen Insel angelandet, denn zufällig wie Schwemmgut verteilte sich fast die ganze berühmte Palmensammlung dort, und die Blätter von vielfältigster Form und Beschaffenheit wippten allesamt im leichten Wind, der über die Insel ging. Und Heinrich Wilhelm Maitey von den Sandwich-Inseln, den alle Harry nannten, war, während er auf diesen Hain zuging und sich in seinem Schatten niederließ, in Gedanken wieder in seiner Heimat und noch einmal auf seiner Reise hierher.
Vor etwa fünfundzwanzig Jahren auf Ohau geboren, war er als kleiner Junge Augenzeuge, wie eines Tages ein Segelschiff in der Bucht seines Heimatortes ankerte, das sich als die Mentor der Preußischen Seehandlung herausstellte, von der man dort, anders etwa als von den entsprechenden Institutionen des Vereinten Königreichs, noch nie etwas gehört hatte. Trotzdem bat der junge Maitey, einmal an Bord, mitgenommen zu werden und kam so 1824 nach Preußen. Zunächst noch bestaunt und versorgt im Haus des Präsidenten der Seehandlung, erschöpfte sich doch dessen Geduld schließlich. Und so war er nun hier, gerade erst christlich getauft, königlicher Pflegling und künftiger Maschinengehülfe des Maschinenmeisters Friedrich auf der Pfaueninsel.
Harry lauschte dem Rauschen der Palmwedel. Fast meinte er, eine sanfte Brandung zu hören. Er begann leise zu singen. Es roch gut hier. Er hörte Vogelgezwitscher, dann auch Stimmen und das Pochen von Hämmern, das er zunächst gar nicht bemerkt hatte, und entdeckte ein ganzes Stück entfernt, dort, wo die Schloßwiese in einen Wald aus hohen Eichen überging, Bauleute bei der Arbeit. Ein großes, ja ein riesiges Haus wurde dort errichtet, Holzsparren ragten weit in den Himmel, die ihn in ihrer gleichmäßigen Abfolge an die Männerhäuser seiner Heimat erinnerten, doch sah er verwundert, daß jenes Haus beinahe nur aus Fenstern zu bestehen schien.
Die Eichen hatten längst ihre Blätter verloren, als man die Pflanzbottiche endlich von der Schloßwiese zum Palmenhaus bringen konnte. Kreisrunde Abdrücke, gelb vom verdorrten Gras, blieben auf der Wiese zurück, wo sie ein halbes Jahr gewartet hatten. Schinkel stand bei einem dieser trostlosen Male und stieß mißmutig mit der Stiefelspitze in der trockenen Erde herum, als suchte er einen Vorwand, nicht hinübersehen zu müssen.
»Nun gehen Sie doch, Fräulein! Ihr Freund wartet sicher schon auf Sie.«
Marie lachte. Wann immer er auf der Insel gewesen war, um den Fortgang der Arbeiten zu überwachen, hatte sie seine Gesellschaft gesucht. Affenkopf nannte sie ihn bei sich. Sie mochte ihn gern.
»Aber schauen Sie doch!« sagte sie. »Wie schön es geworden ist!«
Schinkel nickte, ohne den Kopf zu heben. Nach dem Wunsch des Königs sollte das Palmenhaus ganz zu öffnen sein, weshalb er die Fassade komplett aus Fenstern konstruiert hatte, die mittels Kettenzügen einzeln ausgestellt werden konnten. Die Front präsentierte sich so ganz feingliedrig als Glasbau, durch dünne Holzstreben mit einem klaren Raster überzogen, gegliedert mit schlanken Halbsäulen, zwischen denen die Fenster eingespannt waren, unter dem Gesims zwei verglaste Friese, alles farbig in Gelb, Blau, Grün und Rot. Und als er jetzt doch aufsah und tatsächlich versuchte, sein Gebäude wie ein Fremder zum ersten Mal anzusehen, lagerte es wie auf einer Vase der Königlichen Porzellanmanufaktur unter diesem makellosen preußischen Himmel, in den die alten Eichen ihre verknoteten Finger streckten.
Es schien ihm wie das Versprechen einer neuen Zeit. Ein paar Pfauen zogen vorüber. Was kümmerten sie ihn! Neu war: Er hatte diese vielen Fenster einfach als Serie behandelt, als identische Einheiten. Soweit er wußte, hatte so etwas noch niemand getan. Es war modern. Er mußte lächeln. Jetzt getraute er sich wirklich hinzusehen. Wie schön es aussah! Er spürte die milde Herbstsonne auf der Haut. Da es völlig windstill war, wärmte sie sogar.
»Halkyonische Tage«, sagte er in die weiche Luft hinein.
Marie nickte, auch wenn sie nicht wußte, was er damit meinte. Schinkel sah ihr nach, wie sie dann mit kleinen Schritten über die Schloßwiese davoneilte. Noch immer wurden Pflanzenkübel herangeschafft. Die Front hatte in der Mitte eine halbrunde Exedra, durch die man das Palmenhaus betrat. Dort erschien jetzt der junge Hofgärtner und nahm Marie in Empfang. Was für ein Paar! Eines, wie es nur hier denkbar war, dachte Schinkel und zog mit seinem Stiefel wieder Kreise durch die trockene Erde. Eisen wäre für die Konstruktion des Baus aber zweifellos besser gewesen als Holz, viel besser, dachte er und ärgerte sich über sich selbst.
Gustav nahm Marie bei der Hand und führte sie ins Palmenhaus hinein, lief dann voller Ungeduld voran und erklärte ohne Unterlaß dies und jenes, und seine Begeisterung machte sie glücklich, da sie es war, über der er sie ausschüttete. Die letzte Sonne spielte durch die hohen Glasflächen auf dem unterschiedlichen Grün der Blätter. Die Arbeiter waren gerade gegangen, und es war still bis auf ein fernes Rumpeln aus dem Heizungsraum im Keller, wo nun Sieber und seine Gesellen schon den ganzen Tag dabei waren einzuheizen.
Was Marie zunächst sah, war die riesige Fächerpalme, unbestreitbar Mittelpunkt des großen Raumes. Sie stellte sich unter ihre von langen Blattstielen in zierlichen Bögen ausgehenden, ringsherum tief herabhängenden steifen Fächer. Es war die Pflanze, die Marie zuerst gesehen hatte, als Gustav sich an jenem Morgen auf dem Kahn der Insel genähert hatte. Um ihre Größe noch hervorzuheben und ihren Rang zu markieren, hatte man ihren Terrakottakübel auf eine niedrige achteckige Postament-Säule gesetzt, mitten auf den zentralen Querweg, an dessen Endpunkten Marie jetzt Brunnenbecken entdeckte, in die vergoldete Löwenmasken Wasser spien. Auf jeder Seite des Weges Beete, in denen die Pflanzen so dicht an dicht standen, daß Marie den hohen Raum kaum übersehen konnte, den vier schlanke und bemalte Säulen abstützten.
Gustav folgte ihrem Blick und erklärte, was sie sah. Das da, nah am Fenster, mit den graugrünen, halbzusammengeklappten Fächern, zwischen deren Falten zähe lange Fäden herabhingen, sei eine ostindische Schattenpalme. In Indien reiche eines der dreihundert Quadratfuß großen Blätter, das Dach einer Hütte für ein Jahr zu decken. Eine seltsame Pflanze sei das, die einzige bekannte Palme, welche nur einmal blühe. Irgendwann treibe sie eine unglaubliche Menge übelriechender Blüten und sterbe dann, notdürftig einige Früchte reifend, ab. Wie traurig, sagte Marie und deutete fragend auf ein anderes, besonders imposantes Exemplar mit einer reichen Krone kleiner Wedel. Das sei ebenfalls eine Fächerpalme. Ihr Stamm, er habe ihn vermessen, komme auf fast vier Meter. Von ihr heiße es in den Unterlagen, sie sei schon seit zweihundertfünfzig Jahren in verschiedenen erzbischöflichen und anderen Gärten am Rhein gepflegt worden und als Merkwürdigkeit aus einer Hand in die andere gegangen. Und das? Eine neuholländische Fächerpalme, eine sehr seltene Pflanze. Daneben Dattelpalmen, unübersehbar viele, japanische Fächerpalmen, dort eine Sagopalme mit ihrem unförmigen Stamm, dort Ananas- und Bananenstauden, Drachenblutbäume, Andentannen, ein Zimtbaum. Das dort drüben seien Litschibäume, jenes Kaffee. Marie schüttelte ungläubig den Kopf. Und dies dort drüben sei Bambus, sie werde es im nächsten Jahr erleben, wie die Stangen aus der Erde brächen, kolossalen Spargelköpfen glichen ihre Triebe, die in drei Monaten, da sei er sicher, die Decke des Hauses erreicht haben würden, der Stundenzeiger kleiner Uhren gehe kaum rascher.
Der Eindruck war so fremdartig, daß Marie sich tatsächlich in den Tropen wähnte. »Wird es denn schon warm?« fragte sie und öffnete ihren Mantel.
Gustav zeigte ihr die gußeisernen Gitter am Boden. Schinkel hatte den Glasbau des Palmenhauses vor eine zehn Meter hohe Wand gestellt, an der sich die Schornsteine befanden, die Eingänge und Wirtschaftsräume, im Keller die Feuerungen für die Kanalheizung, deren liegender Kamin den Fußboden durchzog, abgedeckt durch ebenjene Gußeisengitter. Und tatsächlich spürte man schon, wie die Wärme emporstieg. Gustav kniete sich neben sie und hielt die Hand in den warmen Luftstrom. Sie betrachtete sein glückliches Gesicht und küßte ihn auf die Wange.
Seit jener Nacht nach seiner Ankunft waren sie zusammen. Bei Tag vermieden sie Liebesbekundungen, nachts aber schlich Marie sich meist in Gustavs Zimmer. In ihren Berührungen fanden sie niemals zueinander, aber schnell eine Routine, die sie beide beruhigte und über deren Schalheit sie sich selbst keine Rechenschaft abzulegen bemühten. Über die Zukunft zu sprechen, vermieden sie ebenso wie über die Vergangenheit. Wir haben Zeit, dachte Marie. Doch sie sah die Blicke des Onkels, und einmal sprach Gustavs Mutter mit ihr, als gerade niemand im Haus war. Niemals könne sie Gustav heiraten. Eine solche Undankbarkeit. Als Kind aufgenommen und all die Jahre. Vielleicht sei es das beste, wenn sie sich, wie ihr Bruder Christian, eine eigene Existenz suche. Vor allem dieser Satz tat Marie weh, die ganze Zeit, während die Tante auf sie einsprach, betrachtete sie das Rubinglas auf dem Fensterbrett, gab ihm sogar einen kleinen Stoß mit dem Finger, und das Glas zirkelte glitzernd um sich selbst.
Daran mußte sie denken, während sie jetzt im Palmenhaus umherging. Soweit entfernt schien ihr das alles. Alles, die Säulen und Pfeiler und jedes Ornament waren nach indischer Art ausgeführt, die Loggia mit dem Balkon darauf, über Wendeltreppen auf beiden Seiten zu erreichen, wurde von nachgemachten indischen Säulen getragen, die aus Blumenkelchen zu erwachsen und, in Spitzbögen zusammenrankend, die Decke zu halten schienen. In der Mitte der Rückwand befand sich eine Apsis, deren Wände man blau, die Nische rot mit goldenen Leisten und weißer Umrahmung ausgemalt hatte. Hier war in den letzten Tagen der indische Tempel aufgestellt worden, ein paar Schritte führten hinauf, dann betrat man den in schneeiger Weiße glänzenden Kiosk, dessen netzartig durchbrochene Marmorplatten durch feine Goldleisten zusammengehalten wurden.
Mit alldem kam die Veränderung auf der Pfaueninsel zu ihrem Ende, die mit Lennés Rosengarten vor über einem Jahrzehnt begonnen hatte, denn dieser korrespondierte nun für jeden sichtbar mit dem Palmenhaus hier auf der anderen Seite der Wiese. Nicht nur, weil es die beiden kostbarsten Anlagen auf der Insel waren, die da in Sichtweite zueinander standen, und nicht nur, weil Rosen und Palmen sich darin glichen, daß sie Unmengen Wasser benötigten, weshalb die Insel nun unbedingt auf künstliche Bewässerung angewiesen war, es gehörten beide vor allem insofern zusammen, als die Heimat der Rosen Indien war. Nichts anderes bedeutete dies, als daß man eine völlige Umorientierung jener Sehnsucht erreicht hatte, deren Ausdruck die Insel immer gewesen war. Nicht mehr das Otaheitische Cabinett und Rousseau, sondern der Orient mit seiner schwellenden Natur und verfeinerten Genüssen war nun ihr neuer Bezugspunkt. Lange blieb Marie vor dem kleinen Marmorbassin in der Mitte stehen, das man mit seinem Springbrunnen und den Goldfischen mitten hinein in die alten Tempelschranken gesetzt hatte.
Und als sie wieder zurück in den riesigen Raum kam, hockte Gustav noch immer am Boden und überprüfte, ganz versunken in seine Tätigkeit, den warmen Luftstrom der Heizung. Ihm, das wußte sie, war die Architektur dieses Baus ganz gleichgültig. Er fühlte sich unter diesen Wipfeln nicht versetzt in einen orientalischen Palast, für ihn waren diese fremdländischen Pflanzen nicht vor allem stimulierende Dekorationen, er war stolz darauf, die größte Palmensammlung Europas zu besitzen, ein lebendiges Lehrbuch und Studienobjekt. Langsam schlenderte sie zu ihm zurück, so langsam, daß ihre Angst vor der Zukunft sich auf dem Weg wieder besänftigen konnte. Dann stand sie bei ihm und strich ihm lächelnd durchs Haar.
»Was sind halkyonische Tage?«
Das wisse er nicht, sagte Gustav und sah zu ihr auf. Schwärmerisch betrachtete er die Palmen, über die sich langsam der Nachthimmel schob.
Halkyonische Tage: So nannten die Alten jene Woche im Dezember, in der das Meer meist völlig ruhig war. Der Eisvogel, von dem man annahm, er komme niemals an Land, baue, so hieß es, in dieser Zeit sein Nest auf den schlafenden Wellen. Eine kurze Zeit nur, in der es Marie schien, als könnte sie doch wie alle sein.
Monster. All die Jahre hatte das Wort der toten Königin nur geschlafen. Marie war einen Meter fünfundzwanzig groß, etwas über vier Fuß in den Maßen ihrer Zeit. Ihr kleiner Mund glich stets einem Kußmündchen. Noch jedesmal überraschte es sie, wenn sie zufällig ihr eigenes Bild im Spiegel sah. Und immer von neuem vergaß sie dann wieder, daß sie nicht wie alle anderen Frauen war. Und tröstete sich damit, daß sie mit der Fußsohle ihre Stirn erreichen konnte. Auch in den Spagat kam sie mühelos. Doch das war kein Trost. Allein, daß Gustav sie liebte, war ein Trost. Sie hatte oft Schmerzen im Rücken und in den Waden, wenn sie lange stehen mußte. Sie bekam schwer Luft.
Jede Mißbildung fühlt sich an wie eine Schuld, denn es klebt an ihr die Verunsicherung der natürlichen und moralischen Ordnung der Welt. Wundersame und erschreckende, von den Göttern gesandte und zu deutende Vorzeichen waren der Antike die Monstren. Und zugleich Randphänomene im Wortsinn, sie hausten am Ende der Welt und markierten ihre Grenzen. Noch die Sagenwesen, die später die mittelalterlichen Karten bevölkerten, die kopflosen Acephalen, die ohrlosen Amabren, die mundlosen Astonomen, die Skiapoden, die sich selbst mit einer riesigen Fußsohle Schatten spenden, die hasenohrigen Panotier, verdanken sich Plinius. Immer, wußte Augustinus, ist Häßlichkeit Ausdruck der Gottesferne.
Die Aufklärung, heißt es, habe all dem ein Ende bereitet. Und tatsächlich blieb von dieser fremden Welt nur die Neugier auf sie. Monstrositäten wurden zu wunderbaren Einzigartigkeiten der Natur, die man in Wunderkammern sammelte. Man mühte sich, sie in das bekannte Naturgefüge einzubauen, suchte nach naturhistorischen Klassifikationen und anatomischen Regularitäten als Nachweis einer vernünftigen Ordnung. Doch es gelang nicht. Nicht mit dem Wissen der Zeit, die bis dahin davon ausgegangen war, alle Lebewesen seien beim göttlichen Schöpfungsakt in unendlich kleiner Gestalt vorgebildet worden und schlummerten seitdem, bis der Zeitpunkt für jedes einzelne gekommen war, sich aus dem Homunculus zu einem Lebewesen zu evolvieren. Wie aber waren die Mißbildungen mit der göttlichen Allmacht zu vereinen? Wie kam das Schlechte in die Welt? Leibniz meinte, auch die Monstren entsprächen den göttlichen Regeln, wir seien nur nicht in der Lage, diese zu erkennen. Erst in der Epigenesis, die zuerst die Idee einer stufenweisen Entwicklung der einzelnen Teile eines Organismus dachte, fand die Biologie diese Regeln. Damit, schien es, waren die Monstren aus der Welt, hatten sich aufgelöst in nichts als Fehler und Anomalien.
Chondrodystrophie, wie wir Maries Minderwuchs heute nennen, ist das Ergebnis einer seltenen genetischen Veränderung, einer Spontanmutation. Ein chondrodystrophes Kind kann durchaus normalgewachsene Eltern haben. Die Wahrscheinlichkeit, daß seine eigenen Kinder wiederum kleinwüchsig sein werden, beträgt fünfzig Prozent. Das Wissen, das die Monstren aus der Welt vertreibt, gebiert sie in uns. Als Krankheit bedrohen sie nun unsere Zukunft, sind weniger Zeichen von jenseits der Grenzen des Bekannten, als Wesen jenseits aller Grenzen. Heute sind sie direkte Ausflüsse unserer Ängste, deren Phantastik nicht tröstet, da die Besorgnis immer größer wird, es könnte uns gelingen, zu erzeugen, was wir fürchten.
Gustav saß neben Marie im Gras und hörte Maitey zu, wie er sang. Zunächst zierte der Südsee-Insulaner sich stets, wenn man ihn darum bat, doch hatte er einmal begonnen, wollte er nicht wieder aufhören. Er setzte sich dann sehr aufrecht hin, und sein Blick ging ins Leere. Seinen Gesang unterstützte er durch lebhafte Bewegungen mit den Händen, wobei alle Töne seines schier unendlichen Liedes nach a, i, ä klangen. Wenn Besucher der Insel ihn zufällig hörten, glaubten sie, einen Irren vor sich zu haben, Marie aber gefiel gerade, daß seine Gesänge nicht endeten. Gustav kam sich dabei fehl am Platz vor.
Zumeist bestand das Auditorium aus Marie und ihm, der Tochter des Tierwärters Becker, dem Riesen und Itissa, dem Mohren. Gustav wußte vom Maschinenmeister Friedrich, wie gut sich Maitey machte, und deshalb betrachtete er den Wilden mit Wohlwollen, schien er ihm doch der Beweis, daß die Zivilisierungskräfte des aufgeklärten Denkens in der Lage waren, den Menschen zu bessern. Aber die anderen machten ihm angst. Stets hatte er das Gefühl, als ob sie ihn auf eine unheimlich vertraute Weise anblickten. So, als wollten sie ihm zu verstehen geben: Wir kennen dich. So, als wäre er selbst auf eine gewisse Weise monströs.
Als der König im Sommer 1830 zur Besichtigung des Palmenhauses auf die Pfaueninsel kam, verbrachte er, obwohl er sich sehr lobend äußerte und außer Schinkel und Schadow ausdrücklich auch dem Onkel und Gustav seinen Dank aussprach, wie immer in den letzten Jahren die meiste Zeit im Maschinenhaus an der Havel, wohin er auch Besucher für gewöhnlich als erstes führte, um, wie er sich ausdrückte, der Arbeit der Maschine zuzusehen. Ansonsten geschah wenig. Ein größeres Ereignis, zumindest für Maitey, war die Ankunft des Kapitäns Wendt der Preußischen Seehandlung, der einige Südsee-Gänse für die Menagerie brachte, wobei sich überraschenderweise herausstellte, daß Maitey den Kapitän noch von seiner eigenen Überfahrt kannte. Das war ein freudiges Wiedersehen, und die beiden sprachen einen Nachmittag lang über die gemeinsamen Erlebnisse. Auch die Gänse waren Maitey von Kindheit an vertraut, und so saß er nun oft am Vogelteich. Und verliebte sich dort in Doro, die Tochter des Tierwärters, die in diesem Jahr gerade siebzehn geworden und deren Aufgabe es war, die Vögel zu füttern. Im August schon wurde über Heirat gesprochen.
Da wollte auch Marie wissen, wie es um sie beide stand. Es war eine schwüle Sommernacht, und die Kerzenflamme brannte in der Windstille wie erstarrt. Doch Gustav antwortete ausweichend. Die Gattin sei das edle Reis, das dem stumpfen Trieb, der Unmoral und der Gewalttätigkeit des Mannes aufgepfropft gehöre. Daß die Frau den Mann zur Sittlichkeit bringe, das sei das Ziel der Ehe.
»Und?« fragte Marie tonlos.
Sie sah seinen distanzierten Blick. Er schüttelte nur den Kopf. Dann aber lächelte er plötzlich und küßte sie, und alles war für einen Moment wieder gut. Er schien einen besonders amüsanten Einfall gehabt zu haben und lachte los.
»Aus der Verbindung von Schaf und Ziege entsteht die Schiege«, sagte er. Er konnte gar nicht aufhören zu lachen. Japsend fuhr er fort: »So, wie das Maultier eine Kreuzung von Pferdestute und Eselhengst ist.«
»Hör auf«, sagte Marie.
»Die Paarung einer Eselstute mit einem Pferdehengst ergibt einen Maulesel.«
»Sei still!«
»Sogar eine Kreuzung aus Löwe und Tiger soll es geben.«
»Du bist ekelhaft.«
Das Wort, das Gustav noch nicht kennen konnte, für etwas, das aus Verschiedenartigem zusammengesetzt und von zweierlei Herkunft ist, lautete Hybrid. Das lateinische hybrida wird mit Mischling oder Bastard übersetzt. Es geht auf die griechische Hybris zurück, die schuldhafte Tat wider die Ordnung.
»Ich bekomme ein Kind«, sagte Marie.
Sehnsucht ist ansteckend. Die Wege der Bilder sind reale, auch wenn wir meinen, unsere Phantasie träume sie herbei. Jenes phantastische Indien, das der junge Schinkel auf der Pfaueninsel hatte bauen lassen, kam auf ebenso wirklichem Wege nach Preußen wie die Krankheit, die den Sehnsuchtsbildern folgte, ja man könnte sich fragen, ob die Menschen nicht von jener verschont geblieben wären, hätten sie diese nicht geträumt.
1830 war die Cholera mit russischen Soldaten, die man von der indischen Grenze abzog, um sie gegen einen polnischen Aufstand zu werfen, erstmals nach Europa gelangt, und da sie sich aus Rußland und Polen wie eine Armee näherte, reagierte man in Preußen militärisch und errichtete einen cordon sanitaire an der Oder, der jedoch, abgesehen davon, daß es sich bei ersten prominenten Opfern um die Militärs Clausewitz, Gneisenau und Blücher handelte, gänzlich wirkungslos blieb. Unaufhaltsam kam die Krankheit näher, und wer konnte, floh oder verbarrikadierte sich. In einem Torfkahn, der eines Morgens in Charlottenburg anlegte, brachte ein kranker Schiffer, der wenig später starb, sie schließlich im August 1831 nach Berlin.
Es hieß, die königliche Familie werde auf die Pfaueninsel fliehen, was dann jedoch unterblieb, ohne daß man den Grund wüßte. Vielleicht, daß dem König in den Sinn gekommen war, es könnte das indische Heiligtum, dort, in der warmen, blütenduftgesättigten Luft des Palmenhauses, das Ziel der indischen Seuche sein. Auch auf der Insel gab es derlei Befürchtungen, unter den Tagelöhnern zumal, denen die exotischen Pflanzen nie ganz geheuer waren, aber Ferdinand Fintelmann sorgte für Ruhe und Ordnung, indem er, wie ein Vierteljahrhundert zuvor unter der Napoleonischen Besatzung, die Insel von der Welt losmachte, als wäre sie ein Schiff, das den Hafen verläßt. Alle entbehrlichen Arbeiter wurden nach Hause geschickt, der Publikumsverkehr mit dem Festland wurde eingestellt, Fährmann und Kahn blieben jenseits der Havel. Einzig die Post wurde alle paar Tage zugestellt, wobei Fintelmann so weit ging, die Papiere ausräuchern zu lassen, bevor sie geöffnet werden durften.
Marie war niemals glücklicher als in diesen Monaten ihrer Isolation. Keinen Gedanken verschwendete sie an die Cholera. Seit sie wußte, daß sie ein Kind haben würde, fühlte sie sich zum ersten Mal als Frau und Gustav unauflöslich verbunden. Das gab ihr eine Gelassenheit, die sie nicht gekannt hatte und die sie sogar über den sorgenvollen Blick ihres Bruders lachen ließ, der meinte, das werde kein gutes Ende nehmen.
Christian war bei Beginn der Seuche aus Stolpe auf die Insel zurückgekehrt, und auch das trug zu Maries Glück bei. Fast war es wieder wie früher, als sie drei noch Kinder gewesen waren. Die Insel, ohne Besucher, war wieder so leer wie damals, und, da die meisten Arbeiten ruhten, fast ebenso still. Zudem lockerte der Ausnahmezustand in gewisser Weise die Sitten, so daß etwa die zunehmend sichtbare Schwangerschaft Maries von niemandem beachtet zu werden schien, und auch Christians Gehabe nicht, der wieder mit nacktem Oberkörper umherging und seine alte Hose aus Schafsfell trug, deren Zotteln bei jedem Schritt wippten. Und Gustav tat bei allem mit, als wäre dies so selbstverständlich, wie Marie es sich dachte. Dabei übersah sie jedoch die Angst in seinem Blick. Und machte sich auch keine Gedanken darüber, daß er sie, seit er von ihrer Schwangerschaft wußte, nicht mehr anrührte. Bemerkte auch nicht, wie er Christian musterte. Nur einmal beobachtete sie etwas, was sie verunsicherte.
»Wenn dieser Löwe sprechen könnte, wir könnten ihn nicht verstehen.«
Marie sah überrascht hoch und hörte auf, das Tier zu streicheln. Christian hatte das gesagt. Wieder war es Herbst geworden, und sie hatten an einem der ersten sonnigen Tage seit langem einen Spaziergang zu den Käfigen gemacht. Ihr Bruder lagerte mit dem Rücken an den Gitterstäben und ließ Kies zwischen seinen Fingern hindurchrieseln. Gustav kauerte auf den Fersen vor ihnen. Sie begriff nicht. Weshalb könnten wir den Löwen nicht verstehen, wenn er doch sprechen könnte?
»Ja, das stimmt wohl«, sagte Gustav, bevor Marie, die sich gerade zu den beiden umdrehte, hatte fragen können, wie Christian das meine.
Und dann geschah etwas Seltsames. Gustav legte, wie zur Bestätigung, daß er ihn verstehe, seine Hand auf den Arm ihres Bruders und sah ihn eindringlich an. Der weiße Kies rieselte zu Boden. Und Gustavs Hand streichelte, ganz kurz nur, wie im Schwung, mit dem er zugleich aufstand, über den nackten Oberarm Christians und über seine nackte Schulter. Und Marie sah überrascht das stumme Begehren in seinem Blick. Doch dann war es auch schon vorüber, Gustav klopfte sich den Staub von den Händen, und ihr Bruder, den Kopf mit einem stillen Lächeln schief gelegt, nahm wieder eine Handvoll Kies und ließ ihn, ohne sie beide anzusehen und als wäre nichts geschehen, durch die Finger rinnen.
Marie verstand nicht, was in diesem Moment geschehen war, und vergaß es auch bald wieder, gab es doch in jener Zeit nichts Wichtigeres für sie als die Erwartung, daß Gustav sich endlich erkläre, ihr und der Familie, damit über ihrer beider Zukunft entschieden würde, die für sie nur Heirat bedeuten konnte. Darauf wartete sie, und im Hinblick darauf war alles andere unwichtig. Doch dazu kam es nicht. Erst müsse die Seuche vorüber sein. Sei die Seuche erst vorüber, werde er handeln, sagte Gustav immer und immer wieder, wenn sie ihn fragte, schließlich unterbrochen von zwei Nachrichten, die alles veränderten.
Die erste Nachricht war jene vom Tode Hegels, der am 14. November als einer der letzten in Berlin der Seuche, die schon im Abklingen war, zum Opfer fiel. Gustav erfuhr davon durch den Brief eines Studienkollegen, den er Marie unter Tränen vorlas.
An wen, geliebtester Freund! soll ich es schreiben, daß Hegel tot ist, als an Dich. Das Papier zitterte in Gustavs Hand und sein Blick suchte Marie. Am Freitag hatte er die beiden Vorlesungen noch gehalten; Samstag und Sonntag fielen sie ohnehin weg; am Montag war angeschlagen, daß Hegel wegen plötzlicher Krankheit seine Vorlesungen aussetzen müsse, aber am Donnerstag ihre Fortsetzung anzeigen zu können hoffe, aber noch an ebenjenem Montag war ihm das Ziel gesetzt. Die Bestürzung ist ungemein auf der Universität; Henning, Marheineke, selbst Ritter lesen gar nicht, Michelet kam fast weinend auf den Katheder. Mein Stundenplan ist nun ganz zerrissen. Den 17. gestern haben wir ihn begraben. Um 3 Uhr hielt Marheineke als Rektor im Universitäts-Saale eine Rede, einfach und innig, mich ganz befriedigend. Hierauf ging der ziemlich tumultarische Zug vor’s Trauerhaus und von da zum Gottesacker. Dieser war mit Schnee bedeckt, rechts stand die Abendröthe, links der aufgehende Mond.
Gustav konnte nicht weiterlesen, und Marie musterte ihn, während er seine Augen vor ihr verbarg. Sie malte sich die Szene aus mit dem Mond über jenem Friedhof in der Stadt, den sie nicht kannte, und der Versammlung am offenen Grab. Früher hatte ihr Gustav gelegentlich geschildert, wie es an der Universität zuging, von seinen Vorlesungen erzählt, den Professoren und seinen Kommilitonen. Wie lange das her war! Sie sah, wie sehr Gustav sich beherrschen mußte, um den letzten Satz des Briefes lesen zu können, immer wieder ging er im Schluchzen unter, doch schließlich gelang es. Neben Fichte, wie er es gewünscht hatte, wurde Hegel beigesetzt. Dann sah er sie an, und sein Blick war so traurig, daß sie es nicht wagte, ihn tröstend in die Arme zu nehmen.
Die zweite Nachricht, die seltsamerweise die Insel mit demselben Packen Post erreichte, war eine Ankündigung des Hofmarschalls, die Fürstin Liegnitz werde Anfang Dezember mit einer kleinen Gesellschaft von Potsdam herüberkommen, um im Palmenhaus zu dinieren. Wozu man das Schloßfräulein Maria Dorothea Strakon bitte, auch ihren Bruder Christian Friedrich Strakon, zudem die königlichen Pfleglinge Licht, Maitey und Itissa. Und auch Gustav Fintelmann, der Kenner der Sammlung exotischer Pflanzen im Palmenhaus, solle sich einfinden.
Ihr Bruder mußte lachen, als Marie ihm von der Einladung erzählte. »Diese Fürstin ist eine spaßige Person, Schwesterchen! Nicht nur feiert sie Feste, während ihre Untertanen wie die Fliegen sterben, sie hat auch noch Freude daran, alle Monstren, über die sie gebietet, dazu einzuladen.«
Marie lächelte schmal. Sie hatte ihrem Bruder, der damals schon nicht mehr auf der Insel gewesen war, ihr Erlebnis mit der Fürstin im Schloß verschwiegen. Und auch jetzt sagte sie nichts. Viel zu sehr hatte sie gleich das Wort Schloßfräulein in den Bann gezogen. Jahrzehnte war es her, daß man sie so genannt hatte.
»Ich wüßte zu gern, weshalb sie das tut«, sagte Christian nachdenklich.
»Also nehmen wir die Einladung an?«
»Haben wir denn eine Wahl?«
Marie schüttelte den Kopf.
Und so gingen sie alle am festgelegten Tag und zur genannten Stunde zum Palmenhaus hinüber. Schon am Morgen war das Personal angekommen, um in der Küche anzuheizen und Vorbereitungen für den Abend zu treffen, am Spätnachmittag trafen dann auch die Kähne der Herrschaften ein. Man hielt sich zunächst im Schloß auf. Eine Gesellschaft von einem Dutzend Personen, berichtete die Dienerschaft, alle in orientalischen Kostümen. Zuletzt erreichte auch noch eine Gruppe von Musikern mit einer Mietdroschke aus Potsdam die Insel.
Dem Hofgärtner mißfiel in Anbetracht der Tatsache, daß die Seuche keineswegs schon völlig überstanden war, die große Zahl fremder Personen auf der Insel, wie er die ganze Einladung für geschmacklos hielt und es nur zu verständlich fand, daß der König ihr fernblieb. Das ganze Jahr hatten er und Gustav darauf verwendet, die Umgebung des Palmenhauses so zu gestalten, daß sie den Besucher auf die Exotik des Raumes vorbereitete, hatten neben den Götterbäumen in kleinen Gruppen Riesenbärenklau gepflanzt und rotstieligen Alkermes, den glänzenden Wunderbaum, Tabak und brasilianischen Mangold mit seinen reichgefärbten breiten Blattrippen, dicht vor dem Haus indisches Blumenrohr, die akanthusförmigen Cardi und Onopordon, von kalifornischem Schotenmohn umgeben, dazu Zuckerrohr und Papyrusstauden. Von alldem war jetzt selbstverständlich nichts mehr zu sehen, die verdorrten Blätter waren entfernt, man hatte zurückgeschnitten, die Beete abgedeckt.
An den Schmalseiten des Baus, jeweils unter einer Pergola, befanden sich die Eingänge des Palmenhauses, Oberlichter darüber in Form stilisierter Pfauenräder. Als sie unter diesen Pfauen hindurchgingen, fiel Marie ein, daß sie auf dem Weg hierher kein Wort miteinander gesprochen hatten. So beginnt kein Fest, dachte sie, während die Wärme, die sofort auf sie einströmte, ihr schon den Atem nahm.
Sie wurden bereits erwartet. Zwei livrierte Diener standen beidseits der Tür, über den Armen Bündel von Kleidern. Sie nahm Gustavs Hand. Christian, der seinen schönsten Anzug anhatte, aus blauem Samt, zerrte mit einem aufmunternden Blick am Revers des Riesen, das nicht korrekt saß, Maitey sah auf seine frischgewichsten Stiefelspitzen, und Gustav sich nach den Palmen um. Man hatte buntglasige Ampeln zwischen ihnen aufgestellt, deren Licht sich in dem großen Raum verlor. Sie hörten das Krächzen von Papageien, sahen das bunte Flattern eines blauen Aras, dann einen rotköpfigen Parakit, der zwischen den Stämmen hindurchflog. In dem bunten Geisterlicht huschten, wie es ihnen schien, einige der kleinen Kapuzineraffen vorüber, die Marie so mochte, und dann sahen sie doch tatsächlich zwischen den Stämmen, ängstlich witternd, den kleinen bengalischen Hirsch. Weiße Turteltauben stiegen auf, kreisten unter dem hohen Dach und landeten dann heftig gurrend auf der Balustrade des Balkons über ihnen. Im Mittelgang lag die große indische Landschildkröte, deren Alter nach Jahrhunderten zählte, und grub ihre Schaufelbeine unendlich langsam in die Erde.
Ob sie denn nun, fragte mit metallener Stimme die Oberhofmeisterin der Fürstin, eine karge, altjüngferliche Gräfin von Kalnein, die keiner hatte herankommen sehen, ob sie denn nun vielleicht die Kostüme anlegen und zwischen den Palmen lustwandeln könnten? Das Diner auf dem Balkon habe bereits begonnen, die Musik warte nur noch auf die Zwerge und Riesen. Als der kleine Trupp sie überrascht ansah, erschien auf ihrem Gesicht ein dünnes Lächeln. Keiner von ihnen sagte ein Wort oder rührte sich auch nur. Das Lächeln der Oberhofmeisterin stand starr über ihnen allen und wartete.
Da fing Christian plötzlich an loszulachen. Er lachte so laut, daß die Tauben aufgeregt hoch unter die Decke flatterten, der kleine Hirsch ängstlich zwischen den Palmstämmen verschwand und ein Schimpfkonzert der exotischen Vögel losbrach. Und als wäre dies ein Zeichen, setzte im selben Moment die Musik ein, eine orientalische Lautenmusik, was Christian mit noch lauterem Lachen kommentierte, während er schon dabei war, sich den Anzug vom Körper zu reißen, dabei die anderen auffordernd, es ihm gleichzutun, und zugleich dem wartenden Dienerpaar den orientalischen Plunder abzunehmen und achtlos auf dem Boden zu verteilen.
Es war alles da. Pumphosen und Schleier, Turbane und Seidenpantoletten, Westen und Fächer, bestickte Gewänder und Spielzeugsäbel. Und alles in verschiedenen Zuschnitten, jeweils winzig und riesig, damit auch jeder etwas für sich fände. Schon war Christian nackt und stieg in eine mit glitzernden blauen Pailletten besticken Pumphose, während die anderen noch immer unschlüssig abwarteten. Nur der Riese, als er Christian in der Pumphose sah, fing nun gleichfalls an, lauthals zu lachen und sich auszuziehen. Christian schlüpfte in eine goldene Weste und stülpte sich einen ebensolchen Turban auf den Kopf, an dem eine Reiherfeder prangte. Jetzt begann auch der Mohr, sich seiner Kleider zu entledigen.
Marie wurde es bange, und sie flüchtete sich in Gustavs Arm. Für einen Moment hatte es den Anschein, als wollte Christian sich tatsächlich, wie gewünscht, nebst den aus ihren Käfigen herbeigeschafften Tieren unter den illuminierten Palmen ergehen. Doch dann begann er plötzlich zu tanzen, tanzte zur Wendeltreppe hinüber, die auf den Balkon hinaufführte, und Protestrufe der Gräfin von Kalnein wurden laut, als er die Treppe tanzend hinaufstapfte, noch immer mit diesem lauten Lachen, bei dem die Venen an seinem Hals so dick hervortraten, daß man nicht zu sagen wußte, ob er nicht eigentlich schrie. Er war offenbar von Sinnen. Alle sahen das jetzt. Doch nur Marie eilte ihm hinterher, und sie zog dabei Gustav mit sich.
Vom Balkon hatte man einen herrlichen Überblick über das ganze Palmenhaus. Christian sah nur einen Moment lang hinunter, dann wandte er sich der Tischgesellschaft zu. Große silberne Kerzenleuchter warfen ein blakendes Licht. Hier oben war es noch heißer als unten, und man trug leichte, ja aufreizend luftige Sommerkleidung. Ein fetter Greis mit rotgetönter Brille hockte da wie eine Kröte, neben sich zwei unendlich weißhäutige junge Männer mit langen Hälsen. Christian sah eine Dame in dunkelroter Seide und einen hageren Geistlichen, doch er hatte keine Zeit, die ganze Festgesellschaft zu mustern, schon entdeckte er die Fürstin am Kopfende des Tisches, ihr zur Seite ein Mädchen mit feuerroten Locken, und sogleich tanzte er auf sie zu. Die Fürstin klatschte vor Vergnügen in die Hände und winkte einen Lakaien herbei, ihren Stuhl vom Tisch abzurücken, denn sie erwartete offenbar eine Vorführung.
Und tatsächlich: Hüftschwingend näherte Christian sich ihr, die ihn nicht aus den Augen ließ, und warf, als Marie heraufkam und laut seinen Namen rief, damit er aufhöre, seiner Schwester noch einen schnellen Blick zu über die Schulter, hob dann das Kleid der Fürstin empor und verschwand darunter.
Die Tischgesellschaft erstarrte, und die Musiker verstummten mit einigen falschen Tönen. Marie spürte, wie ihr ein Frösteln über die Haut lief. Er darf das nicht tun, dachte sie immer wieder, und dann überfielen sie ihre Erinnerungen. Wie er sie berührt hatte, damals, als sie fast noch ein Kind gewesen war. Der Geruch seines Körpers nach dem kühlen, feuchten Wald, wenn er in ihr Bett schlüpfte. Die Sommer am Ufer mit Gustav. Ihre Begegnung im Heu und wie verloren sie sich dabei gefühlt hatte. Wie absurd es war, ihn zu lieben. Und wie der König sie immer angesehen hatte, während sie reglos dastand. Und die weiße Haut der Fürstin in jenem unheimlichen blauen Licht. Und wieder der König mit seinem traurigen Blick. Die Kälte lief ihr über die Haut wie flackerndes Feuer. Er darf das nicht tun, dachte sie noch einmal, doch dann verstand sie, weshalb er es tat. Es war genug. Und gierig sah sie dabei zu, wie sich die Fürstin mit vor Überraschung weit offenen Augen ganz langsam in ihrem Sessel aufrichtete. Sie schien, wie alle anderen, die Luft anzuhalten. Nach einem Moment aber, der Marie unendlich vorkam, seufzte die Fürstin laut und vernehmlich auf und sank, die Beine weit öffnend, tief in ihren Sessel zurück.
Noch einen ungläubigen Augenblick hielt die Erstarrung an, dann löste sie sich. Man lachte und einige der Gäste standen auf, um zu applaudieren, andere fielen ein, ein Takt fand sich, und es wurde, während die Fürstin die Augen geschlossen hielt und ein Lächeln starr auf ihren Zügen zitterte, so lange geklatscht, bis Christian wieder unter ihrem Kleid hervor auftauchte. Man johlte noch lauter. Und als man dann gewahr wurde, daß der Zwerg seine Hose geöffnet hatte und sein Glied rot aus der Seide emporragte, stieß man spitze Schreie aus.
»Christian!« rief Marie.
Gustav, der die ganze Zeit beschämt bei ihr gestanden hatte, war es jetzt genug. Er nahm ihre Hand und wollte sie wegziehen. Von unten, sah er, schauten Maitey und die anderen zu ihnen herauf.
»Komm, weg hier!«
Doch Marie machte sich unwillig los. Weshalb verstand er denn nicht, daß Christian gerade dabei war, sie alle zu rächen? Aber sie sah es! Die Rache ihrer Scham konnte Gustav nicht begreifen. So wenig begriff er. Weil er die Liebe nicht begriff, dachte Marie, und währenddessen tanzte Christian noch immer. Der Turban wackelte auf seinem Kopf hin und her wie ein übergroßes Nest. Mit einem Zwinkern zur Fürstin hin, tanzte er ganz dicht an das Mädchen mit den roten Locken heran, so dicht, daß es vor Scham die Hände vor das Gesicht schlug.
»Komm jetzt!« zischte Gustav wieder.
Marie schüttelte, ohne ihn anzusehen, nur den Kopf. Sie sah, wie Christian sich nach der Fürstin umdrehte und etwas sagte, mit seinem breiten Grinsen, während sein Glied vor dem verborgenen Gesicht des Mädchens auf und ab wippte. Und tatsächlich: Die Fürstin rief dem Mädchen etwas zu, was den ganzen Tisch in ein erneutes Lachen ausbrechen ließ, und es nahm die Hände herunter. Christian tanzte noch näher an es heran, und jetzt beugte es sich tatsächlich vor, zögernd, widerwillig, und fast im selben Moment faßte Christian den rotlockigen Kopf mit beiden Händen und drückte ihn fest auf sein Geschlecht. Die Fürstin klatschte in die Hände und sprang auf. Gustav wandte sich ab.
»Marie!« bat er flehentlich.
Aber Marie schüttelte nur lächelnd den Kopf, während Christian von der Rothaarigen abließ, zu ihr herübertanzte, ihre Hand griff und sie zu sich herumdrehte. Gustav sah, daß am Tisch alles aufsprang und johlte. Nur das Mädchen würgte und verbarg den Kopf in ihrem Schoß. Man machte Kopulationszeichen mit den Fingern, dann fiel das Klatschen in einen Rhythmus, der den Takt aufnahm, mit dem Christian sich jetzt vor seiner Schwester in den Hüften wiegte. Und ihr dabei immer näher kam. Immer noch näher. Bis Gustav es nicht mehr ertrug. Mit einem Schrei stürzte er sich auf Maries Bruder, griff ihn unter den Achseln und schleuderte ihn schreiend in einem weiten Bogen über die Brüstung.
Einen Moment lang verstand Marie nicht, was geschehen war. Dann stürzte sie an die Brüstung, die sie kaum überblicken konnte, lief wieder zurück zu Gustav, wieder an die Brüstung und endlich zur Wendeltreppe und hinab. Und dort unten lag Christian, regungslos, Blut überall an seinem Kopf, den der Riese, den noch niemand jemals hatte weinen sehen, weinend und schluchzend in seinem Schoß barg. Marie stand davor und spürte, daß sie sich nicht mehr bewegen konnte, und dann war plötzlich Maitey bei ihr, bis auf einen seidenen Schleier, wie sie noch registrierte, völlig nackt, und nahm sie in die Arme.