Achtes Kapitel. Maries Kind

Maitey sang. Er saß, sehr aufrecht und den Blick ins Leere gerichtet, auf dem dreibeinigen Schemel in der eiskalten Werkstatt und sang, die Arme weit ausgebreitet und die Hände in gestenreichem Gespräch mit einem unsichtbaren Gegenüber.

Es existiert eine Zeichnung, die ihn en face zeigt wie auf einer Polizeiskizze, man sieht darauf einen etwas gedrungenen, phlegmatisch wirkenden jungen Mann mit breitem Gesicht und wulstigen Lippen, ein Eindruck, den die Ponyfrisur und die enge Joppe noch verstärken. Seine Tatauierungen fehlen auf dieser Zeichnung ebenso wie der weiche, immerzu umherirrende Blick seiner dunklen Augen, der Marie sofort für ihn eingenommen hatte, und es fehlt vor allem seine melodiöse Stimme, der das Deutsche immer zu einem Singsang geriet. In diesem Moment sang er ein Lied seiner Heimat, in dem sich wie in all seinen Liedern viele vokalreiche Silben wiederholten, ein Lied, das seine Großmutter ihm beigebracht hatte und das, wenn man so will, von einem Fisch erzählte und einem Vulkan und das, wenn Maitey nicht wollte, kein Ende hatte.

An die Tiere der Insel dachte er dabei, die in ebensolchen Käfigen saßen wie sein eigenes Herz in der Trauer, womit aber nur unzureichend gesagt ist, daß er selbst stets auf eine gewisse Weise ein Baum war oder ein Fisch, und das eben hatte mit seinen Liedern zu tun, die weniger von etwas erzählten, als daß sie es dem Sänger erlaubten zu sein, wovon er sang. Was für die Zuhörer im Salon des Präsidenten, der ihn einmal, als er bei einer Soiree die Gäste bediente, etwas aus seiner Heimat zum besten zu geben bat, keinen anderen Eindruck zugelassen hatte als den, er sei verrückt. Auch ein Begriff, den Maitey nicht verstand. Damals hatte er sich, nachdem er unterbrochen und hinauskomplementiert worden war, aus den Resten in den abgeräumten Gläsern der Gäste betrunken und, weil er keinen Alkohol vertrug, weiter zu singen versucht. Man hatte ihn weggeschafft. Er habe randaliert, hatte ihm Rother am nächsten Tag tadelnd vorgehalten und sich nach einem Ort umzusehen begonnen, an dem sein Patenkind besser aufgehoben sein würde, was Maitey bald darauf hierher auf die Pfaueninsel gebracht hatte.

Und nun saß er in der Werkstatt des Maschinenmeisters Friederich und sang, weil er das Bild des kleinen Christian, der zu seinen Füßen im Blut lag, nicht vergessen konnte. Er hatte nicht gesehen, was auf dem Balkon im Palmenhaus sich ereignete, nachdem Christian hinaufgetanzt war, nur das laute Gelächter gehört. Das Blut, das dunkle Blut. Seine Stimme wurde kehlig und laut, fremdartige Triller mischten sich in die weichen Worte, als beschwerte sich ein Urwald voller Vögel über etwas. Maitey wußte worüber, über die Schuld jenes Blutes, und er begann sich beim Singen vor und zurück zu wiegen, schloß die Augen, spürte sein Herz in einem der Käfige und sehnte sich zurück auf die Insel seiner Kindheit. Und wußte tatsächlich selbst nicht mehr, weshalb er damals ins Wasser gesprungen und zu dem riesigen Schiff hinübergeschwommen war und den Kapitän, schwer atmend, die braune Haut mit glitzernden Wassertropfen bedeckt, auf englisch radebrechend gebeten hatte, ihn mitzunehmen. Als wären die Gründe auf der langen Reise verschwunden. Das durchsichtige Meer und die Gesichter seiner Geschwister, die Stimme seiner Mutter, der Geruch in der Hütte, all das gab es in seiner Erinnerung so, als wäre er jetzt dort.

Die Werkstatt, hohe Ziegelwände mit breiten Fabrikfenstern, vollgestellt mit allerlei Werkzeugen und Material, war ein Anbau an das Maschinenhaus der Pfaueninsel, dessen Herz die Dampfmaschine bildete, die im Sommer alles mit ihrem Krach erfüllte, nun aber stillstand.

Dem Maschinenmeister, einem kleinen drahtigen Mann, der einen wilden Backenbart trug und dem die Magenschmerzen, die er vergeblich mit Schnaps zu lindern suchte, tiefe Falten um den Mund gezogen hatten, war bald aufgefallen, wie geschickt der Sandwich-Insulaner, der aus seiner Heimat Übung im Schnitzen haben mußte, mit seinen Händen war. Und wie glücklich es ihn machte, als er vor dem Kastellanshaus die Walfischknochen entdeckte, die ein Kapitän Kolle aus Hamburg dem König einst verkauft hatte. Denkbar, daß sie aus Maiteys Heimat stammten, die damals ein Zentrum der Waljagd war. Aufgeregt hatte er Friedrich in seinem Singsang erklärt, daraus etwas Schönes machen zu wollen, und so hatte der Maschinenmeister ihm ein paar Stücke überlassen, und Maitey fertigte daraus in kürzester Zeit ein Modell des Pfaueninselschlosses, von dem Ferdinand Fintelmann so angetan war, daß er es an den Hof schaffen ließ.

Da es Friedrich kurzerhand als eigene Arbeit ausgegeben hatte, belohnte man den Maschinenmeister reichlich und forderte mehr, und er stattete seine Werkstatt mit einem zierlichen Schraubstock aus, winzigen Bohrern, Meißeln, Feilen und Sägen, besorgte auch Stiche der Gebäude, die er Maitey zu fertigen auftrug, und es entstanden, am Hofe hochbegehrt und teuer bezahlt, nach und nach Modelle der schönsten Bauten Preußens, so detailgenau, weil Maiteys Geist nichts mehr wollte, als sich in dieser Arbeit zu verlieren und alles zu vergessen.

Vor allem den Geruch des Todes. Maitey verstand nicht, daß die Menschen den Tod der Tiere nicht rochen, die in ihren Käfigen saßen und nicht vor ihm fliehen konnten. Immerzu wurden sie geleert und neu gefüllt. Wozu? Und selbst die Palmen rochen anders als in seiner Heimat, weil sie es hinter dem Glas des großen Hauses, das alle so bestaunten, kaum ertrugen. Und sie alle, Marie und Christian, der Riese und der Neger, auch sie waren gefangen in unsichtbaren Käfigen, sinnlos wartend auf ihren Tod unter den Blicken der Besucher. Maitey kannte diese Blicke aus dem Haus seines Paten. Es lauerte darin etwas, gierig, als warteten alle, daß er sie mitnähme dorthin, wo er herkam. Und zugleich ließ man ihn nicht weg. Er verstand das nicht. Warum reisten diese Menschen mit großen Schiffen über die Ozeane und holten sich all diese Lebewesen aus der ganzen Welt, um sie sich dann immerzu nur anzusehen? Etwas an uns, dachte Maitey, mögen sie mehr als sich selbst. Aber warum sperren sie uns dann ein? Warum essen sie die Tiere nicht und decken mit den Palmenblättern nicht ihre Häuser?

»Was du da siehst in unseren Blicken, mein lieber Maitey«, hatte der Präsident lachend gesagt, als er ihm einmal zu erklären versucht hatte, was ihn beschäftigte, »ist unsere Romantik.«

Maitey hatte nicht verstanden, was das bedeutete. Er sah Christian in seinem Blut und konnte nicht aufhören zu singen. Und dieses Blut war eine Schuld, von der hier, wie er verzweifelt dachte, niemand wußte, wie sie zu tilgen wäre. Und er hatte Angst davor, was aus ihr hervorgehen würde, und sang immer weiter, bis der Maschinenmeister Friedrich erst rief und dann mit schweren Schlägen seiner Faust gegen die Tür hämmerte, die Werkstatt und Wohnhaus verband, und hörte erst auf, als Friedrich seinen Kopf hereinsteckte und ihn anbrüllte, er solle endlich mit seinem Gejaule aufhören. Schließlich habe es einen Todesfall auf der Insel gegeben, da zieme es sich nicht, unchristliche Lieder zu singen, die zudem keinem zivilisierten Menschen gefielen.

Das Weihnachtsfest 1830 stand bevor. Marie saß starr in ihrem Hochstuhl am Eßtisch. Keinen Bissen des Mittagessens hatte sie angerührt, die Tante ihren Teller wortlos weggenommen, und als alle aufgestanden waren, war sie einfach sitzen geblieben.

Es war ein dämmriger Tag, an dem es nicht richtig hell werden wollte, und Ferdinand Fintelmann, der den Nachmittag in seinem Arbeitszimmer über dem Jahresbericht für die Garten-Intendantur zubrachte, hatte bald den Eindruck, jetzt komme schon wieder die Nacht, zündete eine Lampe an und ging ins Eßzimmer zurück, wo Marie noch immer reglos saß. Die Lampe legte einen warmen Lichtkreis auf das Tischtuch und er allerlei Papiere da hinein, auch Tinte und Feder, dann setzte er sich und fuhr mit seiner Korrespondenz fort. Immer wieder sah er dabei über seine Brille hinweg zu ihr auf, denn er sorgte sich sehr um sie. Fühlte sich zu alt für all das, was geschehen war, und es kam ihm so vor, als entwände ihm die Zeit selbst mit sanftem Griff diesen Ort, der doch einmal sein eigener gewesen war.

Es hatte ihn große Mühe gekostet, bei Hofe dafür zu sorgen, daß das furchtbare Geschehen als ein tragisches Unglück angesehen und nichts gegen seinen Neffen unternommen wurde, und er hatte dabei deutlich gespürt, daß er ein alter Mann war, den man schon nicht mehr ganz ernst nahm. Vor allem die Fürstin Liegnitz, hatte man ihm zugetragen, habe zunächst auf einer Bestrafung bestanden, und Fintelmann mußte selbst nach Berlin reisen und beim König vorstellig werden, um darzulegen, was dies für seine Familie bedeuten würde. Seltsam, aus welchen Gründen der Monarch gezögert hatte, seiner Bitte zu entsprechen. Immer wieder hatte er von der Rücksicht auf Marie, der Schwester des Toten, gesprochen. Sich schließlich aber doch bereit erklärt, das Ganze als Unfall zu den Akten nehmen zu lassen, und in diesem Sinne hielt der Hofgärtner das Geschehene jetzt in seinen Papieren fest. Die Feder kratzte laut in der lastenden Stille, und er fühlte sich schuldig bei dem, was er da schrieb. Aber er mußte Gustav doch schützen!

Er wünschte, Marie würde mit ihm sprechen und er könnte sich ihr erklären. Wie eine Tochter war sie stets für ihn gewesen, niemals ein Mensch von geringerem Wert. Aber selbstverständlich: Wären die beiden keine Mißgeburten, wäre es ihm unmöglich gewesen, Gustav vor Strafe zu bewahren. Maries Gesicht war eine Maske, und ihre Augen starrten ins Leere.

Nur einmal in der letzten Woche war das Leben in sie zurückgekehrt. Das war nach der Beerdigung in Stolpe gewesen, als sie zu dem Schneider gegangen waren, bei dem Christian gewohnt hatte, und seine Sachen holten, unter denen ein Paket sich befand und darin ein äußerst kostbares Kleid, bei dem zweifelsfrei war, daß ihr Bruder es für ihre Maße angefertigt hatte. Die Überraschung darüber zerbrach für einen Moment die Starre, in die sie noch in der Nacht seines Todes gefallen war. Sie hatte das Kleid ausgebreitet und glücklich gelächelt und gar nicht mehr aufhören können, es zu betrachten, hielt es sich schließlich vor die Brust, und ihr Lächeln bekam etwas Triumphales, und dann begann sie fürchterlich zu weinen. Alle standen betreten dabei in dem kleinen Zimmer, und weil sie nicht aufhörte zu weinen, ging man hinaus. Als sie auf den Wagen stieg, war ihr Blick wieder starr. Christians andere Sachen kümmerten sie nicht, nur das Paket hielt sie fest umklammert.

Ferdinand Fintelmann wurde das Herz schwer, wenn er daran dachte, doch die Arbeit duldete keinen Aufschub. Mit einem Seufzer nahm er eines der Papiere auf, die vor ihm lagen, Professor Lichtenstein hatte ihm geschrieben. Er habe von den Verlusten an Tieren auf der Insel gehört und bitte um Aufklärung über den Tierbestand. Tatsächlich war die Lage nicht gut. Von den achthundertsechsundvierzig Tieren der letzten Zählung waren nur mehr sechshundertdreißig am Leben. In den letzten anderthalb Jahren waren so viele Affen gestorben, daß von seinerzeit elf Affenarten nur mehr fünf übrig waren, darunter Gott sei Dank die drei Mandrills, die mit ihren bunten Hinterteilen zu den auffallendsten Tieren der Menagerie gehörten. Von den Grauen Riesenkänguruhs, die noch vor Jahresfrist eine kleine Herde gebildet hatten, lebten nur noch vier.

Lichtenstein mahnte an, daß man bei etwaigen Todesfällen nichts wegwärfe, sondern die Cadaver in einem Faß mit schlechtem Brandwein oder Rum zusammen aufbewahrte, da sie dann noch immer eine gute Studie für die Anatomie abgäben, und Fintelmann überlegte, wie es zu bewerkstelligen sein könnte, zumindest die größeren Exemplare nach Berlin zu schicken, damit sie seziert und gegebenenfalls als Präparate für das Museum aufgearbeitet werden konnten, und schrieb einen entsprechenden Brief, in dem er dem Professor auch hinsichtlich einer anderen Sache antwortete, um die er ihn gebeten hatte. Er solle Untersuchungen mit den Känguruhs anstellen, da der Wissenschaft noch immer unklar sei, wie die Fortpflanzung und vor allem die Geburt bei diesen Tieren vonstatten gehe. Daher solle er für die Zeit, in welcher man den Übergang der Jungen in den Beutel erwarte, unausgesetzt Tag und Nacht Leute zur Beobachtung abstellen. Fintelmann wußte, bei all den Arbeiten, die auf der Insel anfielen, nicht, wer das übernehmen konnte, und quälte sich mit seiner Antwort. Er legte die Brille auf das Tischtuch und sah Marie an.

»Gustav«, sagte er, »ist in Paretz. Er wird den Winter über dortbleiben.«

Er befürchtete schon, sie werde ihm nicht antworten, so lange stand der Satz im Raum. Doch schließlich, ohne daß ihr Ausdruck sich änderte, sah sie ihn an.

»Da ist nichts zu tun im Winter.«

Der Onkel nickte. »Im nächsten Frühjahr übernimmt er bei Sello in Sanssouci die Melonerie.«

Sie sah ihn weiter mit diesem toten Blick an, der so kalt durch ihn hindurchging, daß es ihn ängstigte. Erwartete sie wirklich, er werde sich für Gustav bei ihr entschuldigen? Und was hülfe das?

Marie hatte zunächst nur weggewollt, von Gustav, von der Insel. Doch wohin? Und wovon leben, zumal mit dem Kind, das sie bald haben würde? Es ist meine Insel, hatte sie dann trotzig gedacht. Und es ist mein Kind. Und hatte den Beschluß gefaßt zu bleiben. Wichtig war nur, daß sie Gustav nicht mehr begegnen mußte. Denn seltsamerweise fühlte es sich für sie so an, als wäre nicht Christian, sondern Gustav der Tote.

»Ich will hier nicht mehr wohnen«, sagte Marie.

Immer wieder derselbe Traum. Nur sie drei waren im Palmenhaus, Christian und sie verborgen hinter den Blättern, und Gustav mit seinem Zeichenblock auf einem Falthocker vor den Pflanzen. Zwischen den Palmwedeln hindurch beobachteten sie ihn, und sie waren nackt, und sie sah im Traum ihre beiden Körper weiß zwischen dem Grün hindurchschimmern. Und sie wußte, Gustav bemühte sich sehr, sie nicht zu beachten. Die Schatten im spärlichen Licht und all die nickenden, spitzen, gezackten Wedel. Und draußen, vor dem Glas, die schwarze Nacht.

Und dann lagen sie plötzlich auf einem orientalischen Teppich, immer noch nackt, und sie hatte ein buntes seidenes Tuch um die Haare geschlungen und dünne goldene Ketten um ihre Taille, als wäre sie eine orientalische Prinzessin, und Christian und sie mußten darüber so sehr lachen, wie sie zuletzt als Kinder miteinander gelacht hatten, und dann war Christian verschwunden, und als Marie aufstehen und zu Gustav hinübergehen wollte, konnte sie es nicht, sosehr sie sich in ihrem Traum auch anstrengte.

Irgendwann hörte sie dann das Geräusch von klappernden Hufen auf den Steinplatten, und dann war Christian wieder da, und er trug wieder seine Hose aus Schafsfell, und an einem roten Seidenbändchen, mit einer Schleife um den Hals, führte er das schöne Astrachanschaf heran, das schon so lange tot war. Die Ketten um ihren Bauch, an denen jetzt Münzen befestigt waren, klimperten, als sie sich aufrichtete, was jetzt ganz leicht ging. Christian gab ihr das Band, dessen Rot ihr seltsamerweise unerträglich in den Augen schmerzte, während sie zusah, wie ihr Bruder sich mühte, Gustav die Hose aufzunesteln, der sich jedoch sehr dagegen wehrte. Aber Christian war stärker und drückte ihn schließlich gegen das Schaf.

Es ist das Schaf mit dem weichsten Fell auf der Insel, hörte sie sich selbst sagen. Und das Schaf stand ganz still, und sie hielt das Band fest, und Gustavs Hände krallten sich in das warme, fellige Hinterteil des Tieres. Doch dann ließ sie das Band los und wachte auf.

Es war Anfang März und regnete ohne Unterlaß, doch Marie fühlte sich wohl in ihrer neuen Stube im zweiten Stock des Cavaliershauses. Vor langer Zeit, noch bevor man das Schloß, die Meierei und das Kastellanshaus und dann alles andere errichtet hatte, war es einmal das Gutshaus der Insel gewesen, dann Unterkunft für die Kinder des Königs, und jetzt wohnte der Gartenknecht Kluge mit seiner Frau hier, dazu die Jäger und Fischer und seit diesem Jahr auch der Tierwärter Daniel Wilhelm Parnemann. Etwas verlassen gelegen im Wald hinter der Menagerie, hatte das Haus noch etwas von der früheren Zeit bewahrt, und wenn man nicht hinausging, konnte man die reichverzierte gotische Fassade ganz vergessen, mit der Schinkel den alten Nutzbau als Attraktion in den Park eingefügt hatte. Immerzu hörte man Schritte auf der breiten Treppe, Stimmen in den Gängen, kochte jemand in der großen Küche.

Selten fand Marie sich dort ein, um mit den anderen zu essen, meist brachte die Klugin ihr etwas herauf. Wenn der Onkel, was ein paarmal vorkam, nach ihr sehen wollte, ließ sie ausrichten, sie schlafe. Einmal kam die Tante, um zu fragen, ob sie etwas brauche, Marie dankte und schüttelte den Kopf. Die Herrnhuterin betrachtete ihren Bauch und bestand darauf, daß der Potsdamer Arzt, der für die Versorgung der Tiere zuständig war, bei seinem nächsten Besuch auch nach Marie sehe. Dr. Pfeil fand alles in der rechten Ordnung. Es war das erste Mal, daß ein Arzt sie berührte, doch er verstand es, ihr Vertrauen dadurch zu gewinnen, daß er sein offenkundiges Interesse an ihrer Anatomie mit jener Gleichgültigkeit maskierte, die er sich im Umgang mit den Tieren angewöhnt hatte.

Und noch jemand interessierte sich für sie. Eines Morgens, als sie im Bett nicht mehr gewußt hatte, wie sie liegen sollte, und hinausgegangen war vor das Haus, hörte sie plötzlich energische Schritte, die sich auf dem Kies näherten, und dann kamen zwei Gestalten aus dem Regen, die sie noch nie auf der Insel gesehen hatte. Zwei großgewachsene Männer schritten schnell vorüber, die breitkrempige Hüte trugen und weite Mäntel, von denen der Regen abtropfte, und grobe Stiefel, an denen Erde klebte. Ihre Gesichter konnte Marie unter den Hüten nicht erkennen, aber daß einer der Männer eine kleine Peitsche in der Hand hielt, die er bei jedem Schritt spielerisch gegen seinen Oberschenkel schlug, bemerkte sie.

Bei den beiden handelte es sich um die Tierhändler Hermann van Aken und August Sieber. Van Aken aus Rotterdam betrieb eine wandernde Tierschau und war auch als Tierhändler am preußischen Hof in Erscheinung getreten. Er schlug sein Zelt meist auf dem Exerzierplatz vor dem Brandenburger Tor auf, und im letzten Herbst hatte der König dort seine Menagerie besucht. Van Aken war dann zum Berater für die Pfaueninsel ernannt worden, um der hohen Tiersterblichkeit Herr zu werden, und hatte dem Hofgärtner in diesem Winter zum ersten Mal Medizin geliefert, vor allem für die Affen, die zumeist an Husten, Schnupfen und rheumatischem Fieber litten. Im Gegenzug durfte van Aken seine eigenen Vögel auf der Pfaueninsel überwintern lassen.

»Wissen Sie, Sieber«, sagte er mit seinem weichen holländischen Akzent, »das Geschäft mit den Tieren wird nicht mehr lange gehen. Mein Vater Anthonys selig konnte das noch mit Erfolg betreiben. Der Prinz von Oranien, der selbst ordentliche Menagerien in Den Haag und Apeldoorn besaß, hat ihn besucht! Aber heute?«

Die beiden hatten auf dem Weg zur Voliere, wo sie ihre Bestände inspizieren wollten, das Cavaliershaus passiert und waren nun wieder im Wald. Schweigend stapften sie weiter durch den Regen. Doch irgendwann blieb van Aken stehen und sah August Sieber mit blitzenden Augen an.

»Haben Sie die Gestalt da eben bemerkt? Wissen Sie, die Menschen haben ein unstillbares Verlangen nach außergewöhnlichen Erscheinungen. Ob Zwergköniginnen oder Riesenknaben, fette Kolossaldamen oder behaarte Affenmädchen, Hermaphroditen oder siamesische Zwillinge, das ist ganz egal. Ich sage Ihnen, diese Zwergin da, mit dem Balg, das sie bald haben wird, das wäre einmal etwas!«

Und dann machte die Nachricht die Runde, der Löwe liege im Sterben. Gut fünf Jahre war es her, daß man ihn auf die Insel brachte. Im letzten Winter hatte er bereits eine Lungenentzündung überstanden, sich jedoch nie mehr ganz erholt. Marie machte sich gleich auf, ihn noch einmal zu sehen, und wie immer war es, als hätten die Tiere in ihren Käfigen auf sie gewartet. Auch der Löwe schleppte sich gleich aus der hintersten Ecke, in die er sich verkrochen hatte, zu ihr hin und ließ sich so an den Stäben nieder, daß sie seinen Bauch streicheln konnte, der sich schwer hob und senkte. Sie erinnerte sich, während sie ihm behutsam das Fell kraulte, wie seine Augen damals aus dem Dunkel der Kiste aufgetaucht waren, und wurde furchtbar traurig dabei.

Plötzlich warf er sich herum, als wollte er die Krankheit noch einmal abschütteln, und mit hechelndem Maul sah er sie an. Erschrocken von der unerwarteten Bewegung wich sie einen Schritt zurück. Doch sein Blick, in den die alte Kraft noch einmal zurückgekehrt zu sein schien, bannte sie. Sie meinte zu sehen, wie er ihren Bauch betrachtete, und da sie eine Expertin für Blicke war, fühlte sie sich lebendig unter ihm und schön. Am nächsten Tag war der Löwe tot, und zwei Tage später bekam Marie ihr Kind.

Der Schmerz ließ sie stöhnend aufs Bett sinken, und kaum saß sie, wurde es naß zwischen ihren Beinen. Furchtsam rief sie nach der Klugin.

»Kindchen, Kindchen!« schüttelte diese den Kopf, als Marie ihr erklärte, sie wolle nicht, daß die Hebamme komme. Der Onkel hatte angeordnet, daß Doktor Pfeil geholt werden solle, wenn es soweit wäre, da man nicht wisse, welche Komplikationen es bei ihr geben könne, aber das wollte Marie noch weniger. Also strich sich die Klugin die Hände an ihrer Schürze ab, nahm das Laken vom Bett, wischte das Fruchtwasser auf und brachte frische Wäsche, in die hinein sie Marie legte. Der Schmerz in ihrem Bauch rollte in langsamen Wellen heran, deren Zurückhaltung sie mehr ängstigte, als wäre er wie ein Gewitter über sie hereingebrochen.

»Ich komme und schaue nach dir, wenn ich Zeit habe. Du mußt immer schön drücken. Ruf mich, wenn etwas ist.«

Die Frau des Gartenknechts sah sie besorgt an. Sie glaubt, daß ich sterben muß, dachte Marie und wollte noch etwas Beruhigendes sagen, doch da war sie schon hinaus. Marie fühlte sich im selben Moment sehr einsam. Aber sie beherrschte sich, denn der Schmerz, der in ihr pulsierte, in langen gnädigen Wellen, ließ ihr keine Wahl. Dem, was jetzt geschah, konnte sie sich nur überlassen, und so lag sie still und ließ die Zeit vergehen. Irgendwann dämmerte der Abend, und sie begann unruhig zu werden, weil sich nichts zu verändern schien. Wie groß mochte das Kind sein? Würde es sie zerreißen?

Die Klugin kam und brachte eine Lampe und etwas zu trinken, und plötzlich stand Maitey in der Tür und fragte verlegen, ob er hereinkommen dürfe. Die Klugin schüttelte mißmutig den Kopf und eilte hinaus. Marie probierte ein Lächeln und hieß ihn, sich zu ihr zu setzen. Aber die Schmerzen wurden nun stärker, und sie bat Maitey, ihr doch von seiner Heimat zu erzählen. Sie hörte so gern vom Meer und wie klar es war unter dem hellen Himmel. Vom Sand und den Palmen, die sich über den Strand beugten. Von seinem Vater und den vielen Geschwistern. Von der Insel, von der er kam, die eine Insel unter unzähligen Inseln war im Meer. Von den Fischen, von den glitzernden Fischen.

»Es ist Gustavs Kind.«

Maitey nickte. Irgendwann hatte sie ihm alles von Gustav und sich erzählt, von allem Anfang an. Auch, wenn sie nicht sicher war, was er davon begriff.

»Vielleicht sterbe ich.«

Wieder nickte er.

»Meinst du, ich sterbe?«

Statt ihr zu antworten, begann er zu singen, so leise, daß man es im Haus nicht hörte, und Marie malte sich aus, sein Lied erzähle von jenem Meer und jenen Inseln, und es schien ihr, als hielte sein Gesang den Schmerz in Zaum und besänftigte seine Wellen. Sie dämmerte kurz weg, träumte gar für einen Augenblick von den Pfauen und dem Löwen, dem Äffchen in seinem Käfig und von den Känguruhs. Sie hatte es gesehen, dachte sie stolz im Halbschlaf, hatte gesehen, wie das Kleine hinaufgekrochen war in den Beutel, eines Morgens, als sie am Gatter stand. Niemand sonst hatte es gesehen, nur sie. Dieses winzige Wesen mit den großen geschlossenen Augen, wie es sich durch das Fell der Mutter kämpfte, die es besorgt beschnüffelte dabei, bis es endlich in ihrem Beutel verschwunden war. Dann hörte Maiteys Gesang auf, und der Schmerz kam wieder. Oder war es umgekehrt? Längst konnte sie nicht mehr sagen, wie lange es schon dauerte. Sie tastete nach seiner Hand und hielt sie fest, konzentrierte sich nur mehr auf den Schmerz und hielt seine Hand so fest sie konnte.

»Tu’ ich dir weh?« fragte sie noch und sah ihn mit entsetzten Augen an.

Dann schrie sie. Sie hatte es nicht gewollt, und es war ihr peinlich, doch der Schmerz drückte plötzlich wie eine eiserne Faust in ihr nach unten, sie hatte nicht erwartet, daß es noch schlimmer werden würde, und sie schrie und schnappte hechelnd nach Luft und schrie, immer auf den Wellen des Schmerzes, als könnte sie auf ihnen dahingleiten.

Die Klugin riß die Tür auf, stürzte herein und scheuchte Maitey hinaus, der dabei mit Doro zusammenstieß, die, totenbleich, eine Schüssel heißes Wasser hereinbalancierte, Handtücher über dem Arm, während Marie immer weiter schrie vor Schmerz, der ihr nun keine Pause mehr ließ. Sie beugte sich über sie, riß die Decke weg und sah ihr zwischen die Beine, nahm dann Maries Oberkörper und hielt ihn ganz fest, bis sie sich tatsächlich ein wenig entspannte.

»Und nun drücken. Immer feste, Kindchen. Drücken!«

»Ich will, daß es Christian heißt!« preßte Marie hervor. »Es soll Christian heißen!« Auch wenn ich sterbe, dachte sie, und dann war es vorbei.

Woher Doktor Pfeil dann kam, wußte sie nicht. Es wunderte sie, was er da tat zwischen ihren Beinen, denn sie spürte gar nichts mehr, sah das Blut nicht, das das Laken tränkte, hörte nur, als wäre sie unter Wasser, wie ihr Herz bis zum Hals schlug und wie dieses Schlagen langsam leiser wurde, und spürte, wie angenehm es war, so ruhig atmen zu können, und wäre beinahe eingeschlafen. Da wurde sie plötzlich aus dem Bett gehoben und riß überrascht die Augen auf, aber schon lag sie wieder auf einem frischen, trockenen Laken, und man deckte sie mit einem weichen Federbett zu. Das ist nicht meine Decke, dachte sie, und schon fielen ihr die Augen wieder zu. Und dann dachte sie: Wo ist mein Kind? Und im selben Moment legte man ihr etwas in den Arm, und Marie sah die massige Gestalt der Klugin, die sich lächelnd über sie beugte, und dann das Päckchen mit dem kleinen Gesicht. Vor dem Fenster dämmerte es, und der Schein der Lampe auf dem Nachttisch verlor ganz langsam alle Kraft.

Im Sommer kam der Maler Carl Blechen auf die Insel. Er hatte den königlichen Auftrag, das Innere des Palmenhauses zu malen, und dafür vorab um einige Modelle gebeten. Fintelmann ließ unter anderen Doro dem Maler zur Hand gehen und Maitey ihm helfen, seine große Kiste vom Landungssteg heranzuschaffen. Der Sandwich-Insulaner war äußerst besorgt, was im Palmenhaus mit seiner Freundin geschehen werde, die Erinnerung an Christians Tod noch frisch, und so stand er den ganzen Tag an den großen Scheiben und spähte, in der Hand eines seiner Schnitzmesser, unablässig hinein.

Und auch August Sieber, der Mann, den Marie im Regen neben van Aken am Cavaliershaus hatte vorübergehen sehen, kam wieder auf die Insel. Mit einem Jahresgehalt von sechstausend Talern war er zum Königlichen Menagerieaufseher bestellt worden und Fintelmann sehr froh, dieser Verantwortung nun ledig zu sein. Sieber wurden der Fasaneriejäger Johann Georg Köhler und Martin Wiesenack unterstellt, Nachfolger des im letzten Jahr gestorbenen Schäfers Elsholz, und dazu die beiden Tierwärter Hermann Johann Becker und Daniel Wilhelm Parnemann. Alle außer Wiesenack, der in Nikolskoje zu Hause war, wohnten im Cavaliershaus, Sieber selbst hatte Zimmer und Kammer im Hintergebäude des Palmenhauses. Doch die Lage der Tiere besserte sich nicht. Bald schon schrieb Sieber an seinen Vorgesetzten Lichtenstein, er lasse es an nichts fehlen, aber dennoch müsse er den Herrn Professor bitten, durch Seine Exzellenz oder Herrn Geheimkämmerer Kynast Seine Majestät den König es wissen zu lassen, daß so viele Affen gestorben sind, und daß ich nicht Schuld daran bin. Ich weiß vor Angst und Sorge nicht mehr, was ich anfangen soll. Meine ärgsten Feinde hier auf der Insel können nichts anderes sagen, als daß ich mit vieler Sorgfalt und Mühe meine mir anvertraute Menagerie beobachte.

Der Beliebtheit der Pfaueninsel bei den Berlinern tat dies keinen Abbruch. In diesem Sommer 1831 kamen sie nicht mehr nur mit Postkutschen und Kremsern, auf Gondeln und Kähnen, sondern erstmals auch auf dem Seehandelsdampfer Havel. Dienstags und donnerstags um acht und um halb elf Uhr am Vormittag, am Nachmittag um halb zwei, vier und sechs Uhr legte er in Potsdam ab, um die Menschen, die nach Tausenden zählten, herzubringen. Um sieben am Abend war die letzte Rückfahrt.

Fintelmann postierte an diesen Tagen sechs Gendarmen am Landungssteg, und Sieber wies jeden an, den er entbehren konnte, bei den Tierkäfigen für die Aufrechterhaltung der Ordnung zu sorgen. Es kamen vor allem die Soldaten der Potsdamer Garnison, zumeist Grenadiere der Garde du Corps, und Fintelmann beschwerte sich in diesem Jahr mehrmals beim Hofmarschall, daß sie die gesperrten Wege begingen, betrunken waren und überhaupt die Ordnung störten. Marie verließ dann ihre Stube nicht, so heiß und stickig es darin auch war, schlief viel und wachte immer wieder schweißgebadet aus seltsamen Träumen auf, in denen Christian eine Rolle spielte, aber auch Gustav, und die selbst voller hitziger Berührungen und Küsse waren, für die sie sich ein wenig schämte, während sie ihrem schlafenden Kind Luft zufächelte.

Im Herbst ereignete sich auf der Insel ein weiterer Todesfall. Der Mohr Theobald Itissa wurde bei einer Jagd versehentlich erschossen. Als Köhler, der Jäger, zu der Leiche des Schwarzen kam, die hingestreckt im dürren Buschwerk auf dem alten Laub lag, und sah, wie das Blut unter dem Körper hervordampfte, spürte er unbehaglich, wie sich in seinen Schrecken über das Unglück Jagdfreude mischte, und für einen Moment betrachtete er Itissa wie jedes Wild, das er erlegt hatte.

Am Martinstag kam es, zum ersten Mal nach der Nacht von Christians Tod, zu einem Wiedersehen von Gustav und Marie. Wie jedes Jahr wurden an diesem Tag auf der Insel Hühner, Gänse und Tauben versteigert, man hatte auf der Schloßwiese diverse Körbe und Käfige aufgestellt, und, da es seit einigen Tagen sehr kalt geworden war, eiserne Feuerkörbe, an denen man sich wärmen konnte. Auch Grog wurde gegen geringes Entgelt ausgeschenkt, was die, die an diesem Tag auf die Insel kamen, durchaus zu schätzen wußten. Zwar betrachtete man ausgiebig die Tiere, doch die meiste Zeit stand man am Feuer und unterhielt sich, man kannte einander, es waren nicht die üblichen Ausflügler hier, sondern vor allem Bauern und Kleinhäusler aus Stolpe und den anderen Gemeinden der Umgegend.

Maitey hatte Marie vorgeschlagen, sie sollten sich den Trubel doch einmal besehen, der sich da auf der Schloßwiese ausbreitete, und Marie hatte nach einigem Zögern zugestimmt, den Kleinen fest in dicke Tücher gepackt, ihm darunter noch Handschuhe angezogen und ein Mützchen, das sie nach Anleitung der Klugin gestrickt hatte, und um sich selbst und das Kind nochmals ein Tuch geschlagen.

Sie hatte ein wenig Angst davor gehabt, unter Menschen zu gehen, so lange hatte sie niemanden gesehen als die Bewohner des Cavaliershauses und eben Maitey, doch ihre Befürchtungen waren ganz grundlos gewesen, das Kind schlief fest und warm in ihrem Arm, und die Bewohner der Insel, die sie so lange nicht gesehen hatte, begrüßten Marie aufs herzlichste und schauten neugierig dem Kind in das kleine Gesichtchen. Immer wieder wurden neue Scheite ins prasselnde Feuer geworfen, und hoch stieben die Funken auf. Auch Fintelmann war da, seine greisenhaft spitze Nase rot vor Kälte, und er freute sich offensichtlich sehr, Marie zu sehen, und herzte den Kleinen über alle Maßen. Und selbst die Herrnhuterin lächelte dem Kind zu. Wann denn nun Taufe sein werde, fragte sie gerade und beugte sich dabei zu Marie hinab, als um sie her das Gespräch mit einem Mal stockte. Verwundert richtete die Tante sich auf und schaute in dieselbe Richtung wie alle anderen in der Runde.

»Was ist denn?« fragte Marie neugierig, da ihr die schweren Mäntel und Joppen im Weg waren, und suchte Maiteys Blick, der jedoch so haßerfüllt, wie sie es noch nie an ihm gesehen hatte, in ebendieselbe Richtung starrte. Und dann teilte sich die Gruppe wortlos, und Marie sah Gustav mit festem Schritt auf sie zukommen. Doch ebenso überrascht wie sie, machte er im selben Moment, in dem er sie entdeckte, auf dem Absatz kehrt und ging wieder in Richtung Kastellanshaus davon. Er hätte ihn getötet, wenn er näher gekommen wäre, das schwöre er, zischte Maitey.

Als aber Gustav am selben Abend an Maries Tür klopfte und ins Zimmer trat, war er nicht da, um ihr beizustehen. Marie saß an der Wiege, schaukelte das Kind und hielt ihm das Rubinglas vor. Von Anfang an war es sein Liebstes gewesen, wenn sie es über seinem Gesicht drehte und der rote Schein darin aufblitzte. Zog das Leuchten sich tief ins Glas zurück, wurde sein Blick aufmerksam und ernst. Daß jetzt jemand im Zimmer stand, bemerkte das Kind nicht. Aber Marie empfand wieder dasselbe wie am Nachmittag, tatsächlich ein Moment der Freude, doch nur kurz, dann Gleichgültigkeit und noch etwas anderes: Angst. Sie brachte kein Wort heraus.

Gustav aber begann gleich zu sprechen. Daß er sie, nachdem er nun wieder da sei, doch gern begrüßen wolle. Wie es ihr denn gehe. Und dem Kind.

»Dem Kind?« fragte sie tonlos, während er mit zwei Schritten bei ihr und an der Wiege war. Stumm beugte er sich darüber und starrte einen langen Moment hinein.

»Christian, ja?« fragte er und lächelte bitter.

Marie nickte. Auf gar keinen Fall wollte sie, daß er es anfasse, und begann, so schwer es ihr fiel, eine Plauderei über dies und das. Und tatsächlich machte er keine Anstalten, es zu berühren. Auch daß der Löwe gestorben sei, erwähnte sie irgendwann. Aber das wisse er ja.

»Ich mochte das Tier nicht«, entgegnete er unerwartet scharf und machte einige energische Schritte durchs Zimmer. »Weißt du noch, wie sich einmal der Bär losgerissen hatte und hinter mir her war?«

»Ja.«

Marie erinnerte sich. Die Grube im Wald hatte man erst gegraben, nachdem damals der russische Braunbär, der als ausgesprochen gefährlich galt, über die Insel gezogen war. Vierzehn Fuß tief aufgemauert, zwanzig Fuß weit, mit einem eisernen Staket versehen, nahm man sie erst wahr, wenn man davorstand. Es sei denn, man hörte zuvor das Brüllen des Bären. Aus der Tiefe drang es so unheimlich verstärkt herauf, daß es jeden unwillkürlich schauderte, der in seine Nähe kam.

»Da bin ich vielleicht durch das Unterholz gestolpert!«

Wie er sich ereiferte.

»Und bin schließlich, bevor das schreckliche Tier Gott sei Dank von mir abließ, noch in ein Lattichgestrüpp gestürzt. Wie das gestunken hat!« Er schüttelte sich vor Abscheu.

»Dir ist nichts geschehen.«

»Aber der Gestank! An den Bären mußte ich immer denken, wenn ich die Reißzähne des Löwen sah. Gut, daß er weg ist! Weg in einem Faß nach Berlin. Da sollen sie ihn ausstopfen, ist mir recht. Hierher hat er nicht gehört.«

»Und wer gehört hierher, Gustav?«

Er hielt verdutzt inne und schüttelte den Kopf. »Du verstehst nicht. Alles hier wird anders werden.«

Marie hätte gern gewußt, was er damit meinte, aber sie wollte nicht, daß er noch wütender wurde. Und konnte ihn, in dieser klarsichtigen Angst, vielleicht zum allerersten Mal anschauen und sehen, wie er tatsächlich war, und erinnerte sich daran, wie er damals die Hortensien gefärbt hatte. Wie er da im Garten vor dem Onkel kniete, war etwas so Trauriges um ihn gewesen. Nichts davon ist mehr da, dachte sie, und verstand nicht mehr, wie sie ihn jemals hatte lieben können.

»Wie alt ist es?«

Seine Frage holte sie aus ihren Gedanken. Sie hatte gar nicht bemerkt, daß er nun wieder ganz nah bei ihnen beiden stand. »Gut acht Monate.«

Jetzt beugte er sich über die Wiege. »Ich sorge für es«, sagte er, ohne Marie anzusehen. »Aber du mußt es mir geben.«

Sie verstand nicht.

»Was meinst du damit?« fragte sie leise.

Sein Gesicht kam hoch und war jetzt ganz dicht vor ihrem. »Du mußt es mir geben«, wiederholte er sanft.

Vor Entsetzen schüttelte sie den Kopf. »Der Onkel wird es nicht zulassen.«

»Der Onkel weiß es.«

»Dann mußt du auch mich töten!«

Er musterte sie mit einem bitteren Lächeln. Und so sanft, als wäre sie ein uneinsichtiges Kind, sagte er: »Wer spricht vom Töten? Du mußt von der Insel, wenn du mir das Kind nicht gibst. Es ist ein Bastard, und man weiß nicht, von wem.«

Marie hätte schreien wollen, doch sie konnte es nicht. Konnte nicht schreien und konnte nicht weglaufen. Der Käfig war um sie. All die Jahre. Nur hatte sie es nicht gespürt.

»Und es ist ungetauft«, setzte er noch hinzu.

Entsetzensstarr konnte Marie nur zusehen bei dem, was Gustav nun tat. Und auch das Kind nahm es regungslos hin, als vertraute es dem, den es doch gar nicht kannte, und blieb ganz still, als Gustav es aus der Wiege nahm. Sorgsam schlug er ein Tuch um es, das Marie über einen Stuhl geworfen hatte, ging wortlos hinaus und schloß leise die Tür.

Kaum zwei Wochen später übergab Ferdinand Fintelmann seinem Neffen das Pfaueninsel-Revier und zog nach Charlottenburg, wo er noch bis 1863 im Schloßgarten tätig war. Für gewöhnlich arbeiteten Hofgärtner bis zu ihrem Tode ohne Hilfe, um ihr Gehalt nicht mit einem Adjunkten teilen zu müssen, und so wunderten sich alle auf der Insel, weshalb Ferdinand Fintelmann sie gerade zu diesem Zeitpunkt verließ, und mancher hatte bei dieser Nachricht ein ungutes Gefühl, was die Zukunft anging. Gustav kränkte vor allem, daß seine Mutter beschlossen hatte, mitzugehen. Mit keinem Wort hatte die noch immer hochgewachsene und sich gerade haltende Frau, deren einst so schönes Gesicht nun von vielen Falten überzogen war, den Sohn darauf vorbereitet, und da er sich ausgemalt hatte, sie bleibe und führe ihm weiter das Haus, kam es vor dem Abschied zu Auseinandersetzungen, und auch die kleine Abschiedsfeier im Kastellanshaus war nicht heiter.

Gustavs Brüder waren gekommen, einige Gärtnerkollegen mit ihren Frauen, ehemalige Gehülfen. Man rettete sich in eine gewisse Förmlichkeit, was leicht war, da auch Lenné sich eingefunden hatte und die Feier damit etwas Offizielles bekam. Der Gartendirektor schenkte Fintelmann einen durch seinen geschicktesten Zeichner, Gerhard Koeber, gefertigten Verschönerungs-Plan der Umgebung von Potsdam, auf dem sich all das fand, was in den letzten Jahren auf der Insel verändert worden war. Es war ein wundervoller Plan, detailgenau und geschmackvoll coloriert, für den Fintelmann sich sehr bedankte, wenn er ihn auch wieder daran erinnerte, wie gerne er jenen anderen mitnähme, den er selbst vor dreißig Jahren von der Insel gezeichnet hatte und der noch immer im Schloß hing.

Bis zum letzten Moment, bis zur Abreise des Onkels, konnte Marie nicht anders als hoffen, er werde das Unrecht wiedergutmachen. Nachdem Gustav mit dem Kind gegangen war, hatte sie sich eine Woche lang nicht rühren können. Jeder Schrei war in ihr erstickt. Ob sie geschlafen hatte? Sie wußte es nicht. Hatte nichts angerührt von dem Essen, das die Klugin ihr ans Bett brachte. Bis diese es nicht mehr ausgehalten und zum Hofgärtner um Hilfe gelaufen war, der auch gleich gekommen war, um nach Marie zu sehen.

Und für einen Moment hatte Marie da tatsächlich gehofft, es werde sich nun noch alles zum Guten wenden. Hatte sich mühsam aufgerichtet, sich geschämt dafür, wie verwahrlost sie aussah, und Fintelmann alles erzählt, obwohl er den Grund ihres Unglücks natürlich längst kannte. Er hatte ihr schweigend zugehört und genickt dazu und schließlich gesagt, wie leid ihm das alles tue. Ihr mit einem traurigen Lächeln über die Stirn gestrichen. Aber so sei es besser. Wirklich, sie müsse ihm glauben, so sei es am besten. Was denn? Daß das Kind nicht mehr hier auf der Insel sei. Da hatte Marie die Tränen nicht mehr zurückhalten können und ihn schluchzend weggeschickt.

Dennoch war sie, wie alle Bewohner der Insel, bei seiner Abreise am Steg. Und als er sie sah, kam er zu ihr, und wieder mußte sie weinen, und er hob sie, obwohl es ihm schwerfiel, wie als Kind noch einmal hoch und streichelte ihr über die Wange. Und noch immer konnte Marie nicht anders, als auf ein Wort von ihm zu hoffen. Währenddessen verabschiedete sich die Herrnhuterin von ihrem Sohn ohne große Herzlichkeit. Dann stiegen sie miteinander in den Kahn. Und als letztes, bevor sie losmachten, instruierte der alte Hofgärtner Gustav noch einmal, was mit den Hunderten von Topfpflanzen zu geschehen habe, die er sorgsam vorbereitet hatte, und die er ihm nachzusenden bat, sobald die Witterung im Frühjahr es zulasse.

Auf Einladung des Garten-Directors Peter Joseph Lenné hielt Gustav Adolph Fintelmann Anfang des folgenden Jahres seinen ersten Vortrag auf der 125. Versammlung des Vereins zur Beförderung des Gartenbaues in den königlich preußischen Staaten. Das enge Gestühl in dem hohen holzgetäfelten Raum war bis auf den letzten Platz besetzt, und der Tabakrauch hing dicht in der verbrauchten Luft, als er durch die niedrige Schranke an den ovalen Tisch trat. Der Titel seines Vortrags lautete: Über Anwendung und Behandlung von Blattzierpflanzen.

»Das spielende Kind«, begann er, nachdem er sich für die Einladung bedankt hatte, »das spielende Kind pflückt sich Blumen von der Wiese, der Mann aber betrachtet die schönen Gruppen, bei denen nur Form, ungestört durch bunte Farben, ergötzt.«

Damit war der Ton angeschlagen, der von nun an alles Tun Gustav Fintelmanns bestimmen würde. Er hatte sich entschieden. Für ihn gab es nur mehr das Reich der Blätter. Und tatsächlich würde die Pfaueninsel unter ihm zur Wiege der großen Blattpflanzenmode des 19. Jahrhunderts werden, der Blattform, Blattgröße, Blattstellung so viel wichtiger war als die Blüten und ihre Farben.

»Sprechen Schönheit und Mannigfaltigkeit der Blumen zu uns von dem unerschöpflichen Reichtum der Natur«, fuhr er mit fester Stimme fort, »so erinnert die Üppigkeit und Größe der Blätter an ihre Kraft und Fülle, sie mahnen uns an die fernen Tropen, wohin uns unsere Wünsche so oft tragen, dort, wo die Vegetation in ihrer ganzen Macht herrscht.«

Niemand im Raum wußte, was auf der Insel geschehen war, außer Lenné, dem Gustav sich in einer schwachen Stunde offenbart hatte. Mit aller Vehemenz hatte der Garten-Director sich gegen etwaige Ansprüche der Zwergin ausgesprochen. Ja, daß sie das Kind auf gar keinen Fall behalten, die Saat niemals aufgehen dürfe. Stolz darüber, daß er ihm gefolgt war, musterte Lenné jetzt seinen Eleven, dessen Entwicklung, die er so umsichtig gefördert hatte, ihm recht gab. Gustav machte in dem dunkelroten Frack mit seiner schmalen Taille à la mode eine so ausgesprochen gute Figur, daß er überlegte, ob er wohl ein Korsett trug, wie viele es jetzt taten. Jedenfalls saßen seine hellgrauen Pantalons ebenso perfekt wie die in allen leuchtenden Blautönen gestreifte Weste und der Vatermörder mit ebenfalls blauem Jabot, das Lenné an das Blau der Hortensien erinnerte, auf das Gustav so stolz war. Und außerdem, was ihm in diesem Moment gar nicht recht war, an eine bestimmte Begegnung mit jener Zwergin im Labyrinth zwischen den Rosen.

Das Bild, wie dieses Geschöpf damals im Sommerlicht dagestanden hatte mit der ganzen überströmenden Liebe, die es offenkundig absurderweise für seinen Schüler empfand, wollte nicht weichen. Aber schließlich gelang ihm doch, es verschwinden zu lassen, indem er es, wie es seine Art war, mitsamt dem Hintergrund, auf dem es zu leuchten nicht aufhören wollte, abtat. Alles war getan, sagte er sich. Die Pfaueninsel, so, wie sie war, vollendet. Mochte jenes Wesen inmitten der Käfige seinen Platz haben, weder ihn noch Gustav kümmerte dies von nun an, da war sich Lenné, während er ihm zuhörte, ganz sicher.

Und tatsächlich schien der neue Hofgärtner der Pfaueninsel so weit von all dem entfernt, was in den letzten beiden Jahren geschehen war, daß ihm wohl die Frage Maries nach den halkyonischen Tagen nicht mehr eingefallen wäre, wenn er sich denn zu erinnern versucht hätte. Statt dessen sprach er mit Begeisterung von einem Garten, der auf Blumen und Blüten, auf Samenstempel und Duft gänzlich verzichtete und den Blattpflanzen ihren verdienten Raum gäbe.

»Ihre Anwendung würde uns, nach und nach freilich nur, denn die Gewohnheit beherrscht die beinahe allmächtige Mode, von den Linien der Einfassungen, von der beinahe störenden Symmetrie der Blumenbeete neben der schönen Freiheit der Baum- und Strauchgruppen befreien. Wir würden die ununterbrochenen Zirkelstücke verlieren, denn diese Pflanzen breiten sich da- und dorthin, ohne daß wir sie zwingen können, in den vorgeschriebenen Linien zu bleiben.«

Gustav entwarf die Vision eines Gartens, wie er ihn sich vorstellte. Auf eine erste, unterste Ebene gehörten »Begonie, Iris, Kürbis, besonders der schwarzkörnige Angurea-Kürbis, der durch den Hofgärtner Sello auf Charlottenburg zur Bekleidung der Laubengänge benutzt wird, sodann Zwergformen der Sonnenblume und die deutschen Farne, Cypergras für Sumpfgelände, Teichrose und Seerose für Wasserflächen, Flußampfer, Hainampfer für feuchten Boden.«

Er machte eine Pause, um sich zu räuspern. Vor diesem Teil seines Vortrags hatte er am meisten Angst gehabt. Was würde geschehen, wenn er seine Träume hier vor all den Praktikern ausbreitete? Doch ein Blick in die Runde beruhigte ihn. Kein Mißfallen, nur gespannte Neugier war auf den Gesichtern zu sehen, von denen er die meisten schon seit Kindertagen von Besuchen mit dem Onkel in ihren Revieren kannte.

»Auf einer zweiten Stufe sehe ich spanische Artischocke, Taglilie und Rhabarber in der Vielfalt seiner Arten. Ja Rhabarber! Und darüber rotblättrige Melde, Teufels-Krückstock, Zimmer-Calla für’s Wasser, Papyrus für den Sumpf, Stechapfel, Bergbärenklau, Eselsdistel, rauhen Beinwell, Adlerfarn, rotstacheligen, geränderten und auch jenen geschlitztblättrigen Nachtschatten, den Forster von seiner Weltreise mitgebracht hat. Und schließlich, auf der höchsten Stufe, Erzengelwurz, Pfahlrohr, Federmohn, krause Malve, Tabak, amerikanische Kermesbeere, die verwachsene Silphie, Becherpflanze, Zuckerhirse, Tithonie.«

Damit war er zu Ende, und im selben Moment begann sein Herz wieder zu klopfen. Während er in dem Schweigen, das seinem Vortrag folgte, auf seinen Platz zurückkehrte, befürchtete er, man werde, vielleicht mit etwas Gemurmel und Geklopfe, einfach zum gemütlichen Teil übergehen, doch als er sich schon darauf einstellte, daß es so kommen werde, begann langanhaltender Applaus, und er wußte: Es war überstanden, die Nachfolge des Onkels angetreten. Was gewesen ist, zählt von heute an nicht mehr, dachte er triumphierend.

Und dennoch wurde ihm mitten im Applaus plötzlich schwer ums Herz, und er mußte, vielleicht, weil die verwachsene Silphie seine Erinnerung angestoßen hatte, an Marie denken. Dann aber gab er sich selbst einen Ruck, sprang auf, trat an die Schranke, bedankte sich für die freundliche Aufnahme und erbat noch einmal für einen Moment die Aufmerksamkeit der hochgeschätzten Kollegen.

»Wir haben so manche schöne Rankpflanze und sehen sie so wenig in unseren Gärten«, sagte er. »Die künstlichen Lauben sind verworfen worden, die Mühe, welche das jährliche Herabreißen der abgestorbenen Ranken machen würde, hat sie von den Bäumen der Haine und den Sträuchern abgehalten, die Arbeit, die das immerwährende Anbinden herbeiführen würde, bewahrte unsere Anlagen vor steifen Spindeln oder Pyramiden. Hier sollten wir nicht säumen, mit einigen Stäben, ein wenig Draht und Schnur, grün gestrichen, zierliche Spaliere, Lauben, Fächer, Mäntel und wie all diese kleinen Baulichkeiten heißen mögen, wieder aufzuführen. Die oft vergessene wohlriechende Wicke, die brennende Kapuzinerkresse, die verachtete Scharlachbohne, die mannigfaltigen Prunkwinden, die alte amerikanische Glyzinie, die schnell verbreitete Maurandie, die seltene dreifarbige Alstroemerie, die windende Bomarie sind wohl die vorzüglichsten Klimm- und Rankpflanzen, um auch hier uns noch an die Lianen der Tropen erinnern zu lassen.«

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