Viertes Kapitel. Lenné

Kein Mensch zu sehen. Als schliefe noch alles. Ein heißer Sommertag um die Mittagszeit, die Insel wie verwunschen. Eine unheimliche Stille umfinge einen, wenn man von der Anlegestelle hinaufstiege und das Schwappen der Wellen leiser würde und schließlich verschwände, der Wind auf dem Wasser vergessen, die Luft unter dem Blätterdach heiß und stickig. Traubeneichen und Stieleichen, Ulmen und Erlen. Zitterpappeln, deren Propellerblätter an ihren langen Stielen sachte aufhörten zu kreiseln, immer langsamer würden, erschlafften, einschliefen unter dem Blick zurück zum Steg an der Havel.

Dort unten, im Röhricht um die Insel, Bläßhühner und Zwergdommeln und Haubentaucher. Linkerhand, verlassen, das Kastellanshaus. Der Duft der Rosen. Im Schöpfbrunnen am Weg, eingefaßt in den hohlen Stamm einer alten Eiche, gluckste es dunkel und kühl und sehr weit weg. Im Dickicht am Schloß der Zaunkönig. Die Schloßwiese aber öffnete sich hell, das Schloß selbst in der Sonne so weiß, als wollte es jeden Moment lossegeln. Aber es bewegte sich nicht. Nichts bewegte sich. Alles wartete. Nur ein paar Pfauen schritten geräuschlos vorüber, ziellos mal dahin, mal dorthin, so langsam, als verdickte der Mittag die Luft und machte die Zeit zäh wie Gelee.

Das Korn hoch und gelb, aber es raschelte nicht, weil kein Wind die Halme bewegte. Nur das Licht sirrte über der hellen Fläche der Felder und stäche in die Augen. Rechterhand der geschwungene Weg im kühlen Schatten der Bäume. Rotkehlchen, Singdrosseln, die Mönchsgrasmücke. Den Abhang hinab sähe man den Anzuchtgarten, dann führte der Weg in den Wald und hinauf zum höchsten Punkt der Insel. Immer wieder ginge der Blick durch die hellen Blätter zum Wasser. Das Dickicht unter den alten Eichen undurchdringlich, auf einem Baumwipfel ein Pirol.

Der Weg führte um die Hügelkuppe herum und wieder hinab, vom hohen Ufer weg zur Mitte der Insel, und bald öffnete der Wald sich zum Feld. Wieder gleißende Helle. Wie die Hitze sich vor einem aufbaute, zwischen den Feldern hinüber zum Gutshaus. Plötzlich stiege ein Fasan mit schrillem Geflatter aus dem gelben knisternden Korn auf und flöge mit wippenden Schwanzfedern davon. Ein paar Dohlen kämen schnarrend ins Bild, hoch oben, mühsam auf- und abflatternd in der Windstille. Die Bretter der Scheune tickten in der Sonne, das Scheunentor stünde offen, von drinnen summte es. Aus dem Stall das dumpfe Pochen von Hufen, kein Wiehern. Man meinte, dort drüben im tiefen Schlagschatten des verrammelten Gutshauses laure etwas. Rauchschwalben zirpten ihre gezirkelten Schwünge um die Hausecken. Eine Wagenremise. Daneben führte der ausgefahrene sandige Weg wieder in die Felder hinein. Hinter den Feldern mooriger Grund. Die ruinenhafte Meierei erschiene jenseits der Wiese. Ein Kuckuck. Dahinter nun wieder die Havel. Ein Habicht schrie, unsichtbar, und sein Schrei hallte immer wieder über den weiten Prospekt. Völlig lautlos zöge, ganz im Zenit des unendlich blauen Himmels, ein Fischadler seine Kreise, der vermag, was kein Mensch damals konnte: fliegen.

Unvorstellbar heute die Unvorstellbarkeit der Vogelperspektive. Unvorstellbar die Irrealität aller Karten, auf das herabzublicken, was sie zeigen. Dachfirste, Türme, Bergspitzen: Jeder Aussichtspunkt wurzelte schwer in dem, von dem er sich nur um ein weniges abhob. Niemals schwebte ein Auge unverbunden über die Welt hin wie ein Vogel, jede Karte ein unmöglicher Rausch der Ermächtigung.

Es existiert ein Plan der Pfaueninsel von der Hand Ferdinand Fintelmanns, der bis ins Detail ihren Zustand zeigt, bevor Peter Joseph Lenné zum ersten Mal auf die Insel kam. Die Felder, die Fintelmann angelegt hatte, das Schloß und die Wege, die Bäume und die Wiesen. Feldmeßkunst. Triangulation. Ein Meßtisch aus Messing auf einem Stativ, den man vor sich in der Landschaft placierte. Ein Liniennetz aus Dreiecken, das man über die Landschaft legte und deren Seiten und Winkel man maß, um so Entfernungen und Flächen zu bestimmen. Jeder Teich zerfiel, als überzögen ihn im Winter die Krakelüren des Eises, in dreieckige Splitter. In unübersichtlichem Gelände wurden die Vieleckzüge mit dem Kompaß gemessen. Ein Baumhöhenmesser im Etui, den Fintelmann sich am Gürtel befestigen konnte. Selbstgefertige Maßstäbe und Transporteure aus Messing. Punktir-Nadeln, die der Hofgärtner aus feinen englischen Nähnadeln selbst machte, indem er ihre Köpfe mit Siegellack versah. Der in der Natur gezeichnete Vermessungsplan wurde mit ihnen durchstochen und so auf ein neues, darunterliegendes Blatt übertragen, das Fintelmann anschließend auf ausgespannten Kattun leimte. Erst dann trug er alles ein, jeden Baum, jeden Weg, jedes Gebäude. Schlagschatten markierten die Vogelperspektive, die es in der Wirklichkeit nicht gab, die Länge der Schatten, die Größe der Gehölze, Schummerung in der Kolorierung, die Bodenbewegungen. Schwarze Tusche, Gummi de Goa, Karmin, Indigoblau, Grünspanlösung. Das Auge kreist über dem Plan wie der Fischadler. Der Schrei des Habichts durchdringt die Schraffierungen.

Ferdinand Fintelmann war ein guter Planzeichner. Doch im Gegensatz zu Lenné, bei dem die Gehölze, nach Typen unterschieden, ebenso einem Schema folgten wie die Länge ihrer Schatten und die verschiedenen Kolorierungen, schnell und ohne Wissen um die realen Verhältnisse reproduzierbar durch angestellte Zeichner, entsprang Fintelmanns Schauplan für seinen königlichen Gutsherrn inniger Kenntnis. Die wichtigsten der uralten Eichen auf der Insel portraitierte er wie kleine Vignetten. Aus Anlaß von Lennés Besuch hatte er den Plan, der für gewöhnlich unter Glas im Schloß hing, heute in sein Arbeitszimmer bringen lassen. Er zeigte etwas, das wußte Fintelmann, was es schon bald nicht mehr geben würde.

Neben dem Schreibtisch auf dem Boden mehrere der großen Glasglocken, die im Sommer über die empfindlichen Melonen gestülpt wurden, um sie vor Schlagregen zu schützen. Auf dem Schreibtisch die Botanisiertrommel aus grün lackiertem Eisenblech und das Okuliermesser mit dem Elfenbeingriff. Lenné, der das alles betrachtete und sich dann neugierig über den Plan beugte, während Fintelmann hinter ihm stand und abwartete, war zu diesem Zeitpunkt gerade erst siebenundzwanzig Jahre alt. Bei aller Höflichkeit gegenüber dem Älteren war der mit einem Rock nach neuester Mode gekleidete Lenné erkennbar selbstbewußt. Zwar lobte er Fintelmanns Plan über alle Maßen, wie er auch beim Gang über die Insel alles aufs freundlichste gelobt und sich gefällig nach allerlei Details erkundigt hatte, doch entstanden mitunter spürbare Pausen im Gespräch, die Fintelmann darauf zurückführen mußte, daß den jungen Gärtner die Erfahrungen und Einsichten, die er in all den Jahren auf der Insel gewonnen hatte, kaum interessierten.

Nach der Ankündigung des Königs war er nicht überrascht gewesen, als Peter Joseph Lenné sich anmeldete. Er besuchte auch alle anderen königlichen Gartenreviere. Als Sohn des Hofgärtners von Brühl entstammte der im Jahr der Revolution geborene Lenné einer alteingesessenen Gärtnerdynastie und war, nachdem das Kurfürstentum Köln mit dem Sieg über Napoleon an Preußen gefallen war, neue Möglichkeiten suchend, nach Potsdam gekommen. In Hofmarschall von Massow hatte er schnell einen einflußreichen Unterstützer gefunden, der ihn, nachdem er zunächst in untergeordneter Position bei der Umgestaltung des Neuen Gartens beschäftigt war, auch in Sanssouci und Klein Glienicke, in diesem Jahr überraschend zum Nachfolger des verstorbenen Gartenkontrolleurs Lange gemacht hatte.

Damit war Lenné Mitglied der Preußischen Gartendirektion, ohne jemals Hofgärtner mit eigenem Revier gewesen zu sein, was unter den Kollegen für einige Mißstimmung sorgte. Pückler, der ihn in Klein Glienicke kennengelernt hatte, das dem Staatskanzler von Hardenberg, seinem Schwiegervater, gehörte, nannte ihn in seinen Briefen immer nur spöttisch Herrn Lainé, den Kleinen, auf den ursprünglichen Familiennamen anspielend und darauf, daß Lenné zwar nicht zwergenhaft, aber doch von äußerster Zierlichkeit war.

»Dürfte ich Sie etwas fragen, lieber Fintelmann?«

Lenné hatte sich von dem Plan aufgerichtet und dem Hofgärtner zugewandt. Er lächelte und schien beim Sprechen, mit großer Leichtigkeit, fast ein wenig zu tänzeln. »Haben Sie eigentlich Königin Luise gekannt?«

Die Erinnerung an jenen Frühlingstag war schmerzlich, als Fintelmann die junge Königin zuletzt gesehen hatte, wenige Wochen vor ihrem Tod, und er hatte das Bild sofort wieder vor Augen, wie sie lachend mit dem König und den Kindern draußen auf der Schloßwiese im Sonnenschein stand. Das Geheimtreffen mit Hardenberg am nächsten Tag war der Beginn des erneuten Aufschwungs Preußens gewesen, davon war der Hofgärtner, der sich seither zu den Reformern rechnete, tief überzeugt. Zehn Jahre waren seitdem vergangen. Die Schlacht an der Beresina. Lützows wilde Jagd. Unwillkürlich mußte Fintelmann an Marie denken, sein Zwergenkind, das in diesen zehn Jahren eine erwachsene Frau geworden war, und tatsächlich machte er sich Sorgen um sie, während er Lenné musterte. Als hätte Marie Anlaß, sich vor ihm in acht zu nehmen. Statt etwas zu sagen, nickte Fintelmann nur und nahm die Teetasse weg, die Lenné in schwer erträglicher Achtlosigkeit auf seinem Plan der Pfaueninsel abgestellt hatte.

Da waren seltsame Geräusche in ihren Träumen, ein Aufruhr an der Landestelle, Tiere, das verstand sie, wurden gebracht, doch dieses Blöken kannte sie nicht, dieses Wiehern klang so fremd und seltsam, dieses Geschnatter, was für Wesen mochten das sein?

Das Fieber schüttelte Marie, sie schlief ein und wachte wieder auf, ihr war so heiß, das Bettzeug längst durchgeschwitzt, seit wie vielen Tagen lag sie jetzt schon hier in ihrer Kammer? Manchmal sah die Herrnhuterin nach ihr, brachte einen Krug mit kühlem Wasser und Suppe, die sie langsam schlürfte, doch wieviel Zeit zwischen diesen kurzen Besuchen verging, wußte sie nicht. Wenn sie wach war, betrachtete sie matt die weißgetünchten Latten im Giebel über sich und hörte den Geräuschen des Haushalts zu, die von unten heraufdrangen, dem Rücken von Stühlen, den Schritten und den Gesprächen im Eßzimmer und in der Diele, die sie nicht verstand. Von draußen flirrte es grün und sonnenhell aus dem Baum vor ihrem Fenster herein. Dann schlief sie wieder ein, unruhig, und träumte und erwachte zitternd und frierend, dann wieder glühend vor Fieber, und es war dunkel um sie her. Mühsam und mit pochendem Kopfschmerz entzündete sie die Kerze. Hustete, daß es den kleinen Körper im Bett schüttelte. Hoffte, daß jemand käme, um den Nachttopf zu leeren, stand schließlich unter Mühen auf und trug ihn selbst zitternd hinab, sank danach wieder kraftlos ins Bett. Lag im grauen Licht vor Tag und wartete, daß die Geräusche begönnen und sie sich nicht mehr so allein fühlte. Wartete sie auf Gustav? Er kam nicht.

Gustav machte jetzt, wie er es sich gewünscht hatte, seine Gärtnerlehre und war meist auf der Insel unterwegs. Und es war ja auch wirklich viel zu tun. Lenné hatte, bald nachdem er hier gewesen war, dem König Vorschläge zur ferneren Verschönerung der Pfaueninsel unterbreitet, die dieser sogleich umsetzen ließ. Die Felder beim Schloß waren schon planiert und eingesät, Pfauenstall, Adlerkäfig und auch das zierliche Drahtgitterhäuschen für die Waschbären abgerissen. Ein Gewächshaus wurde nahe an der Anlegestelle gebaut. Und ständig kamen neue Tiere auf die Insel, immer neue Tiere aus der ganzen Welt, wie sie hierzulande noch nie jemand gesehen hatte, und ihre fremdartigen Rufe hallten in Maries Fieberträume hinein. Manchmal meinte sie, Gustavs Schritte unten im Haus zu hören, wartete vergeblich darauf, daß er heraufkomme, und schlief darüber wieder ein. Einmal träumte sie von Peter Schlemihl, der sie besuchte und ihr von einer russischen Expedition nach der Südsee erzählte, an der er teilgenommen habe.

Känguruhs, sagte ihr Bruder und legte ihr ein kühles Tuch auf die fiebernasse Stirn, der Herzog von York habe dem König fünf Känguruhs geschenkt. Und der Legationsrat von Olfers aus Rio de Janeiro afrikanische und brasilianische Affen geschickt, außerdem fünf Nasentiere, von denen allerdings einige auf der Fahrt eingingen, so daß der Naturaliensammler Beske aus Hamburg, bei dem die Tiere zuerst angekommen seien, zusätzlich ein brasilianisches Schwein gestiftet habe. Der Kaufmann Pieper aus Solingen drei oberägyptische Schafe. Und der Ministerresident am Badenschen Hof, Legationsrat Varnhagen von Ense, habe in Karlsruhe drei Mongokatzen ersteigert, für einhundertsiebenundneunzig Florin, wie es hieß, dazu noch zwei Känguruhs für unglaubliche vierhundertvierzig Florin, einen Waschbären für einundachtzig, zwei weißstirnichte Gänse für dreißig und eine Löffelgans für zwanzig Florin. Und jetzt grasten die Känguruhs auf der Schloßwiese. Näherte man sich ihnen, sprängen sie mit gestrecktem Schwanz in weiten Sätzen davon.

Känguruhs, flüsterte Marie und schlief wieder ein, als sie die Hand ihres Bruders nicht mehr spürte, und träumte davon, wie diese seltsamen Tiere über sie hinwegsprangen. Unruhig strampelte sie die Decke von sich und zog das Nachthemd hoch bis zum Hals. Der Lufthauch kühlte ihren naßgeschwitzten Bauch. Mühsam öffnete sie die verklebten Augen. Wie spät mochte es sein? War es noch Morgen, oder wurde es schon wieder dunkel? Sie strich mit der Hand über ihren Bauch. Bin kein Tier, dachte sie, sondern etwas noch viel Geduldigeres. Als Christian das nächste Mal zu ihr kam, hatte sie kein Fieber mehr.

»Geht es dir wieder besser?«

Sie nickte und sah überrascht, daß er seine Fellhose nicht mehr trug und auch nicht barfuß, sondern ordentlich in Hemd und Hose gekleidet war und sogar Schuhe an den Füßen hatte. Er blieb an der Tür stehen. Auch die Haare hatte man ihm geschnitten.

»Der alte Gundmann bringt mich gleich nach Klein Glienicke.«

»Siehst du deshalb so aus?«

Er grinste.

»Und was willst du dort?«

»Der Onkel hat mich bei dem Schneider Meyerbeer in die Lehre gegeben.«

»Du? Ein Schneider?«

»Alles ändert sich jetzt hier. Das meint auch der alte Gundmann. Und ich tauge nicht als Hirte für die Känguruhs.«

»Die Känguruhs?«

Aber ja. Er habe ihr doch immerzu von den Känguruhs erzählen müssen, davon habe sie nicht genug hören können in ihrem Fieber. Aber für diese Tiere sei jetzt der Tierwärter Becker zuständig, der zusammen mit seiner Tochter gestern auf die Insel gekommen sei.

Marie wollte nicht, daß Christian wegging, aber sagen konnte sie es ihm nicht.

»Zeig mir deinen Bauch.«

Wie sie sich freute, daß er das sagte! Lächelnd schob sie die Decke weg und das Nachthemd nach oben. Genoß es, wie er sie betrachtete, und spürte, wie sein Blick sie erregte. Marie hoffte, er werde sie berühren, doch Christian blieb an der Tür stehen, nur seine Augen wischten über sie hin. Sie spreizte die Schenkel. Ich bin kein Monster, dachte sie, und dann kam er doch noch zu ihr herüber. Langsam und sehr zärtlich deckte er sie wieder zu.

»Hat man es dir schon gesagt?«

»Was denn?«

»Wir bekommen Besuch. Man wird uns begaffen. Zwei Tage die Woche, wenn die Hoheiten nicht hier sind, wird die Insel für Fremde geöffnet.«

»Und du? Wann kommst du wieder?«

»Bald«, sagte er traurig.

War das Labyrinth des Rosengartens für normale Menschen nur ein Spiel, war es das für Marie eben nicht. Sie stand inmitten der Rosen, und der Weg verschwand hinter den leuchtenden Blütenkugeln. Die Pracht war außerordentlich, ein Auf und Ab der berühmtesten Sorten, dazu Centifolien, Noisetten, indische Rosen und Rankgewächse, die sich um die Stämme schmiegten, wo vor wenigen Jahren noch der Weinberg gewesen war, dessen Stöcke Lenné hatte ausreißen lassen. In vier Kähnen war die kostbare Fracht aus Berlin auf die Insel gekommen, die Rosensammlung des Dr. Böhm aus der Behrenstraße unweit des Opernhauses, über tausend Hochstämme, die dort im Garten in freier Erde gestanden hatten, und ebenso viele in Töpfen und fast zehntausend Strauchrosen, für die der König die unvorstellbare Summe von fünftausend Talern bezahlt hatte.

Wie ein Schmuckstück lag der Rosengarten in seiner sanften Mulde am Rand der Schloßwiese und über der Anlegestelle. Nur einen schmalen Zugang gab es, hatte man ihn passiert, führten einen die Wege in vielfältigen Bewegungen hindurch, die Marie nicht übersah, über der sich das Meer aus roten und weißen, rotweißen und gelben und rosa Blüten mit ihrem süßen Duft schloß, der schwer und betäubend unter der Mittagssonne lag.

Es war so still hier. Marie hörte Schritte auf dem Kies, die näher kamen, und Stimmen, die lachend vorübergingen. Sie konnte sich nur schwer an die Fremden gewöhnen, die jetzt alles hier besichtigten. Daß die Insel etwas zum Bestaunen sein sollte, verstand sie nicht, denn schließlich lebten sie hier. Der Rosengarten aber war für Fremde verboten, ein kleines Schild an seinem Eingang wies darauf hin. Hierher folgte man ihr nicht. Marie ging ein paar Schritte in die eine Richtung, kehrte dann unentschlossen wieder um. Der pudrige Geruch der Rosen schwebte in der Hitze. Sie schloß die Augen.

»Ah, mein Fräulein! Welche Freude, Sie endlich kennenzulernen.«

Als habe man sie bei etwas Verbotenem ertappt, schreckte Marie auf. Lenné stand dicht vor ihr, und er war tatsächlich ein sehr kleiner Mann, nicht zwergenhaft, aber doch so klein, daß sie einander fast schon ins Gesicht sehen konnten. Mit einem maskenhaften Lächeln musterte er sie wie ein fremdartiges Gewächs. Und da er zweifellos annahm, sie wisse, wer er sei, unterließ er es gegen alle Höflichkeit, sich vorzustellen. Marie verstand das. Auch sie kannte immer schon jeder, dem sie begegnete.

»Euer Hochwohlgeboren.«

Marie deutete einen Knicks an und entdeckte im selben Moment Gustav hinter ihm, zusammengerollte Pläne unter dem Arm. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, so überrascht war sie, ihn zu sehen. Die Sonne lag warm auf seinem Gesicht. Wie stets, wenn sie sich begegneten, schien er sie nicht zu beachten, doch die Freude, ihn zumindest ansehen zu können, wurde durch den Schmerz darüber kaum gemindert, so sehr hatte sie sich daran gewöhnt. Wie schön er ist, dachte sie, und ihre Augen glitten über seine weiche, helle Gestalt, die als Gehilfe Lennés, der er nun war, etwas noch Weiblicheres bekommen hatte.

Lenné registrierte, sichtlich überrascht, daß sie sich nicht von Gustavs Anblick losmachen konnte, und wandte sich mit allen Zeichen des Stolzes diesem zu, um ihm wie einem boy die Wange zu tätscheln und lange durchs Haar zu streichen. Ließ dann vergnügt von den beiden ab und tat so, als betrachtete er die Rosen auf der Suche nach etwas ganz Bestimmtem, um schließlich aus seinem enganliegenden nachtblauen Rock ein kleines, vielfach verziertes Gerät hervorzuziehen, ein silbernes Rosenpräsentierscherchen, mit dem sich die Blume in ein und derselben Bewegung abschneiden und überreichen ließ, ohne daß man befürchten mußte, sich dabei zu stechen. Und schon im nächsten Moment entnahm er mit einem geübten Schnitt einem üppig blühenden Stamm eine besonders schöne Blüte, voll und weiß, an den Rändern von blutigem Rot, und reichte sie ihr.

Die Blume hatte einen kühlen, dunklen, sehr frischen Geruch, den Marie, die sich mit einem Nicken bedankte, tief einsog. Die weichen Blütenblätter streichelten ihre Nase und ihre Wangen.

»Setzen wir uns doch.«

Die geschwungenen Pfade des Rosengartens trafen und weiteten sich im Osten zu einem kleinen ovalen Platz, wo, von dichtem Gehölz und zwei alten Eichen beschirmt, die jetzt am Mittag lichten Schatten spendeten, eine Laube den Garten begrenzte, ein luftiges, mit Kletterrosen bewachsenes Halbrund aus Holz, das Lenné von dem Architekten Schinkel hatte entwerfen lassen. Dort hinein setzte er sich und bat Marie an seine Seite. Gustav nahm neben ihm Platz, ohne die Pläne aus der Hand zu legen.

»Sie ist schön, nicht?«

Lenné nickte zu der Rose hin, die Marie noch immer in ihren Händen drehte. Wie schön es doch sei, daß auf der Pfaueninsel nun vom Mai an und bis zum ersten Schnee die Rosen blühten. »Gewiß, man muß wässern. Sehr viel wässern sogar! Den ganzen Tag muß man wässern, um diese Pracht zu erhalten. Aber was wollen Sie? Die Natur ist nicht perfekt. Es ist Arbeit, ihr das Schönste zu entlocken!«

Er beugte sich vertraulich nah zu ihr und setzte mit maliziösem Lächeln hinzu: »Denn nur die Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.«

Marie spürte wohl die Beleidigung in seinen Worten, ohne jedoch wirklich zu verstehen, was in ihm vorging. Lenné, der natürlich von dem Zwergengeschwisterpaar gewußt hatte, das auf der Insel lebte, war einer Begegnung stets ausgewichen, doch erst, als Marie eben vor ihm inmitten der Rosen aufgetaucht war und er ihr ins Gesicht sehen mußte, hatte er verstanden, weshalb. Hätte er nicht das Scherchen in seiner Rocktasche gespürt und wäre ihm daher nicht die Ablenkung mit der Rose eingefallen, er hätte wohl die Contenance verloren! Kam es ihm doch so vor, als schaute er in einen trüben Spiegel, in dem er zwar nicht sich selbst sah, aber doch den Abglanz seines Namens wie einen Witz, den man über ihn machte. Und er mochte es nicht, wenn man über ihn witzelte. Dieses Gesicht! Diese Nase! Und diese Hände. Er bewunderte die englische Gartenkunst dafür, wie ihr die Verbergung der Grenzen gelang, der leider notwendigen Grenzen, die der Betrachter erst im allerletzten Moment gewahr wurde. In wirklich gelungenen Gärten konnte man den Eindruck haben, es gebe in der Welt keine Grenzen. Nie aber, dachte Lenné, und die Zeile Goethes, die ihm glücklicherweise eingefallen war, hing da noch antwortlos in der Luft, würde es dieser Zwergin gelingen, die Grenze zu verbergen, jenseits derer sie sich befand. Und doch durfte dieses Krüppelgeschöpf hier mit ihm in der schönen Laube sitzen. Lenné haßte die Zwergin dafür, weil sie so die Schönheit seines Gartens zerstörte.

Wobei er Frauen überhaupt nicht sonderlich anziehend fand. Einmal ganz abgesehen von der ausnehmend häßlichen Form ihres Geschlechts, glichen sie für ihn in gewisser Weise immer ein wenig der sogenannten Neugierde, jenem Aussichtspunkt in Gärten, der einem alles zu zeigen versprach, wenn man nur erst hinkäme, und dessen auftrumpfende architektonische Präsenz einen immerzu ablenkte von dem Ort, an dem man gerade war. Auch Frauen ließen einen sich immer an einen anderen Ort wünschen. In Gärten hatten sie daher, wie Lenné fand, eigentlich nichts zu suchen. Warum erwiderte diese Zwergin denn nichts auf seinen Vers von der Schönheit?

Doch Marie schwieg penetrant und so mußte Lenné, von einem unwiderstehlichen Impuls gepackt, plötzlich aufstehen und sich verabschieden. Jemand ohne Argwohn hätte dies vielleicht der Rastlosigkeit des Gärtners zugeschrieben, Marie aber spürte die Abneigung nur zu genau.

»Herr Director …«, bat Gustav leise und obwohl er den Satz nicht beendete, verstand Lenné sofort, was sein Gehülfe meinte, und nickte ihm gönnerhaft zu.

»Aber komme er gleich nach!«

Während Lennés eilige Schritte auf dem Kies leiser wurden, war Marie unfähig zu einem anderen Gefühl als dem Glück, Gustav so überraschend einen Moment lang für sich zu haben, und dachte an die Feier vor ein paar Wochen, zum Abschluß seiner Lehre. Der Onkel hatte, wie es Sitte war, den Lehrbrief eigenhändig ausgefertigt, mit seiner aufwendigsten Schrift auf gutem Pergament. Damit wurde Gustav zum Gartengehülfen, wie es in Preußen hieß, und es stand zu erwarten, daß er bald auf Reisen gehen würde, um andere Gärten kennenzulernen. In die für ihre Treibereien berühmten Niederlande vielleicht, oder nach Frankreich, oder gar nach England, dem Wegbereiter der neuen, natürlichen Gartenmode. Marie erinnerte sich daran, wie sie an jenem Abend alle um den Eßtisch saßen und der Onkel den Wein eingoß, die Tante mit ihren beiden anderen Söhnen Julius und Otto, auch Christian war aus Klein Glienicke gekommen, und noch einmal war es beinah wie in ihrer Kindheit gewesen.

»Marie?«

Obgleich er sie verschlossen und kalt ansah, wie sie wohl bemerkte, konnte sie nicht anders, als ihn anzulächeln. »Ja?«

»Ich gehe weg. Gleich nachher. Ich hab’ schon gepackt und mich von allen verabschiedet. Der Director nimmt mich mit nach Berlin.«

Marie schüttelte den Kopf.

»Ich mache das Einjährige. Und studiere. Und dann reise ich. Lenné hat dafür gesorgt, daß ich ein Stipendium erhalte vom König.«

Lenné. Bei diesem Namen bemächtigte sich ihrer wieder das Gefühl von Peinlichkeit, und sie fühlte sich wieder so schmutzig und häßlich wie eben unter seinem Blick. Sie hätte gern darüber geklagt, verbot es sich aber, wußte sie doch, was Gustav ihm verdankte.

»Und wie lange wirst du fort sein?«

Dasselbe hatte sie ihren Bruder gefragt. Alle gingen fort, nur sie blieb hier. Dabei war es doch ihre Insel, Christians und Gustavs und ihre Insel.

»Auf Wiedersehen«, sagte Gustav im Aufstehen, als hätte er ihre Frage nicht gehört.

Wie schön er ist, dachte sie wieder und konnte nicht anders, als die Arme auszustrecken, damit er sie umhalse. Doch er wich zurück, lächelnd zwar, doch Schritt für Schritt, und der Kies des Rosengartens knirschte laut unter seinen Schuhen.

Die Blüte des Seltsamen oder auch Wunderlauchs, Allium paradoxum, den Ferdinand Fintelmann an der Anlegestelle hatte pflanzen lassen und die mit einem penetranten Zwiebelgeruch einherging, der unangenehm in die Nase stach, war eben vorüber, als Marie an einem frühen Morgen, an dem dichter Nebel über die Havel kroch, am Steg stehenblieb. Sie hatte zufällig die Glocke gehört, ganz leise nur, die eine Überfahrt vom Festland ankündigte, und war neugierig, wer so früh zu ihnen komme.

Zunächst hörte sie nur das Schwappen des Wassers gegen die Bordwand der Fähre, dann tauchte sie aus dem Weiß auf. Brandes stakte schemenhaft und hoch aufgerichtet am Heck des Kahns, vor sich eine sitzende Gestalt, so ungewöhnlich groß, daß sie dem Fährmann fast bis zur Schulter reichte. Marie wunderte sich noch, wer das wohl sein mochte, da wummerte der Kahn auch schon dumpf gegen den Landungssteg, schrappte mit einem Ächzen die Bohlen entlang, Brandes warf das Tau mit einer Schlaufe um einen der Poller, sprang herüber, machte auch den Bug des Kahns fest, und jene Gestalt stand auf. Marie verschlug es den Atem. Noch nie hatte sie einen so großen Menschen gesehen. Mit einem einzigen ruhigen Schritt war der Mann, der eine alte Uniform trug, auf dem Steg, und obwohl er noch immer gebückt ging, reichte ihm Brandes, der nicht besonders klein war, mit seiner Hutspitze doch nur bis zur Mitte der Brust.

Das muß ein Riese sein, dachte Marie, da waren die beiden auch schon heran, Brandes grüßte artig, der Riese aber verzog keine Miene und sagte kein Wort. Schweigsam und noch ohne Namen, den sie jedoch bald schon erfuhr, stapfte er an ihr vorüber. Carl Ehrenreich Licht, geboren in Utzedel bei Demmin, Sohn eines Ziegelbrenners und Kriegsveteranen, hatte beim 1. Garderegiment gedient und maß fünf Fuß und dreiundzwanzig Zoll, weshalb der König ihm die Pfaueninsel als Wohnort zugewiesen hatte, wo er als Schloßdiener zu beschäftigen war.

Marie sah ihm nach, wie er hinaufschritt zum Kastellanshaus. Sie sah, wie Brandes klopfte und die Tür sich öffnete, sah, wie ein kurzes Gespräch sich entspann, wie dann Brandes im Haus verschwand und wie tief der Riese sich bücken mußte, um hinter ihm durch die Tür zu kommen. Marie schüttelte den Kopf, zog den dünnen Gaze-Shawl enger um die Schultern, raffte den Rock und ging langsam und unsicher hinterher.

Die Känguruhs, an deren Anblick sich Marie nicht gewöhnen konnte, grasten auf der Schloßwiese. Vom frischen Grün stieg ein betörender Duft auf. Marie sah sich nach dem Riesen um, der hinter ihr herging, als wäre er ihr übergroßer Schatten. Sie lächelte ihm zu, und auch das Lächeln, das ihr antwortete, war riesig. Bedächtig ließen die Känguruhs sich auf ihre dünnen Vorderbeine nieder und zogen, auf den langen Schwanz gestützt, die Hinterläufe nach, eine zögerliche, sanftmütige Fortbewegungsweise, bei der sie genüßlich das Gras ausrupften und zwischen ihren mahlenden Kiefern zerrieben wie Ziegen.

»Wie Ziegen!« sagte Marie, und Carl, der Riese, lachte laut und dröhnend. In der Nähe der kleinen Herde stand Hermann Becker, der Tierwärter, mit seiner einzigen Tochter, die Maries zweiten Namen trug, Dorothea, von allen auf der Insel aber stets nur Doro genannt wurde und gerade acht Jahre alt geworden war.

»Und? Gefallen sie dir, die neuholländischen Springhasen?« fragte sie das Kind. »Känguruhs sagt man da, woher sie kommen.«

Doro schüttelte den Kopf. Der Riese setzte sich ins Gras und blinzelte in die Sonne. Seine helle Haut glänzte im Mittagslicht. Er konnte nur schwer stehen, äußerst beschwerlich gehen, die Gelenke. Seine verstorbene Frau, hieß es, habe ihn nur genommen, weil er täglich eine Flasche Wein vom König bekam. Doch er war von großer Sanftmut. Jetzt kniff er die Augen zusammen und sah sich um, und dann erspähte er durch seine transparenten Wimpern etwas. Marie folgte seinem ausgestreckten Arm mit ihrem Blick. Aus dem Schatten des Waldes löste sich eine Gruppe von Menschen, deren kostbare Gewänder zu ihnen herüberglitzerten.

»Das ist der englische Gärtner«, sagte sie, und der Tierwärter sah sich um, als überlegte er, ob es sich wohl lohne anzulegen, doch er ließ die Flinte über der Schulter.

John Adey Repton, der dort vorüberging, war der Sohn des berühmten englischen Landschaftsgärtners Humphry Repton und besuchte in diesem Frühsommer 1822 auf Einladung des Fürsten Pückler den preußischen Hof. Lenné war angewiesen, ihm Sanssouci, Charlottenburg, den Neuen Garten und auch die Pfaueninsel zu zeigen, was ihm bitter war, behauptete Pückler doch bei jeder Gelegenheit, er sei un pauvre génie auprès Repton und habe höchst einseitige, in England längst veraltete Ideen.

Und tatsächlich haftete Lennés ganzer Karriere etwas an, das mit seiner Zierlichkeit zu tun haben mochte, eine gewisse Leichtgewichtigkeit, die in eklatantem Widerspruch zu den Dimensionen seiner Arbeit stand, zum Zuschnitt seiner Planungen und zu dem Heer von Gehülfen, Zeichnern und Gärtnern, das er dirigierte. Wobei seine Ruhmsucht nur der blinde Spiegel der Tatsache war, daß seine Triumphe zu spät kamen, was er auch an diesem Tag, als er hinter dem Sohn Reptons über die Pfaueninsel ging, gespürt haben mochte. Die englische Gartenkunst hatte ihren Höhepunkt bereits überschritten, und daran änderte auch Lennés gigantisches Umbauprojekt einer ganzen Landschaft zu jenem Raum der Schönheit nichts, von dem die Pfaueninsel nur ein kleiner Teil war.

Repton, der einen einfachen schwarzen Rock trug und in einer Hand einen langen Gärtnerstab, blieb stehen und deutete mit seinem Stab auf irgend etwas. Ein Diener hielt einen roten chinesischen Sonnenschirm über seinen kugeligen Kopf. Lenné, der einen Schritt hinter dem Engländer geblieben war, beeilte sich, an seine Seite zu kommen. Sein silberdurchwirkter Rock glitzerte dabei unruhig. Im selben Moment trat eine kleine Gestalt hinter ihm hervor, und Marie erkannte ihren Bruder.

»Christian!« rief sie überrascht und winkte ihm zu, während er sich schon beeilte, über die Wiese zu ihnen zu kommen.

Die kleine Doro zupfte Marie an ihrem Kleid, als wollte sie wissen, was da geschah, und sie beugte sich zu der Kleinen hinab, strich ihr lächelnd übers Haar und sagte: »Mein Bruder besucht mich!«

»Ja, und da ist er auch schon«, begrüßte er sie lachend und schloß seine Schwester in die Arme.

Marie legte ihren Kopf in seine Achsel und ließ sich von ihm lange halten. Dann aber drückte sie ihn entschlossen von sich weg und betrachtete ihn genau. Seit er bei dem Schneider von Klein Glienicke war, nähte er auch für sich selbst, und sie war sehr stolz darauf, wie gut er seitdem aussah. Heute trug er eine gelbe flachsene Jacke und ebensolche Hosen, auf dem Rücken ein großes Felleisen, das er jetzt auf den Rasen warf.

»Wie kommt es, daß du mit dem Garten-Director reist?«

»Ich hab’ den Kutscher gebeten, kurz zu halten, damit ich aufspringen konnte. Da heute wenig zu tun war, dachte ich, ich nutze die Gelegenheit.«

»Das ist Carl«, sagte Marie. »Carl Ehrenreich Licht vom 1. Garderegiment. Ein Kriegsveteran, wie es unser Vater war.«

Der Riese grinste breit. Christian sah seine Schwester fragend an.

»Siehst du nicht, was er anhat? Carl braucht Hosen und Hemden.«

»Und?«

»Der Onkel zahlt es. Carl hilft im Schloß.«

Christian nickte. »Na, dann leg dich mal hin.«

Und er schnallte das Felleisen auf und holte Maßband und Nadelkissen hervor und ein kleines Büchlein. Nestelte einen Bleistiftstummel aus seiner Jacke. Der Riese lag währenddessen wie ein gefällter Baum auf der Wiese, die pfannengroßen Hände vor dem Bauch gefaltet, und blinzelte stoisch in den Himmel. Doro stand neben ihm und drehte ihr schwarzes Haar in den Fingern, doch als Christian über den liegenden Riesen hinwegzuklettern begann, in einer Hand sein Buch, in der anderen das Maßband, die Nadeln zwischen den Lippen, nahm der Tierwärter seine staunende Tochter mürrisch bei der Hand und zog sie grußlos weg.

»Hast du gesehen«, flüsterte Christian am Abend Marie ins Ohr, »wie grimmig der geguckt hat?«

Marie nickte und schmiegte sich fester in seinen Arm. »Ja, aber hast du auch gesehen, wie die Kleine geguckt hat? Ich mag sie.«

Lange schon hatte Christian nicht mehr mit den andern am Eßtisch beim Abendessen gesessen, und lange war er nicht mehr hier oben unter dem Dach im Zimmer seiner Schwester gewesen.

»Was hast du eigentlich dabei?« Marie nickte zu dem prall gefüllten Felleisen hinunter, das neben dem Bett lag.

»Zieh dich aus!« flüsterte er.

Darauf hatte sie gewartet. Gleich sprang sie auf. »Was ist es?«

»Zieh dich aus!«

»Ein Kleid?«

»Zieh dich aus!«

Eilig schlüpfte Marie aus ihren Sachen. Erwartungsvoll stand sie im Unterkleid vor ihm, während Christian die Lederriemen der Tasche aufknüpfte.

Der Regen fiel seit Tagen ununterbrochen, und pulsierende Wasseradern schlängelten sich die großen Fenster hinab. Seit Monaten war niemand im Schloß gewesen, überall und ganz besonders hier im Saal roch es feucht und etwas modrig. Und kalt war es. Marie versuchte, noch ruhiger zu atmen, während sie wartete und in den verregneten Wintertag hinaussah.

Endlich hörte sie Stimmen, Schritte, Lachen, dann stieß ein Adjutant die Flügeltüren so heftig auf, daß sie gegen die Wandpaneele knallten, und der König kam herein. Mit einem solchen Aplomb war er sonst nie erschienen, aber bei jenen Gelegenheiten war er ja auch stets allein gewesen. Mit schnellen Schritten war der König in der Fensternische, in der er dann für gewöhnlich gesessen hatte, doch diesmal hatte er nur einen schnellen Blick für Marie und ein Nicken, schon kam zunächst Lenné herein, und Marie war sogleich enttäuscht, Gustav diesmal nicht bei seinem Herrn zu sehen, wenngleich, und dieser Gedanke blitzte im selben Moment auf, es ihr unangenehm wäre, wenn er sie hier mit dem König sähe. Aber er war ja nicht hier. Statt dessen folgte, nebst der üblichen königlichen Entourage, sein Onkel mit einem älteren Mann, den Marie nicht kannte.

Lenné, in der Hand einen großen Plan, begann sofort zu sprechen und verwies immer wieder auf seine Denkschrift. Doch mit etwas, das er ihnen gerade im Park gezeigt haben mußte, war der König offenbar unzufrieden, denn er forderte ihn unbeirrt auf, sich in eigenen Worten zu erklären. Lenné nickte. Gewiß Majestät. Nochmals erläuterte er, wo er den Adlerkäfig vorsah, das Affenhaus, den Känguruh- und den Ziegenstall, den Wolfskäfig, den Schweinestall, den Käfig für die fremdländischen Vögel und das Wasservogelhaus. Anders als im Jardin des Plantes sollten die Gebäude entlang einer Sichtachse gruppiert werden. Der König schien wenig begeistert.

»Ihre Majestät begreifen immer noch nicht das Geistreiche meiner Idee!« zischte Lenné, bereute im selben Moment seinen Fehler und hielt inne.

Unerträgliches Schweigen, niemand rührte sich. Alle warteten darauf, was der König erwidern würde. Doch nichts geschah. Der König wechselte Spiel- und Standbein und rückte seinen Säbel zurück, dessen Spitze dabei polternd das Parkett touchierte, aber er sagte nichts. Da begann Lenné langsam, den Plan aufzurollen. Der Moment war vorüber. Als wollte er am liebsten hinaus, machte der König einen Schritt auf Marie zu und spähte in den Regen über der Havel.

»Lichtenstein«, befahl er leise, und sofort trat der ältere Herr zu ihm, der mit Fintelmann hereingekommen war.

Martin Hinrich Carl Lichtenstein hatte als Leibarzt des Gouverneurs vom Kap der Guten Hoffnung in Afrika seine Vorliebe für Tiere entdeckt und war seit fast zwanzig Jahren Professor für Zoologie an der Universität. Marie betrachtete ihn genau, denn sie kannte den Namen aus der Königlich privilegirten Berlinischen Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen im Verlag Vossischer Erben, kurz: der Vossischen Zeitung, in der sie oft schon kleine Mitteilungen von seiner Hand gelesen hatte, die sich etwa mit einem erstaunlichen Fund sibirischer Mammutknochen, mit isländischen Elentieren oder einer im Plötzensee gefundenen seltenen Fischgattung beschäftigten. Marie hatte gehört, daß der Professor, den man in der Stadt den Vertrauten der Skorpione und Krokodile nannte, den Obersten der Tiere, sogar in der Universität selbst wohne, ganz in der Nähe seiner ausgestopften Löwen und Tiger.

»Und, Hinrich? Was meint Er dazu?«

Marie konnte sich nicht darauf konzentrieren, was Lichtenstein sagte, denn mit Unbehagen spürte sie, daß er sie dabei musterte, als würde sie klassifiziert. Sie senkte ihren Blick und rief sich zur Ordnung, ruhiger zu atmen. Ich bin ein Ding, dachte sie, dann wurde es plötzlich still. Das Parkett knarrte erwartungsvoll unter den Schritten der Männer. Vorsichtig sah Marie hoch und stellte erschrocken fest, daß nun beide sie ansahen, der Professor und der König. Kalt der Blick des Zoologen, der König aber lächelte ihr fast unmerklich zu, sein Blick tastete zärtlich über ihre Gestalt hin. Schließlich gab er sich einen Ruck und drehte sich auf den Absätzen seiner Stiefel um.

»Meine Herren!«

Sofort kam Bewegung in den Raum, alle Blicke ruhten wieder auf dem Regenten, er sagte nur wenige Sätze, zustimmendes Gemurmel war zu hören. Marie sah, wie Lenné die Hände hinter dem Rücken verschränkte und sich triumphierend aufrichtete. Dann strebte alles hinaus, und die Schritte der Männer polterten die Treppe hinab. Und so federnd trat der König aus dem Schloß, daß seine Begleiter, die einen gewissen Abstand zu ihm hielten, später darauf gewettet hätten, er sei die beiden Stufen vor dem Portal hinabgehüpft. Er blieb im Kies stehen und setzte die Uniformmütze auf, denn es regnete noch immer, sah sich um und holte tief Atem.

Es ging ihm keineswegs um einen Plan zur Verschönerung der Pfaueninsel. Alle, die meinten, er liebe diese Insel, täuschten sich. Es war die Abneigung gegen seinen Vater und all das, was er hier von ihm vorgefunden hatte, die ihn antrieb. Das war auch der Grund seiner Begeisterung für den zwergenhaften Lenné. Letztlich war Schönheit ihm ganz gleichgültig und nur ein probates Mittel, die Fortpflanzungskraft des Vaters, der er seine verhaßten Geschwister verdankte, auch hier zum Versiegen zu bringen, indem er Lenné aus dem zwar spielerischen, doch produktiven landwirtschaftlichen Betrieb der Insel einen sterilen Garten machen ließ, der nichts hervorbrachte als eben Schönheit. Und in den er Tiere aus aller Welt setzen würde, die hier so wenig zu Hause waren wie er selbst. Ihre Majestät begreifen immer noch nicht das Geistreiche meiner Idee! Was dem Kerl einfiel! Der König mußte lächeln und stieß den nassen Kies zu seinen Füßen mit der Stiefelspitze weg, Er begriff sehr wohl Lennés Ideen, er begriff sie sogar besser als dieser selbst.

»Wissen Sie, mein lieber Fintelmann: Das Körpergefühl der eigenen Bewegung ist der Hauptsinn für das Verständnis eines jeden Gartens.«

Lenné stand am Rand der Schloßwiese, in der Hand einen langen Zeigestock, und sah sich zu Fintelmann um. Seine Gehülfen waren seit dem Frühling damit beschäftigt, die Menageriegebäude abzustecken, gerodet war bereits, nun galt es, die neue Wegführung festzulegen. Er würde die Pfaueninsel zu einem Landschaftspark machen, der zwischen den beiden unveränderten Polen Schloß und Meierei die Menagerie im klassizistischen Gewand aufnahm. Zwei große Sichtachsen würden alles miteinander verbinden, eine Durchsicht hier von der Schloßwiese bis zur Meierei und eine zweite, die vom Rosengarten zur Menagerie und weiter zum östlichen Havelufer führte. Überall würde es schmale Durchblicke und weite Fernsichten auf die Bauten und die schönsten Prospekte geben, und Blicke in die jetzt außer am Schloß noch ganz verborgene Flußlandschaft des Haveltals, in der die Insel mit ihrem dichten Schilfgürtel bisher selbstvergessen trieb, um bald schon darin optisch festgezurrt zu werden.

Der zentrale Raum, Focus seiner ganzen Idee der Insel, war dabei die Schloßwiese, von der aus im Westen die weite Wasserfläche gen Potsdam im Blick lag mit dem schräg gestellten sentimentalischen Schloß davor, im Süden das Rosenlabyrinth, im Norden und im Osten die Unendlichkeit des Naturschönen in den beiden Achsen, an deren Enden einerseits die ruinenhafte Meierei an Vergänglichkeit, andererseits die glitzernde Fontäne inmitten der Tiere an die Virilität des Lebens gemahnen würden. Lenné war zufrieden.

In diesem Jahr würden zunächst die Sichtachsen gerodet und die Menageriegebäude begonnen, im nächsten Jahr dann die Wege befestigt und die Pflanzungen vorgenommen werden. Er plante Nadelbäume am Ufer, um den rauhen Wind wegzunehmen, ansonsten, neben einheimischen Bäumen wie Rotbuchen, Linden, Ulmen, Zitterpappeln, Ahorn auch viel fremdländisches Gehölz. Zunächst Platanen, die Lieblingsbäume des Königs, doch auch Sumpfzypressen, den geheimnisvollen Ginkgo und die biblische Libanonzeder. Dann Flügelnuß, Edelkastanie, Gleditschie und Maulbeerbäume. Götterbäume, damals eine große Seltenheit, ließ Lenné auf der Insel selbst aus amerikanischen Samen ziehen. Die Plätze für zwei Tulpenbäume hatte er bereits bestimmt.

Lenné nickte Fintelmann zu, und sie gingen los. Lenné zog den Zeigestock mit beiden Händen nach, so daß er eine Linie in die Erde ritzte. »Man geht«, erläuterte er dabei, »den bereits durch den Plan bestimmten Hauptpunkten zu, dabei mit starken Schritten der schönen Wellenlinie nach, die einem die geübte Einbildungskraft vorbildet und gleichsam vorschweben läßt.«

Lenné war von Anfang an klar gewesen, daß das, was er auf der Insel ins Werk setzen würde, nichts mehr mit der natürlichen Landschaft zu tun hatte und nicht mehr aus ihren Ressourcen würde gespeist werden können. Daher hatte er in seiner Denkschrift die Errichtung eines durch Dampf betriebenen Wasserdruckwerks an der Havel gefordert, um all die künftigen Pflanzen und Tiere versorgen zu können, und der König hatte sofort zugestimmt. Es war die erste Dampfmaschine, die man in Preußen zu diesem Zweck installierte, und zwar in einem Maschinenhaus dicht am Ufer, von dem aus sie mittels eines Rohrs Seewasser ansaugen und durch eine andere Röhre auf den höchsten Punkt der Insel pumpen würde, wo Lenné ein Reservoir in Form eines Brunnens bauen ließ. Im September 1824 wurde die Maschine der englischen Firma James & John Cockerill, die in der Neuen Friedrichstraße in Berlin ihren Sitz hatte, für sechstausend Taler geliefert.

James Cockerill, im Londoner Eastend geboren und seit fünf Jahren in Berlin, sommersprossig, rothaarig und in einen stutzerhaft engen Manchesteranzug gekleidet, trat breitbeinig vom Landungssteg der Insel herunter, beugte sich vor und ließ einen Spuckebatzen in den Sand fallen, wobei er sich neugierig umsah. Von der Schönheit dieser Insel des Königs hatte man sogar in der Enge des dritten Hinterhofs gehört, in dem sich seine Firma befand. Fuck the hell, dachte er.

Die Henriette kam langsam heran, dabei eine schmale weiße Fahne aus dem Schornstein in den tiefblauen Sommerhimmel hinaufspinnend, an Bord der Präsident der Preußischen Seehandlung, Rother, der in Hamburg einen Löwen für die Pfaueninsel in Empfang genommen hatte. Der König erwartungsvoll mit Gefolge am Kastellanshaus im Kreis der Inselbewohner. Heiseres Tuten zur Ankunft, beantwortet von einem Brüllen, das alle erschreckte. Haltetaue wurden verzurrt, zwei Bohlen polterten auf den Steg, der Präsident sprang an Land, machte dem König, der herankam, eilig die Honneurs. Er ist, sagte Rother, und um seine Mundwinkel zuckte ein nervöser Tic, aus St. Thomas, ganz jung im Senegal gefangen und zusammen mit zwei Affen und einem Ameisenbären und einem Waran nach Hamburg verschifft.

Vier Bootsleute balancierten schwankend eine mannshohe Kiste an zwei Eisenstangen über die Bretter auf den Steg und weiter an Land und schafften es unter größter Anstrengung, sie am Kastellanshaus vorbei- und den steilen Hohlweg hinaufzutragen, unter Stöhnen und mit einknickenden Beinen, barfuß, wie Seeleute nun einmal sind, und mit knielangen Hosen, unter denen Marie die braungebrannten, nun vor Anstrengung zitternden Waden sah. Denn dicht folgte sie den vieren, dichter als der König mit seiner Begleitung, und hörte schon, wie gleichmäßig es aus der Kiste hervorknurrte. Rother immer vorweg. Dann endlich, auf der Schloßwiese, erlaubte er, daß die Kiste abgesetzt wurde.

Und jetzt hörten es alle. Ein rasselndes Knurren im Takt eines fremden Atems, der einem den eigenen nahm. Aus den Bäumen schrien die Pfauen, die, was sie niemals am hellichten Tage taten, dort hinaufgeflattert waren. Vorsichtig legte Marie eine Hand an die Kiste, die aus groben Latten gezimmert war, zwischen denen genügend Platz blieb hineinzuspähen. Sie hatte alles um sich her vergessen. Eine Weile geschah nichts, doch dann sah Marie: Etwas kam näher. Das Schreien der Pfauen, das ganz wie das Schreien kleiner Kinder war, wurde lauter, als die Augen des Löwen langsam aus dem Dunkel auftauchten. Sie zog die Hand nicht weg. Der Atem des Löwen ging heiß und naß darüber hin. Er war viel größer als sie, sein Knurren jetzt nur mehr ein monotones Atmen. Seine Augen waren zwei golden blitzende Blättchen im Dunkel hinter den Brettern. Und in der Mitte ihrer kalten goldenen Feuer kleine Schlitze in der Form von Mandeln.

Marie beugte sich vor zu den gelben Blättchen im Dunkel, und für einen Moment schien sie zu schwanken, als zöge das Glimmen sie unwiderstehlich an. Da packte plötzlich ein Arm sie um die Taille und riß sie weg: der König!

»Wie sehr sich alles verändert hat.«

»Ja. Und es tut mir im Herzen weh!«

Ein heißer Augusttag des Jahres 1825. Ein Ausflug des Berliner Künstlervereins unter Johann Gottfried Schadow auf die Pfaueninsel. Nach einem Empfang beim Hofgärtner und einem Rundgang über die Insel waren zwei der Besucher bei Frau Friedrich am Maschinenhaus gelandet und hatten sich Kaffee und Kuchen erbeten. Franz Joseph Friedrich, ein Elsässer, der einst in der Grande Armée gedient hatte und auf dem Rückmarsch aus Rußland in Berlin hängengeblieben war, lebte hier mit seiner Frau und den beiden Töchtern als Maschinenmeister. Er hatte sich nicht nur um die Dampfmaschine, sondern um alle anfallenden Reparaturen auf der Insel zu kümmern, während seine Frau, da jeglicher Ausschank verboten war, eine besondere Form der Gastlichkeit entwickelt hatte, die in Berlin allgemein bekannt war.

Nachdem also die notwendige Plauderei zur Zufriedenheit von Frau Friedrich geführt und das erwartete kleine Geschenk überreicht worden war, machten es sich die beiden Ausflügler im Garten bequem, der sich vor dem niedrigen Haus, rückseitig geschützt vom hohen Ufer der Insel, zum Wasser hin erstreckte, und rückten sich Stühle in die Sonne.

»Was tut dir von Herzen weh? Es ist besser hier als wie zuvor!« Der ältere knöpfte den Rock mit einem Seufzer des Behagens auf. Es war drückend heiß. Der Blick ging aufs Wasser. Vom Maschinenhaus war das Stampfen der Kolben zu hören. »Dampf ist die Zukunft unseres Säkulums. Alle Münchhausiaden werden mit Dampf realisiert, durch Dampf und in Dampf. Ich sehe den Embryo eines Jahrhunderts, das in brütendem Dampf zur Geburt heranreift. Die Pferde laufen wild im Gebirg’ umher! Kein Mensch braucht sie. Der Pflug bewegt sich von selbst. Die Droschken lenkt ohne Mühe der Jockey mit einem Handgriff.«

Die Maschinenmeisterin erschien mit einem Tablett, auf dem sie in einer voluminösen Porzellankanne den Kaffee brachte und den Kuchen.

»Dennoch stören mich all die Veränderungen hier. Die Vielfalt der Tierwelt der ganzen Erde hat in Lennés Garten nun eine Heimstatt gefunden, alles wohlkomponiert und auf Belehrung und Erheiterung des Publikums angelegt. Wie eine Arche mutet mir die Insel an. Doch eben das mindert mein Behagen.«

»Chamisso hätte seine Freude daran. Seit er aus der Südsee zurück ist, gilt all sein Schwärmen der Schöpfungspracht.«

»Hast du gewußt, daß Peter Schlemihl öfter hier auf der Insel gewesen sein soll?«

»Chamissos Schlemihl? Eine seltsame Figur.« Ein Gähnen und der Blick in die Reben. »Aber was stört dich denn nun?«

»Ich finde, in der Enge dieser nun einmal kleinen Insel hat das Nebeneinander all dieser Klassen von Tieren etwas Groteskes. Mag aber sein, daß daran die Anwesenheit jener Gestalten Schuld trägt, die nun gerade keine ordentlichen Klassen der Schöpfung sind.«

»Du meinst die Zwergin, die wir am Landungssteg gesehen haben?«

»Ja, sie und den hoch aufgeschossenen Kerl, den sie den Riesen nennen, die beiden meine ich. All die klare Modernität der schön aufgeführten Bauten der Menagerie, ja das Nebeneinander der Tiere selbst bekommt durch sie, wie es mir scheinen will, etwas von einem grellen Spaß aus einer anderen Zeit.«

»Ach papperlapapp! Dieses angebliche Schloßfräulein der seligen Königin Luise ist doch nichts als eine höchst bedauernswerte Kreatur! Etwas, das der Natur gewiß nur wider Willen unterläuft, ihre Anwesenheit hier Überbleibsel der Vergnügungen jener Könige der alten Zeit, die derlei in ihren Wunderkammern sammelten. Dieses Geschöpf hat, mit Verlaub, nichts, aber auch gar nichts mit der göttlichen Ordnung zu tun, die wir heute der Natur ablesen und zur Grundlage der Bildung des modernen Menschen machen.«

»Es ist genau so, wie du es sagst. Und dennoch: Aus den Augen jenes Wesens sprach mich etwas an, das mit all unserer Modernität nichts zu tun hat. Und das auch davon nicht berührt wird. Ich mußte plötzlich daran denken, wie sehr wir doch die Knechte unserer Zeit sind, ohne eigentlich zu wissen, was die Dinge, die wir aufgeben oder verlieren, in Wirklichkeit bedeuten.«

»Gerade deshalb ist die Welt ja auch gut eingerichtet! Da es nun einmal der Lauf der Dinge ist, daß alles zugrunde muß, damit Neues entstehen kann, würden wir, wäre es anders, uns zu Tode grämen und wären ganz unfähig zu handeln.«

»Ach! Mein Roman, der Roman, von dem ich träume und den ich einst zu schreiben noch immer hoffe, hätte nichts als jenes Spinnweb zum Inhalt, jenes luftdünne Gespinst der Zeit selbst, die so schnell vergeht, daß wir’s kaum zu greifen bekommen in all den dröhnenden Reden von Fortschritt und Aufklärung. Denn mir will scheinen, letztlich bestimmt dieses Spinnweb in unseren Augen, wie wir die Welt sehen. Es ist unsere Wahrheit und macht, ob Schlemihl darin einen Platz hat oder nicht. Und eben auch jene Zwergin, von der wir nicht sagen können, wohin sie gehört.«

Der jüngere der beiden Inselbesucher wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte aufs Wasser. Die Hitze des Nachmittags lag schwer auf dem flachen Ufer der Insel. Die blumengeschmückten Fenster des Hauses hinter den beiden standen weit offen, doch darinnen war keine Seele zu sehen. Die Qual, nicht besser ausdrücken zu können, was doch so genau empfunden war. Das lösende Wort, das immer wieder entglitt. Schließlich die bodenlose Ruhe der Resignation. Nichts war zu hören als das gleichmäßige Stampfen der Dampfmaschine. Und über dem Wasser schwirrten die Libellen.

Soviel Schönes und Seltenes auch die Pfaueninsel vereint, schrieb der Oberlandforstmeister von Burgsdorf bei Königsberg in Ostpreußen im November 1827 an den Hofmarschall, so vermisse ich dennoch einen sehr merkwürdigen Bewohner der Preußischen Wälder und wünsche es angelegentlich, daß ein Repräsentant derselben dort aufgenommen werde. Ich habe ein Elch-Thier zähmen lassen, dergestalt, daß es sich führen läßt und gegen die Gewohnheit dieser merkwürdigen Thiere Hafer und Kartoffeln annimmt, wodurch die schwierige Haltung erleichtert und weniger kostbar gemacht wird. Außerdem nimmt es Pappeln- und Weidenlaub und wird daher ohne viele Umstände und Kosten durchzufüttern sein. Euer Excelenz bitte ich ganz gehorsamst, die Befehle seiner Majestät einzuholen, ob jenes Elch-Thier mit dem nächsten Pferde-Transport von Trakehnen nach Berlin gebracht werden darf.

Im Sommer des folgenden Jahres marschierte der Elch mit einem der Pferdetransporte von Trakehnen los und erreichte am 7. Oktober die Insel. Kaum zwei Monate später ging er trotz Aderlaß und Klistieren ein. Nie endete der Strom der Kreaturen. Ein Professor Ehrenberg schenkte einen sibirischen Fuchs und zwei Murmeltiere, Major von Kahlden-Ludwigslust ostindische Hühner, der Kaufmann Werner aus Petersburg einen weißen Hasen, aus der Zarßkosselschen Farm in Rußland kamen drei Lamas nebst ihrem Aufseher, dem Second-Lieutnant Stanislaf Lopatinski. Und für all das brauchte man Platz auf der Insel, die nun nicht nur von Hunderten von Tieren, sondern bald auch von achtzig Bewohnern bevölkert war. An der Anlegestelle wurde ein Fährhaus gebaut, der Stall an der Meierei zum Pferdestall und die Feld- auf Wiesenwirtschaft umgestellt, um die Tiere füttern zu können. Der König ließ in Danzig die Renaissancefassade eines Hauses kaufen und gab Schinkel den Auftrag, sie dem alten Gutshaus vorzublenden, das von da an Cavaliershaus hieß und außer Räumen für die Königssöhne Lakaienzimmer enthielt. Zwischen Schloß und Kastellanshaus entwarf Schinkel ein Gebäude im Schweizer Stil, in dem das Gärtnerpersonal untergebracht wurde.

In all dem rastlosen Tun blieb fast unbemerkt, daß Gustavs Brüder einer nach dem andern weggingen, was Marie jedesmal beim Abschied weinen ließ, weil sie wieder an Gustav denken mußte und daran, wie sehr sie ihn vermißte. Er war, nachdem er die Insel zum Militärdienst und Studium verlassen hatte, kaum einmal mehr hier gewesen, so daß der Aufbruch zu seiner großen Reise, vor nun beinahe schon drei Jahren, fast keinen Unterschied gemacht hatte. Es gab ihn nicht mehr für sie. Manchmal kamen Briefe, in denen er dem Onkel berichtete, was er erlebte und sah, und in denen er stets am Schluß alle auf der Insel grüßen ließ. Marie mochte sich einbilden, in dieser Floskel mitgemeint zu sein, wenn sie auch wußte, daß es nicht stimmte. Als ihr, um sie damit zu trösten, daß alle Veränderung auch etwas Gutes habe, der Onkel anbot, ihre Dachkammer gegen das komfortablere Zimmer der Jungen zu tauschen, das nun frei war, entschied sie, daß alles so bleiben sollte, wie es war.

Doch es bleibt nichts, wie es ist. Am 18. Oktober 1828 las Marie, als sie wieder einmal allein im Eßzimmer des Kastellanshauses saß, in der Vossischen Zeitung etwas, das ihr sehr zu Herzen ging. Dabei schien ihr die Mitteilung, daß in den Räumlichkeiten der Preußischen Seehandlung in der Jägerstraße am Gendarmenmarkt allerlei ausgestellt werde, was die Mentor nach Berlin mitgebracht habe, zunächst ganz belanglos.

Die Mentor, eine ältere, zweideckige Fregatte von dreihundertsiebenunddreißig Registertonnen, in Vegesack neu verzimmert und gekupfert, mit sechs Kanonen bestückt und einer Besatzung von einundzwanzig Mann, hatte die Preußische Seehandlung erworben und von Bremen aus mit schlesischem Linnen über Kap Horn nach Chile zur ersten preußischen Weltumsegelung geschickt. Marie las, daß das Schiff zunächst die Sandwich-Inseln erreicht und vor Honolulu vor Anker gegangen sei, was man dort alles an Bord und daß man anschließend Kurs auf Kanton in China genommen habe, wo man Tee kaufte, um schließlich über Batavia und St. Helena nach Swinemünde zurückzukehren. Es wurden all die Kostbarkeiten aufgezählt, die man im Laufe dieser Reise erworben hatte, wobei es sich nicht nur um Handelsgüter, sondern auch um natur- und kunstwissenschaftliche Stücke handelte, die nun in Berlin der geneigten Öffentlichkeit vorgestellt wurden, um vielleicht bald einen anderen, dauerhaften Ort in der Stadt zu finden. Und damit dem künftigen Museum der Aufseher nicht fehlt, hieß es in der Vossischen Zeitung schließlich, und dieser Satz elektrisierte Marie, ist auch ein Freiwilliger von den Sandwich-Inseln mit eingetroffen. Harry, so wird er gerufen.

Marie klopfte das Herz bis zum Hals bei der Vorstellung, daß nun ein Mensch aus jener Weltgegend, in die sie sich hinträumte, seit sie zum ersten Mal das Otaheitische Cabinett des Schlosses betreten hatte, in der Stadt war. Begierig las sie seine Beschreibung: Harry mag ungefähr 15 – 18 Jahre alt seyn, die Menschenrasse, von der er stammt, gehört nicht zu den Negern, steht ihnen jedoch durch die schwärzliche Hautfarbe und etwas platte Nase ziemlich nah, unterscheidet sich jedoch durch wohlgebildete Lippen und ein glattes, langwachsendes weiches Haar, sein Teint scheint etwas broulliert, am Arm und im Gesicht ist er tätowiert. Er scheint sehr gelehrig, freundlich, munter, arbeitsam. Deutsche Worte spricht er geläufig nach, wenn sie nicht zuviel Konsonanten haben, besonders scheint ihm das »R« ganz zu fehlen. Eine ganz besondere Freude äußerte der Insulaner über einen Herrn von ziemlich starkem Embonpoint, er lief auf ihn zu und umfaßte ihn mehrmals, so daß man wirklich besorgt war, es möchte sich der jedem Insulaner eigentümliche Appetit, der einst Cook das Leben kostete, bei dem jungen Freiwilligen zu regen anfangen.

Immer wieder suchte und entdeckte Marie in den folgenden Monaten Zeitungsberichte über jenen Harry, die sie alle begierig las. Daß er beim Präsidenten der Preußischen Seehandlung, jenem Christian von Rother, der den Löwen hergebracht hatte, ein Quartier zugewiesen bekommen habe, wo er sich als Lakai bei Tische nützlich mache. Daß Wilhelm von Humboldt ihn besucht habe, um ihn über die Sprache der Sandwich-Inseln zu befragen. Marie sah aus dem Fenster im Arbeitszimmer des Onkels hinaus, ohne etwas zu sehen. Vor ihrem inneren Auge erstand die Palmenwelt der Südsee, und die Vorstellung stellte sich gewiß leichter her, weil die beiden Cacadus, die der Onkel seit kurzem hier auf einer Messingstange hielt, einer rot und einer blau, dazu jubilierten. Auf der Fensterbank, unscheinbar, der Kelch aus Rubinglas, an dem ihr Blick schließlich hängenblieb.

»Erzählen Sie mir doch bitte von Berlin, lieber Schlemihl. Ich hab’ die Insel ja noch nie verlassen!«

Schlemihl berichtete Marie bereitwillig, wie er am Morgen in Berlin losgegangen war. Von dort, wo er wohne, sei es nur ein Katzensprung zum Potsdamer Tor hinaus, und eben dort gehe, am Meilenzeiger an der Esplanade, die Extrapost ab, aber auch die täglich zwischen den Residenzen verkehrenden Journalièren, wie man die Kutschen des Hofverkehrs nannte, weil sie auch die neuesten Zeitungen beförderten. Und Schlemihl erzählte, wie er dort einstieg und die Stadt hinter sich ließ, im Vorüberfahren die Kirchturmglocke von Schöneberg gehört habe, am Schwarzen Adler vorbeigekommen sei, dann den Steglitzer Park passiert und schließlich Zehlendorf erreicht habe, wo man im Dorfkrug die Pferde wechselte. Und gleich ging es weiter durch die Pappelallee auf Stimmings Krug am Wannsee zu, und dann durch den Wald bis Stolpe, drei Stunden habe die Fahrt gedauert. Und von Stolpe aus, aber das kenne sie ja, sei er dann zu Fuß zur Fähre gelangt.

»Und wie ist es dort, wo Sie in Berlin leben?«

»Es ist nicht weit vom Spittelmarkt«, sagte er und schilderte, wie er manchmal am Sonntag durch das Prenzlauer Tor hinausspaziere und hinauf nach den Windmühlen auf dem Prenzlauer Berg, wo man einen schönen Blick über die Stadt habe, und daß er auch mitunter gern einmal in dem riesigen Gastgarten dort sitze und ein Bier trinke. Und wie wunderbar es auch Unter den Linden sei, schwärmte er. Am Morgen sei die Straße belebt von eilenden Arbeitern und Angestellten, später dann hielten die Wagen der höheren Beamten vor ihren Dienststellen, vor der Universität spazierten die Studenten auf und ab. Pünktlich auf die Sekunde beginne am Mittag die Garde mit dem Aufzug der Wache. Danach werde es für ein, zwei Stunden still, und der Nachmittag gehöre dann den Bummlern, den Offizieren, den Kindermädchen und den drallen Spreewalddamen in ihren auffälligen Trachten.

»Und?« fragte Marie.

»Manchmal läßt sich der König, im grauen Mantel und auf dem Kopf eine schlichte Offiziersmütze, immerzu grüßend, in einem schlichten zweispännigen Wagen in den Tiergarten fahren.«

»Und?«

»Manchmal gehe ich in die Konditorei Kranzler, direkt an der Kreuzung zur Friedrichstraße, um die internationalen Zeitungen zu lesen, die man dort hält. In den Hamburger, Kölner oder auch Breslauer Blättern finden sich oft Nachrichten, die die Berliner nicht zu drucken wagten.«

»Und?«

»Wenn es im Spätherbst noch einen schönen Tag hat, zieht ganz Berlin durch die Linden nach dem Tiergarten hinaus, der Bürger mit der Hausfrau und den lieben Kleinen in Sonntagskleidern, Geistliche, Jüdinnen, Referendare, Freudenmädchen, Professoren, einfach alle, Putzmacherinnen, Tänzer, Offiziere. Und kaum ist man durch’s Brandenburger Tor, bedrängen einen schon die Charlottenburger Fuhrleute, doch aufzusteigen für eine Tour. Aber alles strömt zu Klaus & Weber, wo schnell die Plätze besetzt sind, der Kaffee dampft und die Elegants ihre Cigarros anzünden. Ach, kennten Sie das alles doch, Mademoiselle! Ich wünschte, ich wäre ein Callot oder ein moderner Chodowiecki, um Ihnen das bunte Treiben vor Augen stellen zu können!«

Schlemihl warf vor Begeisterung die Arme, und seine hellen feinen Augen blitzten, und Marie musterte ihn dabei voller Freude. Wie hatte sie sich über seinen Aufzug gewundert, als er vom Kahn herabgestiegen war. Er trug eine runde Jacke und Beinkleider aus demselben grünen Zeug, dazu hatte er, als plante er eine botanische Expedition statt eines Besuches bei ihr, eine mächtige grüne Kapsel aus Metall an einem ledernen Riemen umgehängt. Marie hatte lachen müssen und er, nach einem Moment der Verwunderung, nicht anders gekonnt, als darin einzustimmen, während sie ihn hierher zu ihrem Lieblingsplatz geführt hatte, zu der kleinen Lichtung um den Candélabre am höchsten Punkt der Insel.

In der Eisenhütte zu Reinerz gegossen, stand die vielfach gebauchte gußeiserne Säule mit den zwei großen Schalen, von denen das Wasser zum ersten Mal am Geburtstag des Königs 1825 in weiten Schleiern herabgefallen war, inmitten des Beckens, in das die Dampfmaschine ihr Wasser pumpte. Schon der Name Candélabre, genommen vom lateinischen Wort für Leuchter, erinnerte an die lichthelle Wirkung des sonnenbrechenden und reflektierenden Wassers, und tatsächlich saß man im Sommer hier vor einem funkelnden kalten Feuer. Umgeben von den hohen alten Eichen war dieser Wasserbaum durch den Wald von weitem sichtbar, ohne daß ein Weg zu ihm erkennbar wäre. Erst, wenn man das Rauschen schon hörte, zog ein kreisender Pfad den Besucher in den runden Raum der Wasserkunst, deren lichte Schleier zwischen den knorrigen Ästen der Eichen verwehten. Schlemihl schien, auf der marmornen Bank am Bassin, von alldem wenig zu bemerken.

»Ich betrachte all die Menschen, rate ihre Herkunft, folge ihrem Weg. Da gibt es die Tabulettkrämer, Tanzmeister, die Töchter höherer Beamter. Da wird, von einem Wagen herab, aus einem Faß Pflaumenmus verkauft, mit langem hölzernem Löffel je ein Viertelpfund für einen Dreier als Morgenimbiß den Flaneuren in die Papierchen gekleckst. Einmal fiel mir ein junger Mann auf im gelben kurzgeschnittenen Flausch mit schwarzem Kragen und Stahlknöpfen, mit einem roten, silberbestickten Mützchen und einem kleinen schwarzen Stutzbärtchen auf der Oberlippe: ein Student. Oder jene fremdartige Person, die ich einmal sah, ein grell zitronenfarbiges Tuch nach französischer Art turbanähnlich um den Kopf gewunden. Ihr Gesicht, ihr ganzes Wesen zeigte deutlich die Französin, vielleicht eine Restantin aus dem letzten Kriege.«

Schweigend sann Schlemihl noch einen Moment den eigenen Bildern nach, und auch Marie sagte nichts. Dann war es, als erwachte er und sähe erst jetzt, wohin sie ihn geführt hatte, und betrachtete lange den Candélabre und das Spiel des Lichts in den Wasserschleiern. Kramte dazu in seiner Jacke und zog ein flaches, längliches Kästchen hervor, dem er eine Cigarre entnahm.

Mit einem fragenden Blick hielt er Marie das Etui hin, die sich, obwohl sie noch nie etwas Derartiges gesehen und von der neuen Mode, den Tabak zu rauchen, bisher nur gehört hatte, umstandslos eine herauszog. Unter Zuhilfenahme eines kleinen Geräts, dessen Gestalt in seiner Hand sie gar nicht ausmachen konnte, bohrte er dann schweigend je ein Loch in die Köpfe der beiden Cigarren, brannte erst seine eigene an, von der gleich der wohlriechende Rauch aufstieg, und entzündete dann auch ihre. Vorsichtig nahm sie den Rauch in den Mund, mußte nur kurz gegen den Hustenreiz ankämpfen, stieß den Rauch wieder aus und spürte, wie ein wunderbarer Schwindel sie erfaßte. Schlemihl betrachtete sie genau.

»Sie sind von der Insel Kuba«, sagte er ruhig und verstärkte durch einen paffenden Zug die Rauchwolke, die sie beide umgab.

Marie nickte und nahm einen zweiten Zug. Schlemihl lächelte.

»Wie schön es hier ist! Die Wasserkunst war ja immer schon, bereits in Rom, nur ein willkommener Nebeneffekt des immer selben Zwecks. Das Wasser springt uns zur Freude, um danach folgsam dorthin zu fließen, wo es gebraucht wird. Der Mensch aber vergafft sich immer von neuem in die zweckfreie Schönheit. Im Wilhelm Meister heißt es: Das Anschauen jedes harmonischen Gegenstandes rührt uns, denn wir fühlen dabei, daß wir nicht ganz in der Fremde sind, und wähnen uns vielmehr jener Heimat näher, nach der unser Bestes, Innerstes ungeduldig hinstrebt.« Schlemihl strich die Asche seiner Cigarre am Marmor der Bank ab. »Aber ich muß gehen, Mademoiselle.«

Marie sah ihn überrascht an. Den Wilhelm Meister kannte sie. Noch immer sprach sie mit niemandem über das, was sie las, doch mit ihm hätte sie es gern getan. »Aber nein! Sie müssen noch bleiben.«

»Ich kann nicht.«

»Und wohin müssen Sie?«

»Ich werde mir meine Siebenmeilenstiefel unterschnallen und nach Griechenland reisen. Tun Sie mir den Gefallen und rauchen in meiner Abwesenheit keinen türkischen Tabak?«

»Am liebsten«, sagte sie, »käme ich mit.«

»Aber Mademoiselle!« protestierte Schlemihl lächelnd, »Ihr Platz ist doch hier.«

»Und weshalb?« entgegnete sie. »Weil ich ein Monster bin? Eingesperrt auf dieser Insel für mein ganzes Leben?«

»Ein Monster?« Schlemihl sah sie entsetzt an. »Wer sagt das?«

Marie schüttelte den Kopf. Es war ihr peinlich, das Wort ausgesprochen zu haben. Daß Schlemihl sie nun schon wieder verließ, in die Welt hinauszog, die sie niemals sehen würde, hatte sie aufgewühlt.

Schlemihl, der wohl spürte, was in ihr vorging, sah sie voller Mitleid an. »Nein, meine Liebe, man hat Sie hier nicht eingesperrt. Sie sind das Schloßfräulein der Pfaueninsel, und Sie verkörpern das Beste dieses Ortes! Hat Lenné Sie belästigt mit seinem Schönheitskult?«

Wieder schüttelte Marie den Kopf. Was er damit meine, fragte sie leise, ohne ihn anzusehen.

»Ach wissen Sie, ich verachte, was man heutzutage über die Schönheit denkt. Schöne Menschen, heißt es, hätten bei den Alten schöne Statuen hervorgebracht, und in unserer Zeit nun könne das Betrachten der schönen Statuen helfen, wiederum schöne Menschen hervorzubringen. Die Welt ist aber größer und vielgestaltiger, als Winkelmann und seinesgleichen meinen. Davor müssen Sie sich nicht fürchten, Mademoiselle Strakon. Gerade hier nicht, an diesem Ort, der doch noch im alten Zauber steht.« Er drückte Maries Hand an den Mund. »Wissen Sie was? Am liebsten nähme ich Sie tatsächlich einmal mit zu einem meiner Lieblingsplätze auf dieser Welt.«

»Und welcher ist das?«

»Es gibt in Italien einen Park, der Parco dei Mostri heißt, die Grille eines verrückten Prinzen. Es würde Ihnen dort gefallen, ein Ort voller Groteske und Witz. So, wie die Welt selbst. Dort steht, gleichsam als Motto, auf einem Stein: Solo per toccar il cuore! Nur um das Herz zu berühren. Und das ist doch unsere Aufgabe auf der Welt, nicht wahr? Das Herz der anderen, aber auch unser eigenes. Ganz gleich, wo wir sind.«

Sie nickte stumm und zog an ihrer Cigarre, deren Rauch auf der windstillen Lichtung fast kerzengerade nach oben stieg.

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