Als Marie an der Gärtnerei mit den neuen Gewächshäusern vorbei war, im Wald über die Kuppe hinweg, an der Vogelvoliere und am Jagdschirm vorüber, den noch der Vater des Königs aus seinem Beelitzer Jagdrevier hatte hierherbringen lassen, ein seltsames Haus, rundum mit Rinde verkleidet, die man zu Mustern, Säulen und Pilastern geformt hatte, begann es sie zu gruseln, denn diesen Weg war sie nicht mehr gegangen, seit hier geschah, was hier eben geschah. Und als ihr dann der erwartete und befürchtete Brandgeruch in die Nase stieg, direkt aus der Senke, zu der an dieser Stelle das Hochufer der Insel abfiel, mußte sie stehenbleiben, weil ihr übel wurde.
Um den Besuchern aus dem Weg zu gehen, die in immer größerer Zahl auf die Insel kamen, hätte dies hier ein wunderbarer Ort sein können, denn eine breite Kette, die man kurz hinter der Voliere über den Weg gespannt hatte, verbot den Zutritt. Doch keiner der Bewohner der Insel kam gerne mehr hierher, was mit der Ursache eben jenes Verbotes zu tun hatte, von dem die Ausflügler fälschlicherweise meinten, es solle sie von den Resten des Kunckelschen Laboratoriums fernhalten. Marie wußte es besser. Langsam ging sie weiter.
Heute war es besonders schwül und heiß, seit Wochen hielt der Sommer den Atem an, so daß es auch hier, im Schatten des Waldes, unerträglich stickig war. Unter Maries vorsichtigen Schritten knirschten die papiertrockenen Nadeln. Sie wußte, sie mußte die Böschung hinab, genau dorthin, woher der Brandgeruch kam, denn eben dort waren die Ruinen des Laboratoriums, die geborstenen Mauern und die Reste der Öfen, in denen sie als Kinder so oft gespielt und fast immer ein Stück jenes roten Glases gefunden hatten, das Marie auch heute hierherführte. Nur, daß sie längst kein Kind mehr war. Es kam ihr so vor, als wäre sie auf der Suche nach der Vergangenheit, in die sie selbst gehörte. Langsam, während sie sich daran erinnerte, wie sie drei damals hier hinabgestürmt waren, tastete sie sich Schritt für Schritt den Hang hinunter. Es graute ihr vor dem leeren, leeren Weltraum mit seinem unendlichen Schwarz. Oft hatte sie sich vorzustellen versucht, wie, noch gar nicht so lange vorüber, ein jedes Ding auf der Welt seinen festen Platz gehabt und alles mit allem zusammengehangen hatte und daß sie in jener Zeit ein wirkliches Schloßfräulein gewesen wäre, so, wie Kunckel ein wirklicher Alchemist war. Aber jene Zeit war vorbei und lange abgelegt auch das Schloßfräulein, das man ihr als Kind übergeworfen hatte. Und wie hatte sie sich gefreut! Ein Karnevalskostüm, nichts sonst.
Im letzten Winter hatte den alten Gundmann der Schlag getroffen, danach war er lange bettlägerig gewesen, das Gesicht, als hätte tatsächlich ein Blitz ihn durchfahren, zur Grimasse erstarrt. Der Onkel hatte den Doktor kommen lassen, der nur wortlos den Kopf schüttelte, und so hatte man den Alten versorgt, so gut es eben ging, und eigentlich darauf gewartet, daß er sterbe.
Marie, die lange nicht mehr in der Meierei gewesen war, hatte ihn oft besucht, zuletzt kurz bevor er dann tatsächlich eines Morgens tot in seinem schmalen Bett lag, dessen hohe Wangen nun plötzlich an den Sarg gemahnten. Sprechen hatte er in den Monaten, die er darinnen lag, nicht mehr gekonnt, nur unartikulierte Laute, die jedoch mehr oder weniger zufrieden klangen, kamen aus seinem Mund, wenn man den Schemel neben das Bett schob und sich zu ihm setzte. Er mußte gefüttert werden, da seine Hände, als hätten sie sich in dem Moment, als der Schlag ihn traf, irgendwo festhalten wollen, klauenhaft verkrampft waren und es auch blieben, obwohl man sie, wie der Doktor, wohl einzig aus Mitleid mit dem Kranken, empfohlen hatte, immer wieder mit Schafsfett einrieb und massierte. Und bei aller Sorgfalt der alten Magd, die ihn versorgte, lief dem Alten doch die Suppe immer aus dem verzerrten Mundwinkel und über die weißen Altmännerstoppeln seines unrasierten Kinns auf das Nachthemd hinab, das vor Schmutz starrte.
Er hatte es offensichtlich gern, daß Marie ihn besuchte, vielleicht auch nur, weil sie näher an seinem Gesicht war als andere, wenn sie bei ihm saß. Zwar wußte sie nicht, was sie zu ihm sagen sollte, aber sie hielt den starren Blick des alten Mannes gut aus, kannte sie doch von ihren Besuchen im Schloß ein derartiges Arrangement. Sie lächelte ihm also zu und ließ einfach die Zeit vergehen, und oft kam es ihr so vor, als sähe sie dann in seinen Augen ein Lächeln, und sein Grunzen und Stöhnen, das so gar nicht zum neuen Kleid der Insel passen wollte, schien für Momente besänftigt.
Er und sie, sie beide, gehörten zu einer Welt, die es mit seinem Tod auch hier auf der Insel nicht mehr geben würde, wo sie vielleicht etwas länger als anderswo überlebt hatte. Nicht anders als Kunckel, der hier einst den magischen Kreis seines Laboratoriums um sich geschlagen hatte, um der Natur nahe zu sein, waren sie und Gundmann Gäste auf der Insel, wie es vielleicht auch der alte König und die Lichtenau gewesen waren, deren Schloß dem, der es wollte, so beredt davon erzählte, daß man die Maske einer Gräfin ebenso annehmen konnte, wie sich aus Holz und Leim ein Schloß errichten ließ. Schön, aber vergänglich. Gundmann war seine Landwirtschaft ein ebensolches Spiel gewesen, weil auch er wußte, daß jener Kreis, den man um sich schlägt, immer nur für kurze Zeit gegenüber der Natur Bestand hat, aus der wir selbst bestehen. Doch eine neue Natur, die den Tod vergessen zu haben schien, war unter Lennés Händen und aus der Sehnsucht des Königs entstanden. Immer wieder war Marie durch den veränderten Garten gegangen, den Wegen folgend, die Lenné hatte anlegen lassen, und hatte befremdet registriert, daß es ihm tatsächlich gelungen war, alles Fremde zum Verschwinden zu bringen. Seine Blickachsen durchzogen die Natur wie eine Melodie, in die alles sich eingefügt hatte, und die Käfige prunkten darin wie die Fassungen teuren Geschmeides und hielten die Tiere funkelnd, aber unverrückbar fest, sosehr sie auch gegen die Gitterstäbe anrannten.
Wenn Marie vor ihnen stand, mitten in der Horde der Schaulustigen, die den Löwen, die Affen, die Känguruhs umringten, peinigte sie bei jedem Fauchen und jedem zitternden Blick das Gefühl, genau zu wissen, was das Tier empfand. War sie doch selbst eines von ihnen. Exotisch war alles, was die Menschen hier sehen wollten, exotisch war auch sie selbst unter ihren Blicken, und damit bedeutungslos. Verloren die otaheitische Sehnsucht. Im selben Moment, in dem all diesen Exemplaren des Besonderen besondere Orte zugewiesen worden waren, verloren sie ihre Zauberkraft. Maries Abscheu vor dem Spektakel war so groß, daß sie an den Besuchstagen meist in ihrem Zimmer blieb.
Jetzt, am Fuß der Senke, wurde ihr so übel, daß sie bei jedem Schritt befürchtete, sich erbrechen zu müssen. Die Tiere! Sie hatte es ja gewußt, daß viele von ihnen starben, aber erst, während sie jetzt langsam wie über einen Friedhof durch diese Landschaft des Todes ging, begriff sie, wie viele von ihnen tatsächlich in ihren Käfigen umkamen. Hergeschickt aus der ganzen Welt, endeten sie hier, in diesen Ruinen. Dort, so aufgebläht vom Feuer, daß der riesige Schwanz starr abstand, der verkohlte Balg eines Känguruhs. Marie hatte nicht gemerkt, daß eines fehlte. Und dort, der Haufen schwarzer, vom Feuer angefressener Knochen, das konnte nur ein Büffel gewesen sein und richtig: da war der Schädel mit den Hörnern. Eilig ausgehobene Gruben, schlampig mit Kalk beworfene Körper darin, verschiedenste Gliedmaßen, Bäuche, ein Maul, das aus dem Weiß herausragte wie ertrinkend. Weiße Asche, die in einer langen Schleppe auf die Havel hinaustrieb. Blutige Häute, die man über ein provisorisches Gestell geworfen hatte, im Blut nur eine einzige saubere Stelle, an der sich die Maserung des Fells erhalten hatte. Ein Haufen Hörner und Klauen. Das aufgeblähte Känguruh, dessen verkohlter Leib jeden Augenblick zu platzen drohte, stank erbärmlich. Fliegen, die sie noch nie auf der Insel gesehen hatte, riesige grüne Fliegen, als wären sie aus der Hölle selbst gekrochen, in dichten Schwärmen überall.
Hatte sie auf dem ganzen Herweg Angst vor dem gehabt, was sie hier sehen würde, war ihr Herz jetzt ganz ruhig. Vergessen jedoch die Idee, hier nach Rubinglas zu suchen, als hätte die Vergangenheit endgültig ihre Kraft verloren. Ruhig und aufmerksam schritt Marie durch die verkohlten Leiber, die weißgekochten Augen ohne Blick, das Blut auf der Erde, und mußte dabei an Schlemihl denken und das Motto jenes Gartens, von dem er erzählt hatte: Solo per toccar il cuore. Nur um das Herz zu berühren. Das hier berührte ihr Herz.
Marie wußte, daß Kriepe, der Jäger, mit seinen Gehilfen dafür verantwortlich war, sie sah sein gleichgültiges Gesicht vor sich. Dabei war es ihr unangenehm, an ihn zu denken, denn er, groß und mager und mit wachen Augen, war jener eine, dem sie nicht widerstanden hatte. Immer wieder einmal hatte einer der Tagelöhner oder auch Gehülfen es bei ihr versucht, seit sie kein Kind mehr war, nie hatte Marie sich darauf eingelassen. Nur einmal, bei Kriepe, wäre es beinahe geschehen.
Däumlingin, Zwergin, gewiß. Märchenwörter – wir erinnern uns an den Anfang. Aber wie wäre es, hielte man tatsächlich einmal eine so kleine Hand? Striche über einen so schmalen Rücken? Ein Kindskörper, was sonst. Ein Kindskörper, nichts sonst. Läge er neben einem, sänke er in die Matratze nicht ein, seine Bewegungen wären vogelhaft leicht. Doch so einfach ist es nicht. Weder ihr Blick noch ihre Stimme die eines Kindes. Sich über sie beugen. Sie festhalten. Da verschwindet dann die Unberührbarkeit all der Märchenwörter, und ihr Mund, größer als alles an ihr, wird im Kuß plötzlich zum Eingang der Frau, die sie ist. Und Kriepe erstarrte. Und Marie entwand sich seiner Umarmung und lief davon.
Nur um das Herz zu berühren. Aber ist das, was uns berührt, nicht immer das Schöne? Marie mußte an die Treibhäuser denken, in denen der Onkel Schönheit zu jeder Zeit produzierte und ein Blühen und Befruchten ganz nach Wunsch. Wie unheimlich das war! Forma bonum fragile est, fiel der Ovid ihr ein, den Mahlke ihnen beigebracht hatte: Schönheit ist zerbrechlich.
Und sie mußte daran denken, wie der Riese einmal im Scherz Gustav hochgehoben hatte, wie er es mit jedem tat, jeden Erwachsenen so für einen Moment wieder zum Kind oder eben zum Zwerg machend. Marie lachte immer sehr darüber. Doch hatte Gustav den Griff des Riesen wohl nicht erwartet, denn als dieser ihn anhob, schrie er. Schrie und strampelte, ersichtlich voller Ekel und Panik, bis man ihn wieder hinabließ. Was berührt unser Herz? Gustav hatte ihr Herz berührt, und er war schön für sie gewesen, obwohl er immer ein wenig weiblich, ja weibisch wirkte mit seinen breiten Hüften und seiner zu saftigen Unterlippe. Der vollendet schöne Leib ist zugleich der schwache, hieß es bei den Alten, Adonis kein Herakles und dieser nicht schön. Pflanzen kennen keine Liebe und kein Begehren, hatte Gustav einmal zu ihr gesagt. Dabei könnte man meinen, Blüten seien nichts anderes als hilflos schöne Zeichen allergrößter Sehnsucht nach Berührung. Aber nicht einmal das ließ er gelten. Lieber als Blüten, das wußte Marie nur allzu genau, waren Gustav die Blätter der Pflanzen. Das hatte Lenné ihn gelehrt. Ob sich daran etwas änderte auf seiner Reise? Ob sich etwas geändert haben würde bei seiner Rückkehr?
Wie sie es sich vorgenommen hatte, setzte Marie sich, die toten Tiere und den Gestank im Rücken, auf einen Baumstumpf, von dem aus sie auf die sommerliche Havel hinaussah und hinüber ans andere Ufer, und schlug auf ihren Knien das Tuch mit den getrockneten Maulbeeren auseinander, die sie mitgenommen hatte, um sie eben hier zu essen. Ihr war nicht danach, und mit spitzen Fingern rollte sie die winzigkleinen Gehirne lange umeinander, manche heller, manche dunkler, bis sie sich überwinden konnte, diese weichen und ein wenig klebrigen Beeren eine nach der anderen in den Mund zu stecken.
4 Pavianaffen, 3 Mongabäiaffen, 2 Tjäckoaffen, 3 Mandrillaffen, 3 Kapuzineraffen, 1 Affe von Ceylon, 4 Känguruhs, 6 Repaul-Ziegen, 27 tibetanische Ziegen, 8 Lamas, 12 schottische Schafe, 5 ägyptische Schafe, 4 Fettschwanzschafe, 16 ungarische Schafe, 14 Merinoschafe, 9 Edelhirsche, 25 Damhirsche, 1 bengalischer Hirsch, 1 Reh, 3 Gazellen, 1 Hirschpferd, 1 Zebu, 5 Büffel, 7 Arahs, 2 Kakadus, 4 Perequetos, 4 Quistitiaffen, 1 Jackoaffe, 1 Schweinsschwanzaffe, 1 Klammeraffe, 1 Moustacaffe, 1 Löwe, 3 Bären, 1 Wolf, 1 Wolfshund, 4 Bernhardinerhunde, 2 Füchse, 6 wilde Schweine, 1 chinesisches Schwein, 1 Bisamschwein, 1 Stachelschwein, 2 Pfaueninselschwäne, 3 Coatis, 1 brasilianischer Fuchs, 1 Aguti, 1 Murmeltier, 2 Eichhörnchen, 5 Hasen, 6 Reiher, 4 Störche, 3 Kraniche, 1 Pelikan, 1 Papagei, 1 Alpenkrähe, 6 Schildkröten, 4 Seeadler, 2 Steinadler, 1 Goldadler, 5 Milane, 4 Sperber, 1 Uhu, 2 Schleiereulen, 6 Baumeulen, 1 Ohreneule, 1 Marabou-Storch, 85 verschiedene Enten, 1 Elster, 16 Schwarzamseln, 5 Stare, 8 Dompfaffen, 4 Kanarienvögel, 3 Wachtelkönige, 3 Finken, 15 Goldfasane, 2 Rohrdommeln, 4 Wasserhühner, 2 Fischmöwen, 119 verschiedene Tauben, 3 Rebhühner, 63 Pfauen, 31 Perlhühner, 90 verschiedene Hühner, 2 schwarze Schwäne, 3 Singeschwäne, 7 Schwangänse, 34 verschiedene Gänse, 13 Fasane, 13 Puten, 8 Crammetsvögel, 8 Wachteln, 1 Kernbeißer, 5 Lerchen, 1 Wiedewahle, 2 Hämpferlinge, 2 Zeisige, 29 Silberfasane, notierte Ferdinand Fintelmann akribisch den Tierbestand der Insel.
So vergingen die drei Jahre von Gustavs Reise. Einmal, im Herbst des Jahres, an dem seine Rückkehr erwartet wurde, an den Büschen rot die Hagebutten und blaubehaucht die herben Schlehen, versammelten sich alle am Abend um ein Kartoffelfeuer am Feldrand. Alle, dachte Marie, das hieß: die Krüppel der Pfaueninsel. Es war keiner der Besuchstage, an denen sie es vermieden, sich gemeinsam zu zeigen, um nicht mehr Aufmerksamkeit zu erregen als nötig. Carl, der Riese, stand da und neben ihm Theobald Itissa aus Ragoda in Afrika, ein Mohr, wie der Onkel sagte, sehnig und mit pechschwarzer Haut, der in den wenigen deutschen Worten, die er sprach, immer von der Schönheit des Sees erzählte, an dem er geboren worden war. Wenn der König auf die Insel kam, ließ er ihn rufen, wobei ihm ausdrücklich aufgetragen war, mit nacktem Oberkörper und barfuß zu erscheinen. Und auch Doro war dabei, die Tochter des Tierwärters Becker, die seit Kindertagen an dem Riesen einen Narren gefressen hatte. Marie verstand das Mädchen, auch sie mochte es, wenn der große Mann lachte. Und mit der ganzen Hand umklammerte sie manchmal seinen Daumen und dann hob er sie hoch.
Selbst Christian war an diesem Tag wieder einmal zu Besuch auf der Insel. Sie sahen sich nur noch selten, und Marie bewunderte den braunen weichen Mantel, den er an diesem Tag trug und in den der Herbstwind fuhr, der auch das Feuer anfachte. Energisch prasselten die dürren Stauden und verglühten eilig zu weißer Asche, auf die die Gartengehülfen immer neue häufelten, dabei im Rauch verschwindend und wieder erscheinend und dazwischen mit flinken Hacken hurtig den kalten Boden auskämmend. Schwer streifte der Sack, den die Kartoffeln beulten, über die Furchen. Es wehte die Glut aus dem prasselnden Feuer in die kahlen Äste der Bäume hinein und dann weiter, in den Himmel hinauf. Marie sah zu lange den Funken nach, die schnell verloschen in der kalten Luft.
Und plötzlich hörten sie alle, wie der Löwe markerschütternd brüllte, verstummten erschrocken und sahen sich an. Auch der Löwe, dachte Marie in diesem Moment, war einer von ihnen, Einzelexemplar einer Gattung wie sie selbst, und anders als all die anderen Tiere wurden sie nicht paarweise zur Paarung gehalten, zu gefährlich war ihre Häßlichkeit, keine Blutlinie sollte durch ihr Leben führen, sie mußte enden wie jene des gefährlichen Leuen, dessen einsames Brüllen ihnen durch Mark und Bein ging.
In jenem Herbst bestellte der König Marie zum allerletzten Mal zu sich. Er hatte das in den letzten Jahren nur mehr selten getan, und überhaupt nicht mehr, seit die Mesalliance mit Auguste von Harrach bestand. So wunderte sich Marie einigermaßen, als man sie holen ließ, und mehr noch, als sie ins Schloß kam, denn kein Personal war in den Räumen, völlig still war es, offenbar nur der Kammerdiener da, der vor ihr die Treppe hinaufstieg, die Tür zum Saal für sie öffnete und hinter ihr wieder zuzog.
Auch hier war niemand, nur auf einem Stuhl am Fenster lag achtlos hingeworfen ein Shawl. Marie trat hinzu und strich darüber hin. Der Shawl war himmelblau. Vor den Fenstern schwarze Nacht. Wenige Kerzen brannten flackernd in den Leuchtern. Marie kannte den Shawl. Es war einer von dreien aus den Haaren der Nepalziegen hier auf der Insel. Über Jahre hatte man die feinen Härchen gesammelt und sie schließlich, als eine ansehnliche Menge beisammen war, im Potsdamer Waisenhaus gereinigt. Mit der Schnellpost sodann ins preußische Aachen geschickt und von dort mit einem Kurier an den preußischen Gesandten nach Paris, der sie der Firma Albert Simon & Cie., Successeurs de Fernaux & Fils. Pour les Schalls, Mérino, Cachemires & Nouveautés in der Rue de Fossés Nr. 2 in Montmartre übergab. Dort wurden aus den Haaren drei Shawls gewoben und auf demselben Weg nach Berlin zurückexpediert. Zwei davon hatte der König seinen Töchtern geschenkt, der Kaiserin von Rußland und der Prinzessin der Niederlande. Und den dritten der Fürstin Liegnitz, wie die kaum fünfundzwanzigjährige, katholische, nicht standesgemäße Auguste von Harrach hieß, seit der König sich mit ihr in morganatischer Ehe verbunden hatte.
»Majestät?«
Niemand antwortete. Stets hatte er hier am Fenster gesessen, wenn er sie ins Schloß hatte rufen lassen, aber er hatte sie auch noch nie in der Nacht zu sich bestellt. Marie wußte nicht, was sie jetzt tun sollte. Ratlos nahm sie den Shawl, der wunderbar leicht und weich war und nach Maiglöckchen duftete, und preßte ihn an ihr Gesicht.
Da öffnete sich eine der hohen Flügeltüren und ein blauer, flackernder Lichtschein fiel auf das kunstvoll verschlungene Parkettmuster. Es war der König, der dort in der Tür stand, gewiß, und doch war Marie von seinem Anblick so überrascht, daß sie einen Moment lang daran zweifelte, ob er es tatsächlich sei. Trug er doch einen Nachtrock, der zudem, wie sie selbst gegen das Licht erkennen konnte, offen stand. Marie sah weiße Leibwäsche und Strümpfe an Strumpfhaltern in Lederpantoffeln. Der König winkte sie heran. Sie legte den Shawl auf den Stuhl zurück, ging wortlos an ihm vorüber, und er schloß hinter ihr die Tür zu dem Raum, der, wie sie wußte, das königliche Schlafcabinett war.
Natürlich sah Marie sofort zum Bett hinüber. Als sie aber erkannte, was dort vor sich ging, schlug sie nicht nur die Augen nieder, sondern hielt sich beide Hände vor das Gesicht. Doch gleich faßte der König sie an der Schulter, und flehentlich sah sie zu ihm hinauf. Sie wollte das nicht sehen! Doch mit einem Nicken forderte er sie eben dazu auf. Die Fürstin Liegnitz lag auf dem schmalen Feldbett, Marie erkannte sie gleich. Bei ihrem ersten Besuch auf der Insel hatte der König seine neue Frau den Bewohnern vorgestellt, ein Moment, über dem die eisige Erinnerung an Königin Luise so deutlich gelegen hatte wie nie seit ihrem Tod.
Die Fürstin war eine hochgewachsene und bis zur Sehnigkeit dünne Person mit einem großen, scharfgeschnittenen Mund und schwarzen kurzen Locken. Bleich und herrisch hatte sie dagestanden, offensichtlich sehr zufrieden mit ihren Reitstiefeln aus bestem englischen Leder, die sie auch später stets trug, wenn sie auf die Insel kam. Ihr Lieblingswallach stampfte so unruhig auf, daß der Pferdeknecht seine liebe Mühe mit ihm hatte. Die Fürstin ritt mit großer Leidenschaft, und zwang sie die Etikette in Berlin zu Damensattel und langem Kleid, trug sie hier auf der Insel ebenjene Stiefel zu Hosen, und kaum war das Pferd an Land, schwang sie sich in den Sattel und setzte über die Wiesen hinweg. Der Kontrast zur verstorbenen Königin, die sich in der Sänfte über die Insel hatte tragen lassen, wenn sie einmal nicht mit den Kindern spazierte, konnte nicht größer sein. Der König beruhigte Fintelmann, er werde für die Schäden, die das Tier verursache, eine zusätzliche Summe anweisen lassen.
Und jene Stiefel waren es auch jetzt, die Marie als erstes neben dem Bett bemerkte. Ordentlich standen sie da am Fußende, Schaft an Schaft, die Absätze nebeneinander, während die Fürstin selbst alles andere als ordentlich dalag. Die spitzenverzierte Decke offenbar in einem Anfall übergroßer Hitze so heftig zur Seite geschlagen, daß sie meistenteils zu Boden hing, krümmte und bog sich der sehnige Körper der Fürstin nackt auf der Matratze. Marie wandte sich erneut ab und wollte hinaus, der König hielt sie fest und drehte sie wortlos wieder herum. Für einen Moment roch sie seinen etwas seifigen, schlaffen Geruch. Er zwang sie hinzusehen, wobei das blaue zitternde Licht, das den Raum als einziges erhellte, es Marie schwermachte zu verstehen, was genau auf dem Bett vor sich ging.
Zunächst sah sie nur den bleichen Leib und wie die Fürstin, aufstöhnend wie vor Schmerz, den Kopf umherwarf, die Linke am Eisengestell festgeklammert, während die Rechte zwischen ihren Beinen hin- und herfuhr mit einem Gerät, das Marie zunächst nicht genau ausmachen konnte. Neben dem Bett, bemerkte sie erst jetzt, kniete eine der Kammerkatzen der Fürstin, ein ganz junges Ding mit ebenso krausen Haaren wie ihre Herrin, vor sich auf dem Boden eine Kugel, von der ebenjenes blaue zitternde Licht ausging, wobei es Marie so erschien, als wäre es das Mädchen selbst, das es auf eine seltsame Weise erzeugte. Denn vor sich, angebracht auf einer marmornen Platte, war nebst der blitzewerfenden Kugel eine Kurbel befestigt, von der Zofe eifrig betätigt, die dabei ebenso in Schweiß geriet wie ihre Herrin.
Marie sah: Ließ das Mädchen in ihrer Anstrengung nach, wurden die blauen Blitze um die wohl kupferne, jedenfalls spiegelglatt polierte Kugel schwächer, strengte die Zofe sich aber an, zuckte und blitzte es, illuminierte den ganzen Raum, und die Fürstin warf sich in diesem Lichtgewitter stöhnend von einer Seite des Bettes auf die andere. Was die beiden Frauen dabei verband, war eine Art Seil, das von der Kugel hinauf zum Bett und zur Fürstin sich schlängelte, hin zu ihrer Rechten und zwischen ihre Schenkel, zu jenem Gerät, das sie dort wie eine Art Pinsel bewegte, als bemalte und betupfte sie in äußerster Erregung ihr Geschlecht.
Gerade kam die Kammerkatze aus dem Takt, die Kurbel rutschte ihr aus der Hand, und das Licht erlosch beinahe. Die Fürstin atmete geräuschvoll aus und blieb einen Moment still liegen, als wartete sie nur darauf, daß es weitergehe. Langsam zog sie jenen Pinsel hervor, den aber, wie Marie jetzt sah, keineswegs Borsten krönten, sondern eine bleiche glänzende Spitze, die aus Walbein sein mochte. Aber schon drehte die Zofe die Kurbel wieder, heftiger als zuvor, das blaue Licht explodierte beinahe, und Marie sah, wie jene beinerne Spitze zu zucken begann und die Fürstin sich beeilte, sie zwischen ihren Beinen zu bergen.
Die Entwicklungsgeschichte der Gartenkunst verläuft ganz parallel zu derjenigen unserer sexuellen Phantasien, und beide teilen sich selbst die Länder, in denen sie ihre jeweils prägende Form fanden. Dem italienischen Renaissancegarten entsprechen Boccaccios amouröse Novellen, den absolutistischen Ordnungen französisch-barocker Rabatten die Ordnungsdelirien eines de Sade. Und so ist der englische Garten Ausdruck unserer Moderne und findet sein Pendant in den Perversionen unserer einsamen Seelen, denn er ist nichts als die abgewandte Seite der Großstadt, und durch London irrt denn auch der arme Walter, dessen Tagebücher so lüstern wie mechanisch den Traum von der Liebe beenden. Von alldem aber wußte Marie nichts, die sich hilflos nach dem König umsah, der noch immer hinter ihr stand. Wie sie starrte er reglos an, was vor ihnen geschah. Und er tat ihr leid. Endlich aber bemerkte er ihren Blick, schob sie sanft voran, und sie durchquerten, ohne daß die beiden Frauen sie beachteten, den Raum. Leise schloß er die Tür des Arbeitscabinetts hinter ihnen.
Der König setzte sich auf den Stuhl an dem kleinen Schreibtisch, den er sich hier hatte aufstellen lassen, direkt unter einem der Fenster, durch das die schwarze Nacht hineinblakte. Saß eine ganz Weile lang einfach da und sah unendlich ernst auf das blaue Licht, das in dünnem Schein durch die Türritzen drang. Marie wußte nicht, was tun, wagte es aber auch nicht, ihn nach seinen Wünschen zu fragen. Sein Blick war so starr und ernst. Schließlich aber trat sie an ihn heran und schlug den Nachtrock zur Seite. Als bemerkte er nicht, was sie tat, ließ er den Blick auch dann noch nicht von der Tür, als sie begann, sein Glied zu reiben. In den Mund, wie Christians, nahm sie es nicht. Doch als er kam, fing sie alles in der hohlen Hand auf, machte einen Knicks und huschte hinaus.