Drittes Kapitel. Die Schönheit der Pfauen

Der Pfau schlug sein Rad. Marie kauerte vor ihm auf der nassen Schloßwiese und mummelte sich fest in ihren alten, unförmigen Mantel. Daß sie längst eine junge Frau war, fast zwanzig, spielte für sie selbst die meiste Zeit keine Rolle, da es niemand bemerkte, seit jenem Erlebnis mit Gustav nicht einmal mehr sie selbst.

Der Schnee war in diesem Jahr spät erst geschmolzen, Anfang Mai, und so balzte der Pfau im Matsch. Auf seinem in glänzend purpurblaues Federglas gekleideten Kopf mit den Knopfaugen und dem kleinen, konzentrierten Schnabel zitterte das Krönchen, und Marie meinte zu sehen, welche Mühe er damit hatte, das weite Federrad, diesen in allen Farben glänzenden und schimmernden Mantel, der seinen Kopf umrahmte, immer wieder ein kleines Stück weiterzudrehen, immer wieder von neuem ins Blickfeld der unscheinbar nußbraunen, weißbraunen, lichtbraunen Henne, die gänzlich ungerührt im Dreck nach Körnern pickte, die es dort nicht gab. Wie sehr er sich konzentriert! dachte Marie. Er hat nur Augen für seine Henne, alle Augen der Welt. Und es kam ihr so vor, als versuchte er, sie mit der ganzen Opulenz seiner ornamentalen Pracht davon zu überzeugen, daß es eine Welt außerhalb seines schützenden Farbkreises gar nicht gebe. Sie glaubte es ihm wohl nicht. Und trotzdem: Wie schön er ist! Marie konnte sich nicht satt sehen an der perfekten Symmetrie der Farben.

Alle Pfauen der Insel schienen sich an diesem Tag hier in der Frühlingssonne versammelt zu haben, die langen Schwanzfedern streiften über die bloße, nasse Erde, und so zogen die Hähne weiche, fächernde Spuren hinter sich her, die Hennen hinterließen die spitzigen Abdrücke ihrer nackten Krallen. Das Blau der Männchen hatte im hellen Licht einen deutlich goldenen und grünen Schimmer, jede Feder kupfern gerändert und muschelartig gezeichnet, auf der Rückenmitte waren die Tiere tiefblau, auf der Unterseite schwarz, und die grüne Schleppe mit ihren prächtigen Augenflecken war mehr als einen Meter lang. Mancher Hahn öffnete hin und wieder seinen Schmuck ein wenig wie zur Probe, doch war kein Weibchen in der Nähe, sank das fluffige Farbspiel schnell wieder in sich zusammen, und er stolzierte weiter.

Hier am Schloß hatten sie ihren Stall, hierher brachte Marie ihnen im Winter ihr Futter, das gleiche, das auch die Hühner bekamen, doch die meisten Pfauen hielten sich nur zum Fressen im Stall auf, als Schlafplatz zogen sie die alten Eichen zwischen Kastellanshaus und Schloß vor. Es war ein seltsamer Anblick, wenn sich die Hähne schwerfällig mit kurzen Flügelschlägen auf einen der unteren Äste schwangen. Dicht an dicht dann die blauen, immer umherspähenden Köpfe, umrahmt von den Federn der anderen, im Schlafbaum. Im Sommer duldeten sie derartige Nähe nicht. Nach der Brunft verschwanden sie in alle Ecken der Insel und trugen mitunter heftige Kämpfe um ihr jeweiliges Revier aus. Dann verloren die Hähne auch ihre ganze Pracht. Eben zu der Zeit, wie der Onkel erklärt hatte, da in Indien, wo sie im Dschungeldickicht lebten, der Monsunregen einsetzt, bei dem es ihnen mit nassen Federn unmöglich wäre, auf die Bäume zu kommen.

Ob die Henne ihn erhören wird? Marie betrachtete den balzenden Hahn mit Sympathie. Sie würde sich nicht zieren. Niemals würde sie schön sein, dachte sie traurig und verfolgte gebannt das Spiel zwischen den beiden. Wie er seinen Schmuck werbend immer wieder nach der Henne hindrehte, und wie sie ihn scheinbar nicht beachtete. Wie grotesk ist doch diese Schleppe, dachte Marie, wenn sie sich nicht zum Rad aufspannt, und das tat sie ja meistens nicht. Wie sehr sie den Pfau behinderte. Schönheit ist Willkür. Es gab sie nicht, wenn er ihr nicht gefiel. Ganz egal, ob ich ihn schön finde, dachte Marie, nur ihr muß er gefallen.

Darwin, im fernen England noch ein Knabe, würde einmal angesichts solch balzender Pfauen begreifen: Obwohl die Schleppe es dem Pfau erschwert, seinen Feinden zu entkommen, ist sie für das Überleben seiner Gene doch von Vorteil, denn je schöner, größer, bunter, symmetrischer seine Schwanzfedern, um so größer die Chance, daß ein Weibchen ihn wählt. Und jede Wahl der schönsten Pfauen bringt noch schönere Pfauen hervor. So treiben die unscheinbaren Hennen die Evolution dessen voran, was sie schön finden. Nichts ist Gesetz, alles Entscheidung. Wäre dieser Gedanke in diesem Moment schon in der Welt gewesen, er hätte Marie wohl sehr gefallen. Daß Schönheit der sichtbare Einspruch der Liebe gegen den Kampf ums Überleben ist, gegen die Sphäre des Todes.

Doch Marie wußte davon nichts, und sowenig, wie wir Tiere heute betrachten können, ohne daß jedes einzelne immer nur zum Exemplar einer Gattung wird, war sie damals in der Lage, in ihrer Schönheit etwas anderes zu sehen als Prunk und Überschuß. Eine Grenze, die wir nicht mehr zu überschreiten vermögen, trennt unser Denken von Maries Empfinden. Und doch findet sich, auch wenn die Ideen herzklopfensneu in die Welt kommen, an der Stelle, an der sie sich einmal bilden werden, zuvor schon ein Unbehagen daran, wie alles ist. Unsere Sehnsucht reicht mindestens ebensoweit in die Vergangenheit zurück wie in die Zukunft hinein. Marie also sah die Hingabe dieses Tiers und dachte: Jedes konnte schön sein, es kam nur darauf an, wer es betrachtete. Vielleicht sogar sie selbst. Und vielleicht war jede Schönheit grotesk. Und alles Groteske schön. Und so selbst eine Zwergin schöner noch als eine Königin, dachte Marie, weil sie einzigartig war, und auch eine Königin nichts anderes als eine schöne Frau.

Der Pfau stand jetzt ganz dicht bei der Henne, die sich nicht mehr rührte. Marie kauerte sich noch ein wenig mehr zusammen und schlang die Arme um ihre Knie. Gebannt sah sie zu, was dann geschah. Sehr langsam und zärtlich begann der Pfau den Mantel seiner Federn über sie beide zu senken, über sich und das Weibchen, wie die vielaugigen Flügel der Seraphim. Marie hielt den Atem an.

Doch plötzlich, und bevor sie selbst bemerkt hatte, was ihn störte, fiel die ganze Federpracht in sich zusammen. Der blaugeharnischte Kopf mit den blicklos schwarzen Augen sah sich unruhig um. Dann blökte ein Schaf. Hahn und Henne und auch alle anderen Pfauen flatterten eilig davon, während ein schmutzigweißes Schaf, noch in seiner dichten Winterwolle, über die Wiese heranzockelte, geführt an einem roten Band von ihrem Bruder, der ihr grinsend schon von weitem zuwinkte. Verärgert stand Marie auf. Christians Oberkörper war nackt, und er trug eine Hose aus Schafsfell, deren Zotteln bei jedem Schritt seiner Säbelbeine wippten. Genauso groß wie er, ließ das Tier sich willig von ihm führen, wobei das rote Seidenbändchen, das dazu diente, nur mit einer Schleife um seinen Hals befestigt war.

»Ist dir nicht kalt?«

»Nein, gar nicht, Schloßfräulein.«

Er blieb lachend vor ihr stehen, während das Schaf sofort begann, die wenigen bleichen Halme zu ihren Füßen auszurupfen. Als er sie umarmen wollte, entwand sie sich seinem Griff und vergrub die Hände in den Taschen ihres Mantels. Seit ihr Bruder kaum mehr ins Kastellanshaus kam und statt dessen Gundmann und dem Fasanenjäger bei der wachsenden Zahl von Tieren zur Hand ging, die auf die Insel kamen, war er ihr fremd geworden. Marie wußte gar nicht mehr, wie das angefangen hatte. Zu den Kühen, Schafen und Ziegen der Meierei war zunächst, von Sanssouci herüber, die Fasanerie verlegt worden, seitdem kamen nach und nach immer mehr ungewöhnliche Tiere auf die Insel, Geschenke an den König, schlesische und ungarische Schafe, dann sogar Wasserbüffel, chinesische Schweine und bengalische Hirsche, die ein Graf von Lindenau überbringen ließ, die Gräfin Louise Magni Angoraböcke, Perlhühner, türkische Enten und Goldfische. Alles wurde vom König dankend angenommen und hierher auf die Insel expediert. Auch ein riesiger Braunbär, vor dem Marie sich sehr fürchtete, war als Geschenk aus Rußland in einem eisernen Käfig gekommen und im Wald an einen mächtigen Pfahl gekettet worden, den er seither, vor allem in der Nacht immerzu brüllend, unablässig umrundete.

»Wieder traurig?«

Sie schüttelte den Kopf. Als sie seinerzeit Christian von dem Erlebnis mit Gustav erzählte, hatte er gelacht, wie er meist lachte, und sie in den Arm genommen. Auch, als sie ihm erklärte, er könne nun nicht mehr bei ihr schlafen. Er hatte nur wortlos genickt. Da hatte sie noch gehofft. Seitdem war sie nachts allein, vier ganze Jahre waren vergangen, und noch immer dachte sie mit Herzklopfen an jenen Gewitternachmittag in der Scheune zurück. Davor, schien es ihr manchmal, war sie frei gewesen, wobei es ihr schwerfiel, sich vorzustellen, wie sich das angefühlt hatte. Wohl erinnerte sie sich: Jener Nachmittag war doch wie ein Spiel gewesen, sie erinnerte sich an Übermut, Neugier. Nichts mehr davon gab es noch, unabänderlich war sie gefangen in ihrer Liebe. Und verstand nicht weshalb. Nur, daß die Zeit, die verging, nichts daran änderte.

Und Gustav? Gustav vermied es seit vier Jahren, sich beim Essen neben sie zu setzen, das Wort an sie zu richten oder sie auch nur anzusehen. Natürlich war das bemerkt worden, doch die Mutter und der Onkel waren schweigend darüber hinweggegangen, und den Brüdern hatte Gustav in die Seite gepufft, wenn sie sich anfangs am Eßtisch anheischig machten, darüber zu witzeln. Nun war es längst für alle normal.

»Du liebst ihn immer noch«, sagte Christian.

»Und wenn schon!« entgegnete sie zornig. »Er wird aber mich niemals lieben. Ich bin ein Monster.«

Ihr Bruder lächelte sie traurig an. »Aber natürlich wird er das. Ich liebe dich doch auch.«

»Ach, sei still!«

Sie versuchte ein Lächeln, das ebenso traurig war wie sein Blick. Er musterte sie lange. Wenn er nachts im Freien schlief, kam es ihm immer so vor, als ob die Geräusche der Tiere ihn mit allem um ihn her verbänden. Sehr weit entfernt hörte er dann das dumpfe Knurren und Stöhnen des Bären und ganz nah im Unterholz das Scharren der Mäuse, von der Wiese her ein unterdrücktes Blöken der Schafe, manchmal ein leises Rascheln im dürren Gras, wenn ein Siebenschläfer vorüberschlich. Er hatte keine Angst. Wie die Nacht die Kehrseite des Tages war, gab es eine Innenseite der Insel, die nur die Tiere kannten und er. Seit er als Kind ihre Wege durchs Unterholz gefunden hatte, war er zu Hause in dieser Innenwelt, über der, wie der glänzende Panzer eines Aaskäfers, all das lag, was die Menschen auf der Insel den Garten nannten. Aber der Garten war nur eine Hülle, unter der sich, ganz dicht darunter, doch für die Großen unauffindbar, die innere Welt der Insel befand. Nur für die Tiere war man in Wirklichkeit gleich geboren. Christian hoffte sehr, daß Marie das noch verstehen würde, ihre Sehnsucht nach Gustav war ganz sinnlos, sie beide hatten nur einander.

»In Frankreich«, flüsterte er ihr ins Ohr und zog sie fest an sich, »in Frankreich erzählt man von einem Roi Oberon, dem König der Elfen, ein Zwerg wie wir, der bei uns König Alberich genannt wird.«

Sie wollte das nicht hören. Marie befreite sich aus seinen Armen, dabei versehentlich dem Schaf einen Tritt gebend, das empört blökend einen Satz machte, wobei Christian das rote Seidenband aus der Hand rutschte und sich langsam zu Boden schlängelte, um dann, dem Schaf hinterher, durch den Dreck zu gleiten, dessen Farbe es beinahe augenblicklich annahm.

»Du weißt doch, was in dem Sagenbuch steht, das Mahlke uns gegeben hat: Wir haben uns einst im Boden zu regen begonnen und Leben bekommen wie Maden im Fleisch und auf Geheiß der Götter Menschengestalt. Wir wurden angewiesen, die großen Feuer, die im Leib der Welt brennen, zu bewahren. Und weil wir am Anfang der Zeit aus der Erde entstanden sind, werden wir unendlich alt und pflanzen uns nicht fort.«

»Hör auf!«

»Und beim Tod eines Zwerges, heißt es, trauern die anderen auf eine Weise, die Menschen sich nicht vorzustellen vermögen, denn mit jedem Zwerg, der stirbt, gibt es für immer einen weniger unserer Rasse.«

Der Hofgärtner erhielt nebst freier Wohnung im Kastellanshaus und Brennholz fünfhundert Taler jährlich, was in etwa dem Gehalt eines Geistlichen entsprach und monatlich ausgezahlt wurde. Die Gartengehülfen und Lehrlinge, für deren Verköstigung und Unterkunft er nach Handwerkerbrauch aufzukommen hatte, wurden wöchentlich und die Tagelöhner am Abend mit fünf Groschen bezahlt, drei Groschen bekamen die Frauen. Nichts von all dem, was auf der Insel erzeugt wurde, durfte eigenmächtig verkauft werden, jeden Samstag mußte der Hofgärtner Rechnung schreiben und dem Garteninspektor zustellen und einmal jährlich, im Dezember, den Etat für das nächste Jahr festlegen.

Im Winter wurden die Ufer frei geschnitten, das Röhricht wurde gebündelt und verkauft, Bäume wurden gefällt, Gehölze gestutzt. Ansonsten war wenig zu tun, bis die Frühlingssonne den Schnee wegtaute und den Frost aus dem Boden vertrieb. Dann mußten die Felder bestellt und die Beete vorbereitet werden, die Blumen kamen aus den Gewächshäusern und die Tiere auf die Weide. Sommer hieß auf der sandigen Insel, zumal bei den Rosen, daß die Gärtner Tag für Tag wässern mußten, damit die Blumenpracht nicht verdorrte. Im Herbst wurde Heu gemacht, das Obst kam in die Keller, die Hecken wurden geschnitten, die Wege gejätet und ihre Kanten abgestochen, die Felder abgeerntet und Gehölze und große Bäume, wenn nötig, gepflanzt. Und immer wieder mußte das Laub entfernt werden, vor allem auf der Schloßwiese und den Wegen. Es wurde gesät, dann kam der Winter, das war das Jahr. Und alle auf der Insel wurden älter dabei. Bald begann Gustav mitzuarbeiten. Der Onkel ließ ihn zunächst mit den Tagelöhnern graben, lehrte ihn selbst dieses und jenes, gab ihm erste eigene Verantwortlichkeiten. Seine Fragen begannen die Gespräche am Mittagstisch zu bestimmen. Marie, die er keines Blickes würdigte, saß stumm dabei und sah zu, wie er erwachsen wurde.

Oft blieb sie dann allein im Eßzimmer zurück, wo Gustavs Mutter aus einem Feingefühl heraus, das wohl nicht einmal wußte, was es alarmiert hatte, sie ihren Büchern überließ, in denen sie sich immer mehr vergrub. Noch immer erzählte sie niemandem von dem, was sie las, nicht einmal Mahlke, obwohl vieles, was er ihr gab, sie sehr beschäftigte. Novalis’ Hymnen an die Nacht las sie immer wieder und hätte das Buch gern behalten, Tiecks Gestiefelter Kater verwirrte sie zuerst sehr, doch auch davon sagte sie dem Lehrer kein Wort, las es statt dessen ein zweites Mal, und da mußte sie lachen bei beinahe jedem Satz. Im Kastellanshaus fand sie den Rinaldo Rinaldini und Arndts Vier Bücher vom wahren Christentum, die sie sich eine Weile lang erfolglos zu lesen zwang. Viel mehr an Büchern war da nicht, ein Band noch mit den Oden Klopstocks und der Voßsche Homer, in dem sie sich allerdings verlor. Dann entdeckte sie im Schlafcabinett des Königs ein Regal mit teuer aufgebundenen Bänden, die wohl schon lange niemand mehr in der Hand gehabt hatte, eine alte, zerlesene Ausgabe von Gellerts Leben der Schwedischen Gräfin von G*** gefiel ihr sehr, noch niemals hatte sie so empfindsame Worte über die Natur gelesen. Und Rousseaus Neue Héloïse, die sie als nächstes aus dem Regal zog, würde, da war sie sich beim Lesen vom ersten Moment an sicher, ihr Leben verändern. Doch dann verlor sie sich in Merciers Tableau de Paris, und neue Eindrücke traten an die Stelle der alten.

Niemand interessierte sich für das, was in ihrem Kopf vorging, ja es schien ihr, als wäre es allen sehr recht, sie so still dasitzen zu sehen, während ihre Augen den Zeilen folgten, das Lesen eine unsichtbare, aber willkommene Grenze, die sich fuglos in die Nichtbeachtung durch Gustav einfügte. Um so mehr überraschte es sie, als gerade er eines Nachmittags am abgeräumten Eßtisch stehenblieb und sie fragte, ob sie sich etwas ansehen wolle. Wortlos legte sie ihr Buch weg und folgte ihm hinaus.

Ein schmaler Pfad führte zwischen Kastellanshaus und Schloß zu einem kleinen Gemüsegarten am Ufer hinab, dorthin ging er mit ihr, und sie bemerkte, daß er sich offenbar bemühen mußte, seine Aufregung zu verbergen. Dicht und hoch stand das Schilf. Ein alter Staketenzaun bückte und bog sich unter dem Andrang der Büsche, die ihn hart bedrängten, das Törchen mit rostigen Krampen an alten Pfosten befestigt. In einer Ecke, halb schon im Erlenschatten, ein Dutzend Tontöpfe, die Marie erst bemerkte, als Gustav zielstrebig auf sie zulief. Schon kniete er davor.

»Blau«, stieß er erregt hervor. »Siehst du!«

Die Hortensien in den Töpfen hatten blaue Blüten.

»Ja.«

Sie stand dicht bei ihm und hätte ihm gern über den Kopf gestrichen, weil er sich so freute. Doch als sie ihre Hand tatsächlich nach ihm ausstreckte, sprang er schon wieder auf.

»Weißt du, wie ich es gemacht habe?«

»Sag es mir«, sagte sie.

Es gibt keine blauen Hortensien. Die Blüten dieser eigentlich in Südostasien heimischen Pflanze, die man nach Hortense Lepaute benannt hat, einer Astronomin und Mathematikerin, die 1759 die Ankunft des Halleyschen Kometen ebenso berechnet hatte wie die seinerzeitige Venuspassage, sind entweder rot oder weiß.

»Schilferde! Hier am Zaun, dieser Haufen mit kompostiertem Schilf. Als ich sie damit eintopfte, wurden sie blau.« Aufgeregt machte Gustav ein paar unentschiedene Schritte, dann fiel er vor den Töpfen wieder auf die Knie und hielt ihr eine der Pflanzen hin. Marie berührte die kleinen blauen Blüten mit der flachen Hand.

»Der Onkel kommt auch gleich.«

Sie nickte. Dann nahm sie all ihren Mut zusammen: »Gustav?«

»Das ist schön, findest du nicht?«

»Ja, sehr schön. Gustav?«

»Sieh nur, wie schön sie sind!«

»Ja, wunderschön. Da hast du etwas Wunderschönes gemacht. Aber du mußt auch mich verstehen. Du hast gesagt, du liebst mich.«

Er nahm den Blick nicht von den Blüten. »Ich kann dich nicht lieben«, kam es leise zu ihr herauf.

»Aber warum? Gustav!«

»Weil du ein Tier bist. Und ich bin eine Pflanze.«

Tränen in den Augen, lächelte er ein verzerrtes Lächeln zu ihr hoch und blinzelte gegen die Sonne. Sie verstand zunächst gar nicht, was er da sagte, weil es sie so entsetzte, wie haßerfüllt er die Wörter ausspuckte. Repetierte, als müßte sie sich in eine fremde Sprache hineindenken, immer wieder, was er gesagt hatte. Kämpfte gegen den Wunsch an, wegzulaufen. Nein. Solange es eben dauerte, solange würde sie bleiben, dachte sie, und bewegte sich nicht von der Stelle, bis der Onkel, von der Schloßküche her, den Gemüsegarten betrat, sorgsam das Tor hinter sich schließend, damit die Kaninchen und Pfauen nicht hereinkamen.

»Aber du hast gesagt, daß du mich liebst!« sagte sie schnell noch einmal.

Doch Gustav wischte sich die Tränen ab und sah dem Onkel entgegen, der mit Schürze, Holzschuhen und Strohhut wie ein Gärtner gekleidet war, in der einen Hand den langen Gärtnerstab, in der anderen Armbeuge einen Spankorb mit ein paar Wurzeltrieben. Besonders im Frühjahr genoß er es, den Gehülfen zur Hand zu gehen und selbst im Garten mit anzupacken. Noch bevor Gustav etwas sagen konnte, war sein Blick schon auf die Hortensien gefallen. Gustav strahlte über das ganze Gesicht.

»Onkel!«

»Das hast nicht du entdeckt«, begrüßte Fintelmann seinen Neffen, der ihn verständnislos anstarrte. Er stellte sein Körbchen ab, machte die paar Schritte zu den Töpfen hinüber und betrachtete die Pflanzen. Die Möglichkeit, erklärte er, Hortensien durch verschiedene Zugaben blau zu färben, sei schon seit der Einführung der Pflanze in Frankreich 1789 bekannt. Es gebe einen Zusammenhang zwischen dem Säuregehalt des Bodens und der Blütenfarbe: Alkalische Erde bringe rote Blüten hervor und saure Erde blaue Blüten.

»Es war im Jahr der Revolution. Als sie den Garten von Versailles stürmten und der berühmte Le Notre …«

»Aber …«, sagte Gustav.

»Was: Aber?«

Gustav räusperte sich. »Warum haben Sie es dann nie selbst getan, wenn Sie davon wußten, Onkel?«

Ferdinand Fintelmann nahm seinen Hut ab und strich sich mit der Hand über den Kopf. Sehr leise sagte er: »Ich mag es nicht.«

»Was denn? Blau?« In Gustavs Stimme schwang Trotz mit, als trüge der Onkel durch sein Versäumnis eine Mitschuld an des Neffen Enttäuschung.

Fintelmann schüttelte den Kopf. »Ich finde, es gehört sich nicht.« Er stützte sich auf den Stab und beugte sich zu seinem Neffen hinab. »Man soll nicht zaubern mit der Natur. Die Sphären nicht vermischen.«

Gustav schüttelte fassungslos den Kopf. Marie aber verstand, was er im Sinn gehabt hatte. So blau wie diese Blumen waren ihre Haare schwarz. Wie alles, was das Feuer verzehrt dort in der Erde, woher sie kam. Man mußte sich nicht entscheiden zwischen Pflanze und Tier, es gab ein Drittes. Etwas jenseits von Tod oder Schönheit. Etwas, das dauerte. Etwas das nicht fraß und sich nicht verschwendete. Das mineralische Reich. Sie war ein Ding. So, wie Kunckel das Glas rot machte, machte die Erde, aus der sie kam, die Blumen blau.

»Womit hast du es gemacht?« wollte der Onkel wissen.

»Mit der Schilferde hier.«

»Interessant. Für gewöhnlich nutzt man Alaun dazu.«

Alaun, echote es in Marie.

Der Onkel bückte sich ächzend nach dem Spankörbchen und wandte sich zum Gehen. Für ihn war die Sache erledigt. Doch nicht für Gustav.

»Ich werde sie dem König zeigen!«

Der Onkel sah sich überrascht nach seinem Neffen um. Skeptisch wiegte er den Kopf. Die Idee gefiel ihm nicht. Es war nicht ehrlich, zumal es die Lieblingsblumen der Königin betraf. Aber wer wußte schon, was daraus entstehen konnte? Er nickte Gustav zu, zögerlich zwar, doch jetzt durchaus wohlwollend. Und bat Marie, schon im Gehen, ihn doch zu begleiten. Froh um diese Bitte, nahm sie ihm den Spankorb aus der Hand, und die beiden verließen den Garten in Richtung Kastellanshaus.

Statt direkt ins Schlafcabinett zu laufen, aus dem sie das Buch genommen hatte, das sie noch schnell zurückbringen wollte, bevor die Königlichen Hoheiten mit den Gondeln aus Potsdam eintreffen würden, schlenderte Marie zunächst noch im Erdgeschoß zu jenem Raum, den sie schon allein wegen seines Namens besonders mochte: das Otaheitische Cabinett. Unter Otaheiti, wie man im 18. Jahrhundert die Gesellschaftsinseln genannt hatte, stellte sie sich eine Weltgegend vor, in der es nur Inseln wie die ihrige hier gab. Und nur Sommer. Und Fische und nackte Menschen. Wie erschrak sie, als sie die Tür aufstieß und der Kronprinz vor ihr stand. Zwei Jahre älter als sie, doch noch immer ein etwas pummeliger Junge, verträumt und weich, hatten sie früher im Park gern miteinander gespielt. Hier aber, das wußte sie, zählte das nicht. Sie getraute sich nicht einmal, das Buch aufzuheben, das sie vor Schreck fallen gelassen hatte.

Aber auch er rührte sich nicht in seiner Uniform, über deren hohem, fest geschlossenem Kragen sich die weichen Wangen wölbten, eine Hand, als sollte er gemalt werden, abgestützt auf dem kleinen runden Tisch in der Mitte des ebenso runden Raums. Die Läden waren geschlossen, um die Wärme auszusperren, und im kühlen Halbdunkel ihrer beiderseitigen Überraschung hörte man nichts als das Kratzen der Metallrechen draußen im Kies der Wege.

»Das ist unsere Insel«, sagte er schließlich und deutete vage auf die Wände um sich.

Es dauerte einen Moment, bis Marie begriff. Doch dann sah sie es, und zwar zum allerersten Mal. Es ist das Otaheitische Cabinett ringsum so mit bemalter Leinwand bespannt, daß man den Eindruck gewinnen kann, man befinde sich in einer Hütte in der Südsee, die immer wieder Ausblicke in eine Landschaft durch gemalte Fenster freigibt, in denen man jedoch, wie sie jetzt entdeckte, dasselbe sah wie in den realen: die gleißende Wasserfläche der Havel. Das war ihr noch nie aufgefallen. Dieser Raum wünschte den Betrachter nicht etwa hinweg in eine andere Hemisphäre, sondern ganz im Gegenteil die Südsee mit Bambus und Palmen hierher ins Preußische, indem er die Pfaueninsel verwandelte.

»Glauben Ihre Königliche Hoheit, es stimmt, was man liest?«

Natürlich hatte Marie ihn bei ihren Spielen im Park niemals so angesprochen, doch in diesem Moment schien es ihr unmöglich, ihn beim Vornamen zu nennen, wie sie es gewohnt war. Er schien es nicht einmal zu bemerken.

»Daß die Wilden auf den Sandwich-Inseln Cook gekocht und aufgegessen haben?«

Seine ruhige, etwas teigige Stimme war ihr immer angenehm gewesen. Auch jetzt klang sie ein bißchen so, als spräche er im Traum. Schnell hob sie das Buch auf, bei dem es sich, wie er bemerkt haben mochte, um Forsters Bericht über seine Weltreise mit Cook handelte. Und als ließe sich so vergessen machen, daß sie es unerlaubterweise an sich genommen hatte, erzählte sie von Forsters Eindruck, die Bewohner Tahitis glichen den alten Griechen. Sie könne sich nicht vorstellen, sagte sie, daß diese so grausam gewesen seien.

»Ich weiß nicht«, sagte er gedehnt und blinzelte durch sie hindurch. Wechselte Spiel- und Standbein und schwieg dann wieder.

»Glauben Ihre Königliche Hoheit, es gibt menschenfressende Pflanzen?«

»Ich weiß nicht«, sagte er noch einmal.

Sie habe, erzählte Marie, über die entsprechenden Berichte immer wieder nachdenken müssen, scheine es ihr doch, als fände sich darin eine Verbindung der beiden Reiche des Vegetabilen und des Tierischen. Die Sage von dem Halbgott Ma¯ui aus Polynesien etwa, der eine menschenfressende Pflanze bekämpfte, den Hiapo, zu deutsch Papiermaulbeerbaum, ihn schließlich besiegt und den Menschen so seine Frucht gebracht habe, ebendie Maulbeeren.

»Wie seltsam«, merkte er nachdenklich an, »daß auch im deutschen Wort beides, Tier und Pflanze, vereint scheint.«

Marie nickte. Der deutsche Forschungsreisende Carl Liche berichte aus Südamerika von einer fleischfressenden Pflanze mit dem Namen Ya-te-veo, was auf spanisch bedeute: Ich sehe dich. Diese Pflanze tauche hauptsächlich in Legenden der Mkodo auf, einem Volk aus dem Dschungel, und Liche schildere detailliert, wie die Mkodo eine Frau Ya-te-veo opferten, bei dem es sich um einen etwa drei Meter hohen Baum handele, der unzählige große Blätter sowie mehrere lange Fühler besitze. Wie genau der Baum die Frau gefressen habe, gehe aber aus dem Bericht nicht hervor.

Der Prinz schüttelte den Kopf über diese seltsame Geschichte und sah sich noch einmal nach den Malereien an den Wänden um, als zweifelte er nun an dem, was sie zeigten. Und dann sah er Marie an, als zweifelte er an sich selbst. Er wußte, sie hatte hier im Schloß nichts verloren. Und doch war sie ihm vertraut wie eine kleine Schwester. Ihr Gesicht war hübsch. Das hatte er immer schon gedacht. Und er mußte dem Impuls widerstehen, sie wie früher hochzuheben, als sie Kinder gewesen waren. Gänzlich zusammenhanglos sagte er, er sei bereits am Morgen aus Berlin angekommen, aber er habe niemanden stören wollen.

Seit man vor zwei Tagen den Besuch der Königlichen Familie am Sonntag bestätigt hatte, waren alle mit den Vorbereitungen beschäftigt. Gleich am Freitag war die Schloßwiese gemäht worden, und das Geräusch der Sensen hatte man am Abend noch lange im Kastellanshaus gehört. Gestern wurde dann morgens und abends überall gewässert, um das Grün, das jetzt, in der heißesten Zeit des Sommers, überall schon zu verdorren drohte, möglichst frischzuhalten. Gerade in Blüte stehende Pflanzen im Anzuchtgarten wurden eingetopft und die Kübel von zusätzlichen Tagelöhnern, die aus Klein Glienicke gekommen waren, mit hölzernen Tragen unter Ächzen und Schwanken an den Wegen verteilt. Fintelmann hatte Gundmann angewiesen, in der Meierei alle nötigen Vorbereitungen für einen Besuch der hohen Herrschaften am Nachmittag zu treffen, und in der Schloßküche wurde von der Köchin und ihren Mägden bereits seit gestern gekocht.

Als der Tagelöhner, den der Onkel am Morgen als Posten ans Ufer vor dem Schloß abkommandiert hatte, endlich die Ankunft der Gondeln vom Neuen Garten meldete, war niemand mehr im Haus außer Marie, die gerade dabei war, ihr feinstes Sonntagskleid aus hellblauem Musselin überzustreifen. Sie beeilte sich, ihr Haar zu ordnen, und sprang dann so schnell sie konnte die Treppen aus ihrer Kammer hinab. Atemlos blieb sie auf den Stufen vor dem Kastellanshaus stehen. Hier war sie immerhin ein wenig größer als die anderen. Noch nie hatte sie alle Inselbewohner beisammen gesehen. Jetzt, während die Boote heranglitten, war Zeit, sie zu mustern.

Da waren zunächst die Arbeiter aus Stolpe und Klein Glienicke, die etwas abseits standen und die Marie zwar fast alle dem Gesicht nach, kaum aber ihre Namen kannte. In der Mitte des eigentlichen Empfangskomitees der Onkel, sie sah gleich seinen Hut und den Rock mit dem altertümlichen Kragen, den er nur zu besonderen Anlässen trug. Daneben die Schwägerin, wie immer etwas blaß und in einem betont schmucklosen Kleid, wobei ihre blonden Haare in der Mittagssonne den strahlenden Mittelpunkt der Gruppe bildeten. Von den Neffen, die ihre Köpfe zusammensteckten, sah Marie nur die ebenfalls blonden Haare, dahinter, mit einem deutlichen Abstand, der die Familie des Hofgärtners vom Gesinde und den Angestellten trennte, Elsbeth, die Magd, und den derzeitigen Gartengehülfen, einen hoch aufgeschossenen Jungen mit einem auffällig grünen Halstuch, der keinen Moment stillstehen zu können schien. Neben ihm die beiden Gesellen Macke und Riedbusch, die Ruhe selbst, und der Gartenknecht Kluge, ein stiernackiger, gedrungener Mann, mit seiner Frau Charlotte, von allen nur die Klugin genannt, die im Umgang mit Pflanzen ihrem Mann weit überlegen war und sich um wenig scherte, wenn sie nur, in groben Stiefeln und Hosen, in den Beeten stehen konnte. Die beiden hatten keine Kinder, waren aber auf eine stumme Weise gut miteinander.

Ein wenig abseits von dieser Gruppe hielten sich jene, die weniger mit dem Schloß und dem Kastellanshaus als mit der Meierei und dem Wald zu tun hatten, Gundmann vor allem sah sie dort, bei ihm den Fasanenjäger Köhler und den Tierwärter Daniel Parnemann, der erst seit diesem Jahr auf der Insel wohnte, ein dicker Glatzkopf, der älter aussah, als er es war. Daneben der Jäger Kriepe mit Frau und Kind, der Schäfer Elsholz, ein junger Pommer, der immerzu grinste, und Meese, der Fischer, mit seinem einfältigen Sohn. Und ganz am Rand entdeckte Marie schließlich auch den alten, mittlerweile sehr gebeugten Gespanndiener Stoof mit seiner Frau, einander gegenseitig stützend. Brandes, den Königlichen Büchsenspanner, sah Marie nicht, er machte sich wohl beim Anlegen der Gondeln nützlich. Und auch Mahlke fehlte, der, wie stets im August, nach Hause gefahren war.

Die Gondeln hatten endlich festgemacht. Wo war Christian? Der Gedanke, er könne einfach nicht erscheinen, erschreckte Marie, und sie suchte noch einmal alle Rücken und Hinterköpfe ab, spähte zwischen ihnen hindurch, ohne ihren Bruder entdecken zu können. Statt dessen sah sie den Kronprinzen, der jetzt ruhig vom Schloß her an den Rosen vorüber zum Steg ging und für den sich die Menge zuvorkommend teilte. Er war es, der den König, seinen Vater, als erstes begrüßte und seinen Schwestern beim Aussteigen half. Marie beobachtete, wie sich dann auch der Onkel, den Hut in der Hand, vor dem König verneigte und wie er tatsächlich Gustav nach vorn schob, der Blumen überreichte. Maries Herz klopfte: Es waren die blauen Hortensien! Sie konnte nicht hören, was gesprochen wurde, aber sie sah, wie der König wohlwollend nickte und die Blumen annahm und wie sich die Gruppe der Inselbewohner und diejenige der Ausflugsgesellschaft auf dem begrenzten Raum am Steg näherkamen, als das beiden lieb war, und so eine gewisse Unruhe entstand, während Gustav nicht aufhörte, auf den König einzureden.

»Ist dein Platz nicht dort unten, Schloßfräulein?«

Marie fuhr überrascht herum. Christian lehnte neben ihr an der Treppe, an einer dünnen Leine diesmal ein junges Ziegenböckchen, und grinste sie an. Es blieb ihr keine Zeit zur Antwort, denn im selben Moment rückte die Menge auseinander, um Spalier für den König zu stehen, der sich mit seinen Kindern auf den Weg zum Schloß machte. Die Geschwister betrachteten schweigend den höfischen Zug. Christian fütterte die Ziege mit einer Möhre.

Und wie sie so dastanden, spürte Marie, wie sich alle Freude über diesen Festtag verlor, je länger sie in all die vertrauten Gesichter der Menschen blickte, die, wie ihr erst jetzt bewußt wurde, tatsächlich ihre Familie waren. Sie verstand nicht, woher ihre plötzliche Unruhe kam, spürte aber, wie sehr sie sich sorgte. Als ob es ein Abschied wäre, den sie hier feierlich begingen. Aber ein Abschied wovon? Ihr Blick suchte den Onkel, und als sie ihn am Kopf des Zuges entdeckte, dicht beim König, bemerkte sie zum ersten Mal an dem Hofgärtner, der doch wie ein Vater für sie alle hier war, eine Servilität, die sie bisher nicht wahrgenommen hatte, und verstand, daß der Hofgärtner Ferdinand Fintelmann bei dem, was kam, sie nicht würde beschützen können. Hilflos sah sie sich nach ihrem Bruder um und beruhigte sich am Anblick seiner trotzig-grotesken Gestalt, maskiert in Fellhose und mit der Ziege am seidenden Band, doch dann entdeckte sie auch in seinem Gesicht etwas, das sie noch nie bei ihm bemerkt hatte, und wußte sogleich, daß es dieselbe Unruhe war, ja Angst, die auch sie selbst empfand.

Und Gustav? Als der Zug einen Moment stockte, sah sie ihn mitten darin. Nichts als Stolz, dem König seine Blumen präsentiert zu haben, las sie in seinem Blick. Und mußte daran denken, wie schön er als Kind gewesen war. Wie sie ihn, wenn keiner hinsah, betrachtet hatte, den Knaben mit den feinen Gliedern und dem dünnen Haar. Und als der Festzug sich wieder in Bewegung setzte, fiel ihr ein Vers der Sappho ein, den sie sehr mochte, und mit einem plötzlichen, ganz ungewohnten Stolz sagte sie ihn sich leise vor: Reiterheere mögen die einen, andre halten Fußvolk oder ein Heer von Schiffen für der Erde Schönstes, ich aber das, was man liebhat.

Am Nachmittage begleitete Marie den Onkel zur Schloßwiese hinauf. Die Sommerhitze begann gerade nachzulassen, und von der Havel her wehte ein leichter Wind. Das Lachen und Reden der Hofgesellschaft, das von überall her zu kommen schien, verwirrte sie ebenso wie das Farbgewitter der Kleider, die Gesten und Blicke der Damen, die über ihr zusammenzuschlagen schienen. Doch sie bemühte sich, Contenance zu wahren, und blieb immer dicht in der Nähe Fintelmanns, den der König, nachdem die Gäste ihre Partie über die Insel beendet hatten, noch einmal zu sich bestellt hatte.

Sie verstand nicht, weshalb der König ausdrücklich auch sie, das Schloßfräulein, und nicht Gustav zu sehen wünschte. Am Rand der Wiese unter den Bäumen die Königskinder, auf der Schaukel Albert, der jüngste der Prinzen, seine älteren Geschwister an der Kegelbahn unter dem schützenden Dach alter Eichen, nicht weit von der Stelle, an der die Königin damals dem entsprungenen Ball ins Unterholz gefolgt war. Alexandrine, die jetzt Dreizehnjährige, erinnerte sich sicherlich nicht mehr daran, ihn damals weggeschlagen zu haben, Marie aber wußte noch genau, wie Christian außer Atem von dem Zusammentreffen mit der Königin zu ihr gekommen war, jenes Wort im Mund, das ihre Kindheit zerstört hatte. Zwei Gouvernanten standen bei der Schaukel, und ein Page assistierte bei den Kegeln. Die Prinzessinnen trugen weite Strohhüte mit Bändern. Die Prinzen helle Sommerjacken, so sie nicht in Uniform waren.

Der König stand in der Mitte der Wiese und war im Gespräch mit einem seiner Gäste, dem Wirklichen Geheimen Rat Wilhelm Anton von Klewiz, einem Beamten des Finanzdepartements, der gerade von einer Reise in die neue rheinische Provinz zurückgekommen war. Ganz in der Nähe, doch in diskretem Abstand, sein Adjutant. An ihn wandte Ferdinand Fintelmann sich. Man hieß sie einen Moment warten. Marie fiel, abseits von den anderen, ein junges Paar auf, das sehr auffällig gekleidet war und bei dem sich ein ebenfalls noch ganz junger Mann aufhielt. Das Mädchen, das ebenso alt wie sie selbst sein mochte, trug ein grünes, fast schulterfreies Kleid mit weißen Puffärmeln. Nußbraune Stocklocken wippten über ihre Schläfen, wenn sie, was sie ständig tat, ihren Kopf von links nach rechts und wieder zurück warf, während sie mit ihren beiden Begleitern sprach, dabei das Seidentuch, das ihr lose über den Schultern lag, mit den Händen mal eng an ihre Gestalt ziehend, mal wie ein Segel im Gespräch von sich weghaltend. Marie konnte sich gar nicht satt sehen an diesem Mädchen, dessen Lachen den beiden Männern so nah war.

Der Onkel fuhr ihr mit der Hand über den Scheitel. Da sah der König plötzlich erwartungsvoll zu ihnen her, als ob sein Blick eine Gasse auf der Wiese aufgetan hätte. Ferdinand Fintelmann ging hinüber, nahm den Hut ab und verbeugte sich, Marie fiel in einen Hofknicks. Der König begann den Hofgärtner zu befragen, doch Marie merkte schnell, daß dessen Bericht nicht der Grund der Audience war. Während der Onkel sprach, wirkte der König ebenso wohlwollend wie desinteressiert, und Marie sah, wie dieses Desinteresse an seinen Tätigkeiten ihn erneut verunsicherte. Vergessen der tatkräftige Schritt, mit dem er durch seinen Garten auf den König zugeschritten war. Als gäbe es all dies gar nicht, den Rasen und die Baumgruppen, die Hügelbeete und die Pfauen, begann der König, kaum daß Fintelmann geendet hatte, von einer Reise nach Paris zu erzählen, die er jüngst unternommen, und wie sehr ihm dort vor allem die Anlage des Jardin des Plantes gefallen habe. Fintelmann nickte unsicher.

»Denke, so was auch hier«, sagte der König in seiner typisch verkürzten Redeweise. »Für die Tiere.«

Der Onkel verstand nicht. Er fragte nach. Marie aber begriff sofort: Ihre Ahnung bewahrheitete sich, alles würde anders werden! Der König erklärte, er denke sich auf der Insel eine Menagerie ähnlich der in Paris. Es gebe ja schon einige seltene Tiere hier, dazu würden in Zukunft andere mehr kommen. Deren Unterbringung wünsche er sich verändert. Auch, daß die Felder wieder zu einem Park würden, der mit dem Neuen Garten korrespondiere. Der Onkel nickte schweigend. Marie wußte, wie sehr es ihm um die Landwirtschaft, die er so sorgsam aufgebaut hatte, leidtun mußte.

»Ein neuer Kopf ihm zur Seite, Fintelmann!«

Der Onkel bat um Erläuterung.

»Lenné. Begabter Mann.«

Fintelmann nickte wieder. Er wußte natürlich von dem jungen Gartengesellen, der erst in diesem Jahr aus Koblenz nach Potsdam gekommen war und vom König auf erstaunliche Weise protegiert wurde.

»Mademoiselle Strakon! Allerliebst. Guter Geist der Insel.«

Der König beugte sich jetzt zu ihr herab und lächelte. Marie bedankte sich. Der König lobte noch einmal die blauen Hortensien, dann war die Audienz beendet, und man zog sich unter Verbeugungen zurück. Ferdinand Fintelmann schickte sich sofort an, die Gesellschaft zu verlassen, Marie aber bat, noch bleiben zu dürfen, sie wolle gern zur Kegelbahn und den Schaukeln hinüber, kannte ja die Prinzessinnen und Prinzen alle, und der Onkel erlaubte es. Doch kaum hatte sie sich von ihm verabschiedet und wollte die Schloßwiese überqueren, sprach sie jemand an, dessen Näherkommen ihr völlig entgangen war.

»Sie müssen das Schloßfräulein sein, von dem man allenthalben spricht.«

Marie nickte überrascht zu dem jungen Mann hinauf, der ihr vorhin bei jenem Paar aufgefallen war, das nun auch schon heranschlenderte.

»Gestatten: Peter Schlemihl«, stellte er sich vor.

Marie schien der junge Mann gleich wie lang vertraut, als er sich jetzt zu ihr herabbeugte und ihr dann seine Begleitung vorstellte. Es handele sich, erklärte er mit angenehmster Stimme, und forderte die beiden mit einer kleinen Geste auf, näher zu kommen, um Abel Parthey, der in Heidelberg Altertumswissenschaften studiere und nur für einen kurzen Besuch zurück in seiner Vaterstadt sei, und um Lili, seine Schwester. Unsicher, was das alles bedeuten mochte, nickte Marie den dreien zu, doch da machte der junge Mann auch schon Anstalten, sich auf die Wiese vor ihr hinzusetzen, und lachend taten die Geschwister es ihm nach, so daß Marie sich zum ersten Mal, seit sie vom Kastellanshaus heraufgekommen war, mit jemandem auf Augenhöhe befand.

Das Geschwisterpaar Parthey gehörte einer der besten Berliner Familien an, ihr Vater war Hofrat, ihre frühverstorbene Mutter eine Tochter Friedrich Nicolais gewesen. Kaum hatte auch Marie sich gesetzt, begann eine Plauderei, deren unbestimmte Leichtigkeit ganz das Metier dieser jungen Leute zu sein schien, und Marie erfuhr, daß es sich bei Schlemihl um einen Naturforscher auf Humboldts Spuren handelte, der, wenn er nicht in Berlin war, in atemlosem Tempo die Welt bereiste, wovon er einiges erzählte, was vor allem bei dem jungen Parthey sein Echo fand, der, obzwar noch in Heidelberg, im Geist längst in Rom war, von dem er schon jeden Stein zu kennen behauptete, was er auch sogleich mit schwärmerischen Schilderungen unter Beweis zu stellen suchte. Wobei Lili, seine Schwester, der lachende Mittelpunkt war, um den die Geschichten, je bunter und je fremder um so besser, wirbelnd sich drehten. Und aus dem stillen Herz dieses Wirbels zwinkerte sie Marie immer wieder zu, als wären sie alte Freundinnen, und begann ihr auch selbst bald alles mögliche zu erzählen, über ihren Bruder und seinen Freund, was sie in Berlin erlebten, von der Reise nach Potsdam, der Gondelfahrt hierher und schließlich auch ihre Impressionen von der Insel.

»Das kleine Schloß ist ja ganz allerliebst, aber so enge, daß die drei Prinzessinnen in sehr kleinen Stuben schlafen müssen. In der Meierei haben wir köstliche Milch getrunken, und wir haben Pfauen und Störche, Adler und Hirsche, Auerochsen, Schafe und Kühe gesehen.«

Ihr Bruder machte den Schrei eines Pfauen nach, und Lili hieb ihm, weil man sich sofort nach ihnen umsah, lachend auf den Mund. Dann forderte sie Marie auf, von ihrem Leben hier zu erzählen, was diese, ganz verwirrt von dem Geplauder, stockend begann. Sie war froh, als Peter Schlemihl sie bald schon unterbrach.

»Ich beneide Sie darum, Mademoiselle, an einem solchen Ort leben zu können.«

»Ja, es ist wunderschön hier«, pflichtete Lili ihm bei.

»Das meine ich nicht.«

»Sondern?« fragte ihr Bruder, doch Schlemihl erklärte sich nicht.

»Den Vater unsres Königs haben Sie wohl nicht mehr gekannt?« fragte er statt dessen. »Oder gar die Gräfin?«

Marie verneinte.

Schlemihl nickte ernst, als hätte er sich das schon gedacht, doch gleich schien ihm etwas anderes einzufallen. »Aber Sie wissen um die seltsame Geschichte des Namens Ihrer Insel?«

Was denn daran seltsam sei, wollte Marie wissen.

»Seltsam ist, daß die Insel auf der ältesten Karte, die es gibt, jener von Suchodoletz aus dem Jahr 1683, zwar Pfauwerder heißt, der Große Kurfürst, nachdem er sie wirtschaftlich zu nutzen begann, sie aber nach den Tieren benannte, die er hier ansiedelte. Als Kaninchenwerder erscheint sie in den Akten.«

»Und dann?« wollte Abel Parthey wissen.

»Nach Johann Kunckels, des Glasmachers, Zwischenspiel ließ das Gut Bornstedt hier Schafe, Kühe und Ochsen grasen, dann wurde die Insel dem Potsdamer Waisenhaus geschenkt, von dem sie schießlich der Vater selig unseres Königs erwarb und kurz vor seinem Tod auf Gut Sacrow Pfauen kaufen und hier aussetzen ließ. Keine dreißig Jahre ist das her, und erst seitdem heißt sie Pfaueninsel. Die Wirklichkeit äfft so den Namen nach und glaubt der Lüge, die Namen immer in sich tragen.«

Marie schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht.«

»Glauben Sie denn wirklich, daß früher einmal Pfauen hier gelebt haben?«

Marie sah ihn überrascht an. Lebten diese Vögel nicht überall? Lili lachte und hielt sich die Hand vor den Mund.

»Dürfte ich vielleicht ein Portrait von Ihnen schneiden, Mademoiselle?« wechselte Schlemihl das Thema.

»Oh ja, bitte!« freute sich Lili.

Und schon hatte er ein Stück schwarzen Karton und ein winziges goldenes Scherchen aus seinem Rock gezogen und setzte sich vor Marie in Positur, wobei er sie so skeptisch musterte, daß sie es zunächst mit der Angst bekam. Versetzte sie doch alles, was sich auf ihr Aussehen richtete, in Panik. So, wie sie war.

»Keine Sorge!« beruhigte sie Lili, die Maries Aufregung gleich bemerkte. »Peter ist ein großartiger Silhouetteur. In Berlin sind seine Schattenrisse gerade sehr in Mode! Aber du mußt stillhalten.«

Während sein Blick unentwegt zwischen Marie und dem schwarzen Papier pendelte und die Schere in winzigen, doch völlig sicheren und ungemein hurtigen Bewegungen herumfuhr, nahm Schlemihl den Faden des Gespräches mit aller Seelenruhe wieder auf. »Es täte mir wirklich leid, wenn ich Sie verwirrt haben sollte, Mademoiselle. Was ich eigentlich sagen wollte: Man spürt hier noch viel von der alten Zeit. Nur an wenigen Orten in Preußen ist sie noch so gegenwärtig.«

»Was die alte Zeit angeht, mein Lieber«, entgegnete Abel dem Freund, »sind Gott sei Dank die Zustände vorüber, in denen die von dir erwähnte Gräfin Lichtenau mit Hilfe des angeblichen Geistes ihres toten Sohnes regieren konnte.«

»Das meine ich nicht.«

»Was denn?« wollte Marie wissen, während sie zugleich gebannt den Bewegungen der Schere folgte.

»Fertig!« rief Schlemihl fröhlich aus, statt ihr zu antworten. Und im selben Moment fiel ein Großteil der Pappe zu Boden, der abgetrennte Schatten ihres schwarzen Konterfeis, das allein in seiner Hand zurückblieb.

»Darf ich Ihnen das schenken, Mademoiselle? Als Andenken an diesen schönen Tag bei Ihnen?«

Lächelnd reichte er ihr den Scherenschnitt. Sie bedankte sich artig und legte ihn vor sich auf den Rasen. Nie sieht man sich im Profil, wie die anderen es tun, und insofern ist ein Scherenschnitt immer fremd und vertraut zugleich. Natürlich, das war sie, sie erkannte all das, was sie an sich haßte, nichts war übertrieben, ihre Nase war so, ihre Stirn, ihre Lippen, sie wußte es. Und doch war die Linie, die all das aus dem Schwarz geschnitten hatte, so fein und sorgsam geführt, als spielte es überhaupt keine Rolle, welche Empfindungen man mit dem, was diese Linie erfaßt hatte, verbinden mochte. Schön war das Bild, nicht sie, und das war gut. Ihre Beklemmung löste sich, wenn sie sich auch noch längst nicht davon lösen konnte, das Bild immer weiter zu betrachten, und sie erinnerte sich plötzlich daran, im Schloß auf einem Teeservice ebensolche Silhouetten gesehen zu haben, und das freute sie noch mehr.

»Gefällt es Ihnen?«

»Ja, sehr!« hauchte sie und konnte dabei noch immer nicht hochschauen.

Ohne ein Wort darüber zu verlieren, wandte Schlemihl sich wieder seinem Freund zu. »Siehst du den Brunnen dort drüben? Man nennt ihn Jakobsbrunnen, aber er hieß sicherlich einmal anders. Denn in Rom, lieber Abel, wohin du so gerne möchtest, kannst du sein Vorbild sehen, die Cella des Serapistempels, verfallen zwar, aber noch kenntlich.«

»Und?« fragte Abel.

»Serapis nannten die Griechen den Osiris. Es fällt auf, wie viel Ägyptisches sich hier findet. Im Neuen Garten drüben gibt es noch zwei ägyptische Gottheiten, dazu eine Sphinx und eine Pyramide.«

»Und? Nichts als eine alte Mode.«

»Bist du dir da sicher? Die Rosenkreuzer haben ein sehr starkes Interesse an alten orientalischen Kulten.«

»Die Rosenkreuzer?« fragte Lili abschätzig. »Großvater Nicolai hat immer über sie gewettert. Dunkelmänner, sagte er. Gibt es die denn noch?«

»Ob es sie noch gibt, liebe Lili, weiß ich nicht zu sagen. Aber der Brunnen dort wurde auf Anordnung und Planung des Ministers Wöllner gebaut, und von dem wissen wir ja, daß er der führende Rosenkreuzer am Hofe war. Und seht euch doch um: Dieses Schloß, der Brunnen, die Pfauen und, verzeihen Sie meine Offenheit, Mademoiselle Strakon, nicht zuletzt auch die Anwesenheit der Zwerge, das alles atmet einen anderen als unseren modernen Geist.«

Nur einen Moment lang verletzten sie Schlemihls Worte. Vielleicht gab es tatsächlich einen Grund dafür, daß sie hier war. »Ich glaube, Herr Schlemihl hat recht.«

Marie bemerkte nicht, daß die drei jungen Leute sie überrascht und verwundert ansahen. Es wurde Abend. Wie zerwühlt der Kies der Wege war. Sie erinnerte sich an das Geräusch der eisernen Rechen. Der Sommer ist zu Ende, dachte sie und spürte, daß noch etwas ganz anderes vorüber war, etwas, für das sie keine Worte hatte. Was wohl der König vorhatte mit ihrer Insel? Die Havel glitzerte im letzten Licht. Suchend sah Marie sich um. Christian, in seiner Zottelhose und mit nacktem Oberkörper, huschte unter den nahen Bäumen in die tiefen Schatten.

Seit Anfang Dezember hatte es fast die ganze Zeit geschneit, der Schnee lag hoch, das Jahr 1819 ging zu Ende. Im Haus roch es nach Gebäck und herrschte jene besondere Ruhe, die Gärtnerhäuser im Winter erfüllt. Marie wollte hinaus, die Pfauen füttern, und da es bald dunkel werden würde, mußte sie sich beeilen und hatte den Mantel schon übergeworfen, als sie sich entschloß, noch einmal beim Onkel hineinzusehen, der die meiste Zeit des Tages in seinem Arbeitszimmer über den Abrechnungen an das Hofmarschallamt saß. Oft freuten ihn ihre Besuche, doch als sie diesmal die nur angelehnte Tür zum Arbeitszimmer aufdrückte, kauerte überraschenderweise auch Gustav mit einem kleinen Büchlein und einem Stift auf einem Hocker neben dem Schreibtisch des Onkels. Marie spürte sofort, daß sie störte, doch Ferdinand Fintelmann winkte sie gleichwohl herein.

»Schließ doch bitte die Tür«, sagte er zu ihr. Und zu Gustav: »Also fangen wir an. Inwiefern ist die Gärtnerei als ein Gewerbe, als eine Kunst oder als eine Wissenschaft zu betrachten?«

Was man von einem Hofgärtner verlangte, hatte sich im Laufe der Jahrhunderte wenig geändert. Er mußte verstehen umzugraben, anzubauen, zu jäten, zu gießen, zu verpflanzen, herauszunehmen und einzusetzen, alles Ungeziefer mußte er zu vertreiben und zu töten wissen, einen Garten in geschickliche Abmessungen einzuteilen und alle Pflanzenarten an ihre gehörigen Orte zu setzen und zu pflegen. Die Grundlagen des Zeichnens und der Geometrie mußte er beherrschen, um Pläne verfertigen zu können, zudem natürlich lesen, schreiben und rechnen können, Latein nutzte ihm für die Namen der Kräuter und Bäume, Französisch für die Blumensorten und die Gartenelemente, Italienisch für die Orangen- und Zitronenbäume.

»Wodurch unterscheidet sich das Mineral- vom Pflanzen- und letzteres vom Tierreich?«

Maries Herz klopfte, als sie diese Frage hörte, wenn sie auch nicht verstand, was hier vor sich ging. Gustav schrieb eifrig mit.

»Welches sind die äußeren Bedingungen, ohne welche das Leben der Pflanzen weder beginnen noch fortdauern kann? Durch welche Organe nimmt die Pflanze ihre Nahrung auf, und worinnen besteht diese wesentlich? Was ist eine Bastardpflanze? Welche äußeren Einwirkungen oder Umstände haben hauptsächlich Einfluß auf die Ausartung der Pflanzen? Welchen Ursachen schreibt man die Entstehung des Honigtaus, des Mehltaus und des Brandes bei Gehölzen zu? Welche Mittel hat man, diesen Krankheiten entgegenzuwirken?«

Der Onkel hörte gar nicht mehr auf zu fragen, und Marie schien es, als legten sich all diese Fragen über die Insel und bedeckten mit Wörtern jeden Baum und jeden Busch.

»Welches sind und wie viele reine ungemischte Erdarten gibt es? In welchem Verhältnis müssen diese zusammengesetzt werden, um einen guten brauchbaren Boden zu bereiten? Wie kann Sandboden verbessert werden?« Fintelmann wartete, bis der Neffe mit Schreiben innehielt. »Hast du das?«

Gustav nickte.

»Also: Was ist zu tun, um gute und echte Samen von allerhand verwandten Küchengewächsen zu erziehen? In wie vielerlei Abteilungen lassen sich die teils einheimischen, teils naturalisierten Küchengewächse bringen?«

Immer mehr von der Insel deckte der Onkel mit seinen Fragen zu.

»Welche Zweige heißen Leit- und welche Wuchertriebe, Wasserreiser und Ausläufer? Welche Fruchttriebe nennen sich Fruchtruten, Fruchtspieße und Ringelspieße? Welcher Unterschied findet zwischen der Bildung der Fruchtaugen beim Kernobst und beim Steinobst statt? Welches sind die zweckmäßigsten verschiedenen Veredlungsarten, und welcher Zeitpunkt ist bei der Anwendung derselben zum glücklichen Fortgang zu wählen? Worauf gründet sich die Theorie des Baumschnitts?«

»Gustav!« sagte Marie in eine kleine Pause hinein. Doch Gustav reagierte nicht, und der Onkel sah sie mißmutig an. Und sie wußte eigentlich auch gar nicht, was sie sagen wollte.

»Die letzten Fragen, Gustav.«

Er sieht so traurig aus, dachte Marie. Nichts mehr wußte sie von dem, was in ihm vorging. Es kam ihr so vor, als wäre er dabei, einen Vertrag zu unterzeichnen, der ihn für immer von ihr lossagte. Einen Teufelsbund. Und es tut ihm leid, dachte Marie. Und sie mußte ihre Tränen zurückhalten.

»Gustav, hör mir zu! In wieviel Klassen werden die Pflanzen nach dem Linnéschen System eingeteilt und wie heißen sie? Welches sind die wesentlichen Teile einer männlichen und einer weiblichen Blüte? Welchen Dienst leisten die Blätter der Pflanzen? Hast du’s?«

Gustav schrieb, eifrig nickend, immer weiter.

»Wie wird ein irreguläres Neuneck in vier gleiche Teile eingeteilt? Wenn eine Quadratrute mit einem Viertel Schachtrute guter Erde belegt werden soll, wieviel Schachtruten sind erforderlich zu einem Oval, dessen lange Achse sechzig Ruten beträgt und welches aus zwei Zirkeln construiert wird?«

Der Onkel betrachtete seinen Neffen, während dieser schrieb, und es schien Marie, die noch immer mit dem Rücken an der Tür lehnte, als verstünde auch er, daß es bei diesen Fragen für Gustav um eine Entscheidung ging. Sie meinte in seinem Blick etwas von dem Bedauern zu sehen, das sie selbst verspürte, und einen langen Moment hoffte sie, der Hofgärtner würde gleich das erlösende Wort sprechen, um all das wieder ungeschehen zu machen, was hier gerade geschah.

Doch dann hatte Gustav alles notiert und legte den Stift weg. Ob Pflanzen schliefen? Gustav glaubte es nicht. In der Nacht sehnten sie sich nach dem Licht. Die Nacht war ihr Tod. Nur die Tiere lagen in der Nacht auf der Lauer, ihre gelben Augen blitzend im Dunkel. Er mußte daran denken, wie der Bär sich einmal losgemacht hatte und blindwütend wie ein Eber durchs Unterholz gebrochen war. Plötzlich war er heran gewesen und hatte Gustav mit seinen kleinen Augen angesehen, und er war unfähig gewesen, auch nur einen Schritt zu tun, und der Bär hatte wütend mit seiner riesigen Pranke einen morschen Ast vom Stamm geschlagen, er hatte Geschrei gehört und Köhler und Parnemann mit langen Spießen herankommen sehen, aber der Bär war jetzt ganz dicht vor ihm gewesen, während er schreiend rückwärts stolperte, die Hände abwehrend dem Tier entgegengestreckt, und dann hatte er sich in einer Wurzel verfangen und war der Länge nach hingestürzt, mitten in ein dichtes Gestrüpp von Lattich hinein, und der Bär hatte begonnen, sich über ihm aufzurichten, als ihm Parnemann endlich seinen Spieß ins Hinterteil hieb, das Tier wieder auf alle viere fiel und brüllend Reißaus nahm.

Weshalb nur ekelte er sich vor Marie? Manche der Tagelöhner auf der Insel nannten sie und ihren Bruder Mißgeburten und Krüppel, mieden die beiden aus Aberglauben, und wenn sie ihnen begegneten, schlugen sie, obzwar gut lutherisch, heimlich das Kreuz. Er glaubte nicht an das, was sie erzählten. Jeden Zug ihres Gesichts kannte er, jedes Lachen seit seiner Kindheit, jede Bewegung, die sie machte. Wie sollte er sie da häßlich finden? Und dennoch: Immer, wenn sie wie jetzt in seine Nähe kam, schien es ihm, als müßte er etwas loswerden, einen üblen Geruch, ein klebriges Gefühl an der Hand. Weshalb nur hatte der Onkel ihn damals nicht gelobt, als es ihm gelungen war, die Hortensien zu färben? Was hatte er gesagt? Ich finde, es gehört sich nicht. Man solle die Sphären nicht vermischen. Aber andere taten es, er hatte davon gelesen. Er würde ein besserer Gärtner werden als der Onkel. Er verstand nicht, weshalb er gerade jetzt an seinen Vater denken mußte. Alle hatten immer gesagt: Was für ein schönes Paar. Carl Christian Fintelmann und Luise Philippine Rabe. Pflanzen verließen einander nicht. Bäume und Flüsse, dachte er, um sich zu beruhigen, wachsen in verschiedene Richtungen, Bäume verzweigen sich immer feiner, Flüsse wachsen aus den filigranen Ästen ihrer Quellen zu einem Strom. Das dachte Gustav in diesem Moment. Und beide Bewegungen, ineinandergesehen, dachte er triumphierend, kehren die Zeit um!

Er sah den Onkel an und sagte mit kalter Stimme: »Ich glaube, die Gärtnerei kann von Einsichtigen nicht als Gewerbe angesehen werden, sie ist eine Kunst wie die Landschaftsmalerei und erfordert auch Wissenschaft.«

Marie erschrak so sehr über diese kalte fremde Stimme, daß sie mit einem Stöhnen hinausstürzte. Den ganzen Weg zu den Pfauen hinauf rannte sie weinend und schluchzend, und erst, als sie auf der Schloßwiese stand, nahm sie überhaupt wahr, wo sie sich befand.

Fahl leuchtete der Schnee weit über das hin, was vor ein paar Wochen noch Wiese und Feld gewesen war. Die bizarren Äste der Eichen waren weiß geädert, die Tannen beugten sich unter ihrer Last. Die Pfauen hockten dicht an dicht auf dem weitausladenden Baum in der Nähe des Stalles, auf dem sie immer saßen. Sie machten kein Geräusch, die Köpfe, so gut es eben ging, vor dem kalten Wind geborgen. Marie ging in den Stall, warf ein paar Schaufeln voll Körner in den Trog und zerhackte mit dem Absatz ihres Schuhes die Eisschicht in den Näpfen. Nie mehr in den nächsten zwanzig Jahren sollte es auf der Insel so still sein wie in diesem Moment, als Marie vor dem Stall stehenblieb und zu den Pfauen hinaufschaute. Das Blau ihrer Federn schien aus Eis.

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