Neuntes Kapitel. Zeit vergeht

Wie Tiere einen ansehen. Nichts, nicht einmal zu lesen beruhigte Marie so wie ihre Blicke. Deshalb kam sie immer wieder hierher zu den Käfigen, und am liebsten zu den Affen. Sah auch gleich, daß wieder ein Kapuzineräffchen darunter war, und schon kam es zutraulich heran mit seinen großen, gänzlich schwarzen Augen, Marie hielt ihm ein paar Nüsse hin und betrachtete sein nacktes Gesicht. Die Augen der Menschen waren etwas völlig anderes. Immer hatte sie ihre Blicke auf sich gespürt, doch mit dem Tod Christians und als man ihr das Kind weggenommen hatte, war das plötzlich zu Ende gewesen. So, wie sie irgendwann nicht mehr hatte weinen können. Dem spürte sie nach, während sie dem Affen weitere Nüsse auf der flachen Hand hinhielt, wie man einem kleinen Schmerz nachsann, der zum ersten Mal auftritt und nicht mehr weggehen will, wobei sie aber ganz im Gegenteil der seltsamen Empfindung nachspürte, daß dieser Schmerz tatsächlich verschwunden war.

Und mit ihm der böse Zauberklang jenes Wortes, das sie ihr Leben lang geängstigt hatte. Jenes Wort, mit dem diese Geschichte damals begann und dem wir gefolgt sind zu ihr und in dem wir sie begafft haben, ebenso, wie wir in dem Wort Königin jene junge Frau mit den flackernden Wangen begafft haben, die nun schon über ein Vierteljahrhundert tot war. Monster. Nichts bedeutete dieses Wort nun noch für Marie.

Ein Pfiff, wie sie ihn noch nie gehört hatte, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Im selben Moment schwoll das Geschrei der Affen zu einem unerträglichen Tohuwabohu an. Und noch einmal dieser Pfiff. Marie sah sich beunruhigt um, wenn sie auch sogleich wußte, worum es sich handelte: eine Lokomotive! Die Berlin-Potsdamer-Eisenbahngesellschaft führte eine erste Probefahrt auf der sechsundzwanzig Kilometer langen Strecke von Potsdam nach Zehlendorf durch, der ersten Bahnstrecke in Preußen überhaupt, seit Monaten Gesprächsthema auf der Insel. Einige Wochen später, im Herbst 1838, las Marie dann in der Vossischen Zeitung von der ersten Fahrt. Sechzehn Wagen wurden von den beiden Lokomotiven ›Adler‹ und ›Pegasus‹ gezogen. Auf dem vordersten Wagen wehten Fahnen in den preußischen Farben und mit dem preußischen Adler geschmückt. Als um 12 Uhr der Zug sich in Bewegung setzte, befand sich auf dem ersten Wagen ein Musikkorps, und es ging vorwärts unter schmetterndem Hörner- und Trompetenklang und den Freudenschüssen aufgestellter Böller. Einige Reiter versuchten eine Zeitlang, den Wagenzug zu begleiten, doch schon nach wenigen Minuten konnten die erschöpften Pferde nicht mehr in gleicher Schnelligkeit folgen. In nicht voll 22 Minuten war der Anhaltspunkt bei Zehlendorf, eine Strecke von 3850 Ruthen, erreicht. Nach einem etwa halbstündigen Aufenthalt wurde die Rückfahrt nach Potsdam angetreten.

Die Pferdepost auf den märkischen Chausseen hatte nun mehr und mehr ausgedient, denn innerhalb kürzester Zeit entstand ein weitverzweigtes Eisenbahnnetz, das, mit Berlin als seinem Mittelpunkt, über Jüterbog nach Wittenberg, nach Eberswalde, nach Frankfurt an der Oder, nach Angermünde und Stettin, nach Magdeburg und nach Hamburg reichte. Und auch die Ausflügler kamen nun an den Besuchstagen mit Sonderzügen zur Pfaueninsel, die an der Behelfsstation Machnower Heide hielten. Von dort fuhr oder ging es über Wilhelmsbrück weiter, der Weg führte durch tiefen Sand, in dem die Pferde der schwerbepackten Chaisen sich mühen mußten. Im Sommer war die Hitze erstickend. Aus Mitleid stiegen die Herren aus.

Im selben Jahr wurde die Kirche fertig, hoch oben auf dem jenseitigen Ufer der Havel, direkt neben der russischen Siedlung Nikolskoje, die der König einst anläßlich des Besuchs von Charlotte hatte errichten lassen, seiner Lieblingstochter, die seit nun auch bereits zwanzig Jahren mit Zar Nikolaus I. im fernen Rußland verheiratet war. Auch Gustav hatte geheiratet. Eulalia Trippel war die Schwägerin eines Hofgärtnerkollegen und glich, wie Marie fand, seiner Mutter aufs Haar. Und auch Maitey heiratete in der kleinen Kirche am Stölpchensee, Doro, die Tochter des Tierwärters, in die er sich verliebt hatte, als sie die Vögel aus seiner Heimat fütterte. Es war ein schönes Fest, und Marie hatte einen Ehrenplatz an der Tafel. Doch da er nach dem Tod Christians immer wieder mit Gustav aneinandergeriet, bat Maitey danach um die Erlaubnis, mit seiner Frau nach Klein Glienicke übersiedeln zu dürfen, was ihm gestattet wurde, wenngleich der Maschinenmeister Friedrich, den man wegen all seiner feinen Elfenbeinarbeiten zum akademischen Künstler ernannt hatte, sehr dagegen protestierte. Nach Maiteys Wegzug verließ keines jener filigranen Modelle mehr seine Werkstatt.

Der Abschied fiel Marie schwer, und sie sah den beiden lange nach. Doro saß inmitten all des Hausrats im Karren wie in einem Nest und winkte, bis sie im Wald jenseits der Havel verschwunden waren. Maitey, der Marie noch einmal lange umarmt hatte und neben dem Karren ging, sah sich ganz am Schluß noch einmal nach ihr um.

Gustavs erstes Kind hieß Christine Ida Auguste, das zweite Ludowike Marie Elisabeth, und für eine Weile holte der Schmerz über diese Namenswahl Marie aus ihrer Lethargie. Auch der Tod Carl Friedrich Lichts, des Riesen, schmerzte sie. Zwei neue Conservir-Treibhäuser wurden errichtet, das Palmenhaus wurde außen gestrichen, und man begann, die tönernen Wasserleitungen durch Eisenrohre zu ersetzen. Madame Hardenberg schenkte dem König einen Affen, der Kaufmann und Fabrikbesitzer Jacobs aus Potsdam eine indische Kuh, der Postmeister und Gastwirt Joseph Schweig aus Ried am Inn einen Gemsbock. Als van Aken starb, erwarb Sieber aus dem Nachlaß seines ehemaligen Patrons für die Insel ein Kondorpaar, ein Stachelschwein, fünf Mufflons und einen schwarzen Papagei. Der König von Schweden schenkte drei männliche und drei weibliche Rentiere, zu denen sich nach der Reise noch drei Kälber gesellten, allesamt begleitet von zwei Lappländern nebst Dolmetscher. Und das Schiff der Seehandlung brachte aus Manila vier Zwerghirsche, drei Javaneraffen, einen roten Lori, zwei Paar Tauben aus Kuba und Málaga, eine Tibetkatze, sechs türkische Enten, fünf chinesische Gänse und drei Schildkröten mit dem nötigen Seewasser nach Hamburg, von wo aus sie mit dem Dampfer Henriette auf die Insel gelangten. Der Großherzog von Mecklenburg schenkte vier Schafe, der Magistrat von Magdeburg einen Biber, Herr von Jagow-Ehrdorf einen Fischotter, der französische Gesandte in Berlin eine Gazelle. Professor Lichtenstein kaufte von einem Bauern einen jungen Seeadler. Der Opernsänger Heinrich Blume schenkte zwei damals noch sehr seltene Shetlandponys und schrieb stolz in seinem Begleitbrief, man sage, sie seien die ältesten Tiere Europas; ihre Vorfahren hätten die Eiszeiten überdauert.

Die drei Murmeltiere, die der Konditor Zappa aus der Schweiz mitbrachte und dem König überreichte, waren die letzten Geschenke an die Menagerie auf der Pfaueninsel. Als Wilhelm Otto zur Welt kam, Maiteys Erstgeborener, stand Marie Pate. Nur ein Vierteljahr wurde das Kind alt, dann starb es. Gustav wurden zwei weitere Töchter geboren, Anna Charlotte Luise und 1840 Friederike Pauline Elisabeth. Im Sommer jenes Jahres starb der König.

Das Wasser war wie erstarrt, dazu war es völlig windstill und der Himmel so sternenlos schwarz, daß er den Fluß bis auf den Grund zu trüben schien. Und es regnete. Es regnete, als ob es seit Tagen regnete, völlig gleichmäßig und monton, doch so dünn fiel der Regen, daß niemand, der in diesem Moment an jener Stelle der Uferböschung gestanden hätte, den Einschlag der Tropfen auf der Wasseroberfläche hätte sehen können. Aber da war ja niemand, dessen war sich Marie in ihrem Traum ganz gewiß, denn die ganze Insel lag ebenso erstarrt wie die Havel. Längst war die Winterkälte durch alle Räume des leeren Schlosses gezogen, das Kastellanshaus seit Jahren verwaist. Die Fähre, fest vertäut an der Landungsstelle, rührte sich nicht. Kein Tier machte irgendein Geräusch, keines der exotischen Wesen aus den Käfigen der Menagerie war zu hören, keiner der einheimischen Vögel. Die Pfauen schliefen wohl in ihren Bäumen und im Schilf rund um die Insel reglos die Haubentaucher und Möwen. Wie still es war! Wirklich alles schien tot in diesem Moment, so tot, wie ein Augenblick nur sein kann.

Um so überraschender, als es plötzlich, in diese vollkommen leblose Stille hinein, gluckste im stillen Wasser. Nicht so, als wäre etwas hineingefallen, sondern eher, als hätte sich eben etwas von seinem trüben Grund gelöst und komme nun an die Oberfläche, gerade hier, an dieser Stelle des Ufers. Ein dumpfes Schwappen, dann war da, inmitten dieser Bewegung, mit der das schwarze Wasser ganz sanft sich bauschte, ein Ding, ein Klumpen, ein hautweißer Brocken, als wäre etwas in durchnäßtes Linnen geschlagen.

Und dann ging alles ganz schnell. Fast im selben Moment, als jener Klumpen, plötzlich, aus dem Nichts an die Oberfläche kam, spürte Marie sich schon loslaufen, und dann sah sie ihre eigene winzige Gestalt, wie sie die Böschung herabkam durch das glitschige Gras, eilig und nicht achtend, ob sie etwa ausrutschte oder sich in dem dichten Unterholz verfing, das hier seit vielen Jahren ungestutzt aufwucherte, denn sie wußte voller Angst, um alles in der Welt müsse sie jenen Klumpen, jenes weiße Etwas, vorm Versinken bewahren. Und sie sah, von außen, wie es ihrer kleinen, in eine rote Pelerine gehüllten Gestalt, deren Kopf von einer weiten Kapuze verdeckt war, bei aller Eile sogar noch gelang, im Vorübergehen und ohne einen Blick von jenem Klumpen zu nehmen, der schon dabei war, auf den Fluß hinauszutreiben, einen langen Ast aus dem festverbackenen Wintergras zu zerren. Und ohne einen Augenblick zu zögern, begann sie, als sie dann am Ufer stand, mit dieser morschen Rute, entrindet und weiß vor Schimmel, nach dem ebenso weißen Ding dort draußen im Wasser zu fischen.

Das aber, und diese Gewißheit ließ Marie beinahe losschreien in ihrem Traum, war völlig aussichtslos, denn jenes weiße Ding trudelte stets von der dünnen Astspitze weg, die von der Anstrengung zitterte, mit der Marie die Rute so weit, wie es ihr möglich war, aufs Wasser hinausstemmte, wobei die Kapuze ihr immer wieder ins Gesicht rutschte, so, daß Marie nichts sah und sie immer wieder mit dem Ellbogen zurückschieben mußte, während das Ding wieder davontrudelte. Doch schließlich gelang es ihr trotzdem, und obwohl sie nicht mehr darauf zu hoffen gewagt hatte, gerade noch rechtzeitig jenen fahlen weißen Klumpen, bevor er endgültig ins Schwarz hinaustrieb, mit der zarten Spitze des Astes zu berühren und ihm den richtigen Drall zu geben. Mit ganz vorsichtigen kleinen Schlägen stupste und streichelte sie ihn ins Uferschilf.

Und kaum war er in Reichweite, ließ Marie, schweißgebadet, zitternd, atemlos, den Ast fallen und stürzte sich in das eiskalte Wasser, in den Schlick und zwischen die Binsen, und zog den Klumpen heraus und war schon wieder aus dem Wasser und behend die Uferböschung hinauf, im Arm jenes Ding, das ihr so kostbar war, und so schnell sie konnte, passierte sie das Schloß und lief über die Schloßwiese, auf der noch Plaken alten Schnees im Dunkel schimmerten. Wobei sie in ihrem Traum nicht zu sagen vermochte, wohin sie eigentlich wollte. Denn am Rand der Wiese war nichts als der schwarze Wald. Es war, als ob sie zögerte, weiterzuträumen. Aber mag es auch so scheinen, lassen Träume uns doch nicht wirklich eine Wahl. Plötzlich schimmerte da, am Waldsaum des uralten Eichwaldes, etwas in der Nacht. Etwas wie Glas, von hinten beleuchtet, eine Glasfront, und sie, die sich selbst nachschaute im Traum, wunderte sich sehr darüber, und erst recht, als sie so etwas wie eine Tür in dieser schimmernden Front zu finden schien, die sie öffnete und hinter der sie verschwand.

Und in diesem Moment schreckte Marie das erste Mal aus ihrem Traum auf. Mein Kind! hört sie sich selbst schreien, nur, um von ihrem Traum wie betäubt wieder einzuschlafen, beruhigt von jener gläsernen Tür in einer gläsernen Wand, von der sie den unerklärlichen Eindruck eines grünen Scheins, die Empfindung von etwas Warmem, Blühendem behielt, als sie in ihren Traum zurücksank, was sich anfühlte, als ließe man alles los, als atmete man plötzlich so ungeheuer wollüstig tief, daß der ganze Körper flatternd verschwand.

Und dann stand sie plötzlich im Saal des Schlosses und vor ihr, auf dem Boden, lag das Ding aus der Havel. Es war ein Bündel. Sie zweifelte, daß es das vorher auch schon gewesen war, mit Sicherheit aber wußte sie es nicht. Es fühlt sich wie ein körperlicher Schmerz an, wie ein Ziehen irgendwo ganz tief in einem, wenn man versucht, sich in Träumen zu erinnern. Sie war im Nachthemd. Sie hockte sich hin und betrachtete es. Sie wußte, es sollte atmen darin. Etwas sollte sich bewegen. Aber es war ganz starr. Und mit Herzklopfen öffnete sie es. Und erschrak vor dem, was sie da herausschälte aus dem nassen Stoff. Ihr bleichblaues Kind, so klein, wie es gewesen, als es zur Welt gekommen war. Und noch viel kleiner. So klein, wie es nie gewesen war. So klein, daß es auf der Handfläche eines normal gewachsenen Menschen Platz gehabt hätte. Dabei aber gar nicht fein und zart die Arme und Finger und das Köpfchen, Marie sah das im Traum überdeutlich, und sie streichelte dem kalten Wesen das Bäuchlein, küßte es und schmeckte das kalte Wasser an ihm, küßte es und weinte und erwachte endlich.

Vorsichtig folgte Gustav mit dem Finger der Blattwölbung einer der Pelargonien, die noch immer, wie zu Zeiten seines Onkels, ihren Platz auf dem Fensterbrett des Arbeitszimmers hatten. Er erinnerte sich daran, wie er das auch als Junge getan und geglaubt hatte, in den feinen Blattadern tatsächlich eine Bewegung zu spüren, das Leben darin.

Bevor der Onkel die Insel verließ, hatte er ihm mit einem feierlichen Blick die Instruktion für den Königlichen Hofgärtner und Schloßkastellan auf der Pfaueninsel bei Potsdam auf den Schreibtisch gelegt, von dem er sorgsam alle persönlichen Dinge entfernt hatte. Nie war das Verhältnis des Onkels zu ihm so innig gewesen wie zu einem leiblichen Sohn, und weil er mißbilligte, was Gustav hinsichtlich des Kindes unternommen hatte, war der Abschied zwischen ihnen kalt. Und gerade deshalb hatte Gustav sich mit einem Gefühl der Genugtuung an seinem ersten Tag als Hofgärtner an den leeren Schreibtisch gesetzt und die Instruktionen genauestens studiert. Ihm oblag die polizeiliche Beaufsichtigung der Insel, also des Gartens, des Schlosses und die Verwaltung der Meierei. Er hatte dafür Sorge zu tragen, daß die Arbeiter auf den Wegen blieben, kein anderer Landungs- oder Abfuhrplatz auf der Insel genommen wurde als derjenige vor dem Kastellanshaus, daß niemand auf der Insel einen eigenen Kahn hatte, das Vieh nur auf der Meierei frei herumlief, der Dünger aus der Menagerie für den Garten und die Milch aus der Meierei wiederum für die Menagerie bereitgestellt wurden. Er hatte die Weiderechte mit dem Menagerieinspektor abzusprechen und mit diesem gemeinsam jeden Oktober einen Bericht an den Hofmarschall zu verfassen, was die Tiere und den Zustand der Gebäude anging. Schließlich hatte er dafür zu sorgen, daß die Besucher das Tabakrauchen, Mitführen von Hunden, Speisen und Getränken unterließen.

Es war das Jahr 1842. Gustav war jetzt Mitte dreißig und sein Haar, das er etwas länger trug, lichtete sich bereits. Er hatte feingliedrige, immer etwas unruhige Hände und legte Wert auf gute Kleidung, vor allem auf seinen Gehrock nach englischem Schnitt. Inzwischen war er Vorsitzender der Märkisch-Ökonomischen Gesellschaft und Sekretär des Gartenbauvereins. Nach dem Abschied des Onkels hatte Gustav damit begonnen, regelmäßig die Temperaturen auf der Insel zu messen, und zwar diejenige der Luft, des Wassers in der Havel und im Meiereibrunnen, als handelte es sich bei der Insel um einen Körper und beim Brunnen um eine intime Öffnung in diese hinein, die es ihm gestattete, ihre Vitaldaten zu überwachen. Jeder Liebende ist ein Überlebender. Doch auch die Toten sind weiter unter uns, als wäre nichts geschehen.

Draußen vor dem Fenster legten die noch ganz frischen Blätter der Pappeln hellgrüne Schatten über den sonnigen Sand. Gustavs Zeigefinger wischte über das Fensterbrett und zog eine dünne Spur in den Staub. Hier, zwischen dem rauhen Steinzeug der Blumentöpfe, hatte jenes alte Weinglas ohne Stiel gelegen, das er Marie damals unbedingt hatte zeigen müssen. Damit, davon war er überzeugt, hatte alles begonnen. Dieses rote Leuchten. Manchmal kam es ihm vor, als ob es sie beide nicht nur in jene Scheune geführt hätte, sondern Marie auch in eine andere, in Kunckels Welt. Die lauten Schritte der beiden größeren seiner vier Töchter polterten die Treppe hinab. Das weckte die Kleine, und er hörte, wie sie oben in ihrem Bettchen anfing zu weinen. Er registrierte, wie seine Frau vom Schlafzimmer ins Kinderzimmer hinüberging. Das Schluchzen verebbte, und in der folgenden Stille kroch der Gedanke an jenes Kind, das nicht hier war, aus seinem Herzen hervor, als wäre es sein Schweigen, das er hörte.

Liebte er seine Frau? Das war eine Frage, die er sich gemeinhin nicht stellte, auch niemals gestellt hatte, seit sie einander vorgestellt worden waren und sie beide es bei weiteren Gelegenheiten unternommen hatten, den anderen kennenzulernen. Er war sich ziemlich sicher, daß es ihr ebenso ging. Ihre Ehe entsprach dem, was sie beide gewollt hatten. Ihre Kinder der Beweis. Seine Entscheidung war richtig gewesen. Männer waren von Geburt an unmoralisch, gewalttätig, unersättlich in jeder Hinsicht, es hatte lange gedauert, bis er das begriff. Es brauchte eine Frau, um sich selbst zu erziehen. Einmal hatte er versucht, das alles Marie zu erklären, auch, was Fichte dazu schrieb, aber sie hatte ihn nicht verstanden. Die Stille nagte an ihm. Er hatte einen Sohn, den es nicht gab. Seit er denken konnte, hatte er geglaubt, Marie zu lieben. Pflanzen kennen keine Liebe. Manchmal schoß Christians Blick, mit dem er ihn damals angesehen hatte, grinsend und wissend, nackt hingelagert am Ufer in die Wurzeln der alten Grauweide, als er Marie nachgesprungen war ins Wasser, wie ein Schmerz, der einen anderen überdeckt, durch sein Empfinden von Schuld.

Marie hatte manchmal Stendhal zitiert, sie las ja in jeder freien Minute, doch er hatte nie begriffen, wieso sie gerade diesen Satz so gern mochte: La beauté n’est que la promesse du bonheur. Seltsam, daß immer alle betont hatten, wie schön seine Eltern gewesen seien. Beim Vater wußte er selbst gar nicht, ob das stimmte, zu selten war er dem aus der gescheiterten Ehe vertriebenen Bankerotteur in seiner Kindheit begegnet, aber was die Mutter anging, stimmte das wohl. Aber er hatte die Dringlichkeit nie verstanden, mit der man darauf hinwies. Seltsam: Er hatte sich nie, wirklich niemals, das konnte er beschwören, vor Maries Gestalt geekelt. Und das, obwohl ihn doch nie die Blüte, in die man sich versenkte, interessiert hatte, sondern jene Schönheit, die aus der Architektur der Pflanze erwächst, aus ihrem funktionalen Bau und damit aus ihrem Platz in der Systematik.

Lenné hatte vorgemacht, zu welcher Kraft solche Systematik in der Lage ist, wenn sie an die Stelle des Wildwuchses tritt. Vor kaum mehr als zehn Jahren hatte er die Landesbaumschule zwischen Sanssouci und Charlottenhof gegründet, die inzwischen auf einhundertdreißig Morgen jährlich anderthalb Millionen Gehölze produzierte, die größte Baumschule der Welt, und alle preußischen Alleen mit Straßenbäumen versorgte, private wie staatliche Gärten mit Obstbäumen und Gehölzen, und Jahr für Jahr zweihundertachtzigtausend Forstbäume zog. Darauf galt es aufzubauen. Palmenhaus, Menagerie und Rosengarten wurden auch im Ausland als Sehenswürdigkeiten geschätzt. Mit der Eisenbahn war die Insel nun auf eine ganz neue Weise an die Welt angeschlossen. Das entsprach Gustav, der mit Gärtnern in ganz Europa korrespondierte, seine Aufsätze in Loudons Gardener’s Magazine veröffentlichte und überall für die Insel bestellte, was ihm wichtig schien. Bedauerlich nur, daß Lenné ihn noch gar nicht besucht hatte seit seiner Anstellung. Aber so war er nun einmal. Das Projekt Pfaueninsel war für ihn abgeschlossen.

Und Marie war Lenné in der Tat immer ekelhaft gewesen, er hatte es Gustav deutlich zu verstehen gegeben. Was hatte sie ihm bei ihrem letzten Treffen entgegengeschrien? Du bist das Monster! Du bist das Monster! Immer wieder. Das war ihr Abschied voneinander gewesen. Seither gingen sie sich aus dem Weg, und wenn sie sich zufällig trafen, sprachen sie nicht miteinander. Gustav unterließ es, obwohl das in seiner Macht gestanden hätte, ihr irgendwelche Aufgaben zuzuweisen. Manchmal fehlte sie ihm wie eine vergangene Lust, deren Wiederholung man sich sehr wünscht.

Seine Gedanken gingen von einem zum andern. Von der Maikäferplage im letzten Jahr, als die Engerlinge gierig die Wurzeln der Rosenstöcke zerfressen hatten, zu dem, was in diesem Jahr zu tun war, und mit einem Mal fühlte er sich sehr allein. Dabei war doch dieser Tag ein Tag des Triumphes. Da sollte er sich nicht einsam fühlen. Denn er hatte gesiegt: Die Tiere kamen weg. Friedrich Wilhelm IV., dem die Insel nicht dasselbe wie seinem Vater bedeutete und der sie kaum mehr besuchte, hatte endlich einem entsprechenden Vorschlag von Lichtenstein zugestimmt und ein Stück der alten Fasanerie am Berliner Tiergarten für einen modernen städtischen Zoo zur Verfügung gestellt. Und als deren Gründungsbestand war die Menagerie der Pfaueninsel vorgesehen. Damit würde die Insel endlich so werden, wie er es sich immer ausgemalt hatte. Endlich würde er ihr die Sehnsucht austreiben und all die Phantastereien, denen es Marie und ihr Bruder und der Riese und Maitey allein zu verdanken gehabt hatten, hierherzukommen, und all das Vieh aus aller Welt. Nichts mehr würde bleiben davon.

Gustav riß den Blick von den Sonnenflecken unter den Pappeln an der Anlegestelle los und öffnete die letzte Inventarliste des Tierbestandes der Königlichen Menagerie auf der Pfaueninsel, die es geben würde, und in die der König höchstselbst die weitere Verwendung der Tiere und ihrer Anlagen eingetragen hatte.

Affenhaus: 1 Mandrillaffe, 4 Kapuzineraffen, 1 grüner Affe, 1 Maci, 3 Javaneraffen, 1 Klammeraffe, 2 Waschbären, 1 Aguti aus Ostindien, 2 Tibetkatzen. Es erhält der zoologische Garten die Gebäude und die Thiere. Känguruhhaus: 3 Känguruh. Es erhält der zoologische Garten Gebäude und Thiere. Schafstall: 17 tibetanische Ziegen, 1 Ziegenbock mit 4 Hörnern, 4 Ziegen, 1 amerikanische Ziege, 20 schottische Schafe, 3 ägyptische Schafe, 4 ungarische Schafe, 4 spanische Schafe, 1 Mufflonschaf, 4 Zebu, 2 kleine Zebukühe, 1 Zebukalb, 2 Hunde. Der Garten die Thiere, welche er braucht, das Gebäude bleibt. Lamahaus: 2 Lama aus Peru. Die Thiere der Garten, nicht die Gebäude. Bärengrube: 1 Bär aus Rußland. Der Garten das Thier. Stall für wilde Schweine: 3 Schweine. Biberbau: 2 Biber. Thiere und Gebäude bleiben auf der Insel. Adlerhaus: 2 Seeadler, 2 Schreiadler, 1 Schneeule, 2 Baumeulen. Gebäude und Thiere an den Garten. Volière: 2 Nachtreiher, 4 Löffelreiher, 1 Kranich, 1 Wasserhuhn, 4 weiße Lachtauben, 5 graue Lachtauben, 2 Turteltauben, 2 wilde Tauben, 8 Hühner, 1 goldgelbes Huhn, 6 podolische Hühner, 6 türkische Hühner, 3 Strupphühner, 2 Condor, 6 Crammetsvögel, 1 Schwarzamsel, 2 Dompfaffen, 8 Lerchen, 2 Kanarienvögel, 9 verschiedene Vögel. Ententeich und Wasservögelvolière: 12 Pfauentauben, 50 Flugtauben, 12 chinesische Gänse, 1 Gans mit drei Füßen, 2 Südsee-Gänse, 15 podolische Enten, 1 Surinamer Ente, 15 türkische Enten, 8 Märzenten, 5 Zwergenten, 6 junge Perlenten, 2 columbische Enten, 6 junge Schellenten, 2 Rohrdommeln. Der Garten die Thiere, die er braucht, die Gebäude bleiben. Im Freien: 6 weiße Störche, 2 schwarze Störche, 5 weiße Pfauen, 48 Pfauen. Thiere und Gebäude auf der Insel. Dachsbau: Ein Dachs. Gebäude und Thier an den Garten.

Irgendwann in den nächsten Jahren, an einem jener Tage, die noch den späten Sommer spüren lassen, ohne ihn mehr zu haben, und deren frühe Kälte einem schon so in die Glieder kriecht, daß man wie betäubt darauf hofft, sie möge endlich die Klarheit gewinnen, die es ermöglicht, sie zu ertragen, zog es Marie plötzlich wie ein Tier, das sich für den Winter in seinen Bau zurückziehen will, in das hölzerne, kalte Schloß, das seit langem schon die meiste Zeit leer stand. Bald schien sie ganz dort zu wohnen, und die Gärtner begannen sich darüber zu wundern und zu tuscheln, doch da Gustav Fintelmann nichts unternahm, gewöhnten sich die Bewohner der Insel schnell daran, daß das alte Schloßfräulein jetzt im Schloß lebte, das ansonsten niemand betrat und das längst wieder jene Kulisse geworden war, als die es der verliebte Vater des nun toten Königs mit seiner Geliebten einst errichtet hatte.

Der neue König, der sich nur sehr gelegentlich für einige Stunden im Sommer zur Insel rudern ließ, ohne jemals dort zu übernachten, wo er doch viele Tage seiner Kindheit verbracht hatte, entzog der Insel nach und nach die Mittel. Menageriedirector Sieber trat in den Dienst des Zoologischen Gartens von Berlin über, die Tiere wurden entsprechend den königlichen Verfügungen nach Berlin gebracht, ihre Ställe abgebrochen. Das Lamahaus brannte ab, und viele der Tiere gingen dabei zugrunde. Das Rotwild der Insel kam in den Wildpark Pirschheide bei Potsdam, das Damwild ins Forstrevier Grunewald. Das Affenhaus wurde abgetragen, ebenso der Biberbau und der Taubenturm. Man begann, die Freiflächen des mittleren Inselteils wieder mit Buchen und Eichen zu bepflanzen, und mit dem Verschwinden der Menagerie gab man auch die komplizierte Lennésche Wegführung im Süden der Insel auf und legte eine Chaussee an, auf der man schneller zur Meierei gelangen konnte.

Marie erkannte die Stille aus ihrer Kindheit wieder, auch die Leere auf den Wegen, als die Besucher immer mehr ausblieben, dann die Weise, wie die Natur sich mit großer Selbstverständlichkeit zu dem zurückverwandelte, was sie einst gewesen war. Alles Künstliche verschwand in dem Moment, in dem der Wille verschwand, es zu erhalten, und was eben noch modern gewesen war und Versprechen einer neuen Zeit, sank lautlos und kraftlos als Mode zurück ins Vergessen. Das Vergehen der Zeit, dachte sie, war ja vor allem ein Vergehen von Zukunft und ein Sieg der Vergangenheit. Einer Zeit also, zu der sie gehörte und die nicht verging. Groß war die Aufregung, als Tagelöhner in der Hirschbucht die Scherben eines von Baumwurzeln gesprengten groben Topfes entdeckten und darin vier Ringe, Opfergaben wohl aus alter Zeit, die, wie Marie fand, nicht zufällig gerade jetzt zum Vorschein kamen. Seltsam beruhigt las sie ihre Lieblingsbücher von früher noch einmal: Die nächtlichen Erscheinungen im Schlosse Manzini, Das schöne Mädchen von Perth und Armut, Reichtum, Schuld und Buße der Gräfin Dolores.

Und immer öfter, als rückte sie tatsächlich näher, sprach man auf der Insel von der Stadt, von den unendlich langen Straßen aus nichts als Stein, von schloßhohen Mietshäusern, von Hinterhöfen und von den unzähligen Menschen, die in den Manufakturen und Fabriken arbeiteten, von Kanälen und Kähnen voll Ziegel und Kohle, von einem abgesetzten König aus Hannover, den die Stadt verschluckt hatte, von Biergärten und politischen Versammlungen, von Elend und Hunger. Doch all das blieb so lange in weiter Ferne, bis in einer verhangenen, gänzlich sternlosen, aber windstillen Märznacht des Jahres 1844 gegen zwei in der Früh ein Kahn am Steg der Pfaueninsel festmachte und zwei Soldaten auf die Holzbohlen kletterten, die bei der großen Kälte, die herrschte, von feinem Rauhreif überzogen waren.

Atemwolken vor dem Gesicht, sahen die beiden sich vorsichtig um, dann halfen sie vier dickvermummten Gestalten aus dem Kahn, zwei Frauen und zwei Männern, und ohne ein Wort stapfte die kleine Gruppe so schnell es ging zum Kastellanshaus hinauf. Man zögerte einen Moment vor der Tür, dann gab jene Gestalt, die als letzte den Kahn verlassen hatte, einem der Soldaten Ordre, die Scheibe einzuschlagen, mit einem lauten Scheppern zerbarst das Glas unter dem Knauf eines Säbels, die Scherben zerklirrten auf den Dielen, schnell war man drinnen und zog die Tür zu. Ein kleines Kind fing irgendwo im Haus an zu schreien, eine Petroleumlampe auf der Anrichte neben der Tür wurde entdeckt und entzündet, Türenschlagen im ersten Stock, Geflüster, dann Rufe, wer da sei. Schritte, die zögernd die Treppe herabkamen. Die Lampe warf einen zitternden Schein um die Gruppe, und einer der beiden Soldaten, ein junger Mann, das Gesicht rot vor Kälte, rief Gustav Fintelmann entgegen: »Ihre Königliche Hoheit, der Prinz von Preußen!«

Gustav stand unschlüssig im Hausmantel vor der Gruppe, um die noch die Kälte dampfte, bis einer der Eindringlinge den Shawl, der ihm das Gesicht verdeckte, löste und beide Hände dem alten Freund aus Kindertagen entgegenstreckte. Das brach den Bann. Jetzt erkannte und begrüßte man einander freudig, während verschlafen der junge Gartengehülfe auftauchte, der sein Bett unter den beengten Verhältnissen des Hauses im Arbeitszimmer Fintelmanns aufzuschlagen pflegte, und Mascha, die Haushälterin, ein junges Ding, das von Nikolskoje herkam. Der Prinz stellte dem Gärtner seine Frau vor, Prinzessin Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach, eine Schönheit mit dunklen Schläfenlocken und großen Augen, die von dem hellen Teint ihrer Haut abstachen, der sie in der dicken winterlichen Vermummung, die sie nun langsam abschälte, sehr jung erscheinen ließ. Was man, wie Gustav bemerkte, von seinem Freund nicht behaupten konnte. Der Junge, an den er sich erinnerte, war nun ein Mann von fünfzig Jahren, die Uniform saß prall um den kompakten Leib, mit einem buschigen Schnurr- und ebensolchem Backenbart und einer beginnenden Halbglatze, dessen Augen tief unter den hängenden Lidern lagen.

Bei den Begleitern des Paares handelte es sich um ein Fräulein von Reindorf, die noch ganz junge Kammerfrau der Prinzessin, und den Kammerdiener Krug, der gleich geschäftig für Ordnung zu sorgen begann, die Überkleider entgegennahm und das Gepäck, das von einem der Soldaten hereingeschafft wurde. Gustav bat alle ins Wohnzimmer, ließ die Lampen entzünden, Schnaps holen und Tee bereiten und an Essen, was in der Küche war, auftischen. Seine Frau werde gleich zu ihnen kommen, sie sehe nur kurz nach den Kindern und kleide sich an.

Das wenige, das Gustav über die augenblickliche Lage in Berlin wußte, hatte er aus Briefen von Kollegen, die Zensur ließ den Zeitungen dieser Tage wenig Raum. Aber man flüsterte doch dies und jenes, zumal die Situation spätestens seit der Hungerrevolte vom letzten Jahr unverändert prekär schien und nach Auflösung drängte. Die Hoffnungen der Liberalen auf den neuen König hatten sich nicht erfüllt, ganz im Gegenteil war überall eine große Unruhe spürbar, und selbst hier auf der Insel führte man, wie Gustav wußte, Reden gegen ihn. Mit alldem brachte er das nächtliche Auftauchen des Prinzen unwillkürlich in Zusammenhang, und tatsächlich begann dieser, kaum, daß sie Platz genommen hatten, und während noch Stühle gerückt und Gläser gebracht wurden, zu erzählen.

»Es hat eine Zusammenrottung gegeben, Handwerksgesellen, Studenten, Arbeitergesindel. Tausende. Eine Proklamation wurde verlesen. Als der Mob nicht weichen wollte, habe ich die Garde schießen lassen. Es gab Tote.«

Der Prinz räusperte sich und blinzelte Gustav unsicher an, griff nach einem Schnapsglas und stürzte den Korn hinunter. Gustav nickte Mascha zu nachzufüllen.

»Sie haben sich bewaffnet. Sie bauen Barrikaden, aus Marktständen und Transportkarren und derlei, es gibt Kämpfe in den Straßen.«

»Und es gibt Lieder. Über den Schlächtermeister von Preußen«, bemerkte die Prinzessin leise und blies über den heißen Tee in ihrem Glas hin.

Es hieß, ihre Ehe sei nicht glücklich. Sie sei ihrem Mann zu intelligent und vor allem zu liberal. Der Ton in Weimar wird ein anderer gewesen sein, dachte Gustav, und überlegte, während er sie betrachtete, was von den Gerüchten zu halten sei, sie langweile den Prinzen vor allem als Frau. Er fand sie hübsch. Etwas porzellanen, aber hübsch.

»Ich war dafür, alle zusammenzuschießen. Aber Fritz hält es für angebracht, zu verhandeln. Und da mußte ich zunächst einmal aus der Stadt. Ich soll nach England.«

In diesem Moment kam Eulalia herein, sehr aufgeregt, doch der Prinz nahm sie gleich lachend bei den Händen und bedankte sich bei der Frau des Freundes für die Gastfreundschaft in der Not.

»Wir wohnen so einsam, man muß sich keine Sorgen machen«, sagte Gustav. »Und die Fintelmänner waren immer ergebene Diener des Königshauses, es ehrt uns, daß Sie zu uns kommen, Königliche Hoheit. Ich werde den Kahn gleich mit Steinen beschweren und versenken lassen, damit morgen niemand Verdacht schöpft.«

Als die entsprechenden Anweisungen gegeben und auch entschieden war, die Gäste nicht im Schloß unterzubringen, um nur kein Aufsehen zu erregen, spürten alle, nachdem die Aufregung nun überstanden schien und auch der Schnaps seine Wirkung tat, ihre Müdigkeit, und man ging schlafen.

Eine improvisierte Feier aus Anlaß des Geburtstages des Prinzen, der nun gerade in diese Tage der Flucht fiel, bildete dann den Rahmen des Mittagessens am nächsten Tag, zu dem ihre Hoheit sich auch das Erscheinen des Schloßfräuleins wünschte, an das er sich aus Kindertagen erinnerte. Gustav, dem diese Bitte fast ebenso wie die Notwendigkeit, den Anlaß angemessen auszurichten, Unwohlsein bereitete, ließ gleichwohl am Morgen Mascha zu Marie ins Schloß schicken und sie instruieren.

Dennoch betrat Marie das Eßzimmer erst, als man schon zu Tisch saß. Das gehörte sich nicht, aber sie hatte den ganzen Vormittag mit sich gerungen, und es hatte sie große Überwindung gekostet, ins Kastellanshaus zu kommen. Und nun stand sie in dem altvertrauten Raum, und die Töchter Gustavs sahen von ihren Stühlen mit neugierigen Augen auf sie herab, den ungewohnten Gast, während sie einen entsetzlich langen Moment nicht wußte, wie sie zum Kopf des Tisches gelangen sollte, an dem der Prinz von seinem Ehrenplatz aufgestanden war und sie lachend zu sich winkte. Doch schließlich gelang es, und auch die Fragen, die er ihr stellte, überstand Marie ohne Stocken und Irritationen, und selbst auf ihren alten Kinderstuhl zu klettern, den man ihr neben die Plätze der Kinder gestellt hatte, meisterte sie trotz der Peinlichkeit, die es ihr verursachte, so beiläufig wie möglich. Froh, als dann die Aufmerksamkeit sich wieder anderen zuwandte.

»Überall um das Schloß herum waren all diese Menschen. Wir hatten große Angst, wie wir da in unserer Verkleidung standen in der Nacht«, erzählte die Prinzessin noch einmal und wischte sich mit dem kleinen Finger einen Krümel aus der Mundecke.

»Die Gräfin Oriola begleitete uns. Aber zu unserem Glück kam, gerade als wir uns in dem Gedränge nach einem Wagen umsahen, die leere Equipage des Grafen Nostitz vorüber, und der brave Kutscher erkannte die Gefährlichkeit der Lage. Schnell lenkte er uns aus dem Menschengewühl hinaus und die Linden hinunter nach dem Brandenburger Tor, das wir Gott sei Dank ohne irgendeine Störung passierten, obwohl die Wachen, wie wir wußten, Befehl hatten, uns aufzuhalten. Doch wir gelangten sicher zu dem recht abgelegenen Anwesen des Geheimrats Schleinitz im Tiergarten. Der liebe Alexander von Schleinitz, kennen Sie ihn?«

Marie sah, wie Gustav und Eulalia den Kopf schüttelten. Es hatte gedauert, bis sie sich traute, von ihrem Teller aufzusehen. Gustav tranchierte den Braten, schenkte Wein nach.

»Wie geht es übrigens deinem Vater?« fragte der Prinz.

»Er wird alt. Hat den Tod des Königs sehr bedauert.«

Der Prinz nickte und zerbröselte eine Scheibe Brot.

»Noch vor Tagesanbruch«, fuhr die Prinzessin fort, »sind wir weiter nach Spandau, wo wir in der Zitadelle den gestrigen Tag zubrachten.«

»Während der Pöbel in Berlin sich anschickte, mein Palais zu plündern und anzuzünden!«

»Was aber«, wandte die Prinzessin mit ruhiger Stimme ein, »ein Mann aus dem Volk verhinderte, und zwar einzig dadurch, daß er das Wort Nationaleigentum an die Mauer schrieb.«

»Wie dem auch sei. Jedenfalls wartete in Spandau ein Boot. Und nun sind wir hier, Gustav!«

Marie sah, daß Gustavs Frau vor Stolz glühte. Und wie er, als sie einmal etwas sagte, das große Heiterkeit hervorrief, seine Hand stolz auf ihren Unterarm legte. Wie sein Mund sich öffnete und wieder schloß beim Essen. Sie selbst bekam keinen Bissen herunter. Siebzehn, unser Sohn ist jetzt siebzehn, dachte Marie und konnte nicht aufhören, Gustav zu mustern. Wie er sich hielt und wie er schaute, welchen Anzug er trug und wie er lachte. Kein Mensch, den wir einmal geliebt haben, wird uns wieder gänzlich fremd. Gerade, als Marie sich ermahnte, ihn nicht anzustarren, traf sie der Blick der Prinzessin, und sie sah darin die Überraschung über das, was die junge Frau entdeckt zu haben glaubte. Marie spürte, wie sie errötete, und schlug die Augen nieder.

Und als der Prinz sich bei Einbruch der Nacht mit zwei Ackerpferden und einem Wagen, den der Gespanndiener Stoof lenkte, auf den Weg nach Nauen machte, wo Extrapostpferde vorgespannt wurden und Stoof mit den eigenen Tieren umkehrte, dann weiterreiste bis Hagenow, wo der Wagen in den Zug nach Hamburg verladen wurde, wo er wiederum am 24. ankam, sich umgehend unter dem Pseudonym Lehmann an Bord der John Bull begab und nach London in See stach, hielt die Stille, nun schwer und lastend, wieder Einzug auf der Insel. Kaum war der hohe Besuch ins Dunkel verschwunden, verabschiedete auch Marie sich, wobei Gustav und sie es vermieden, einander die Hand zu geben, und wanderte dann lange in dieser Nacht durch die Räume des kalten Schlosses und dachte an ihr Kind, das jetzt siebzehn Jahre alt sein mußte, und daran, wie Gustavs Mund sich geöffnet und geschlossen hatte und wie seine Hand auf dem Arm seiner Frau lag. Ziellos kratzten ihre Gedanken über die Erinnerungen hinweg, ohne daß diese undeutlicher geworden wären.

Wie erzählt man, wenn Zeit erzählt werden soll? Was ist wichtig, was vernachlässigbar? 1846 wurde Gustav ein Sohn geboren, Gustav Adolf, im Januar des darauffolgenden Jahres starb seine Tochter Anna Charlotte Luise, dann brachte seine Frau Luise Clara Emma zur Welt. 1847 wurde im Opernhaus in Berlin das Ballett La Esmeralda nach dem Glöckner von Notre Dame aufgeführt, einem Roman, den Marie so sehr mochte, daß sie ihn schon dreimal gelesen hatte. Esmeralda erschien darin in Begleitung einer Ziege, die man eines Tages von der Pfaueninsel holte, was Marie den plötzlichen Wunsch eingab, einmal nur in Berlin ins Theater zu gehen, und sie hätte sich fast überwunden, Gustav darum zu bitten, es ihr zu ermöglichen. Sie tat es nicht. Kein Wort davon. Und kein Wort von Gustavs Reise 1850 in den Madlitzer Park der Finkensteins, und keines über die französische Schauspielerin Rachel, obwohl noch heute eine Statuette am Schloß ihren Auftritt auf der Insel in einer Julinacht 1852 bezeugt. Anlaß war der Besuch von Zar Nikolaus und Zarin Alexandra, jener Lieblingstochter Friedrich Wilhelms III., der er einst Nikolskoje errichtet hatte und deren Geburtstag mit einem Gondelcorso von tausend Booten auf der Havel und dem Auftritt der berühmten Tragödin gefeiert wurde, die auf der Schloßwiese im Fackelschein Racine deklamierte. Vorstellbar, daß Marie im Dunkel dabeistand und lauschte.

Es ließe sich auch erzählen von dem, was sie las in all den Jahren, die sie noch hatte, längst nicht mehr die Bücher aus dem Schloß, dafür Balzacs Glanz und Elend der Kurtisanen, gleich nachdem es auf deutsch erschien, dann den Graf von Monte Christo und Hawthornes Der scharlachrote Buchstabe, nichts davon ist noch notwendig für diese Geschichte. Die Jahre vergingen.

Und was ist mit dem, was zuvor geschah und hier auch keine Erwähnung gefunden hat? Den Dingen und Geschichten also, die fehlen? Was änderte sich, fügte man sie nachträglich noch in das Bild ein? Etwa die sogenannte Montagne russe, die unerwähnt blieb, obwohl die Zeitgenossen diese Vergnügung sehr schätzten, und die aus einem hölzernen Turm bestand und vier Rollwagen, zwei gelb und zwei blau gestrichen, Sitze und Lehnen gepolstert und mit eisernen Rollen versehen, mit denen man, die Dame saß, der Herr stand auf den Kufen hinter ihr, eine Holzbahn vom Dach des Turmes hinabrollte. Und unerwähnt blieb, daß man im Winter auf der Insel jährlich zwischen zwanzig und siebzig Schock Rohr schnitt und verkaufte, ein Schock aus sechzig Bund, jeder Bund einen Fuß stark. Nicht erwähnt wurde Friedrich Siegel, jener Invalide aus den Befreiungskriegen, der fünfzig Jahre lang Ameiseneier für die Fasanerie auf der Pfaueninsel sammelte. Nicht der kleine Wagen für die Shetlandponys, den es auf der Insel gab, und nicht Gustav Fintelmanns Brief vom 12. Januar 1867 an den Gartenintendanten Graf Iwan von Keller: Habe eine Todesanzeige schon mehreremale vergessen: Am 4. ist der alte Ponyhengst krepiert. Nichts über seine Ernennung zum Oberhofgärtner und kein Wort vom Leben seiner Kinder und daß der Tierwärter Hermann Johann Becker, Schwiegervater Maiteys, nach der Auflösung der Menagerie als Nachtwächter mit Hellebarde, Laterne, Säbel und Doppelflinte die Insel bewachte. Er ist dort auch gestorben, im Jahr 1866, fast genau dreißig Jahre nach seinem Vorgänger, dem Tierwärter Daniel Wilhelm Parnemann.

Und nicht wurde erzählt, daß in der Nähe des Jagdschirms eine Quelle ihr Wasser in eine steinerne Muschel ergoß und daß Gustavs Bruder Priester in Nikolskoje war, nicht jene Begegnung auf einer Bank an der Schloßwiese, bei der Friedrich Wilhelm III. seinem Sohn die Hochzeit mit der Gräfin Radziwill ausredete. Die angeblich tausendjährige Königseiche wurde nicht erwähnt, um die herum, wie auf dem Plan von 1828 zu erkennen ist, Lenné einen Weg hatte anlegen lassen. Man mag sie einsetzen ins Bild, aber ist es nötig? Fehlt all das? Ist es von Belang, daß es in Wirklichkeit nicht nur den einen Steg am Kastellanshaus gab, der übrigens dem König vorbehalten war, sondern einen weiteren am sogenannten Überfahrerhaus, noch einen an der Küche und einen vierten an der westlichen Spitze des Parschenkessels? Und daß in jenem Überfahrerhaus am Landungssteg Matrosen wohnten, genannt Mariniers, die man als Besatzung der Royal Louise hier stationiert hatte?

Die Royal Louise? Nach dem Sieg über Napoleon machten die Könige von Rußland, Preußen und England einander Geschenke, und so erhielt der preußische König 1814 aus London ein kleines, dreimastiges Boot für Fahrten auf der Havel, welches aber, da es auch im Winter an der Pfaueninsel vor Anker lag, nach fünfzehn Jahren so verrottet war, daß der englische König William IV. 1831 dem Royal Dockyard in Woolwich den Auftrag zum Bau eines Nachfolgers erteilte. In Takelage und Rumpfform, Kanonengang, Heckgalerie und Galionsfigur entsprach es, im Maßstab 1 : 3, ganz den modernen Fregatten der Royal Navy jener Zeit. Wer mag, stelle sich vor, wie Marie es jenseits des dichten Schilfgürtels auftauchen sah mit geschwellten Segeln, gleich einer optischen Täuschung auf der kleinen Havel groß wie eine echte Fregatte auf einem echten Meer. Vielleicht, nein sehr wahrscheinlich ist sie darauf mitgefahren, nirgendwo hätte sie sich maßstabsgerechter einpassen können, und das wird dem Hof nicht entgangen sein. Fügen wir es also nachträglich ein, dieses Schiff und Marie darauf. Wir können es aber auch wieder wegdenken und herausnehmen aus dem Bild, um vielleicht besser zu begreifen, welche Leere Marie umgab, und um das Vergehen der Zeit selbst zu verstehen. Die Stille der Insel, von der die Tiere verschwunden waren und alle Menschen, die ihr einmal etwas bedeutet hatten. Die Leere des Schlosses, die Leere der Tage.

Das einzige, was Marie in all den Jahren auf der Insel noch lebendig schien, war das Palmenhaus. Doch nicht nur, weil Christian darin gestorben war, ging sie nie mehr hinein, sondern weil es ihr vorkam, als flösse alle Wärme der Insel, wie in ein lebendiges Grab, hinter seine gläsernen Wände. Und manchmal sah Marie im Vorübergehen Gustav hinter den Scheiben und inmitten seiner Palmen.

»Sie dürfen das nicht!«

Marie blieb überrascht stehen. Auf der Schloßwiese saß, nein lagerte ein Mann, bequem auf dem Unterarm und mit locker übereinandergeschlagenen Beinen, vor sich ein unansehnliches Blechgeschirr und eine Flasche, die er dem Felleisen entnommen haben mochte, das neben ihm lag. Er lächelte sie mit vollem Mund an. Es sei nicht gestattet, mitgebrachte Speisen und Getränke auf der Insel zu verzehren, erklärte Marie und ging einen Schritt näher zu dem seltsamen Gesellen hinüber, der wie ein älterer Fischer aussah mit seinen kurzen grauen Stoppelhaaren, dem aufgeknöpften Hemd, den Kniehosen ohne Strümpfe, und wartete auf eine Antwort, die er ihr aber nicht gab. Statt dessen griff er in den Blechbehälter, nahm vorsichtig etwas heraus und hielt es ihr kauend hin.

Wildgänse zogen in langen Formationen über die Insel Richtung Osten und schrien dabei wütend in den hohen blauen Himmel hinein. Es war der erste Tag in diesem Jahr, an dem die Sonne wärmte. Im stumpfen, welken Wintergras zeigte sich schon das Grün. Marie wurde schwindelig, denn es kam ihr plötzlich so vor, als drehten sich die Jahreszeiten nur um sie, immer nur um sie, wie ein Carrousel. Der Sommer würde wiederkommen und der Herbst und dann wieder ein Winter und wieder ein Frühjahr, und Rohrweihen und Fischadler würden wieder auf der Havel jagen, Kormorane und Graureiher in ihren kotweißen Bäumen nisten und im Röhricht des Parschenkessels Haubentaucher und Bläßhühner. Man würde wieder, wie jetzt im April, das Zilp-Zalp des Zilpzalps hören und das Schreien des Milans im Sommer ganz weit droben im Himmel am Mittag, und in den Nächten würden die Nachtigallen wieder in den Eichen nahe der Fontäne singen, lautlos Störche vorüberziehen und mit lautem Klatschen schwarze Schwanenfüße das Wasser treten, wenn die großen Vögel unbeholfen aufflogen. Und das Krächzen der Saatkrähen auf den kahlen Bäumen um die Meierei würde man den ganzen Herbst und Winter hindurch hören, wenn die Tafelenten und Schellenten, Reiherenten und Gänsesäger dicht nebeneinander auf ihren Rastplätzen in den Buchten schaukelten. Und immer von neuem. Und immer wieder. Hilflos sah sie sich um. Wie groß der Götterbaum geworden war, den Lenné hatte pflanzen lassen! Welches Jahr schrieb man denn? Marie schlug vor Entsetzen die Hand vor den Mund.

»Probieren Sie!« sagte der Mann mit sanfter Stimme und lächelte ihr zu.

Doch sie konnte nur heftig den Kopf schütteln, als hätte er ihr ein ungehöriges Angebot gemacht. Und ihr fiel ein, wie sie aussah, in diesem alten Kleid, das an mancher Stelle geflickt war und an anderen nicht einmal das. Sie hatte sich am Morgen nicht gekämmt.

»Was tun Sie hier?« fragte sie tonlos.

Der Mann schwenkte seine breite Hand mit den kurzen dicken Fingern und jener seltsam bleichen Knolle, die er ihr anbot. »Für gewöhnlich kommt meinesgleichen ja nicht so weit aus der Stadt heraus. Aber ich hatte in Potsdam etwas auszuliefern, und da dachte ich: Statte ich doch der berühmten Pfaueninsel einen Besuch ab. Das hier sind die Reste meiner Lieferung. So probieren Sie doch!«

Marie ignorierte das Angebot noch immer. Doch sie spürte erleichtert, wie der Schwindel sich langsam legte. »Was ist das, was Sie da haben?«

»Ich bin Koch, ein Leihkoch. Ich koche auf Gesellschaften, Hochzeiten, Beerdigungen. Und mache auch kleine Sachen bei mir zu Hause, die ich dann verkaufe. Wie das hier. Setzen Sie sich doch zu mir, dann erkläre ich Ihnen, was es ist.«

Marie sah sich um, als könnte sie bei etwas Verbotenem ertappt werden, obwohl sie wußte, daß da niemand war. Und dann setzte sie sich tatsächlich zu ihm ins Gras. Es tat gut zu sitzen, ihre Beine zitterten noch immer. Und auch die Sonne tat tut.

»Also: Was haben Sie da?«

»Erst probieren.«

Er mochte wohl, schätzte Marie, etwa so alt sein wie sie selbst. Das Lachen, das aus seinen Augen sprach und um seine Lippen spielte, kontrastierte mit den schweren Lidern und den Falten um den Mund. Das Leben zog an einem, wenn man älter wurde, dachte Marie und ordnete ihr Kleid auf dem Rasen. Jenes Ding schien aus Teig zu sein, weich, und sie meinte ein Gewürz zu riechen, ohne zu wissen, was es war. Seine Finger glänzend vor Fett. Daß er aber auch keine Gabel hat, dachte sie mißbilligend, sah sich noch einmal um, nahm ihm das Teigstück aus der Hand und steckte es ganz und gar in den Mund.

Er sah ihr neugierig zu. »Für gewöhnlich ißt man sie warm, aber was gut gekocht ist, schmeckt auch kalt.«

Es war tatsächlich Teig, ein aromatisch nach Brühe schmeckender Teig, der eine weiche Masse umhüllte, die sofort sämig ihren ganzen Mund ausfüllte, als sie hineinbiß, und so viele Geschmäcker zur selben Zeit zu enthalten schien, daß sie vor Überraschung die Augen schloß. Pilze waren das, so intensiv, daß sie ihren würzigen, erdigen Geruch im selben Moment in der Nase zu haben meinte, dazu etwas Milchigfettiges und zugleich Herbes, Käse wohl, aber sie war sich nicht sicher, da war noch etwas Festeres, Fleisch vielleicht, und ein Aroma, das in ihrem Mund zu knospen schien, so daß sie an Blüten denken mußte, und dann auch noch etwas Scharfes und das alles durcheinander, und sie kaute und schluckte und kaute und hatte noch nie etwas so Feines gegessen.

Obwohl sie unbedingt wissen mußte, was das war, ließ sie sich noch einen Moment Zeit, als sie alles heruntergeschluckt hatte, bevor sie die Augen wieder öffnete.

»Was ist das?«

»Rafiolen.«

»Rafiolen? Kann ich noch eine?«

»Aber gewiß.«

Und während sie die nächste Teigtasche, die er ihr hinhielt, ganz vorsichtig in den Mund nahm und zunächst nur daran lutschte, erklärte er ihr, es handle sich bei Rafiolen um so etwas wie kleine Pastetchen, aber weich, in Italien mache man derlei, meist in Form einer Auster oder einer Muschel oder eines Hasenohrs, in die allerlei eingeschlagen werde, in diesem Fall getrocknete Steinpilze, die er zuvor in Wasser eingeweicht, kleingehackt und in Butter angeschwitzt habe. Dazu Kalbfleisch und Ziegenkäse.

»Und die Gewürze?« fragte Marie und schluckte den letzten Bissen hinunter.

»Muskatblüte, Pfeffer, gestoßener Rosmarin. Man siedet die Rafiolen in Fleischbrühe. Zuletzt werden sie in Butter geschmelzt.«

»Rosmarin. Das habe ich noch nie gegessen.«

Der Koch griff wieder in sein Blechgeschirr und gab ihr noch eine.

Marie musterte sie. »Es ist, als könnte man durch die dünne Haut eines Tierchens in es hineinsehen. Da, die dunklen Pilzstückchen. Wirklich wie ein weiches nacktes Tier.«

»Mögen Sie einen Schluck?«

Der Koch hielt Marie die Flasche hin, und sie trank, ohne darauf zu achten, was es war. Schwerer roter Wein. Sie aß das kleine weiche Tier. Der Himmel war hoch und blau. Es war früh am Nachmittag. Die Sonne wärmte sie durch und durch.

»Wie heißen Sie?«

»Froelich. Jon Froelich.«

Sie mußte lachen. »Wirklich? Sie heißen Froelich?«

Sie konnte nicht aufhören zu lachen und sah ihn dabei wie etwas an, das man nach langem Suchen gefunden hat.

Und auch er mußte lachen. »Ja, aber man schreibt es anders.«

Marie nickte und fragte nicht, wie. »Meinen Sie, es gibt verschiedene Sorten Menschen?«

»Natürlich«, nickte er. »Vor allem Reiche und Arme. Aber auch Kranke und Gesunde.«

»Das meine ich nicht.«

Er überlegte einen Moment, dann grinste er. »Männer und Frauen, ja gewiß.«

»Auch das meine ich nicht. Glauben Sie, es gibt pflanzliche und tierhafte Existenzen?«

»Verstehe ich nicht.«

Marie schüttelte den Kopf. Nichts von alledem spielte noch eine Rolle.

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Wegen dieser Rafiolen, die ja beides enthalten, Pflanzliches und Tierisches. Vielleicht lieben wir das ja so sehr, weil es zusammengehört, aber in der Welt nicht zusammenfindet.«

»Was Sie so denken!«

Der Koch schüttelte lächelnd den Kopf und musterte sie schweigend. Plötzlich wieder ernst, sagte er dann: »Besuchen Sie mich doch einmal, dann koche ich richtig für Sie.«

»Das würden Sie tun?«

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