Sechstes Kapitel. Pelze und Stacheln

An jenem Wintermorgen 1828, an dem Gustav endlich zurückerwartet wurde, erwachte Marie weniger, als daß sie aus dem Schlaf aufschreckte, von unten aus dem Eßzimmer drang seine Stimme, und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Schnell glitt sie aus dem Bett, streifte das Nachthemd über den Kopf und wusch sich in der Schüssel, die auf der Kinderkommode hinter der Tür stand. Es war sehr kalt in ihrer Dachstube, doch sie spürte kaum, wie ihre Finger die dünne Eisschicht auf dem Wasser durchstießen. Schlotternd benetzte sie sich das Gesicht und fuhr mit den nassen Händen auch unter ihre Achseln, schlüpfte schnell in ihre Unterwäsche und dann in ihr bestes Kleid, ein schwerer Damast aus ganz dunklem, fast schwarzem Violett, stöhnend zog sie die Bänder des Mieders zu, nahm das Haar hoch, schnürte ihre Stiefelchen, suchte und fand ihr Gesicht für einen Moment in dem kleinen Spiegel und puderte sich. Dann endlich ging sie hinab.

»Der Winter in Wien war wunderbar«, sagte Gustav gerade.

Weder er noch der Onkel, noch Gustavs Mutter beachteten sie, als sie ins Eßzimmer kam. Gustav sprach einfach weiter, und so legte Marie, den Blick auf ihn gerichtet, beide Hände auf die Tischkante, das seidene passepoil ihrer Ärmel fiel weit über ihre Handrücken. Mit ihren Blicken tastete sie das altvertraute Gesicht ab.

»Im nächsten Jahr ging es dann weiter nach Innsbruck und nach Venedig, nach München und vor allem nach Holland. Im Winter kam ich in Haarlem an, in der Handelsgärtnerei Schneevoogt, wo ich durch den Garten-Director schon angemeldet war.«

»Die Bibliothek, die sie dort haben, muß großartig sein!« Die Augen des Onkels glänzten.

Gustav nickte und erzählte weiter, wobei es Marie nicht gelingen wollte aufzunehmen, was er sagte, sosehr sie sich auch bemühte. Statt dessen musterte sie ihn immerzu von Kopf bis Fuß. Er hatte ihr nicht ein einziges Mal geschrieben. Wie oft hatte sie sich vorgestellt, auf welche Weise diese Zeit Gustav verändert haben würde, wenn er wiederkäme. Alles, hatte sie sich gewünscht, sollte anders sein. Und? fragte sie sich jetzt. Älter zwar, müde wohl auch von der Reise, sanken seine Lider tiefer als früher über die einst so staunend aufgerissenen Augen, ansonsten aber schien er noch immer der, der er gewesen war, als er wegging. Und in Marie stieg die Angst auf, alles werde wieder so sein wie damals.

»Setz dich doch, Marie.«

Nur für einen Moment faßte er sie ins Auge, und obwohl die Freundlichkeit seines Blicks sie überraschte, schüttelte sie stumm den Kopf und blieb an der Tischkante stehen. Zu erniedrigend wäre es ihr erschienen, jetzt in den Kinderstuhl zu klettern.

»Ich studierte vor allem die Zucht von Blumenzwiebeln sowie die Treibereien von Obst und Gemüse. Im August bin ich dann weiter nach Paris, wo ich mich als Hilfsarbeiter bei einem Pfirsichgärtner verdingte, um dessen Zucht kennenzulernen. Anschließend war ich bei Soulange-Bodin im Fromontschen Park in Ris-Orangis, wo ich mich hauptsächlich um die Obstzucht kümmerte, was ich ab dem Spätsommer dann in Bollweiler im Elsaß fortsetzte. Dann Karlsruhe, dann Düsseldorf, und dann ging es endlich nach England: London, Dublin, Glasgow, Edinburgh, Liverpool. Glückliche Umstände ließen mich die Bekanntschaft von Loudon machen, der das Gardener’s Magazine herausgibt.«

»Ja, ja«, nickte Fintelmann, der an den Lippen seines Neffen hing. Wie alt der Onkel geworden war! Marie kam der Gedanke, daß er auf Gustavs Rückkehr gewartet haben mochte, um sich endlich erlauben zu können, es zu sein.

»Schließlich fuhr ich wieder zurück über den herbstlich-stürmischen Kanal nach Haarlem und noch einmal zu Schneevoogt, wo man mich herzlich aufnahm. Als aber der Dezember kam und es auf Weihnachten ging, hielt es mich nicht länger, und ich beeilte mich, über Hannover, Kassel und Weimar zurückzukommen auf unsere Pfaueninsel.«

»Ja, das ist fein, daß du an Weihnachten wieder hier bei uns bist!« Die Tante tätschelte die Hand ihres Sohnes. Gustav ließ es lächelnd geschehen.

»Wohnst du denn jetzt auch wieder bei uns?«

Marie mußte sich räuspern, bevor sie diese Frage zu stellen vermochte. Im selben Moment, als sie sie aussprach, wurde ihr klar, wie unsinnig sie war. Doch Gustav war wie jemand von drüben, wie sie hier auf der Insel sagten, wenn sie über den See hinübernickten zum Land. Er ist wie wir, hatte ihr Bruder früher einmal gesagt, als sie ihn zusammen beobachtet hatten, auch ein Krüppel. Doch das stimmte nicht mehr, er war herausgewachsen aus dem, was sie ebensowenig wie Christian jemals hinter sich lassen würde.

»Aber ja«, sagte er und sah sie dabei lachend zum zweiten Mal an.

»Natürlich wohnt er hier«, bekräftigte der Onkel, und dann war es plötzlich still am Tisch.

Die einst so schöne Tante, die so strenge Herrnhuterin, die ebenfalls alt geworden war und fahl, legte stumm ihr Stickzeug zusammen. Fintelmann sorgte sich ein wenig um sie. Seit sich das Haus geleert hatte, die Neffen alle drei von der Insel, der Lehrer lange gekündigt und die Gehülfen nun im Cavaliershaus untergebracht waren, und also nur mehr Marie bei ihnen am Eßtisch saß, wurde ihm Luises Schweigen manchmal schwer. Daran dachte er jetzt und dann, wie er neulich morgens auf die Schloßwiese gekommen und der Schnee blutig gewesen war, ein knappes Dutzend Pfauen mit durchgebissenen Kehlen im Weiß. Füchse hatten es über die zugefrorene Havel auf die Insel geschafft und sie in der Nacht gerissen. Er begriff noch immer nicht, mit welcher List sie es hatten verhindern können, daß die Vögel vor ihnen auf ihre Schlafbäume flohen. Es schüttelte ihn, wenn er an das rote Blut im Schnee dachte und die blauen Federn der zerrissenen Hälse. Und an Lenné mußte er jetzt denken, dem sein Neffe so viel verdankte, und wie froh er war, den Umbau der Insel in diesem Jahr nun endlich abgeschlossen zu haben. Die Wege waren angelegt, die Bäume gepflanzt und die Menagerie, von der der König lobend gesagt habe, sie gefalle ihm tatsächlich noch besser als jene des Jardin des Plantes, mit den unterschiedlichsten Tieren besetzt.

Lenné war in diesem Jahr, an Schulzes Stelle, zum Garten-Director ernannt worden, um die zweitausend Taler verdiente er nun, das war etwa viermal so viel wie er selbst. Keine Karriere ohne Neider, dachte Fintelmann, zu denen er aber nicht gehörte, wenn er auch Verständnis für Schulzes Tochter Karoline hatte, die sich bei jedem, der es hören wollte, über den Katholiken Lenné ausließ, den sie einen Ausländer ohne Pietät für unser hocherhabenes Hohenzollernhaus nannte, einen maßlos ehrgeizigen, ruhmsüchtigen und geldgierigen Burschen, einen undankbaren Filou, einen Nichtlateiner, wie sie voller Abscheu immer sagte, der alles nur durch List und Intrige erreicht habe. Was maßlos übertrieben war, Fintelmann erkannte das Genie Lennés durchaus an. Aber er erinnerte sich doch auch gern daran, wie die Insel gewesen, als er selbst hierhergekommen war, mit den Wiesen zur Schafsweide, der Molkenwirtschaft, der Baumschule mit dem Jakobsbrunnen in der Mitte und dem Karpfenteich.

Damals hatte man noch ein wenig vom Charme des Liebesnestes gespürt, das dieser Ort unter dem letzten König gewesen war, isoliert von der Welt und doch viel mehr Teil von ihr als jetzt, da jeder Baum und jeder Weg so künstlich schien. Manchmal kam es ihm vor, als ob nun so offensichtlich der Tod in allem stecke, daß nur stärkste Schönheit, wie ein opulentes Parfüm, ihn zu überdecken vermochte. Daß dies gelang, war der Zaubertrick der neuen Zeit, aber es war eben ein Zaubertrick. Anders als Lenné hielt er den Gärtner gerade nicht für einen Maler oder Dichter, seine Kunst trat immer an die Stelle von etwas anderem. Mit allem, was er tat, machte er etwas anderes zunichte. Das mußte bedacht sein. Die Erde war nicht endlos.

Derlei ging Fintelmann durch den Kopf, während er gar nicht bemerkte, daß es immer noch furchtbar still am Tisch im Eßzimmer des Kastellanshauses war, auf dessen weißem Tischtuch die Kaffeetassen standen, die keiner anrührte. Der Alte bemerkte weder den Blick seiner Schwägerin, die, im Schoß das Stickzeug, ins Leere der weißen Fläche starrte, als wäre die Freude über Gustavs Rückkehr schon aufgebraucht, noch, wie ebenjener unverwandt Marie ansah, die diesem Blick ruhig standhielt. Und sie, die Zwergin, den Kopf noch immer in Höhe der Tischplatte, war es denn auch, die die Situation löste.

»Ich zeig dir, wie alles geworden ist«, sagte sie ruhig.

Als brächte ihre Stimme die Zeit, die sich für einen langen Moment gestaut zu haben schien, wieder in Fluß, begann die Tante mit einem tiefen Seufzen erneut zu sticken, und der Onkel nickte, als käme es auf seine Zustimmung an, und griff dabei nach seiner Tasse. Und wie als Kinder gingen Gustav und Marie wenig später nebeneinander zur Schloßwiese hinauf, und die Sonne blendete ihre entwöhnten Augen, nachdem der Vormittag grau und verhangen gewesen war. Und erst, als sie den Rosengarten hinter sich hatten, zögerte Gustav weiterzugehen, wohl, weil die Geräusche der Tiere, die er noch nicht kannte, jetzt deutlich zu ihnen herüberdrangen.

Marie war all das Grunzen und Krächzen, Brüllen und Wiehern, all das Prusten und Keckern, Krakeelen und Schnaufen längst vertraut, gab es doch kaum mehr einen Punkt auf der Insel, an dem man ihm entging, und so sah sie sich lächelnd nach Gustav um, der am Rand der Schloßwiese stehengeblieben war. Sie wußte, daß sie nicht wußte, was er dachte oder fühlte, aber sie wußte, das änderte nichts daran, wie sehr sie ihn liebte. Nur seine Angst müßte sie ihm nehmen. Ihn nur für einen Moment vergessen machen, was sie für ihn gewesen war. Sie wußte nicht, was ihr den Mut gab, an diese Möglichkeit zu glauben.

»Komm schon«, sagte sie, »du mußt die Tiere sehen!«

Während die eine der beiden Sichtachsen, die Lenné von der Schloßwiese aus in den Wald hatte hineinschneiden lassen, den Blick auf die Meierei am Ende der Insel freigab, eine weiße Fata Morgana vor dem Blau der Havel, schien die andere auf geheimnisvolle Weise direkt in den Wald hineinzuführen. Zumindest war es so, wenn die Bäume belaubt waren, doch auch jetzt im Winter sah man von da, wo sie jetzt standen, kaum mehr als eine rotziegelige Giebelecke und eine gußeiserne Zaunspitze von der Menagerie hinter dem kahlen Geäst von Büschen und Bäumen. Das Brüllen der Tiere kam von dort, und dorthin ging Marie jetzt, und Gustav folgte ihr zögernd, immer im Abstand eines Schrittes.

Das Lamahaus markierte den Eingang zur Menagerie. Der flache Bau im italienischen Stil nebst Turm und eingezäuntem Hof, mit einer Fontäne darin, hob sich so deutlich von den knorrigen Eichen und den nordischen Birken ab, daß jeder die Sorgfalt begriff, mit der hier in der fremden Fauna ein mildes Klima erkünstelt worden war. Außer den Lamas gab es neuholländische Strauße, die mit bedächtigem Schritt das Gehege durchmaßen, braune Guanakos und westindische Hirsche. Auf dem Balkon des Turms trieben Papageien ihr vorlautes Spiel, weithin rufende rote und blaue Aras.

»Professor Hegel«, sagte Gustav mit einem Blick auf die Vögel, »schilderte einmal in seiner Vorlesung die Papageien am Amazonas. Da meldete sich einer meiner Kommilitonen, der in jenem Erdteil gewesen war, und meinte, die Papageien dort seien in Wirklichkeit aber ganz anders. Weißt du, was Hegel antwortete?«

Marie schüttelte den Kopf.

»Um so schlimmer für die Wirklichkeit!« Gustav lachte laut und triumphierend.

Marie hatte Körner für die Lamas dabei, die sie nun auf ihre kleine Hand schüttete und den Tieren durch den Zaun hinstreckte. Sofort kamen sie heran. Eines von ihnen, das größte, schaffte sich Platz vor den anderen, und Marie ließ zu, daß es mit seinen weichen, mit einem dünnen Bart umgebenen Lippen die Körner ganz vorsichtig in sich hineinleckte. Gustav sah ihr dabei zu und musterte schweigend das fremdartige Tier.

»Ich lese gerade wieder einmal Rousseau«, erzählte Marie, nur um etwas zu sagen.

»Ja?« fragte Gustav so überrascht, daß Marie erklären zu müssen glaubte, wie sie zu solcher Lektüre kam. Dabei hatte sie noch nie über ihre Bücher gesprochen.

»Solange Mahlke noch hier war, habe ich mir die Bücher von ihm ausgeliehen, jetzt ist der Onkel so freundlich, sie mir aus Potsdam, aus der Kösterschen Leihanstalt, holen zu lassen. Und dann gibt es im Schloß ein Büchergestell mit alten Bänden, wohl noch von der Gräfin Lichtenau, die habe ich alle gelesen. Kennst du Bougainvilles Description d’un voyage autour du monde? Das hat mir sehr gefallen. Erinnerst du dich noch an das Otaheitische Cabinett?«

»Gewiß.«

»Weißt du: Immer, wenn ich über die Südsee lese und die Menschen dort, muß ich an unsere Insel hier denken. Und wenn ich dann lese, wie warm es dort ist und daß die Menschen nichts anhaben als Ketten aus Blumen und Muscheln und wie das Meer dort glitzert, kommt es mir so vor, als könnte es hier ebenso sein.«

»Hegel sprach einmal vom Aufstand der Sklaven dort unten.«

»Rousseau sagt, wir sind verloren, wenn wir vergessen, daß die Früchte allen und die Erde keinem gehört.«

Marie ließ die restlichen Körner von ihrer Hand ins Gehege rieseln und drehte sich zu Gustav um. Sein Blick überraschte sie. So ernst und neugierig hatte er sie noch niemals angesehen. Und sie hatten noch niemals so miteinander gesprochen.

»Für Hegel traten schon die ersten beiden Menschen, als sie sich begegneten, in einen Kampf auf Leben und Tod ein. Aber nicht um Besitz oder etwas anderes kämpften sie, sondern um reine Anerkennung.«

Anerkennung, dachte sie, und noch einmal: Anerkennung. Sie nickte. Zuallererst kämpfen wir mit Blicken, dachte sie.

»Komm mit«, sagte sie leise.

Lenné hatte die verschiedenen Käfige kunstvoll so an den Waldrain setzen lassen, als stünden sie schon immer da. Vom Lamahaus kam man zunächst an den Adlern vorüber und dann zu den Affen, deren Zwinger Kletterstangen enthielt, auf denen die Tiere zu ihrer Unterhaltung Carrousel drehten. Als Marie und Gustav sich näherten, steigerte sich ihr Geschrei zu einem ohrenbetäubenden Tohuwabohu, wobei den Hauptteil des Lärms die drei Paviane veranstalteten, von denen Gustav sich angewidert abwandte, als er die blumenkohlhaften, feuerroten Hinterteile der Weibchen gewahr wurde. Marie übersah Gustavs Unwillen geflissentlich und begrüßte die beiden weißbärtigen Meerkatzen, die, kaum stand sie vor dem Käfig, sich schon mit ihren langen Fingern in den Draht krallten und sie mit ihren traurigen Augen musterten. Wie die Tiere in der Kälte zitterten.

Gustav konnte nicht glauben, was er sah: Marie küßte die kleinen Affen und empfing Küsse von ihnen. Und auch die Ouistiti oder Seidenäffchen kamen jetzt heran, und am Deckendraht des Käfigs pendelten, mit aufgeregt gespitzen Lippen, die beiden Klammeraffen.

»Widerlich«, stieß Gustav hervor.

Was er nicht wußte, war, daß Marie ein Geheimnis vor aller Welt hatte, seit die Affen auf der Insel waren. Sie mochte die Tiere sehr und war oft bei ihnen, da sie sah, wie sehr sie sich langweilten, und doch erbat sie, kaum hatte sie ihre Bekanntschaft gemacht, von einem der jungen Gartengehülfen, damit man im Kastellanshaus von ihrem Tun nichts merke, ein Rasiermesser und begann, ihren kleinen Körper mit allergründlichster Sorgfalt regelmäßig zu enthaaren. Sie rasierte und zupfte, und war es auch noch so schmerzhaft, ihre Achseln und die Haare auf ihren Beinen und selbst ihr Geschlecht. Als sie jetzt beim Anblick der Tiere daran denken mußte, an diese Prozedur, die sie jedesmal gleichermaßen als peinvoll und befreiend empfand, fragte sie sich, was Gustav, wenn er es wüßte, wohl davon hielte. Und mußte plötzlich lachen, und lachend schüttelte sie den Kopf und rief ihm etwas zu, was er jedoch in dem Tohuwabohu der Affen nicht verstand, nur das Wort Anerkennung hörte er heraus, und bevor er nachfragen konnte, war sie schon weiter und erwartete ihn lachend am letzten Zwinger der Menagerie.

Während er zu ihr hinschlenderte, mußte er sich eingestehen, daß er sich tatsächlich freute, sie wiederzusehen. So glücklich er gewesen war, die Insel und vor allem auch Marie hinter sich zu lassen, hatte die Erinnerung an ihr peinigendes Verhältnis im Laufe der Zeit doch an Dringlichkeit verloren. Und es schien ihm, als wäre es dazu notwendig gewesen, dem Dunstkreis Lennés zu entkommen, seinem Förderer, für den er doch nur ein Knabe gewesen war, mit dem er sich geschmückt hatte. Seine Hand in seinem Haar. Es hatte Frauen gegeben auf seiner Reise, aber nicht nur Frauen. Doch er war sich sicher, jene Schwäche für immer überwunden zu haben. Der Löwe, sah er, lag dicht bei Marie, den Bauch, der mit jedem tiefen Atemzug sich senkte und hob, gegen die Stäbe des Käfigs gepreßt, die Augen geschlossen. Reglos ließ er es zu, daß Marie ihn streichelte. Wie streng er roch.

»Komm weiter«, sagte er mit einem Lächeln, das seine Angst vor dem Tier verbergen sollte, und half ihr auf.

In dem runden Gehege, zu dem sie nun der Weg führte, befanden sich die Känguruhs, denen man Kaninchen und Hasen beigesellt hatte. Sie bereiteten dem Tierwärter die meisten Sorgen. Ihr Haus enthielt sogar eine Heizung, damit die empfindlichen Tiere sich im Winter nicht verkühlten.

»Leider halten sie sich nur kurze Zeit am Leben.«

Marie setzte sich auf eine grüne Bank, die man hier um eine der Eichen herumgelegt hatte. Immer, wenn sie an den Käfigen vorüberging, mußte sie an die Stelle bei Kunckels Ruine denken, an der die toten Tiere verbrannt wurden, und dann wollte es ihr nicht mehr gelingen, in alldem ein Paradies zu sehen, in dem der Löwe neben dem Lamm lag, weil ja alle, die man immerzu hierher auf die Insel brachte, starben, immerzu starben und unablässig durch neue ersetzt wurden.

Von diesen Gedanken ahnte Gustav nichts. Froh, dem Geschrei der Affen und dem Löwen entkommen zu sein, setzte er sich zu ihr und sah zum ehemaligen Gutshaus hinüber, dessen neue Fassade hinter den Bäumen aufgetaucht war. Wild krampften die Äste der Eichen in den Himmel. Wie sie als Kinder hier sich im Unterholz versteckt hatten. Gustav häufelte mit seinem Schuh den Kies. Von hier führte der Weg zum Cavaliershaus und dann weiter zur Meierei, wo die Büffelochsen grasten, dann wieder zurück, zwischen Lärchen und Tannen hindurch, zur Grube mit dem Bären und zur Voliere. Marie sah zu dem großen Vogelbauer hinüber, in dem die Raubvögel gehalten wurden, Adler, Falken, Uhus und Eulen.

»Die Voliere mußt du noch sehen«, sagte sie und rutschte von der Bank hinunter. Gustav folgte ihr schweigend einen Sandweg in den Wald hinein.

Das runde Vogelhaus, ringsum mit einem Drahtnetz umgeben, das es wie ein Zeltdach auch überspannte, war radial in Käfige eingeteilt, die Kuchenstücken glichen und in denen türkische und spanische Hühner, amerikanische Rebhühner, Löffelreiher und weiße Pfauen gehalten wurden. Langsam schlenderten sie um diesen Circus herum, und Marie merkte, wie Gustav sich in der Gegenwart der Vögel beruhigte. Vor allem die weißen Pfauen hatten es ihm angetan. Erfolglos versuchte er, sie ans Gitter zu locken.

»Von hier aus gibt es zwei Wege«, erläuterte sie, nachdem sie ihm eine Weile zugesehen hatte. »Der eine führt zu den Wasservögeln, der andere zuerst nach dem Zebou, dem indischen Stier und zu den Moufflons.«

Gustav zuckte nur mit den Achseln, sie schlugen den Weg nach links ein, und er schlenderte wieder schweigend neben ihr her. Marie verstand nicht, was jetzt anders war als früher, aber alle Beklemmung war verschwunden, ihre Wahrnehmung öffnete sich, und sie roch den Waldboden, dunkel und feucht, und hörte hoch über sich den Winterwind in den Wipfeln der Bäume. Und sie spürte ganz deutlich, daß es ihm ebenso erging, blieb stehen und lächelte ihn an, besänftigend oder freundlich oder vielleicht sogar liebevoll, jedenfalls mit all der Zuneinung, die sie für ihn hatte, und sah, wie er blinzelte, und dann lächelte er zurück. Der Duft der alten Eibenhecke, die hier nah am Weg stand, wehte zu ihnen herüber, und sie spürte, daß sie glücklich war.

»Du warst lange weg.«

Er nickte und grinste. Wie er dastand. All die Jahre. Eben noch hatte das etwas bedeutet. War ihre Liebe doch dabei zu so etwas wie einem Klumpen Ambra geworden, ausgespien von der süßen Wärme des Lebens und ausgehärtet im kalten Salz der Ozeane. Jetzt aber schmolz etwas in ihr.

Es kam Marie so vor, als mästete man die Insel selbst. Und Gustav tat nach Kräften dabei mit. Ja, mehr als das: Indem er sich sofort nach seiner Rückkehr in die Arbeit stürzte und dabei mehr und mehr die Lücke ausfüllte, die Lennés Abwesenheit gelassen hatte, spürten alle, daß das, was auf der Insel geschah, ganz nach seinem Sinn war. Wobei es eine ganze Weile dauerte, bis Marie begriff, worauf dies alles hinauslief. Wie die Tiere in ihren Käfigen hatte man begonnen, auch die Pflanzen zu versorgen, als wären sie ebenso fremdartig. Manchmal stellte Marie sich vor, wie es sich wohl anhören würde, wenn sie wie die Tiere zu brüllen vermöchten. Doch so, wie man diese Schreie, sollte es sie denn geben, nicht hörte, blieben auch all die Neuerungen den Blicken verborgen. So war der Candélabre auf der Kuppe im Wald eben nicht vor allem schön, sondern das Herz der Versorgung der ganzen Insel mit Wasser. Leitungen aus zusammengesteckten Tonrohren, die Jahrzehnte später durch eiserne Leitungen ersetzt werden würden, übernahmen die Bewässerung und führten zum Rosengarten und zum Affenhaus, zum Weinberg und zum Lamahaus und von da zum Obstgarten, zum Cavaliershaus, zum Schloß und als offener Bach zum Wasservogelteich, denn vor allem die Rosen gierten im märkischen Sand nach Wasser und soffen es, als stünden sie in einer Wüste und nicht auf einer Insel. So wenig wie die Tiere überlebten die Neuankömmlinge unter den Pflanzen ohne diese künstliche Versorgung.

Und dieses ausgeklügelte Bewässerungssystem, das erst die Dampfmaschine mit dem Takt ihrer eisernen Kolben über dem Feuer ermöglichte, führte zum Anbau einer Vielzahl von neuen Pflanzen, für die man wiederum eine Gewächshausanlage errichtete mit Abteilungen für unterschiedliche Temperaturbedürfnisse, auch ein kombiniertes Kirsch- und Blumenhaus, dazu eine Gärtnerei mit Anzuchttreibhäusern, in denen aus den verschiedensten Samen jene Pflanzen gezogen wurden, die dann in das normale Treibhaus und von dort in die unbeheizten Frühbeetkästen im Garten umgesetzt wurden. Treibhaus, Gewächshaus, Konservierhaus: All diese Glashüllen waren Prothesen, derer die südliche Utopie unter dem märkischen Himmel bedurfte. Die Guanakos starben, weil ihre empfindlichen Füße die Kälte des preußischen Matsches nicht ertrugen. Aber hinter dem Glas der Gewächshäuser, das die Sonne einschloß und die Wärme der Öfen, wuchsen Pflanzen, die keinen Ort und keine Zeit mehr kannten, sondern von den Gärtnern in Kübeln heraus- und hereingekarrt wurden, und die so blühten und Frucht brachten, wie Ferdinand Fintelmann und sein Neffe es wollten, Birnen im März, Trauben zu Weihnachten, indem man die Winterruhe durch Wärme verhinderte, in verschiedenen Treibhäusern verschiedene Stadien der Reife hervorbringend, und sogar, wie in den Tropen, Blüte und Frucht an derselben Pflanze zur selben Zeit.

Marie bewunderte zwar, wie die Gärtner dies machten, doch es gelang ihr nicht, im Austreiben mit seinem künstlichen Beschleunigen und Verzögern etwas anderes als einen frevelhaften Eingriff in den natürlichen Zyklus der Jahreszeiten zu sehen, und stets bedrückte sie all diese künstliche Schönheit, wenn sie hier mit Gustav im Treibhaus war, um ihm beim Eintopfen der Sämlinge zur Hand zu gehen. Schien es ihr doch, als ob ihre eigene Mißbildung sich in diesem Rahmen ins Groteske vergrößerte. Und so zuckte sie, als jetzt die Treibhaustür mit einem Scheppern zugezogen wurde, vor Schreck zusammen, als hätte man sie bei etwas Verbotenem ertappt.

Der Kronprinz nahm die Uniformmütze vom Kopf und schlug mit einem Stöhnen sofort das schwere Wollcape auseinander. Die feuchte Hitze trieb ihm im selben Moment den Schweiß am ganzen Leib hervor, und die Uniform, durch die eben noch der kalte Januarwind gefahren war, als wäre sie dünn wie Seide, lastete nun schwer auf ihm und machte das Atmen zusätzlich über alle Gebühr mühsam. Schnell warf er das Cape ab und knöpfte den Uniformrock auf, während er zu den Fenstern hinaufsah, auf denen der Schnee, kaum war er darauf gefallen, schon wieder schmolz und als Wasser herabrann.

Weißgestrichene gußeiserne Säulen, um die sich Efeu rankte, trugen den Raum. Sie standen in der nackten Erde, über die Steinplatten schmale Pfade legten, begleitet von den Gräben der Heizung, durch die unablässig das Wasser floß, von dem die warme Feuchte aufstieg. Gußplatten bedeckten diese gluckernden Gräben partienweise. Unter dem Fenster breite Tische mit Schütten voll Blumenerde, in denen kleine Gärtnerschaufeln und Rechen steckten, Stapel von Blumentöpfen daneben, an der hohen Rückwand des schmalen, langen Gebäudes, das im Anzuchtgarten gen Süden und zum Festland herübersah, ein tiefes Becken, in das aus einem kupfernen, grünspanbesetzten Hahn das Wasser in schmalem Strahl floß. Das ganze Becken von Wasserlinsen grün. Marie wußte, daß Goldfische darunter lebten, manchmal konnte man ihre leuchtenden Rücken sehen. Tauchte der Gärtner die Blumentöpfe ins Wasser, wichen sie ins Dunkel hinab. Mitten in dem hohen Raum, in riesigen Kübeln, standen drei Pfirsichbäume. Zwei in Blüte. Einer trug Früchte.

Gustav ging hinüber, pflückte einen Pfirsich, hielt ihn kurz unter das fließende Wasser und reichte ihn dann dem Kronprinzen, der hineinbiß, daß der Saft ihm vom Kinn tropfte und er sich schnell vorbeugen mußte, um seine Uniform nicht zu beschmutzen.

»Who has not heard of the Vale of Cashmere«, rezitierte er dabei, »with its roses the brightest that earth ever gave, its temples, and grottos, and fountaines as clear as the love-lighted eyes that hang over their wave.« Er spuckte den Kern aus, ging zu dem Wasserhahn und wusch sich Mund und Hände. »Weiß du noch, Gustav?«

Gustav nickte. Er erinnerte sich genau, weil er gerade erst seinen Militärdienst in Berlin angetreten hatte, als ihn der Kronprinz damals überraschend ins Schloß lud, wo man zu Ehren des in der Stadt weilenden russischen Großfürsten und seiner Frau, der Schwester des Kronprinzen, die Romanze Lalla Rookh aufführte, zu der Hofkapellmeister Gasparo Spontini die Musik komponiert und Schinkel die Prospekte gemalt hatte. Indische Paläste vor der Folie kraftstrotzender Urwälder voller Palmen und exotischer Blumen.

»In der Lüneburger Zeitung hat man letzthin ein komplettes indisches Tempelchen zum Verkauf angeboten, verpackt in zweiundzwanzig Kisten von indischem Teakholz. Der Makler, bei dem es sich in Hamburg befindet, berichtet, ein Engländer habe es in Bengalen abbrechen und verschiffen, doch die hohen Entrée-Gebühren für Kunstsachen hätten ihn seinen Plan wieder aufgeben lassen. Ich habe die Pagode nach Zustimmung meines Vaters incognito um anderthalbtausend Taler Hamburger Courant für die Pfaueninsel ersteigert.«

Als der Kronprinz hereingekommen war, hatte Marie darauf gewartet, daß er sie begrüße. Zwar war er in den letzten Jahren kaum mehr auf der Insel gewesen, aber Marie war sich sicher, daß er sich an ihre Kinderzeit erinnerte, in der sie im Sommer oft zusammen gespielt hatten, und vor allem, wie sie einander einmal, da waren sie schon keine Kinder mehr gewesen, im Otaheitischen Cabinett gegenseitig überrascht hatten. Nun, mit Mitte dreißig, hatte er nur noch wenig von dem jungen Mann, der er damals gewesen war. Doch er beachtete sie nicht. Die beiden Männer schwitzten in der Treibhauswärme. Ihr machte die Hitze nichts aus. Sie kam sich vor, als wäre sie selbst eine exotische Frucht. Doch trotz des dünnen Kleides mit dem freizügigen Dekolleté, das sie hier im Treibhaus zu tragen pflegte, lag ein Schweißfilm auch auf ihrer Haut.

»Gustav?«

»Ja, Marie?«

Über die großen, feucht glänzenden und gänzlich schwarzen Augäpfel des Kapuzineräffchens zogen tiefe, den kommenden Winter schon ankündigende Herbstwolken hinweg. Es war eines der Äffchen, die der Legationsrat von Olfers dem König aus Rio de Janeiro geschickt hatte, gefangen in den Regenwäldern Niederländisch-Guayanas, eingeschifft in Paramaribo. Mit seinen langen Fingern klammerte es sich ans Drahtgitter, ohne einen Blick für die anderen Affen im Käfig, und sein nacktes Gesicht, von dem hellen feinen Fell wie von der Kapuze eines sehr ordentlich gekämmten Pelzmantels umgeben, schnitt eine unruhige Grimasse nach der andern, die allesamt etwas Kummervolles hatten, und dabei zwitscherte es manchmal wehklagend sanft wie eine Zikade, dann wieder bellte es wie ein erzürntes Hündchen und schlang sich dazu den buschigen Schwanz um den Hals.

Das Äffchen konnte die Gesellschaft nicht sehen, die in diesem Moment von der Anlegestelle in Richtung Meierei schlenderte, aber das Reden, auch die Schritte auf dem Kies, das Klappern der Kutsche für die Damen hörte es sehr wohl, und sein Jammern wurde leiser, als lauschte es darauf, ob nicht doch noch einer zu ihm komme. Aber bald war wieder alles still, und es griff nach den Nüssen, die verstreut auf dem Boden lagen, und einmal nach einer Spinne, die vorüberhuschen wollte und die es mit einer schnellen Bewegung seiner langen Finger fing und verschlang.

Der seinerzeit von Schinkel gezeichnete Porticus des Mausoleums für Königin Luise, den man nach einem lange gehegten Plan nun endlich aus dem Park des Charlottenburger Schlosses auf die Insel geschafft hatte, war ja nicht neu, und für seine Einweihung an diesem Herbsttag 1829 daher nur eine informelle kleine Zeremonie vorgesehen. Man wartete unter den vier Säulen aus rotem Sandstein, die an die hessische Heimat Luises erinnerten, während der König den kleinen Raum zuerst allein mit der Fürstin Liegnitz abschritt. Wenig mehr gab es dort zu sehen als, hoch oben, eine Büste der Königin von der Hand Rauchs. Davor, am Boden, hatte Fintelmann in dem kahlen Raum aufgeboten, was die Insel so spät im Jahr noch an Blumen zu bieten hatte.

Es war Marie äußerst unangenehm, die Fürstin wiederzusehen. Am Arm des Königs lächelte sie gerade auf ein Wort hin, das er zu ihr sagte. Marie wendete sich ab, schaute sich um, wo Gustav war, und entdeckte ihn an der Seite des Onkels bei einem alten weißhaarigen Mann, der ihm auffallend glich. Sie lächelte ihm zu, und er nickte zurück, doch im selben Moment trat der Kronprinz zu ihm, und sie mußte wieder daran denken, wie er sie neulich im Gewächshaus nicht gegrüßt hatte, und das versetzte ihr einen Stich.

Seine Frau, Prinzessin Ludovika von Bayern, sah Marie heute zum ersten Mal. Nach allem, was man hörte, war die Ehe ausnehmend glücklich, Anlaß vieler Gerüchte jedoch, daß das Paar kinderlos blieb. Es hieß, Hufeland habe bei dem Kronprinzen Impotenz diagnostiziert. Auch seine beiden Brüder, Wilhelm und Carl, waren da. Carl, noch in seinen Zwanzigern und schon Generalmajor, hatte es von Glienicke herüber, das er gerade umbauen ließ, nicht weit. Seine Schwester Charlotte dagegen war nun schon seit zwölf Jahren Zarin in Moskau. Auch Alexandrine, Erbgroßherzogin von Mecklenburg, war nicht in der Stadt und auch das Nesthäkchen Luise nicht, seit vier Jahren Prinzessin der Niederlande. Der schmächtige junge Mann in der Uniform des 1. Garde-Regiments, das war Prinz Albert, kaum zwanzig.

Als der König sich jetzt nach seinen Kindern umsah und sie heranwinkte, blieb die Fürstin Liegnitz zurück und schloß sich statt dessen sofort zwei Künstlern an, die am Rande der kleinen Gesellschaft standen und die Marie kannte, weil sie beide schon auf der Insel gemalt hatten. Leopold Bürde war Lehrer an der Tierarzneischule in Berlin, von ihm gab es ein Bild des Elchs, der so bald gestorben war, Christian Leopold Müller interessierte sich vor allem für die Lamas und Känguruhs, von denen er unzählige Skizzen angefertigt hatte. Daß man Könige portraitierte, verstand Marie, aber Elche und Känguruhs? Früher hätte man wohl sie gemalt und den Riesen, überlegte sie, und hörte überrascht zu, worüber Müller, ganz im Gestus des Professors der Akademie, der er war, dozierte.

»Es gibt Vögel«, sagte er gerade, »die einen Penis besitzen oder ein aufrichtbares und zurückziehbares Zäpfchen, das seine Funktionen übernimmt. Der Strauß, der Kasuar, die Ente, der Schwan, die Gans, die Trappe, der Uandu.«

»Ach ja?« fragte die Fürstin.

Marie sah, daß es ihr nicht gelingen wollte, ein triumphierendes Lächeln darüber zurückzuhalten, gerade jetzt ein solches Gespräch zu führen. Müller indes war gänzlich unempfindlich für die Unschicklichkeit des Themas.

»Wobei der Penis des Straußenmännchens eine wirkliche Rute mit einer Länge von fünf bis sechs Zoll ist, versehen mit einer ausgehöhlten Furche, durch die der Samensaft fließt. Er hat die Gestalt einer Zunge und vergrößert sich während der Erektion ganz kolossal.«

Die Fürstin zog nickend Luft zwischen die Zähne. Und entdeckte in diesem Moment Marie. Ihre Augen glitzerten erregt, als sie sie ansah.

»Das erklärt auch die Mythe der Leda«, ergänzte Leopold Bürde die Ausführungen des Kollegen.

Marie spürte, wie sie errötete. Die Fürstin, die den Blick nicht von ihr ließ, schien zu überlegen, ob sie die Zwergin kannte, die ihr tatsächlich schon mehrmals begegnet war, um dann zu entscheiden, daß keine Gefahr von ihr ausgehe. Weshalb auch immer ihre Mißbildung dieses Vertrauen bewirkte, Marie kannte diese Reaktion durchaus. Sie durfte nur, wie sie wußte, keine Miene verziehen, um als unsichtbar durchzugehen. Ob sie beide, fragte die Fürstin die Maler mit verschwörerischem Blick, denn auch vertraut seien mit dem wundervoll komplizierten Sexualapparat der hermaphroditischen Mollusken. Bürde schüttelte den Kopf.

»Heuschrecken«, erzählte Müller statt dessen, »bedienen sich eines Spermatophors. Ich habe einmal beobachtet, wie das Weibchen das Männchen niederzwang und spielerisch in den Bauch biß. Das Männchen riß sich los und floh, ein neuer Angriff bändigte es, und diesmal hielt es das Weibchen, auf seine langen Stelzenbeine aufgepflanzt, Bauch an Bauch fest, die Enden der beiden Hinterleiber drehten sich einander zu, und plötzlich quoll aus den zuckenden Flanken des Männchens ein ungeheures Ding hervor, als stieße das Tier seine ganzen Eingeweide aus. Diesen Schlauch, diesen Samenträger, trug das Weibchen, am Bauch festgeklebt, mit sich fort, während das Männchen sich nur langsam von dem Blitzstrahl erholte, der es zu Boden schlug.«

»Erholt es sich denn wirklich«, wollte die Fürstin wissen, »oder stirbt es nicht vielmehr daran?«

»Ja, Ihre Majestät haben wohl recht. Das Männchen stirbt.«

»Und der Löwe? Wie ist die Liebe beim König der Tiere?«

Sie fragte das nun so laut, daß man von der anderen Gruppe der Wartenden, die vom Hofmarschall und dem Leibarzt gebildet wurde, bei denen Gustav und Ferdinand Fintelmann standen, überrascht herübersah. Der Freiherr von Maltzahn, Herr auf Duchow, Herzberg und Lenchow, preußischer Geheimer Rat und Intendant der königlichen Schlösser und Gärten, beobachtete skeptisch jede Regung der Königin, während der alte, nun schon fast siebzigjährige Wilhelm Hufeland, trotz seines Alters noch immer an der Charité tätig, ins Gespräch mit dem Hofgärtner versunken war, den seit Wochen ein hartnäckiger Katarrh plagte, über den er mit Hufeland schnell ins Plaudern und dann von einem aufs andere gekommen war.

»Aus der Uckermark«, erzählte der alte Hofgärtner gerade, »kam letzthin ein Ziegenbock, der Zitzen gleich gewöhnlichen Ziegen hat, und aus denen auch mit Leichtigkeit Milch gemolken werden kann.«

Dabei sah er, ohne Hufeland wirklich zu beachten, zum König und seinen Kindern hinüber, und dieser Anblick, zumal vor der Büste Luises, rief Erinnerungen wach an den Krieg. Wie Hardenberg damals auf die junge Königin eingeredet hatte. Wie schließlich, als es schon beinahe zu spät war, alles gewagt wurde. Und alles gewonnen. Und dann war sie tot, und im Schwung der Entwicklung übersah man, daß der Motor, der diesen Schwung gegeben hatte, schon nicht mehr da war. Der Kongreß in Wien war es zweifellos gewesen, der die Weichen falsch gestellt hatte. Das Unglück, das darin bestand, daß Hardenberg und Stein sich damals in den preußischen und russischen Delegationen gegenüberstanden. Da, dachte Fintelmann, wurde alles gepfropft.

Und heute? Der Friede, den man damals gewann, wurde brüchig. Die Griechen kämpften um ihre Unabhängigkeit von der Hohen Pforte. Unter den Polen, hörte man allenthalben, rumorte es ebenso wie in Frankreich, wo der Graf de Polignac das Volk gegen sich aufbrachte. Und auch in Berlin sangen die Studenten die falschen Lieder, dachte Ferdinand Fintelmann resigniert, während auch der alte Hufeland eigenen Gedanken nachhing, die von der Büste Luises ihren Ausgang nahmen. Vor allem an die Flucht des Hofes vor den napoleonischen Truppen 1806 mußte er in diesem Moment denken, hatte er damals doch Luise als Leibarzt begleitet und oft bei ihr in der Kutsche gesessen. Wie ihr Blick über das flache Land ging, als suchte sie etwas darin, was ihre Fahrt aufzuhalten vermochte. Doch nur immer weiter zog der Troß die preußischen Alleen entlang, bis ganz nach Königsberg.

»Fintelmann?«

Der Onkel schreckte aus seinen Gedanken auf. »Ja, Euer Majestät?«

Der König stand vor den beiden Alten, die Arme hinter dem Rücken verschränkt, und sah zur Fürstin Liegnitz hinüber, die sich noch immer, mit einem fröhlichen Lachen im Gesicht, mit Leopold Müller unterhielt, einem jungen Gecken im unpassenden Samtanzug und mit langem, dünnem Haar.

»Paris. Ein gewisser Fulchiron zu Passy bei Paris hat Staatsminister Altenstein seine Sammlung von zweiundvierzig Palmen für den hiesigen Botanischen Garten zum Kauf angeboten.«

»Ja?«

»Ja. Monsieur Fulchiron fehlen wohl Mittel zur notwendigen Vergrößerung seiner Gewächshäuser. Verlangt dreißigtausend Francs.«

»Das ist viel.«

»In der Tat. Doch drückt sich im alleinigen Grund des Verkaufs ja schon aus, daß es sich bei Individuen ganz außergewöhnlicher Größe handelt. Haben uns beschlossen, sie zu erwerben. Aber nicht für den Botanischen Garten.«

»Nein? Wo sonst sollen sie denn Aufstellung finden?«

»Hier. Hier auf der Pfaueninsel.«

»Oh, was für eine wunderbare Idee.«

»Werden sich hier auf der Insel mit all ihren Naturmerkwürdigkeiten gut ausnehmen. Haben dem Inspektor des Botanischen Gartens Ordre gegeben, die Sammlung zu kaufen, und den Hofbauinspektor Schadow angewiesen, Pläne zu schaffen für ein im nächsten Frühjahr zu errichtendes Palmenhaus.«

Der König musterte Gustav, der die ganze Zeit schweigend neben seinem Onkel gestanden hatte. Nach einem Moment des Überlegens huschte ein Lächeln über das Gesicht des Monarchen. »Wollen Sie den Garten-Director nicht nach Paris begleiten, junger Mann? Hörte, Sie kennen die Stadt ja mittlerweile.«

Gustav stotterte, heftig nickend, seine Zustimmung. Und auch den Kronprinzen, der in diesem Augenblick mit seinen Geschwistern herantrat, freute dieser Vorschlag. Eigentlich hatte er vorgehabt, dem Vater heute das indische Tempelchen zu zeigen, das längst schon per Schiff aus Hamburg angekommen war und das man zunächst provisorisch am Rand der Schloßwiese aufgebaut hatte. So war es auch mit dem Hofmarschall abgesprochen. Doch nun entschied er sich, für diesmal darauf zu verzichten, könnte es doch reizvoll sein, die orientalischen Tempelsteine in jenes Palmenhaus einzubauen, von dem der Vater gesprochen hatte. Wozu aber noch konkrete Planungen vonnöten sein würden.

Es war bereits Gras zwischen den Ritzen der Marmorplatten gewachsen, und die Blätter der Eichen fielen auf die Steine, in den gemeißelten Kuhlen der Ornamente sammelte sich das Regenwasser, Vögel nutzten es zum Baden, und Schnecken krochen darüber hin, Igel häufelten in den Spalten ihr Winterquartier auf, und niemand störte an diesem Tag ihre Ruhe. Die Gesellschaft kehrte, ohne all dies zu beachten, direkt zur Anlegestelle zurück, das heißt, die Damen stiegen in die Kutsche, und alle anderen gingen zu Fuß, wobei man sich beeilte, denn es wurde Abend, und man war zu dünn für den Herbst angezogen, der jetzt mit aller Macht das Laub von den Bäumen fegte. Selbstverständlich hatte Marie keinen Platz in der Kutsche. Niemandem fiel auf, daß sie sich auf dem Rückweg irgendwann von der Gesellschaft absetzte, während umgekehrt das Äffchen Marie erst bemerkte, als sie plötzlich neben dem kleinen Wesen stand, dem die Wolken noch immer über die Augäpfel zogen.

Nicht lange nach Schlemihls letztem Besuch hatte mit einer Lieferung der Kunst- und Handelsgärtnerei des Peter Bouché, bei dem der Onkel vor allem Blumenzwiebeln bestellte, eine Kiste die Insel erreicht, die an Marie adressiert war und mehrere Dutzend kubanischer Cigarren jener Sorte enthielt, die er ihr damals gegeben hatte. Dazu, nebst einem Briefchen Schlemihls, einen winzigen Cigarrenbohrer aus Sterlingsilber, ein Döschen mit Schwefelsäure und Hölzchen, die an einer Seite mit einer Masse aus Kaliumchlorat, Schwefel, Zucker und Gummi Arabicum bestrichen waren. Wenn man den Deckel des kleinen Porzellanzylinders abnahm und ein Hölzchen hineintunkte, wurde es wie von Geisterhand mit einem irrlichternden Feuer entzündet. Hielt man das Holz zu lange in die Säure, konnte es passieren, daß die ätzende Flüssigkeit einem ins Gesicht spritzte, wovon Marie eine Narbe, ein kleines Mal auf der Wange, davongetragen hatte. Vorsichtig zündete sie eine der Cigarren an.

Eine Weile rauchte sie dann und betrachtete das Äffchen dabei, das sich neugierig vor ihr ans Drahtgitter des Käfigs klammerte, als wartete es auf etwas. Irgendwann pustete Marie mit gespitzten Lippen eine Wolke Cigarrenrauch zu ihm hin. Das Äffchen, davon offenbar weder überrascht noch belästigt, schloß mit wollüstigem Grunzen die Augen. Der Speichel lief ihm aus dem Maul. Und noch einmal hüllte Marie das Tier in den Rauch, als wollte sie ihm eine Seele einhauchen, und das Äffchen hielt schnuppernd und hechelnd still, bis ihm Marie mit einem lockenden Schnalzen der Zunge schließlich die beinahe aufgerauchte Cigarre an den Draht hielt, es sich den Stummel griff und gierig nun seinerseits den Rauch inhalierte, während Marie schon davonging.

»Warum ist die Natur notwendig unvollkommen in ihrer Schönheit?«

»Was?«

»Hegel fragt das. Für ihn gibt es in der Natur keine perfekte Schönheit.«

Gustav ließ sich ins hohe Gras fallen und blinzelte zu ihr herauf. Der Himmel hinter ihr war hypnotische, saugende Bläue. »Das Tier etwa …«

»Ich bin kein Tier«, unterbrach sie ihn und blieb lächelnd vor ihm stehen.

»Das Tier etwa erhält für Hegel sein Fürsichsein nur gegen eine ihm unorganische Natur, welche es verzehrt, verdaut, sich assimiliert, das Äußere in Inneres verwandelt und dadurch erst sein Insichsein wirklich macht.«

»Insichsein.«

»Ja, aber dieses Insichsein des Tiers, sein Sichempfinden, seine Beseeltheit ist nicht das des Menschen. Das Tier besteht nur in einem Leben der Begierde, all seine Glieder dienen nur als Mittel für den einen Zweck der Selbsterhaltung, sie sind an das Leben, das Leben ist an sie gebunden. Wir sehen, wenn wir Tiere anschauen, kein Subjekt, sondern nur die äußeren Umrisse einer Gestalt, durchweg mit Federn, Schuppen, Haaren, Pelz, Stacheln, Schalen überzogen. Und dergleichen Bedeckung, heißt es bei Hegel, gehört zwar dem Animalischen an, doch sie hat die Form des Vegetabilischen.«

»Dein Philosoph meint, Pelz und Stacheln glichen den Blättern?«

»Ja.«

»Was für ein schöner Gedanke!«

»Aber für Hegel liegt darin ein Hauptmanko der tierischen Schönheit. Denn was wir vom Tier sehen, ist niemals seine Seele. Was sich nach außen kehrt und allenthalben erscheint, ist niemals das innere Leben. Es sind Formationen einer niedrigeren Stufe, die nicht von der Seele durchdrungen werden.«

»Und der Mensch?« fragte Marie und legte sich endlich zu ihm. Müde bettete sie ihren Kopf in das kühle, zirpende Gras.

Sofort rollte er herum und wandte sich ihr zu. Ihr Köpfe lagen jetzt ganz dicht beieinander, intim geborgen im hohen Grün, das sie ganz umgab. Kein Geräusch von außen drang hier herab, sie ruhten gestrandet auf der Oberfläche der Insektenwelt, und um sie her krabbelte und knackte es und schabte und raschelte. Gustav lächelte sie an. Und plötzlich streichelte er ihr über die Schläfe. Ihr Herz schlug bis zum Hals, und sie schloß vor Aufregung die Augen. Was war nur geschehen, daß er so zu ihr war? Sie wußte es nicht und wollte nicht daran rühren.

»Und der Mensch?« flüsterte sie wieder.

»Der Mensch?«

»Ja.«

»Der Mensch steht auf einer höheren Stufe. Seine Haut ist nicht mit pflanzenhaft unlebendigen Hüllen verdeckt, das Pulsieren des Blutes scheint an der ganzen Oberfläche, das klopfende Herz der Lebendigkeit ist gleichsam allgegenwärtig. Aber wie sehr nun auch der menschliche Körper im Unterschied zum tierischen seine Lebendigkeit nach außen hin erscheinen läßt, so drückt sich an dieser Oberfläche doch ebensosehr die Bedürftigkeit der Natur aus, in den Einschnitten, Runzeln, Poren, Härchen, Äderchen des menschlichen Körpers.«

»Siehst du denn, wie mein Herz pocht?«

Marie hatte die Augen noch immer geschlossen. Sie spürte, daß Gustavs Hand einen Moment aufhörte, sie zu streicheln.

»Der ungeheure Vorzug, welcher der Erscheinung des menschlichen Körpers nach Hegel zukommt, besteht in der Empfindlichkeit.«

Marie nickte mit geschlossenen Augen. Und dann küßte Gustav sie. Erst küßte er sie sanft auf die Lippen, dann fordernder, leidenschaftlicher. Schüchtern faßte ihre kleine Hand in seinen Nacken. Ihr Kuß wollte nicht enden. Sie atmeten ineinander. Irgendwann sank sein Kopf neben ihr ins Gras. Noch immer öffnete sie die Augen nicht. Sie spürte tatsächlich, wie sein Puls gegen ihre Schläfe pochte.

»Verzeihst du mir?« fragte er leise.

Marie nickte wieder. Sie nickte so ernst wie ein ernstes Kind und barg stumm sein Gesicht in ihrer Achsel. Für all die Jahre, für all die sinnlosen Jahre, für all die Jahre verzeih’ ich dir.

Lange lagen sie so da im hohen Gras und Marie atmete den Geruch der Erde ihrer Insel. Und lange mußte sie der Empfindung in sich nachspüren, bis sie begriff, was sich anders anfühlte als sonst, doch dann verstand sie: Sie schämte sich nicht. Sie spürte, daß sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben nicht für sich schämte. Die Insel war tatsächlich das Paradies. Marie war glücklich, glücklicher selbst, als sie es jemals in ihrer Kindheit gewesen war, und im selben Moment traurig darüber, daß es so viele Jahre gebraucht hatte, bis sie das empfinden durfte. Das Paradies ist hier, dachte sie und verstand, was die Menschen auf der Insel immer suchten. Sie öffnete die Augen und sah zu, wie über ihnen, völlig lautlos und ganz im Zenit des unendlich blauen Himmels, ein Fischadler seine Kreise zog.

»Und die Pflanzen? Was sagt dein Philosoph über die Pflanzen?«

Gustav setzte sich mit einem Ruck auf und musterte sie, plötzlich ernst. »Pflanzen? Nichts bedeuten sie ihm. Der Pflanze, meint Hegel, gehe Selbstgefühl und die Seelenhaftigkeit völlig ab, indem sie nur immer neue Individuen an sich selbst produziere. Die Pflanze nimmt nichts auf und empfindet nicht.«

»Und?«

Irgend etwas, spürte Marie, stimmte nicht. Eigentlich wußte sie gar nicht, weshalb sie ihn das gefragt hatte. Wegen der alten Zeiten vielleicht und weil sie an die blaugefärbten Hortensien hatte denken müssen. Wünschte, sie hätte es nicht getan. Doch nun war es zu spät. Jetzt lächelte er. Aber ein Lächeln war das, so somnambul, als hätte es ihren Kuß gerade eben nicht gegeben. Als gäbe es sie überhaupt nicht. Ihr war unheimlich, wie er sie ansah.

»Pflanzen«, sagte er und sah mit diesem kalten Lächeln geradewegs durch sie hindurch, »Pflanzen begehren nicht. Und sie fügen keinem ein Leid zu.«

Am 3. Juli 1830 hatte man, nachdem der Kauf der Fulchironschen Sammlung in Paris abgewickelt war, alles verpackt und brach mit einem eigens dafür gemieteten Dampfboot nach Le Havre auf, eine Fahrt, die sechs Tage in Anspruch nahm. In Le Havre wartete die Mentor der Preußischen Seehandlung unter Kapitän Schulz, es wurde umgeladen, und am 23. Juli stach man in See, wobei Gustav die Palmen an Bord des Schiffes begleitete, während der Inspektor des Berliner Botanischen Gartens, Friedrich Otto, zusammen mit den Herren Gropius und Beckmann zu Lande nach Berlin zurückreiste. Am 6. August kam die Mentor in Stettin an, wo die Fracht auf zwei Oderkähne verteilt wurde, was mehrere Tage in Anspruch nahm. Am 20. August schließlich waren die beiden Kähne an der Schleuse Spandau, ankerten dann über Nacht in Potsdam, und erreichten nach einer Reise von siebenunddreißig Tagen die Pfaueninsel.

Es war ganz früh am Morgen, ein noch kühler Sommertag, dessen Dunst sich gerade erst hob. Die Havel floß sehr still und ruhig. Marie saß wie jeden Tag, seit man die Rückkunft Gustavs erwartete, am Ufer in der Nähe des Schlosses und las. Zuerst waren es nur Schemen, deren Zahl nicht zu bestimmen war, die sich aus der fernen Uferlinie lösten wie dunkle Tropfen, ihre Konturen noch ganz umzittert von der feuchten Morgenluft.

Marie ließ das Buch sinken und schloß die Augen. Als sie wieder hochschaute, waren die dunklen Umrisse größer geworden, und sie sah, daß es zwei waren und daß sie näherkamen. Zwei Kähne, langsam und schwer und tief im Wasser, und dann sah Marie die großen wippenden Palmen darauf. Schon glaubte sie Gustav zu erkennen, winkend am Bug des einen Schiffes. Und wenn jemand sie jemals später danach gefragt hätte, immer hätte sie geantwortet, daß in diesem Moment das Unglück ihres Lebens auf die Insel kam. Ihr Unglück war auf jenen beiden Kähnen, deren Ankunft sie doch entgegengefiebert hatte, weil sie sich ganz sicher gewesen war, es sei ihr Glück darauf. Und so, voller Vorfreude, Gustav wiederzusehen, lief sie schnell zur Baustelle, um dem Onkel seine Ankunft zu melden.

Ferdinand Fintelmann stand hoch oben auf der Balustrade, von der man den Rohbau des Palmenhauses bequem übersehen konnte, mit dessen Verglasung morgen begonnen werden sollte. Seit Jahresbeginn wurde gebaut, und alles würde fertig sein, bevor der Winter den Pflanzen schaden konnte. Dem alten Hofgärtner hatte es den Atem verschlagen, als er erfuhr, mit welcher Summe der König seinen Neffen ausgestattet hatte. Er sah hinab auf die gitterförmig durchbrochenen Marmorplatten des Tempelchens, die, ein Halbrund bildend, um einige Stufen erhöht, den Hintergrund des später einmal ganz im indischen Stil gehaltenen Gebäudes einnehmen würden. Hier war der richtige Ort für sie, inmitten all der exotischen und seltsamen Pflanzen, die sein Neffe heranschaffte, jahrhundertealt, selten blühend und empfindlich, aus trockenen Samen gezogen, mühsam und unter Gefahren aus Asien oder Afrika mitgebracht, als Keimlinge in kleinen Bottichen übers Meer gekommen, weitergereicht von einem zum anderen, ohne Erinnerung an die feuchte Schwüle, in der sie eigentlich heimisch waren und ohne die sie sterben mußten.

Welche Hybris, diese riesigen Palmen hier am Leben erhalten zu wollen wie stumme fremde Tiere: Die Latania borbonica, die, wie er wußte, das Hauptstück der Sammlung sein würde, aber auch die Strelitzia augusta und die seltene Astrapaea alba. Heizungen und Glasdächer waren dafür nötig, Torffeuer und Decken. Das hatte nichts mehr mit den Orangerien und Treibhäusern zu tun, die er kannte, in denen man zwar auch fremdartige Zitronen gewann und Granatäpfel, aber doch nur für den Genuß der Könige. Die Gier Lennés und seines Neffen war eine andere und ihm ganz fremd.

»Onkel!« rief Marie in diesem Moment von unten herauf und riß ihn aus seinen Gedanken.

»Was ist denn?«

»Sie kommen!«

Und dann begann schon der Trubel der Ankunft und das Entladen der unzähligen Blumenkübel mitsamt dem ganz irrealen Anblick der haushohen Palmen, die zitternd vom Steg auf die Insel schwebten unter dem Keuchen und Stöhnen der Matrosen und Gärtner. Und dann, nachdem man gegessen und getrunken und alles wieder und wieder gefragt und berichtet hatte und der Stolz, der den Onkel seit der Ankunft Gustavs nicht hatte zur Ruhe kommen lassen, letztlich doch erlahmt und die beiden Alten schließlich zu Bett gegangen waren, blieben Gustav und Marie allein am Eßtisch zurück.

Heute war der Tag. Gustav verteilte den letzten Schluck aus der Karaffe, sie tranken die Neige, dann stand er wortlos auf. Marie löschte die Lampen und folgte ihm. In der Diele wartete er und ließ ihr den Vortritt auf der Treppe. Vor seinem Zimmer war wiederum sie es, die stehenblieb und sich nach ihm umsah.

Er öffnete die Tür und sagte: »Bitte.«

Bis auf die flackernde Kerze am Bett, die er entzündete, war es dunkel im Raum. Vor dem offenen Fenster die Geräusche der Nacht. Die Rufe der Nachtvögel in der Voliere, vom dumpfen Brüllen des Löwen immer wieder zum Schweigen gebracht. Marie meinte zu hören, wie der Wind in die Palmwedel griff. Ihre Hände schienen ihm weich und klein wie nichts sonst. Als er etwas sagte, lachte sie leise mit nach hinten geworfenem Kopf, er sah im Halbdunkel ihre Lippen und erinnerte sich nun, daß sie schon immer so rissig gewesen waren, rissig und verlockend wie eine Frucht. Lachend leckte sie sich mit der Zunge weit in die Mundwinkel hinein.

Der Mensch, sagt man, ist ein geschlechtliches Wesen, weil er ein Geschlecht besitzt. Und wenn es umgekehrt wäre? Wenn wir ein Geschlecht nur besäßen, weil wir Wesen sind, die einzig in Verbindung mit anderen existieren können? Die Begierde wäre eine der Formen dieser Verbindung. Berührungen schneiden den anderen von seinen Möglichkeiten ab, Berührungen sind Aneignungen, sie lassen unter den Fingern das Fleisch des andern erst entstehen. Das ist es, was die Begierde ausmacht. Marie wußte das, seit der König sie angesehen, seit ihr Bruder sie berührt hatte. Und seit dem Moment, als sie Gustav an diesem Morgen am Bug des Kahns unter den wippenden Palmwedeln gesehen hatte, die ihn wie in einer starren Prozession heranführten als stumme, gesichtslose Begleiter, höher als das Segel und hoch wie der Himmel und von der Fremdheit einer Fata Morgana, wußte sie auch, daß er sie nun würde lieben können, wie sie war. Die Insel und sie, das wußte sie, waren eins. Ganz so, wie er auf die Insel zurückkehrte, kehrte er auch zurück zu ihr.

Und tatsächlich hatte Gustav sich auf seiner Reise immer wieder ausgemalt, wie sie jetzt endlich zueinanderfinden würden. Hatte sich plötzlich stark genug gefühlt für das Fremde, das Marie immer gewesen war, und sich so sehr nach ihrer beider Kindheit gesehnt, daß, wenn jene Nähe wieder zu spüren bedeutete, sie zu lieben, er sie lieben wollte. Es war eine Hoffung und eine Wette zugleich, und er spürte jetzt, während er sie küßte und umarmte, daß sie zwar noch immer ein Kretin, eine Mißgeburt, ein unkorrigierbarer Fehlgriff der Natur war, diese Begriffe aber, wie ersehnt, allen Sinn verloren hatten. Es hatte Frauen gegeben, in Berlin eine schüchterne Liebe, und dann, während der drei Jahre seiner Reise durch Europa, Gelegenheiten beiderlei Geschlechts, doch nie hatte er dabei etwas Besonderes empfunden. Niemals das, was er jetzt empfand, das Glück, jene Barriere endlich niederzureißen, die ihn seit jenem Regennachmittag in der Scheune ferngehalten hatte von Marie, und, wie er sicher zu wissen glaubte, von allen Frauen.

Alles so klein! flüsterte Gustav und bedeckte ihren Körper mit Küssen, triumphierend, daß er ihn, wenn er sie nicht ansah, begehrte. Doch immer wieder wich sie zurück und bot zugleich sich ihm dar, wie sie es gewohnt war vom König und ihrem Bruder. Er weiß, was ich bin. Das war es, was sie dachte. Legte sich lächelnd immer wieder unter seinen Blick, nackt und ohne ein Haar an ihrem Körper, und war sich sicher, daß ihm gefalle, wie glatt und weich sie war, wenn sie sich nur ganz ihm überließ. Alles, alles, nur kein Tier war sie. Kein Monster, dachte sie und lächelte ihn an. Was ihn, da es ihm so vorkam, als stoße sie ihn weg, dazu brachte, sich mit gierigen Küssen immer verzweifelter in ihren Mund zu stürzen. Doch immer, wenn er sie an sich zog und ihre Hände auf seinen Körper legte, wich sie sogleich zurück, immer verzweifelter bemühte er sich um sie, und sie lächelte, mißverstehend, selig darüber, und das ging lange hin und her, bis er sich schließlich auf sie legte und mit verbissenem Bemühen nahm.

Es ist notwendig, die Geschlechter nicht als Instrumente zu benutzen. Niemals könnten sie wendige, greiffähige Organe sein für das, was uns die Liebe ist. So, wie sie sich erregen und aufrichten, autonom, sind sie vegetatives Leben. Indem wir in unserer Begierde Fleisch werden, werden wir blind und stumm wie Pflanzen, und all unsere Berührungen haben nur den Zweck, den Körper des anderen mit Freiheit zu tränken. Und das ist das Glück. Alles andere ist der Tod der Begierde. Marie spürte das ungeheure Gewicht von Gustavs Körper, der sich über sie wölbte, und der Zauber erlosch. Bald schon sank er stöhnend und traurig neben ihr in die Kissen und rettete sich schnell in den Schlaf.

Einen Moment lang hatte sie geglaubt, jetzt sei alles richtig. Seine Zärtlichkeit hatte etwas Zitterndes gehabt, als befürchtete er, seine eigenen Empfindungen rissen ihn mit sich fort. Dann aber hatte sein Blick sich verändert, und sie hatte gespürt, daß er wollte, sie solle etwas tun, von dem sie aber nicht wußte, was es war. Und mit jeder Bewegung hatte sie sich unwohler gefühlt und schließlich, als es vorüber war, ihre eigene Traurigkeit in seinem Blick gesehen, ohne daß sie beide den Mut gehabt hätten, sich zu bekennen. Im Gegenteil. Ganz leise und ohne sie anzusehen hatte Gustav, bevor er eingeschlafen war, noch wissen wollen, ob es mit ihm anders sei als mit Christian. Eine Frage, die ihr die Tränen in die Augen trieb. Sie hatte heftig den Kopf geschüttelt, und das war alles gewesen.

Marie lag die ganze Nacht neben ihm wach und hörte den Tieren zu. Als aber das Morgenlicht hereinkroch und sie dabei zusah, wie er schlief, begriff sie es endlich: Gustav liebte sie, doch das war kein Glück. Nicht für sie beide. Niemals.

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