Elftes Kapitel. Wollen wir jetzt rauchen?

Marie hustete und erwachte von ihrem Husten in einen nebligen Frühlingsmorgen hinein, der so kalt war wie der Winter, der in jenem Jahr nicht enden wollte, und hustend endete darin ihr Traum. Erwachend sah sie noch die gelben Augen des Löwen und lag eine Weile still und teilnahmslos unter den Zuckungen, mit denen der Hustenreiz ihren kleinen Körper schüttelte. Ein Traum und zugleich kein Traum, dachte sie, und dann schlugen die Glocken von Nikolskoje, und mit dem letzten Schlag setzte sie sich mühsam auf und rutschte langsam vom Bett hinab auf den Boden, bemüht, einen Platz zwischen den Bücherstapeln zu finden, die ihr Bett umstanden. Obenauf lag ein abgegriffenes Exemplar der Geschichte des Schiffbruchs und der Gefangenschaft des Herrn von Brisson bei der Verwaltung der Colonien, das wohl noch von der Gräfin Lichtenau stammen mochte, und in dem sie seit langer Zeit las, ohne zu Ende zu kommen. Hell klirrte der Weinkelch auf der Kommode am Fenster gegen die leere Karaffe, deren Boden ein roter Strich umlief wie den Hals einer Selbstmörderin. Mühsam ging sie ans Fenster und sah hinaus.

Von Norden brandete dichter Nebel heran und zog aus den Büschen und Baumgruppen hervor und über die Wiese. Dort hatte damals die Kiste mit dem Löwen gestanden. Zwei golden blitzende Blättchen im Dunkel hinter den Brettern, in der Mitte der kalten Feuer kleine, noch dunklere Schlitze wie Mandeln. Marie erinnerte sich: Ganz gleichmäßig hatte es aus der Kiste geknurrt. Vorsichtig hatte sie eine Hand an das Holz gelegt. Aus den Bäumen schrien die Pfauen. Sie hatten Angst gehabt. Das Schreien wurde lauter, als die Augen des Löwen aus dem Dunkel auftauchten. Sie hatte die Hand nicht weggezogen, und der Atem des Löwen war heiß und naß darüber hingegangen.

Marie griff nach ihrem Stock, der immer neben der Tür lehnte, stützte sich schwer darauf, die Hände knotig und blau, und ging mit kleinen vorsichtigen Schritten langsam in den Saal hinüber und trat auch dort an eines der Fenster. Die Fensterbank drückte gegen ihre Schlüsselbeine, während sie hinausstarrte ins Weiß. Der Nebel so dicht, daß man das Wasser nicht sah und auch das andere Ufer nicht im weißen Dämmerlicht. Seit Tagen Nordostwind, der kalt über das Land fuhr und durch alle Ritzen des Schlosses und unter die Kleider. Dorther war das Dampfboot mit dem Löwen gekommen. Und auch jener andere Kahn, an den zu denken sie nun nicht mehr vermeiden konnte, und dann schien es ihr wirklich so, als sähe sie ihn im Nebel wieder herankommen, langsam und schwer, und fast so hoch wie der Mast die große Palme, die sich zitternd über das Wasser neigte. Das war vor fünfzig Jahren gewesen. Für einen Moment meinte sie Gustav zu erkennen im Nebel, wie er dastand am Bug und ihr zuwinkte. Sie schluckte und legte ihr Kinn auf das Fensterbrett und schloß die Augen.

Als sie sie wieder öffnete, war das Schiff verschwunden. Sie griff sich den Shawl vom Sessel, jenen Shawl aus den Haaren der Nepalziege, der einmal der Fürstin Liegnitz gehört hatte und aus welchen Gründen auch immer hier im Schloß zurückgeblieben war, raffte ihn eng um die Brust und ging wieder zurück in ihr Schlafcabinett, das früher einmal das des Königs gewesen war.

Mit Mühe zog sie die unterste Lade der Kommode auf, in der sich alles befand, was Marie zu ihrer persönlichen Habe zählte. Der Scherenschnitt lag zuoberst, sie nahm ihn heraus, betrachtete ihn einen Moment und erinnerte sich wieder an jenen Sommertag, als Schlemihl ihn auf der Schloßwiese von ihr geschnitten hatte, dann legte sie den Karton entschlossen wieder zurück und zog ein verschnürtes Paket aus grobem Nesselstoff hervor. Es enthielt jenes Kleid, das sie nach Christians Tod bei seinen Sachen gefunden hatte, Seidenpapier lag darauf und in seinen Falten, es raschelte und roch so plötzlich nach Veilchen, daß Marie ihre Nase hineindrückte. Sie schlug das Papier zurück, betrachtete den schweren Silberbrokat lange und sah, wie in den fadendünnen Ornamenten das Licht spielte, eine Hand auf dem vollkommenen Gewebe. Das kostbarste Kleid, das sie in ihrem Leben besessen hatte.

Als sie das Paket damals öffnete, hatte sie gleich gewußt, daß es in Christians Sinn eine Art Brautkleid war, das Brautkleid zu einer Hochzeit, die es nie gegeben hatte. Marie nahm es nun heraus, ohne daß sie den Grund anzugeben vermocht hätte, weshalb sie es gerade heute zum ersten Mal tragen würde. Unter großer Anstrengung trug sie es zum Bett hinüber. Nach dem Aufstehen schmerzte das Gehen am meisten, in der Hüfte stach es dann bei jedem Schritt, und sie wußte, wie grotesk ihr Gang inzwischen aussah. Sie war ebenso alt wie das Jahrhundert. Als hätte jemand es darauf angelegt, daß sie es mit ihrem Watscheln begleitete, dachte sie manchmal.

Wir sind unsterblich, hatte Christian immer gesagt und sie lächelnd in den Arm genommen, sie beide Teil eines Märchens. Und tatsächlich schien es ihr jetzt oft so, als wäre sie nur für eine ganz kurze Zeit in der Welt der andern Menschen gewesen, zusammen mit Gustav, der sie gleich wieder dorthin zurückgestoßen hatte, wohin sie wohl gehörte. Das ist unsere Insel, hatte Christian geflüstert. Sie verachtete ihren Körper für die Schmerzen, diesen so sinnlosen Protest gegen die Weise, wie der Schöpfer sie nun einmal hatte wachsen lassen. Alles so klein! hatte Gustav geflüstert.

Marie mußte lächeln, als sie daran dachte, und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Wasser aus dem Krug in die Schale zu gießen. Wusch sich mit dem eiskalten Naß erst das Gesicht und zog dann das Nachthemd über den Kopf, schlotternd vor Kälte. Schnell zog sie die Unterhose an, Unterhemd und Strümpfe, dann das Korsett, zog es fest, ganz fest, dann setzte sie sich hin und schnürte zunächst die Stiefeletten, damit ihre Füße auf dem kalten Parkett nicht mehr froren. Nun die Krinoline. Die Stahlstreifen zitterten wie nervöse Degen im Leinen, als sie hineinstieg. Und nun endlich das Kleid, hochgeschlossen und mit dreiviertellangen Ärmeln, es schimmerte der mattweiße Stoff im matten Nebellicht, als wäre er selbst aus Nebel gesponnen. Ihren gichtigen Fingern fiel es schwer, die kleinen Knöpfe zu fassen.

Dann kämmte sie ihr Haar, am Fenster und mit der Bürste, die immer dort lag. Schon lange nicht mehr schwarz, war es von einem schmutzigen Grau, dazu so dünn, daß es eng und durchscheinend ihrem eckigen Greisenschädel anlag. Sie scheitelte es, nahm es nach hinten und faßte es zu einem kleinen traurigen Knoten zusammen. Am Bett und an der Truhe sich haltend, trat sie vor den Ankleidespiegel, bei jedem Schritt knickte ihre Hüfte ein, und ihre rechte Hand schwebte in der Luft, als suchte sie Halt, die Finger wie in einem Krampf ineinander verdreht. Sie fürchtete sich vor ihrem Gesicht. Daß sie alt war, uralt, sagte der Spiegel, und beinahe nichts mehr sonst. Das Gesicht von Falten verwittert, der Mund eingefallen, die Augen tief in schattigen Höhlen, eines, fast erblindet, schimmerte milchigweiß. Eine winzige Hexe. Und sie mußte, wenn sie sich so sah, an die alte Oberhofmeisterin denken, die sie in ihrer Kindheit gekannt hatte, und wünschte sich, sie hätte eine Perücke, wie die Alte sie damals noch getragen hatte. Stäubte Puder auf ihre papierne Haut, damit die Adern ein wenig verschwanden, die man hindurchsah wie Wurzelgeflecht.

Dann ging Marie zur Kommode, öffnete das Kästchen, das dort neben der Weinkaraffe und dem Glas stand, und legte die lange Silberkette mit dem Kreuz über den niedrigen Stehkragen. Nahm auch die kleine Uhr herunter und befestigte sie am Kleid. Neben der Uhr lag das Rubinglas. Wie jeden Morgen betrachtete sie einen Moment lang das rote Licht darin, das selbst jetzt, an diesem nebligtrüben Tag, nicht ganz verloschen war.

Es hatte sich Besuch angemeldet, dem sie Schloß und Insel würde zeigen müssen. Das war seit langem ihre einzige Aufgabe als Schloßfräulein. Gustavs Nachfolger hatte sie sich für Marie ausgedacht. Eine Attraktion der Insel war sie nun, der nicht mehr viele Attraktionen geblieben waren. Unter der Bedingung, im Schloß wohnen bleiben zu dürfen, hatte Marie sich zu diesem Dienst bereit erklärt. Und blieb, wie sie es am meisten wünschte, die meisten Tage hier ganz allein. Sie nahm den Stock, stieg mit ganz kleinen Schritten die knarrende Treppe hinab, warf ihr Cape über die Schultern und trat hinaus. Der gefrorene Tau auf den Grashalmen krachte unter ihren Schritten. Sie brauchte unerträglich lange, bis sie zum Kastellanshaus kam, in dem noch kein Licht brannte, man schlief noch, also ging sie hinunter zur Havel, hinab zum Bootssteg, und hörte zu, wie das Wasser träge um den Kahn schwappte.

Alles, was es auf der Insel gibt, ist einmal hier angekommen, dachte Marie. Wurde hergebracht wie die Palmen und wie der Löwe. Und wie sie selbst. Und nun bin ich die letzte, dachte sie. Und erinnerte sich: Sie hielt die Hand ihres Bruders, während die Ruderer sich schweigend ins Zeug legten. Aalfischer standen in ihren Booten und sahen sich nach ihnen um. Christian zeigte ihr einen Kormoran. Der Himmel flirrte hell über den weiten Ufern der Havel, und die hohen Bäume neigten sich tief über den Grund. Und dann war die Insel aufgetaucht, und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie den Schrei eines Pfaus gehört.

Marie sah hinüber, wie auf der anderen Seite der Havel der Nebel die Chaussee im Wald herabkroch. Nikolskoje ragte zwischen den Bäumen hervor. Auf dem kleinen Friedhof, den man dort nach einem Entwurf Schinkels angelegt hatte, lag der Onkel, hochbetagt mit beinahe neunzig in Charlottenburg gestorben, seltsamerweise wenige Monate vor dem Garten-Director Lenné und im selben Jahr wie Gustavs Frau. 1871, zwei Jahre, nachdem man ihn in den Ruhestand versetzt und er die Insel verlassen hatte, war dann auch Gustav tot. Sie hatten all die Jahre, außer bei den unumgänglichen Gelegenheiten, die es auf einer Insel natürlich gab, kaum ein Wort miteinander gewechselt. Marie war nicht auf seiner Beerdigung gewesen. Tat es ihr leid? Sie fragte sich das manchmal, doch was Gustav anging, spürte sie keinen Schmerz mehr. Gewiß, manchmal wünschte sie sich, mit ihm zu sprechen, seine Stimme noch einmal zu hören, doch nicht die des Mannes, der er geworden, sondern die des Jungen, der er gewesen war. Lange vor jenem Tag, an dem er ihr das Kind weggenommen hatte.

Auch der alte Maschinenmeister Friedrich und seine Frau lagen dort oben, binnen dreier Tage waren die beiden Greise gestorben, und das war traurig und schön zugleich gewesen. Und Maitey. Gestorben am 26. Februar 1872. Unter französischen Kriegsgefangenen in Dreilinden waren damals die Pocken ausgebrochen, und er hatte sich angesteckt. Immer tröstete Marie der Gedanke, daß sie ihn noch hatte besuchen und sich verabschieden können.

Auch Marie selbst liegt dort. Auf ihrer schmalen, kaum armdicken Grabplatte steht, unter einem Palmzweig rot ausgetüncht: Hier ruhet in Gott die Schloßjungfer Fräulein Maria Dorothea Strakon. Aber es ist nicht sicher, daß jener Stein den Ort bezeichnet, an dem ihre Leiche in die Erde gebettet wurde. Ein russischer Panzer, heißt es, pflügte im Kampf um Berlin durch den Friedhof. Dennoch ist der Grabstein die einzige Spur, die Marie hinterlassen hat. Die Akten der Gartenintendantur der Preußisch-Königlichen Gärten, in denen sich Belege ihrer Existenz gefunden haben müssen, sind im Krieg verbrannt. Mag sein, daß in einem Bündel handgeschriebener Briefe im Schubfach eines alten Schrankes, oder in einem ungelesenen Konvolut, untergegangen in einem unerschlossenen Archiv, Maries Geschichte erzählt wird. Es kann gar nicht anders sein, denn sie hat gelebt. Doch in unserer Welt findet man nichts mehr von ihr, nirgendwo in den verschlagworteten Annalen, nirgendwo im world wide web gibt es am Ende irgendeines links ein Bild von Marie, kein Wort von ihrer Hand, keine Spur jener großen Liebe, die die Geschichte ihres Lebens war.

Wie seltsam, dachte sie, daß eine Welt vergehen und zugleich dableiben konnte. Daß immer mehr verschwand als entstand und doch alles zunahm. Jeder Garten ein Friedhof. Mit der Spitze ihres Stockes zog sie eine Linie in den Sand und atmete tief die nebelfeuchte Morgenluft ein. Schlafende Enten, die Köpfe im Gefieder, schaukelten auf den Wellen nahe am Landungssteg. Meine Insel, dachte sie.

In diesem Moment kam langsam ein einzelner Pfau die Böschung von der Schloßwiese herab, ein Weibchen, braun aufgeplustert in der Kälte, das sich, unsicher pickend, dem Steg näherte und Marie dabei musterte, die mit einer seltsamen Rührung daran denken mußte, wie sie, fast ein Kind noch, im Glanz dieser Tiere sich verloren hatte. Es war, als grüßte es sie aus einer fernen Welt. Und es kam ihr jetzt mit einem Mal so vor, als hätte sie tatsächlich in verschiedenen Zeiten gelebt. Wenn sie an ihre Kindheit dachte, dann war in ihr ein so ganz anderes Licht als in der Gegenwart. Vielleicht, daß ihre Liebe keine Zukunft gehabt hatte, weil die Welt, aus der sie selbst stammte, schon damals zerfiel. Nichts hatte Gustav davon begriffen, mit seinem Hegel im Kopf und seinem Winkelmann.

Eine ganze Weile stand das Pfauenweibchen einfach da, fast reglos, und wendete nur, sie betrachtend, den Kopf dabei immerzu hin und her. Dann ging im Kastellanshaus das Licht an, und Marie machte sich auf den Weg, und das Tier wich Schritt für Schritt zurück, während sie sich ihm näherte, bis es, als hätte es nur nach ihr sehen wollen, den Weg zum Schloß hinauf wieder verschwand.

Mascha öffnete ihr und schlurfte schwerfällig wieder zurück in die Küche. Marie trat ins Eßzimmer und nickte in die Runde. Niemand bemerkte ihr Festtagskleid. Wortlos setzte sie sich auf ihren vor Jahrzehnten gefertigten Stuhl, extrahoch und mit zwei Tritten, um ihn zu erklimmen.

Am Kopfende des Tisches, dort, wo einst Ferdinand Fintelmann gesessen hatte und danach Gustav, war nun Adolf Reuters Platz, seit zehn Jahren Hofgärtner und Kastellan der Pfaueninsel. Ein kahler Mann von Mitte fünfzig, der älter ausssah und schwammig, die Augen tief im Fett. Neben ihm saß der alte Rösner, einst Tierpfleger, der sich, seit es die Menagerie nicht mehr gab, um die Heizung des Palmenhauses kümmerte, in dem er auch wohnte. Er kam jeden Morgen zum Frühstück ins Kastellanshaus, anders als Andreß, der neue Maschinenmeister. Ansonsten gab es nur mehr zwei Gärtnergehülfen auf der Insel, Bumke hieß der Alte, einfach nur Bumke, und Hans war der Name des Knaben. Auch sie waren da, saßen eng beieinander. Einzig Karl fehlte von den letzten Inselbewohnern, der Sohn der Klugin, zwanzig Jahre lang Heizer und jetzt lange schon Nachtwächter auf der Insel. Man sah ihn selten bei Tage. Ein Eigenbrötler, der alleine im Cavaliershaus lebte.

Der kahle Reuter pellte, wie jeden Morgen, seine Eier, indem er sie auf den Teller fallen ließ, als wären seine dicken, von der Arbeit in der Erde rissigen und braunen Finger nicht in der Lage, sie zu halten, um aber dann mit eichhörnchenhaften Bewegungen die zersplitterte weiße Schale abzulösen, sich zufrieden zurückzulehnen, das Ei ausgiebig zu salzen und im Ganzen in den Mund zu stecken. Es wurde nicht gesprochen.

Marie hörte das Klappern von Mascha, die dabei war, ihre Brennsuppe zu machen. Seit sie keine Zähne mehr hatte, aß sie am Morgen Grütze, und während ihr Blick durch den Raum wanderte, horchte sie auf die Geräusche, mit denen die Pfanne aufs Feuer kam, das Schmalz darin brutzelte, die Dose mit dem Mehl geöffnet wurde und der schwere irdene Krug über den Tisch rumpelte, bevor Mascha das Wasser zugab und mit dem Schneebesen die Grütze glattrührte. Und schon kam sie herein, eilig und mit rotfleckigen Wangen, und stellte den Teller ohne ein Wort vor ihr auf den Tisch, der Löffel schon darin. Die Flasche mit dem Essig landete daneben. Bevor Marie ihr zunicken konnte, huschte sie schon wieder hinaus. Marie wußte: Längst war sie ihr, die sie doch seit Jahrzehnten kannte und mit der sie damals ihre Reise nach Berlin unternommen hatte, unheimlich geworden wie allen Bewohnern der Insel, geduldet, wie man das duldet, vor dem man sich fürchtet. Eine Art Geist aus einer anderen Epoche.

Marie begann wortlos zu essen. Niemand, dachte sie, ist mehr da, und sah im selben Moment alle wieder vor sich, und es vergilbten darunter die, die jetzt hier waren, das Schmatzen des vierschrötigen Reuter verschwand klaglos, als Ferdinand Fintelmann seinen Platz wieder einnahm, an die Stelle der beiden Gehülfen setzten sich Gustavs Brüder mit ihren Kindergesichtern, und der alte Rösner verschwand hinter der strengen Gestalt der Tante. Was war nur los, daß die Bilder der Vergangenheit heute so gar nicht verschwinden mochten? Als wäre es die Insel selbst, die ihre Erinnerungen, wie die Blüten einer besonderen Pflanze, die nur hier heimisch war, gerade heute noch einmal hervorbringen wollte. Und da war auch Gustavs Stimme wieder, ganz leise und ganz nah neben ihr, noch ganz die Stimme eines Kindes. In der Geschichte, die Mama mir vorliest, reist der heilige Brandaen bis über den Rand der Welt!

Damit hatte ihr Leben begonnen. Wie hatte er damals ausgesehen? Marie wußte es nicht mehr. Einzig seine Stimme existierte noch von jenem Morgen. Und Christian? Er wird an jenem Morgen neben ihr gesessen haben, doch sie erinnerte sich nicht mehr an ihn, und das tat ihr leid.

»Fräulein Strakon?«

Marie war nicht überrascht, aber es dauerte doch, bis sie sich aus ihren Erinnerungen befreien konnte, dann drehte sie sich um und lächelte ihre Besucher an. Sie wußte, sie hatte noch einen Moment, bis sie mit ihnen sprechen mußte, denn zunächst wurde sie immer gemustert. Seit langem schon fühlte sie sich unter den gierigen Blicken, die sich durch die Jahrzehnte immer gleich geblieben waren, nicht mehr unwohl. Deshalb war sie hier. Wie sie alle deshalb hier gewesen waren, die Tiere ebenso wie die Menschen. Nur, daß der jetzige König irgendwann keine Verwendung mehr für sie gehabt hatte, nicht einmal für sie, die einzig Übriggebliebene in seinem Königreich der Skurrilitäten, das nun sogar ein Kaiserreich war. Alles war anders geworden, lange schon, doch diese Blicke hatten sich nicht verändert, und so stellte sie sich zur Schau.

»Maria Dorothea Strakon, ja«, sagte sie leise.

»Wir haben so viel von Ihnen gehört!«

Ein Ingenieur Nietner und seine junge Frau. Als Reuter ihr den Namen nannte, hatte sie aufgehorcht, denn die Nietners waren eine alte Familie von Hofgärtnern wie die Fintelmanns, seit hundert Jahren dienten sie dem König in verschiedenen Revieren, Marie hatte den Onkel manches Mal von dem alten Nietner sprechen hören, dessen beide Söhne wohl auch gelegentlich hier auf der Insel gewesen waren.

Kurz nach Mittag hatte die Glocke des Fährmanns ihr die Ankunft ihrer Besucher annonciert, und sie war zur Anlegestelle hinuntergegangen, als die beiden im Nebel, der noch immer dicht auf der Havel lag, gerade herübergerudert wurden. Der Ingenieur war ein weicher Mann in einem etwas abgestoßenen Gehpelz und einem fremdartigen Hut, den Marie neben seiner Frau zunächst kaum beachten mochte, so blutjung und schön war sie, fremdartig schön, wobei die Fremdartigkeit vor allem von dem dunkelhäutigen Gesicht der jungen Frau und ihren schwarzen Augen herrührte, zwischen denen, über der Nasenwurzel, ein goldener Punkt prangte. Sie trug einen hochgeschlossenen Mantel, nach der neuesten Mode aus moosgrünem Samt, die schwarzen Haare fielen offen über den Stoff, ein kleines Hütchen darauf.

Am meisten jedoch verwunderten Marie ihre schmalen Hände, die sie, ebenso dunkel wie das Gesicht, zur Begrüßung mit den Handflächen aneinanderlegte, als wollte sie beten, wobei Marie sofort das seltsam verschlungene Muster aus dunkelroter Farbe auf ihnen entdeckte, das sich über die Handrücken zu den Handgelenken und wohl weiter die Arme hinaufspann. Mit unsicherem Lächeln bemerkte die junge Frau Maries Überraschung und sank, weil ihr Mann Marie als Schloßfräulein vorgestellt haben mochte, oder vielleicht auch nur wegen des Größenunterschiedes, in einen Knicks. Solch einen sanftmütigen Blick, mußte sie denken, hatte nur Maitey für sie gehabt. Keinerlei Gier war darin. Sie freue sich ja so sehr, endlich den Ort zu sehen, wo die Königin Luise glücklich gewesen sei, flüsterte die junge Gattin des Ingenieurs Nietner.

Marie war die ungewohnte Nähe nicht angenehm. Und so begann sie, ohne etwas zu erwidern, und die junge Frau so zum Aufstehen bewegend, ihren üblichen Rundgang.

»Die Wohnung des Hofgärtners und Kastellans der Pfaueninsel befindet sich hier unmittelbar an der Anlandestelle. Rechts davon«, deklamierte sie und wies die Anhöhe hinauf, »da, wo ein alter hochberankter Rüsterstamm eine Pumpe verkleidet, führen zwei Wege unter mit Reben bezogenem Bogen einen kleinen Berg hinan.« Während sie gemeinsam hinaufschritten, hörte sie nicht auf zu sprechen. »Es ist gleich, welchen von beiden Wegen man wählt, man kehrt, am Ende der Promenade, zur selben Stelle zurück. Doch muß man dem einmal gewählten Wege unabänderlich folgen, durch nichts etwa zur Seite sichtbar Werdendes sich abziehen lassen, wenn man nicht irgend etwas Interessantes versäumen und auch Umwege vermeiden will.«

Marie verbarg so gut es ging die Anstrengung, die ihr das Gehen bereitete, und ignorierte, wie ihre Gäste sich ihrem langsamen Tempo anzupassen bemühten, von einem Bein aufs andere tretend, wenn sie wieder einen Moment stehenblieb, um Kraft zu schöpfen. Bevor das Schloß auf der Wiese in den Blick kam, wandte Marie sich nach rechts, wo die letzten überlebenden Rosen wuchsen.

»Vielleicht schenken Sie einige Minuten dem Rosengarten hier. Es war der erste in Preußen. Lenné hat ihn 1821 angelegt für die Rosensammlung des Doktor Böhm aus Berlin, die der König in jenem Jahr um fünftausend Taler erwarb, was seinerzeit immerhin ein Zehntel dessen war, was ganz Klein Glienicke gekostet hatte. Es blühte hier vom ersten Mairöschen bis zum ersten Schnee. Leider ist diese Pracht in den letzten Jahrzehnten mehr und mehr geschrumpft wegen fehlender Mittel zu ihrer Erhaltung. Doch einzelne Stöcke blühen noch immer zu ihrer Zeit. Nur haben Sie keinen recht glücklichen Zeitpunkt für Ihren Besuch gewählt, um dies zu sehen.«

Die beiden Besucher standen ratlos inmitten des nutzlosen Wegenetzes und sahen zu Boden, als suchten sie dort die Spuren der Pracht, von der die Zwergin sprach. Der Ingenieur lächelte verlegen. Die Umstände. Leider sei es ihnen nicht anders möglich gewesen.

Etwas, dachte Marie und musterte ihn, etwas in seinen Augen, etwas in dieser ungewöhnlichen, fast durchsichtigen Bläue war ihr seltsam vertraut. »Woher kommen Sie, wenn ich fragen darf, Herr Nietner?«

»Aus Ceylon.« Nietner sah lächelnd zu seiner jungen Frau hinüber. »Es ist unsere erste gemeinsame Reise in die alte Heimat.«

Marie erinnerte sich, daß immer wieder Gärtner aus Preußen in die Fremde gegangen waren, ein Fritz Sello, hieß es, sei Pflanzensammler in Brasilien geworden, und ein Johann Nietner habe auf Ceylon eine Stelle gefunden. Beide, das wußte sie, waren niemals zurückgekehrt.

»Und wo liegt dieses Ceylon?«

Der Ingenieur lachte. »Ceylon ist eine Insel südlich von Indien im Ozean. Sie ist heute englisch und kam zum Empire, als man hier in Europa gegen Napoleon focht.«

Der Nebel lichtete sich. Auf dem Gras der Schloßwiese, das zu hoch stand und auf die Mahd wartete, perlte in unendlicher Wiederholung leuchtender Tau. Nietner knöpfte seinen Gehpelz auf und nahm mit den ersten Sonnenstrahlen, die durch den Nebel drangen, seinen Hut ab. Ihm schien trotz der feuchten Kälte warm zu sein.

Überhaupt war er offenkundig nicht von besonders guter Konstitution, dicklich und unbeweglich in der Hüfte, hängend die glattrasierten Wangen, seine Augen aber, klein zwar und fast wimpernlos, doch wasserblau und strahlend, ließen sie nicht los. Etwas an ihnen machte sie unruhig, und sie mußte wieder an den Löwen denken und seinen heißen Atem und verstand nicht, weshalb. Nie weiß man, welchem Anstoß sich welche Erinnerung verdankt, was woran sich bildet, die Träume am Leben oder unser Blick auf die Welt an dem, wovon wir nicht aufhören können zu träumen. Und dennoch! Marie gab sich einen Ruck und setzte ihren Rundgang wortlos fort.

»Wie lange leben Sie schon hier, Fräulein Strakon?« fragte die junge Frau.

»Mein ganzes Leben.«

»Das war sicher oft sehr einsam.«

Marie schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht«, sagte sie. »Wir waren ja viele!«

Als sie daraufhin ungläubig angesehen wurde, wechselte Marie das Thema. »Schade, daß Sie die Hortensien jetzt nicht sehen können, deren mehrere als selten so groß gefundene Exemplare es hier noch immer gibt und die sich durch das künstlich erzeugte Blau ihrer naturgemäß roten Blüten auszeichnen. Den vor neun Jahren verstorbenen Hofgärtner Gustav Adolph Fintelmann, der ein halbes Jahrhundert hier auf der Insel gewirkt hat, haben sie weithin berühmt gemacht.«

Gustav. Nun hatte sie den Namen also doch ausgesprochen, den bei ihren Führungen zu nennen sie schlechterdings nicht vermeiden konnte, vor dessen Nennung sie sich aber gleichwohl jedesmal erneut fürchtete.

»Mein Onkel hat mir davon erzählt«, sagte Nietner.

»Verzeihen Sie meine Neugier, Herr Ingenieur, aber es gibt eine hiesige Hofgärtnerfamilie ihres Namens, und es heißt, ein Nietner sei vor langer Zeit nach Ceylon gegangen. Könnte es sein, daß sie verwandt mit jenem Gärtner sind?«

»Das war mein Onkel.«

»Ach.«

Nietner nickte. »Aber ja! Wobei zu sagen, er sei mein Onkel, nicht ganz korrekt ist. Ich bin ein Waisenkind und nicht auf Ceylon geboren, wenn ich auch nichts mehr von der Reise weiß. Meine eigene Erinnerung setzt erst im Haus von Onkel John ein, wie er sich dort unten nennen ließ, denn alles spricht dort ja englisch. Er hat mich an Kindes Statt angenommen.«

Ein Gedanke, den Marie sich im selben Moment verbot, in dem er in ihr entstand, forderte dennoch Platz. Es gilt, nicht jedem Weg ins Dunkel zu folgen, unsere Herzen sind Bergwerke, und wir alle sind Zwerge darin, ängstlich bemüht, das trügerische Glimmen des Katzengolds von jenen Adern zu unterscheiden, die uns nicht sinnlos in die dunkle Nacht hinabbringen. So schnell, wie es ihr möglich war, führte Marie die beiden in den Wald hinein, vorbei an den Gewächshäusern, die Anlaß boten, über die Zucht unter Glas zu sprechen, die man auf der Insel betrieb, und weiter zu jener Stelle, wo der Weg hinab zum Maschinenhaus ging, von dem sie alles Wissenswerte berichtete, und dann weiter zur Fontäne.

»Der Onkel hoffte, ich würde Freude am Gartenhandwerk finden«, erzählte Nietner, während sie hinaufstiegen. »Leider aber war dies nicht der Fall.«

»Nein?«

»Nein.« Das weiche Gesicht, in dem sich alle Gefühle direkt abzubilden schienen, verzog sich bei der Erinnerung.

Marie nickte und setzte sich auf eine der Bänke, die das Becken des Candélabre umstanden. Obwohl ihr die Angst das Herz bis zum Hals schlagen ließ, konnte sie doch nicht anders, als zu fragen, was sie jetzt wissen mußte: »Und wann genau kamen Sie nach Ceylon?«

»1833 war das. Vor fast fünfzig Jahren.«

Vor beinahe fünfzig Jahren, ja. Wie die Hoffnung ihr den Hals zuschnürte! Sie verbarg die zitternden Hände in ihrem Shawl. Alles ist Märchen oder nichts.

»Dabei ist es hier ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Der Onkel hat mir so viel von der Pracht der Gärten in der Heimat erzählt. Und nun ist doch alles«, Nietner suchte zögernd nach dem rechten Wort, »recht herunter, wenn ich ehrlich sein soll.«

Marie mühte sich, ihre Tränen zu bezwingen. Nach einem langen Moment brachte sie schließlich tonlos hervor: »Der dünne Sand nährt kümmerlich einige Gräser, Mauseohr und fette Henne sind die natürlichen Bewohner der Insel. Nur die starken Eichen erreichen mit ihren weithin und tief suchenden Wurzeln einige die Insel durchziehende Lehmadern und saugen dort Feuchtigkeit, wenn im Sommer alles verschmachtet. Alles braucht ständige Pflege, und an der hat es in den letzten Jahrzehnten zunehmend gefehlt. Früher füllte die Dampfmaschine unten im Maschinenhaus dieses Reservoir hier in viereinhalb Stunden. Aus den beiden Schalen des Candélabre stürzte das Wasser in einem romantischen Wassermantel in das große, im Sommer von Vergißmeinnicht umstandene Becken, und ein feiner Wasserschleier wehte schon von Ferne durch das Grün der Eichen.«

Das Becken des Candélabre aber war seit Jahren nicht mehr gesäubert worden, und die Agaven hatte man, als sie vor einigen Jahren bei einem überraschenden Wintereinbruch erfroren, in ihren Kübeln einfach stehengelassen, ihre bleichverdorrten Spitzen hingen starr in alle Richtungen über dem Kies, in dem Löwenzahn wuchs und, an besonders schattigen Stellen und unter den Bänken, dichtes Moos. Traurig führte Marie die beiden den Abhang wieder hinab, dorthin, wo sich einst die Menagerie befunden hatte, obwohl nichts davon mehr vorhanden war, selbst die Grundmauern der Gebäude hatte man beseitigt, nachdem die letzten Tiere abtransportiert worden waren.

Den Boden deckte jetzt dünnes Wintergras, Birken- und Kiefernschößlinge hatten sich ausgesät, Brombeergesträuch wucherte über die letzten Steinhaufen. Aus der nahen Voliere, die als einziges auf der Insel verblieben war, hörte man das Krächzen der letzten Tiere, einige Tauben und Krähen, ein letztes Paar weißer Pfauen.

»Dort kam man früher zum Lamahaus.« Maries Stimme war jetzt dünn und zitternd, und sie mußte sich mit aller Kraft zwingen, lauter zu sprechen, und wandte sich doch dabei von dem Paar ab, dessen Blicke sie in ihrem Rücken spürte.

»Es wurde vom Königlichen Schloßbaumeister Schadow erbaut. Der vordere Hof war für die Lamas bestimmt, die, den Schatten suchend, oft an heißen Tagen im Stall blieben. Auf dem Balkon schaukelten die weithin rufenden Aras, rote, blaue, schwarze. Daneben wanderten mit bedächtigem Schritt die großen neuholländischen Strauße. Der braune flüchtige Guanako, das kolumbische Reh, die westindischen Hirsche, unserem Damwild verwandt, waren auf der anderen Seite untergebracht. Von dort ging man zuerst an den Adlern vorüber, unter ihnen Seeadler in mehreren Exemplaren, dann folgten die Affen, das nordafrikanische Stachelschwein und, im letzten Zwinger der Reihe, der Löwe.«

Nicht einmal mehr zu ahnen war, wo Lenné die Käfige zwischen den Eichen am Rand der großen Schloßwiese gruppiert hatte, die nun beinahe wieder so aussah, wie Marie sie aus ihrer Kindheit kannte. Verschwunden all die hochfahrenden Bilder, stumm wieder die Insel, wie sie es einst gewesen war. Bleich lag das Licht dieses kalten Frühlings auf dem Gras, auf das sie so lange hinstarrte, bis die junge Frau zu ihr kam und, mühsam in dem engen Kleid, vor ihr in die Hocke ging.

»Ein Löwe? Wirklich?«

»Er wurde nicht alt.«

Schüchtern lächelte sie die junge Frau an, die ja für all das nichts konnte. »Und in einem Gehege ganz in der Nähe befanden sich die sonderbaren Känguruhs aus Neuholland.«

»Känguruhs?«

»Ja. Sie machten auf ihren muskulösen Hinterbeinen weite Sprünge. Putzige Tiere. Man hatte ihnen Kaninchen und unsere Hasen beigesellt. Leider hielten auch sie sich stets nur kurze Zeit am Leben.«

»Gehen wir weiter?« fragte die junge Frau des Ingenieurs leise, während sie den Schmerz im Gesicht der Zwergin wohl bemerkte.

Marie nickte. Jenseits der Wiese führte der alte Weg noch, der die Besucher einst von den Känguruhs zur nächsten Attraktion der Insel geleitet hatte, zugewachsen zwischen Büschen und unter Bäumen hindurch zum Cavaliershaus. Mühsam ging sie über das harte Wintergras vorweg.

»Wollen sehen, ob wir bei Rösner etwas zu Mittag bekommen«, murmelte sie halblaut im Gehen mehr zu sich selbst als zu dem Paar, das ihr schweigend durch das kleine Wäldchen folgte.

Kaum standen sie in dem niedrigen Raum, der dem alten Rösner gleichermaßen als Küche und Stube diente, verrußt und zugeräumt mit allerhand Gerätschaften, plazierte er sie auch schon an dem großen blanken Holztisch. Marie war gern hier, das Cavaliershaus damals wie eine Zuflucht für sie gewesen, und sie meinte die Klugin noch zu hören. Kindchen, Kindchen! hatte sie immer zu ihr gesagt.

Als Nietner in die Nähe des Ofens kam, aus dem es prasselte und knackte, und dessen Wärme sie alle einhüllte, deklamierte er laut: Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht. Doch der Tierpfleger, auf den das gemünzt war, reagierte nicht. Früher hatte er von seinen Tieren gern allerlei Anekdoten erzählt, doch nachdem man sie ihm weggenommen hatte, schwieg er meist, um so mehr, seit seine Tochter Witwe geworden und nach Berlin gezogen war. Bei den wenigen Gästen, die noch hierherkamen und die Marie stets zu ihm führte, war es ihr egal, wenn sie die Schweigsamkeit und Unsauberkeit des Alten befremdeten. Ja, Marie genoß für gewöhnlich die indignierten Blicke, wußte sie doch, daß keiner der Besucher je wiederkommen würde, und sie war froh darum. Heute aber war es anders.

Auf dem Herd wartete, neben das Feuer geschoben, ein Topf, und der säuerliche Geruch nach Fisch und Zwiebeln erfüllte den Raum. Es gab Aal, und Rösner stellte die Teller mit den Fischstücken auf den Tisch, dazu Salzkartoffeln und in Essig eingemachte Pfeffergurken, die sehr scharf waren. Der Ingenieur aß mit Freude, das sah Marie, und dachte dabei: Es ist, wie wenn ich ihn fütterte. Wenn dies ihr Sohn war, mußte sie es ihm sagen. Sie drückte ein Stück Aal gegen den Gaumen und lutschte daran, bis der säuerlich-süße Geschmack ihren ganzen Mund ausfüllte, das Fleisch sich auflöste und sie es schlucken konnte. Währenddessen wiederholte der Ingenieur noch einmal, welch tiefen Eindruck die wunderschöne Fassade des Hauses auf ihn gemacht habe, in deren Betrachtung er lange versunken war, bevor sie hereinkamen.

»Und was ist noch hier herinnen?« fragte er dann.

Das Bett, in dem du geboren wurdest, dachte sie. »Oben befanden sich früher die Ankleide- und Schlafzimmer der Prinzen und Prinzessinnen des Königlichen Hauses, die Zimmer der Herrn Cavaliere und Adjutanten und der dazugehörigen Bedienungen.«

Nietner nickte und lobte das vorzügliche Mahl und leutselig wollte er von Rösner wissen, ob denn die Havel hier sehr fischreich sei.

»Man fängt gut Raubfisch. Die beste Zeit ist September bis November. In den Früh- und Abendstunden kann man dann gut auf Barsch oder Zander gehen.«

Der Alte verstummte wieder. Nietner sah ihn noch einen Moment freundlich an, aber Marie wußte, daß er nicht vorhatte weiterzusprechen. Er wartete jetzt darauf, daß seine Gäste ihre Mahlzeit beendeten, um das Geschirr abzutragen.

»Erzählen Sie doch ein wenig von sich, solange wir hier im Warmen sitzen, Herr Ingenieur«, forderte Marie ihn auf.

»Oh, wenn Sie das hier schon warm finden, wäre das Klima in den Tropen nichts für Sie, Fräulein Strakon!«

»Erzählen Sie, wie es Ihnen dort ergangen ist! Hier auf der Insel haben wir uns früher oft ausgemalt, wie es in Indien oder der Südsee wohl sein mag.«

»Gelandet bin ich damals in Colombo, und der Onkel hat mich, wie er mir später immer erzählt hat, gleich am Hafen in Empfang genommen. Er hatte eine Anstellung in den Royal Botanical Gardens in Peradeniya, nicht weit von der alten Königsstadt Kandy. Dort hinauf ging es dann mit dem Ochsenkarren, die Eisenbahn wurde ja erst später gebaut. Wissen Sie, der Engländer weiß sich die Welt nutzbar zu machen. Erst hat man Kaffee angepflanzt, Sie können sich das nicht vorstellen: bis zum Horizont nur Kaffee! Später stieg man auf Tee um und holte die Tamilen zu Tausenden als Pflücker ins Land. Ein Volk der Ingenieure und Händler! Das Empire, das versteht man hierzulande wohl zu wenig, gründet dieser Tage mehr auf der Tatkraft der Unternehmer als auf Kanonen.«

»Und Ihr Onkel? Ist er wohlauf?«

»Er ist vor sechs Jahren gestorben.«

»Das tut mir leid.«

Der Ingenieur schüttelte lächelnd den Kopf. »Jener Garten, wissen Sie, in dem er arbeitete, hat vor den Engländern Vikrama Rajasinha gehört, dem letzten König von Kandy. Palmen vor allem gibt es dort in Hülle und Fülle, aber auch alle anderen exotischen Pflanzen und Tiere. Riesige Schmetterlinge, unzählige Vögel, Krokodile, Flughunde und Warane. Und auch in dieser fernen Region weiß man um das Können der preußischen Gärtner!«

»Aber Sie wollten es trotzdem nicht werden? Sie schlagen aus der Art, Herr Nietner! Das wird Ihren Onkel nicht gefreut haben. Was tun Sie statt dessen? Bauen Sie Eisenbahnen durch den Dschungel?«

Er nickte. »Die Eisenbahn in Ceylon ist hervorragend, da ist in der Tat in den letzten Jahrzehnten viel geleistet worden, und ich hätte wohl mittun wollen. Alle wichtigen Orte der Insel sind nun verbunden, so daß die Ernten schnell von den Plantagen zum Hafen kommen und von dort in die ganze Welt verkauft werden können. Aber die Insel ist auch reich an Bodenschätzen, und ich bin mining engineer der East India Company. Es hat mich immer schon fasziniert, was in der Tiefe der Erde darauf wartet, von uns ans Licht gebracht zu werden.«

Ohne es zu wissen, dachte Marie stolz, ist er einer vom kleinen Volk. Die großen Feuer, die im Leib der Welt brennen, hatte Christian immer gesagt, sind unsere Bestimmung. Das Feuer im Stein läßt uns nicht los. Marie spürte, wie die Zeit verstrich. Lange durfte sie nicht mehr warten, wenn sie das Geheimnis lüften wollte. Die junge Frau sah sie mit einem solch freundlichen Lächeln an.

»Wie heißen Sie bitte? Ich habe noch nie einen ceylonesischen Namen gehört.«

»Ananthi. Ich heiße Ananthi. Mein Vater war Beamter der Kolonialverwaltung in Kandy. Ich bin Tamilin.«

»Ein glücklicher Zufall, daß ich ins Haus ihres Vaters kam!« lachte der Ingenieur, und sie legte lächelnd ihre Hand auf seine.

Ich kann es nicht sagen. Jetzt nicht. Marie spürte, wie sie immer verzweifelter wurde. Was hielt sie zurück? »Ein sehr schöner Name«, sagte sie statt dessen und wiederholte ihn, und für einen Moment trug er sie mit sich davon.

»Gibt es Löwen dort, woher Sie kommen?«

Ananthi schüttelte bedauernd den Kopf. »Keine Löwen. Aber Tiger. Im Dschungel leben Tiger, und die Alten sagen, sie beobachten uns mit ihren glühenden Augen.«

»Ja. Augen wie goldene Blättchen«, sagte Marie lächelnd.

»Und die Königin Luise?« fragte Ananthi gleich, als sie das Cavaliershaus wieder verlassen hatten.

Marie nickte und schlug, dabei von der Königin berichtend, den Weg zur Meierei ein, doch kaum waren sie ein Stück gegangen, erschienen plötzlich Pfauen vor ihnen auf dem Weg. So ziellos und doch würdevoll, wie es ihre Art ist, kamen sie vom Wald herüber. Sicherlich zwanzig Tiere, viel mehr gab es auf der Insel nicht mehr.

»Max! Look over there!« rief die junge Frau überrascht aus, als sie ihrer gewahr wurde.

Es dauerte einen Moment, bis Marie begriff, daß sie nicht den Namen ihres Kindes gehört hatte. Doch dann fuhr ihr die Überraschung wie ein sehr scharfes dünnes Messer durchs Herz, und sie spürte, daß alle Kräfte sie verließen. Max, dachte es in ihr, die fremdartige englische Betonung des Wortes nachbildend, und sie sah sich nach ihm um, als ob gerade er ihr helfen könnte. Sah, wie er lachend seine Frau in den Arm nahm und sie zusammen zu den Pfauen hinübergingen und keinen Blick für sie hatten. Bemüht, die Tränen zu unterdrücken, die ihren kleinen Körper schon schüttelten, sah sie ihnen zu. Er ist es nicht, dachte sie. Aber stimmte das denn? Die Pfauen wichen, wie sie das bei allen Besuchern taten, den Annäherungen der beiden in langsamen, aber bestimmten Schritten aus, und Marie, die sie hätte locken können, tat es nicht. Es dauerte lange, bis er sich umsah, wo sie bleibe.

»Wenn Sie erlauben, würde ich sehr gerne hier warten«, sagte Marie mit zitternder Stimme. »Ich bin doch etwas müde. Folgen Sie einfach dem nächsten links abführenden Weg, auf ihm gelangt man erst durch eine Kiefernheide, dann am Ufer der Havel entlang zur Meierei. Da, wo die Wiese endet, der Boden ein wenig ansteigt, und zwar wenige Schritte vor einer Marmorbank, wendet sich der richtige Weg links und führt zum sogenannten Portikus. An einem Waldsaume nach der freundlichen Wiese blickend, ist dieser einfache Bau dem Andenken der hochseligen Königin Luise gewidmet, deren Büste dort aufgestellt ist.«

Er musterte Marie, offenbar besorgt von ihrem Zittern und den Tränen, und wollte wissen, was sei. Doch sie wiegelte ab. Das Alter.

»Sie heißen Max?«

»Maximilian. So hat der Onkel mich getauft.«

Marie nickte. »Gehen Sie schon«, ermunterte sie ihn und zwang sich zu einem Lächeln.

Dann war sie allein. Doch es dauerte nur einen Moment, und die Pfauen kamen wieder heran, und wie in einem sehr langsamen Tanz begannen sie Marie zu umkreisen, scheinbar ohne sie zu beachten. Müde setzte sie sich auf die grüne Bank, auf der sie früher manchmal mit Gustav gesessen hatte, und sah ihnen zu. Und erinnerte sich, als Kind einmal gebannt beobachtet zu haben, wie die Tiere im Frühling umeinander warben. Wie tröstlich es ihr erschienen war, daß die wunderschönen Männchen vor den doch so unscheinbaren Weibchen balzten. Bald war es wieder soweit, sehr langsam und zärtlich würden sie die Mäntel ihrer Federn über sich und ihre Hennen senken.

Es gibt Tiere, die erinnern uns daran, wie unsere Träume entstanden. Staunend stehen wir immer wieder vor ihnen, als wäre es das erste Mal, daß wir sie sehen, und sehen zugleich all die Bilder, die wir uns von ihnen gemacht haben. Und sie? Sie schreiten vor uns auf und ab und lassen sich betrachten, schreiten auf und ab an der Grenze von Leben und Bild, für uns. So schlägt, jedesmal von neuem, ein Pfau sein Rad in all dieser prunkenden Großartigkeit. Das Blau, das Grün, der goldene Glanz. Das zitternde Krönchen auf seinem hocherhobenen Kopf mit den großen blicklosen schwarzen Augen. Der Hals wie mit winzigen glänzenden Schuppen belegt, gerüstet in ein Kettenhemd aus Glanz. Dieser schmale gotische Vogelritter in Minne, hinter sich reckend und präsentierend sein Wappenschild der Schönheit, diese wippende orientalische Helmzier der reinen Symmetrie, augenbestickt und wimpernselig wie die vielaugigen Flügel der Seraphim, knisternd in der Bewegung wie Seide, ein Baldachin aus Schönheit, der uns mit jenem Köpfchen gleich mitzubedecken verspricht, ein Schutzschirm, fragil wie ein Prunkzelt, ein Paravent, der sich triumphierend in unseren Blick schiebt, alles verdeckt, alles ausschließt, alles vergessen macht. Und doch nichts ist als eine hauchdünne Membran aus Farbe und Glanz.

Und wie die Sonne da hineinstürzt und wieder heraus! Uns in die Augen aus seinen Augen. Und immer bewegt sich da etwas im Flattern dieser unendlich vielen Augen, immerzu flüstert es im Federgezitter. Ein Prospekt voll Farbengelächter, das plappert und wispert, horizontweit aufgespannt, trägt dieses Tier mit sich herum und wendet es immer uns zu, mit allem darauf, was uns gefällt. Stumm und leer aber bleibt der Blick des Vogel selbst dabei, als gingen ihn all die Fragen gar nichts an, die seine Schönheit anscheinend so beharrlich uns stellt.

Wie seltsam, daß all der Prunk Lennés, den der König befohlen hatte in seinem unbedingten Willen, die Zeit seines Vaters vergessen zu machen, wieder getilgt worden war von der Insel, tot und verdorrt, und nichts geblieben war als der Glanz der Pfauen. Nichts außer ihr, die immer noch da war. Und die Kulissen einer lange vergangenen Zeit, die niemals von sich behauptet hätte, eine bessere Natur erschaffen zu wollen, sondern die einfach nur Freude hatte an Zöpfen, Muscheln und Rocaillen und allem, was ungewöhnlich war. Denn der Schöpfer hatte es gemacht, und seine Phantasie war grenzenlos. Was sollte sie jetzt nur tun? Ein Satz fiel Marie ein, den sie im Werther gelesen hatte: Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles.

Marie blinzelte in die Sonne. Die Pfauen waren weitergezogen, ohne daß sie es bemerkt hatte. Man schaut immer entweder mit oder gegen das Licht, hatte der Onkel sie gelehrt. Mit dem Licht wirken Formen flach, gegen das Licht aber gewinnen sie Kontur und Tiefe. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, erkannte sie in den Zügen jenes Mannes nichts wieder. Für alles war es einmal zu spät. Marie spürte, daß die Luft ihre Tränen getrocknet hatte. Wieder einmal hatte die Insel für sie entschieden. Wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles. Da hilft es nichts wiederzubekommen, was man so sehr vermißt hat. Ruhig wartete sie auf ihre Besucher und genoß die Zeit in der Sonne. Als die beiden den Sandweg wieder entlangkamen, konnte Marie schon von weitem sehen, wie Nietner auf seine Frau einsprach, mit großer Begeisterung, und dabei mit weit ausholenden Gesten um sich zeigte.

»Und nun freue ich mich, endlich zu sehen, wovon der Onkel stets mit allergrößtem Enthusiasmus erzählt hat: das berühmte Palmenhaus«, erklärte er, als die beiden wieder vor ihr standen und Ananthi sich gleich neben Marie auf die Bank setzte.

»Wie schlicht und schön ist dieser Tempel für die Königin. Er muß sie sehr geliebt haben.«

Das Lächeln der jungen Tamilin wärmte ihr das Herz. So entschied sie, seine Erwartungen nicht vor der Zeit zu enttäuschen, und sagte nichts, während sie weitergingen. Erst, als durch die Bäume des Uferwegs die Glasfront des Palmenhauses sichtbar wurde, begann sie mit ihren Erläuterungen.

»Das Palmenhaus, einhundertzehn Fuß lang, vierzig Fuß tief und zweiundvierzig Fuß hoch, wurde nach dem Entwurfe Schinkels und unter der Leitung Schadows im Jahre 1830 erbaut. Aber das wissen Sie ja sicher, Herr Nietner. Dem Hofgärtner Fintelmann kam es darauf an, schon in der Umgebung des Baus auf das Innere des Hauses vorzubereiten. In größeren und kleineren Gruppen siedelte er hier neben den Götterbäumen noch andere Pflanzen mit ausgezeichneten Blattformen an, die großblättrige Alkermes etwa, den Wunderbaum, Tabak und brasilianisches Mangold.«

Nichts, außer den Götterbäumen, war von diesen Pflanzungen noch zu sehen, und auf den Gesichtern ihrer Besucher zeichnete sich Enttäuschung ab, als Marie auf die kümmerlichen Reste eines Kissenbeetes zeigte, das eher einem überwachsenen Grabhügel glich, und dabei von den üppig geformten Blättern des indischen Blumenrohrs sprach, von Zuckerrohr und Papyrus.

»Nun wollen wir aber hinein!« sagte Nietner, trat unter die Pergola, die den Eingang beschirmte, und griff nach der Tür. Die Überraschung auf seinem Gesicht, als er sie verschlossen fand.

Marie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht.«

»Ich verstehe nicht«, sagte er und rüttelte heftig am Türgriff.

»Man kann nicht hinein.«

Er verstehe nicht, sagte er noch einmal. Es sei nicht möglich, wiederholte Marie und lächelte traurig.

Wortlos lief der Ingenieur zurück zu der Glasfront und preßte wie ein kleiner Junge die Stirn gegen das Fenster, um hineinzuspähen. Marie, die ihm mit seiner jungen Frau langsam folgte, sah ihm ungerührt dabei zu.

»Die geschwungene Kuppel mit den spitzbogigen Fenstern, die jetzt das Dach schmückt und die dem ganzen Bau einen exotischen Anschein gibt, wurde erst aufgesetzt, als das allzu große Wachstum der Fächerpalme im Zentrum des Hauses dies nötig machte.«

»Weshalb können wir nicht hinein?« fragte der Ingenieur, sichtlich erregt jetzt.

»Es geht nun einmal nicht.«

Marie wandte sich wieder an die junge Tamilin. »Und glauben Sie mir, Ananthi, es tut mir wirklich besonders leid darum, daß Sie den indischen Pavillon nicht sehen können, der aus Birma hierher zu uns kam, und die Ausmalung im orientalischen Stil, die Sie sicherlich an Ihre Heimat erinnern würde. Aber es ist unmöglich. Und jetzt möchte ich Sie wirklich bitten, mir zu folgen. Es wird Abend, und auch im Schloß gibt es noch einiges zu sehen.«

Ohne auf eine Antwort zu warten, begann Marie den Uferweg entlangzugehen, der unter den Eichen, die hier dicht standen, zum Schloß führt. Es ist genug, dachte sie, wenn sie sich auch nichts Schmerzhafteres als den Abschied vorstellen konnte, der ihr bevorstand. Sie unterließ es, auf den antiken Brunnen hinzuweisen oder um das Schloß herumzugehen, wo ihre Besucher den Ausblick nach Potsdam gehabt hätten, sondern ging direkt zum Portal, und erst, als sie die Tür öffnete, sah sie sich nach den beiden um, die ihr stumm gefolgt waren und denen sie jetzt den Vortritt ließ in ihr Haus.

»Das Schlößchen wurde unter Friedrich Wilhelm II. in den Jahren 1794 bis 1797 vom Baumeister Brendel aus Potsdam errichtet«, begann sie im Treppenhaus sogleich ihren Vortrag. »Die Zimmer haben parkettierte Fußböden von allen inländischen Holzarten und schöne teils Papier-, teils Zeugtapeten.«

Langsam führte sie die beiden von Zimmer zu Zimmer im Erdgeschoß, sie folgten ihr schweigend, besahen sich alles genau und begriffen doch nicht, was vor sich ging. Endlich kamen sie auch ins Otaheitische Cabinett, und Ananthi lachte überrascht, als sie das exotische Dekor erkannte. Musterte ganz genau die Tapete. Zeigte ihrem Mann die Vignette des Schlößchens darin.

»Als wären wir bei uns am Strand!«

Der Ingenieur nickte. Doch Marie sah, daß ihn derlei nicht interessierte. Er war noch immer verstimmt, weil ihm das Palmenhaus verschlossen geblieben war, und das schmerzte Marie, denn er sollte doch alles sehen, was ihr Leben hier gewesen war.

»Wonach die Europäer sich damals wohl so gesehnt haben mögen, daß ihnen derlei gefiel?« fragte Ananthi nachdenklich, den Blick nicht von der Tapete nehmend. »Heute bauen sie Eisenbahnen durch unser Land und legen Plantagen an.«

»Ja, das war wohl eine andere Zeit.«

Marie mußte wieder daran denken, wie sie hier einmal unerwartet auf den Kronprinzen gestoßen war, der König nach ihrem König und nun selbst tot. In seinen Augen war all die Sehnsucht gewesen, die die Tamilin nicht begriff. In diesen feuchten Augen über dem steifen Kragen der blauen Uniform.

»Gehen wir weiter?« fragte der Ingenieur ungeduldig, und als ihre Blicke sich trafen, gelang es Marie für einen Moment nicht ganz, ihre Traurigkeit zu verbergen, doch schnell faßte sie sich wieder und nickte ihm zu.

»Der Plafond des Speisesaales im ersten Stock, zu dem wir jetzt hinaufgehen, ist seinerzeit mit Guido Renis Aurora al fresco ausgemalt worden«, sagte sie, wieder ruhig, und ging voran.

Der Saal beeindruckte ihre Besucher, doch mehr als das Deckenfresko, die Holzarbeiten an den Wänden und der Parkettboden war es der Blick, der ihnen gefiel. Lange standen sie an den hohen Fenstern und schauten hinaus. Hier hatte der König immer gesessen. In Gedanken an seine tote Königin oder seinen Vater, wer konnte das sagen. Und hier hatte sie selbst gestanden unter seinem Blick, und er hatte sie angesehen wie sonst niemand in ihrem Leben. Ein Tierchen war sie gewesen unter diesem Blick, nein, etwas noch viel Geduldigeres, noch Nachgiebigeres, noch viel Stummeres, ein Ding war sie gewesen, die Insel selbst. Daß sie hierhergehörte, hatte Marie in diesen Momenten begriffen, und weshalb. Von alldem aber würde er, der noch immer dort am Fenster stand und hinaussah und seiner jungen Frau dies und jenes zeigte, nie etwas erfahren, dachte Marie traurig. Und wollte zugleich nicht, daß es schon vorüber wäre.

Und so schlug sie den beiden vor, was sie sonst nie bei ihren Führungen tat, noch auf den Turm hinaufzusteigen. War selbst lange nicht mehr dort oben gewesen, zu sehr schmerzte das Treppensteigen, und mußte tatsächlich alle paar Stufen pausieren. Doch die beiden warteten geduldig hinter ihr, während sie sich ans Geländer klammerte und Atem schöpfte.

Als sie dann schließlich oben anlangten und hinaustraten auf die Plattform, war die Sonne über Potsdam bereits untergegangen, das Firmament glomm noch rot, und die wenigen Wolken, die in dünnen Schleiern über die ferne Stadt zogen, brannten dabei. Tief atmete Marie durch. Direkt über ihnen wurde der Himmel schon durchsichtig in die schwarze kalte Nacht hinein. Ananthi lehnte sich in den goldenen Abendschein, und auch ihr Mann schien seinen Groll zu vergessen. Man ist auf diese Landschaft in Preußen immer so stolz gewesen, weil sie Preußen so wenig gleicht. Ein wenig Süden. Ein wenig gütiges Licht. Lange sagte keiner der drei etwas, dann erklärte Marie den beiden leise, was sie sahen. Ihre ganze Welt.

»Zur Rechten tritt die Halbinsel von Sacrow in das Wasser der Havel, weiterhin sieht man das Marmorpalais im Neuen Garten, auf dem Hügel dahinter die grüne Kuppel der griechischen Kirche in der russischen Colonie bei Potsdam, zur Linken das hölzerne Dach von Nikolskoje.« Sie trat zur anderen Seite. »Kommen Sie, sehen Sie sich die Insel an! Dort aus den Bäumen ragt das Palmenhaus hervor, und dort, ungefähr in der Mitte, sehen Sie das Cavaliershaus, und ganz am Ende die weißen Ruinen der Meierei.«

Von dorther kam die Nacht. Sie wischte das Glitzern der Havel aus und zerschmolz das Grün der hohen Bäume in Grau. Ein letzter Glanz auf der Kuppel des Palmenhauses verlosch. Schnell wurde es ganz empfindlich kühl, doch das bemerkten die drei erst, als die Nacht den Turm des Schlosses schon ganz erreicht hatte. Im Dunkeln tasteten sie sich dann die Treppe wieder hinunter und in den Saal zurück, wo Marie eine Lampe entzündete, um ihre Gäste hinauszubegleiten. Dabei führte sie die beiden noch durch das Cabinett, das ihre Heimat geworden war, damit er, ohne es auch nur zu merken, ein Bild davon mit sich nähme.

»Sieh einmal, wie das glänzt«, sagte er leise zu seiner Frau und blieb an der Kommode stehen.

Marie, schon im Hinausgehen, drehte sich überrascht um, als sie ihn das sagen hörte. Tatsächlich: Er hatte das Rubinglas entdeckt, das im Licht der Lampe tiefdunkelrot aufgeleucht hatte und nun, als sie wieder umkehrte, immer heller strahlte. Als könnte er nicht genug bekommen von dem Feuer darin, stieß Nietner den Kelch vorsichtig mit dem Zeigefinger an, der sich daraufhin mit einem klingelnden Geräusch um seinen imaginären Zirkelpunkt drehte, kippelte und mit einem winzigen Zittern erstarrte. Und wieder tippte er mit dem Finger gegen das Glas, und wieder glitzerte das Rot darin auf, als pustete er in eine Flamme.

Er habe, sagte er leise und in diesen Anblick völlig versunken, sich niemals so für Pflanzen interessiert, wie ihn schon als Kind die Steine in den Bann geschlagen hätten, leuchtende, glitzernde Steine, und er habe sich immer danach gesehnt, dorthin zu gelangen, wo sie in der dunklen Erde darauf warten, ans Licht geholt zu werden. Noch einmal wurde Marie unsicher, ob sie das Richtige tat. Wie gern hätte sie ihm in diesem Moment alles erzählt, was mit jenem Glas einst begann. Daß er als Kind damit gespielt hatte. Und sie befeuchtete mit der Zunge schon ihre Lippen, um endlich zu reden.

Aber da drehte er sich nach ihr um und fragte mit einem weichen Lächeln: »Es ist doch nun einmal zerbrochen, das schöne Glas. Ob Sie es mir wohl als Andenken an die Pfaueninsel überlassen könnten, Fräulein Strakon?«

Und damit zerbrach der Zauber des roten Scheins. Was man verschenkt, muß sein Geheimnis behalten. Ein Geschenk trägt all das in sich, wovon man nicht sprechen will. Marie lächelte, statt zu weinen.

»Sie wissen gar nicht, was für eine große Freude Sie mir damit machen würden! Ich habe dieses zerbrochene Glas mein ganzes Leben lang sehr liebgehabt. Vielleicht denken Sie ja, wenn Sie wieder in Ceylon sind und es betrachten, einmal an die alte Frau, die Sie heute hier kennengelernt haben und die einst das Schloßfräulein der Pfaueninsel gewesen ist.«

Er nickte langsam. Etwas in seinen blauen Augen, den hellen Augen der Mark, betrachtete sie voll zärtlichem Unverständnis, und als er sich bedankte, mußte er sich erst räuspern. Sorgsam nahm er das Glas von der Kommode, schlug es in ein Taschentuch und steckte es ein.

Dann gingen sie hinunter. Wobei Nietner sich in der Halle ein weiteres Mal gründlich umsah, auch seine Frau noch auf manches Detail der Ausstattung hinwies, als wollte er es unbedingt vermeiden, daß sie schon auseinandergingen. Als ahnte er, daß sie etwas vor ihm verbarg. Und schon begann sie sich davor zu fürchten, daß sie nun, am Ende, doch noch sprechen würde. Aber mit einem letzten fragenden Blick nickte er ihr zu, Marie öffnete die Tür und ließ die beiden hinaus.

Die Schloßwiese lag dunkel vor ihnen, die Bäume an ihrem Rand eine schwarze drohende Wand. Nur der helle Kies, von dem aus sich der Ingenieur Maximilian Nietner und seine Frau Ananthi aufmachten in die Nacht, schimmerte ein wenig im Lichtschein, der aus der Tür fiel. Kurz nachdem das Dunkel die beiden verschluckt hatte, hörte Marie, die noch in der Lichtschleppe stand und ihnen nachsah, Schritte, bedächtige Schritte, und dann bog Rösner auf seinem abendlichen Kontrollgang um die Ecke des Schlosses, grüßte zu ihr herauf und ging weiter. Es war, als erwachte sie da. Er möge doch bitte, rief sie ihm auf einmal mit fester Stimme nach, im Palmenhaus anfeuern. Der Alte blieb stehen und sah sie verwundert an.

»Weshalb?«

»Heize Er! Heize Er tüchtig ein!« Marie drückte die hohe Tür hinter sich zu.

In dieser Nacht fiel die Temperatur auf der Pfaueninsel bei anhaltendem Nordostwind unter den Gefrierpunkt. Um die seit Wochen ruhende Heizung wieder in Betrieb nehmen zu können, mußte Rösner zunächst in den beiden Schornsteinen Lockfeuer aus Hobelspänen entzünden, wobei die Funken hoch aufstoben, hoch in den Nachthimmel hinein wie ein wilder Tanz aus Lichtpunkten, die sogleich von noch helleren, wilderen Funken auseinandergewirbelt und abgelöst wurden, widerstandslos trudelnd in die Nacht, in der sie verlöschten, als nähme ihnen das Dunkel den Atem. Marie blieb stehen und verlor sich für einen Moment in diesem Anblick, doch dann fiel ihr wieder ein, wohin sie unterwegs war, und ergeben in das Unabänderliche verglühte in ihr die Freude wie jene Funken.

Seit der Nacht vor nunmehr fünfzig Jahren hatte sie das Palmenhaus nicht mehr betreten und auch allen Besuchern, die sie über die Insel geführt hatte, den Zutritt verweigert. Im Dunkeln öffnete sie die Tür zu jenem Ort, an dem damals Christians Leben geendet hatte, und dabei kam ihr zum ersten Mal der Gedanke, ihr eigenes könnte vielleicht nur deshalb noch immer nicht vorüber sein, weil sie es seitdem vermieden hatte hierherzukommen. Vorsichtig zog sie die Tür hinter sich zu und entzündete einige der Lampen, die dort für einen späten Besuch bereitstanden.

Als wäre seit jener Nacht keine Zeit vergangen, schien alles wie früher, selbst die Stühle, die hier und da zwischen den Pflanzen standen, waren noch am selben Platz, und so ging sie in Christians Kleid, langsam, daß er es auch sähe, durch den Raum und sah sich, den Blick hinauf zum Balkon vermeidend, nach allen Seiten um. Große Farne, die es früher noch nicht gegeben hatte, standen üppig zwischen den hohen Stämmen, doch Marie entdeckte das Zuckerrohr, die Zimtbäume und die Bananenstauden wieder, und es roch ganz so, wie es an jenem Abend gerochen hatte, und auf einmal hörte sie das Lachen und Klirren der Gläser wieder, und Christian war wieder ganz in ihrer Nähe, noch einmal tanzte er vor der Fürstin, und noch einmal, wie unzählige Male seitdem, griff Gustav ihm unter die Achseln, und noch einmal fiel sein Blick dabei auf sie, wund und verzweifelt, noch einmal spürte sie ihre Todesangst, noch einmal den bodenlosen Schrecken, und noch ein letztes Mal warf Gustav ihren Bruder über die Brüstung, und sie sürzte ein allerletztes Mal die Treppe hinab, sah ihn daliegen in seinem Blut und spürte, wie ihre Welt zerbrach. Marie blinzelte durch das Glasdach in den Nachthimmel hinauf, in dem die Funken noch immer stumm umeinanderwirbelten, aufstieben und verloschen.

Beklommen tastete sie sich zum Kreuzungspunkt der Wege vor, dorthin, wo auf der achteckigen Säule die Latania stand, das Prunkstück der Sammlung, und dicht dabei entdeckte sie gleich die Ostindische Schattenpalme, von deren Merkwürdigkeiten ihr Gustav damals soviel erzählt hatte. Es sei die einzige Palme, welche nur ein einziges Mal in ihrem Leben blühe, dabei eine unglaubliche Menge übelriechender Blüten hervortreibend, um alsbald, wenige Früchte reifend, abzusterben. Auf der Insel hatte man immer viel über diese Palme gesprochen, denn sie wollte nicht aufhören zu wachsen, und als sie nach zwanzig Jahren das Glasdach erreicht hatte, ließ Friedrich Wilhelm IV. dem Palmenhaus für sie eine Kuppel nach indischem Vorbild aufsetzen.

Dann starb der König, und jener Prinz, der damals von hier aus nach England geflohen war, folgte ihm nach, wurde König, dann Kaiser. Die Düppeler Schanzen und Königgrätz, die Emser Depesche, Sedan und der 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles, und die Palme wuchs immer weiter. Die Palme wuchs in die Kuppel hinein und füllte sie schließlich ganz aus, so daß man, wiederum zwanzig Jahre später, darauf verfiel, eine Grube unter ihr auszuheben, sechs Meter tief, und dort hinein wurde die Palme seither, ihrem Wachstum entsprechend, nach und nach abgesenkt.

Marie spähte in ihren nachtdunklen Wipfel hinauf und hinab in den Schacht. Die Zeit beeindruckte sie nicht mehr. Ihr Vergehen war ihr ganz gleichgültig geworden. Sie setzte sich auf einen der Eisenstühle, die ringsum unter den Palmen standen. Hörte, wie Rösner sich im Keller bei den Öfen mühte, und meinte auch schon zu spüren, wie die Wärme vom Boden aufzusteigen begann. Im Flackern der Lampen zitterten die Palmenschatten umeinander. Nun kommt keiner mehr, dachte Marie. Hierher auf die Toteninsel, auf der ich lebe. Jetzt bin ich ganz allein. Bin wirklich ein Ding, das man vergessen hat. Und langsam nestelte sie den kleinen seidenen Beutel auf, den sie ums Handgelenk trug, nahm eine Cigarre heraus und das Döschen mit der Schwefelsäure und das mit den Tunkhölzchen.

»Ach, daß Sie das noch haben, Mademoiselle! Wie schön!«

Die Stimme war ihr zu vertraut, als daß sie hätte erschrecken können. Freudig schaute sie sich um, sah Peter Schlemihl gerade mit der Hand ein paar Palmwedel beiseite biegen und lächelnd zu ihr heranschlendern. So sehr war sie von ihren Erinnerungen abgelenkt gewesen, daß sie ihn gar nicht hatte hereinkommen hören.

»Schlemihl, was für eine Freude! Sie glauben gar nicht, wie sehr ich Sie all die Jahre vermißt habe.«

Umstandslos kauerte er sich vor ihr auf den Boden, und sie meinte gleich, in dem altvertrauten Gesicht so etwas wie Mitleid zu erkennen. Empfand unter seinem Blick, wie unendlich alt sie geworden war, während er, wie sie verwundert bemerkte, sich überhaupt nicht verändert hatte: Er war so jung wie damals, als sie sich auf der Schloßwiese beim Besuch des Königs zum ersten Mal begegnet waren.

»Ist so furchtbar lange her«, murmelte sie und streichelte lächelnd sein schönes Jungengesicht. Schimpfte sich selbst dabei eine alte sentimentale Frau und spürte zugleich eine wunderbare Müdigkeit in all ihren kleinen Gliedern, die plötzlich so schwer schienen, daß es ihr ganz undenkbar vorkam, sich irgend einmal noch zu bewegen. Die Hand mit Cigarre und Tunkhölzchen sackte in ihren Schoß.

»Da gibt es jetzt etwas Besseres«, sagte Schlemihl leise, zog geschwind ein kleines metallenes Gerät hervor, dessen Kappe er abnahm, und schon flackerte eine Flamme heraus, und Marie roch zum ersten Mal in ihrem Leben den beißenden Geruch von Benzin. Er steckte die Kappe wieder auf, und das Feuergezüngel erlosch. Wenn da tatsächlich Mitleid in seinem Blick gewesen sein sollte, war es jetzt verschwunden. Er lächelte sie an.

»Wie lange wir einander schon kennen! Ich denke noch manchmal an unser erstes Zusammentreffen hier auf der Insel. Der junge Parthey, erinnern Sie sich?«

Marie nickte ernst. »Was wohl aus ihm geworden ist?«

»Vor ein paar Jahren ist er, ein alter Mann, in Rom gestorben, wo er immer hatte leben wollen. Und Lili, seine kleine Schwester!«

»Die Arme!«

»Ist nun auch schon fünfzig Jahre tot.«

»Ja.«

Marie hielt noch immer die Cigarre und das Döschen mit den Tunkhölzern im Schoß, aber sie schien es vergessen zu haben. Der Beutel war auf den Boden gerutscht.

»Wir stehen am Beginn einer neuen Zeit, Mademoiselle Strakon«, sagte Schlemihl. »Die Mittel sind alle versammelt, und was noch fehlt, wird die so produktive Wissenschaft und Ingenieurskunst bald entdecken. Die letzten weißen Flecken der Welt werden kartographiert. Der Bürger macht sich jetzt die Welt. Alle Stile, alle Zeiten, alle Kunst der Völker sind ihm zur Hand. Löwen sind keine Allegorien mehr, und aus den Menagerien sind Zoos geworden, in denen die Tiere den Menschen Vergnügen und Bildung bringen. Ihresgleichen lebt heute nicht mehr bei Hofe, sondern wird zusammen mit Negern, Chinesen und Indianern zur Schau gestellt.«

Marie mußte an Berlin denken, an die Straßen, die endlosen Ziegelmauern, das Feuer in den Fabriken, die Massen der Menschen und ihre Gesichter. Nicht lange mehr, und die Stadt würde hier sein. Sie nickte. »Wir sagen, die Zeit vergeht, dabei sind wir es.«

»Aber was ist die Zeit? Vielleicht ist sie ja nur ein Schleier, der alles bedeckt«, sagte Schlemihl, »eine Färbung der Dinge, die alles durchdringt, von dem man sagt, daß es einmal war. Und in Wirklichkeit ist alles noch da, und auch wir sind alle noch da, nur nicht im Jetzt. Und werden immer da sein. Ich war immer so gerne hier bei Ihnen auf Ihrer Insel! Die Orte sind es, die länger bleiben als wir.«

»Nichts von mir wird bleiben«, sagte Marie leise. »Nicht einmal ein Schattten.«

»Wissen Sie, Mademoiselle Strakon, was, außer mir, auf dieser Welt einzig ohne Schatten ist?«

Marie schüttelte den Kopf.

»Das Feuer.«

Das stimmt, dachte sie und hörte Christians Stimme wieder, seine Stimme, die sie so lange nicht mehr gehört hatte. Wir wurden angewiesen, hatte er gesagt, die großen Feuer, die im Leib der Welt brennen, zu bewahren. Und weil wir am Anfang der Zeit aus der Erde entstanden sind, werden wir unendlich alt und pflanzen uns nicht fort. Nein, wir pflanzen uns nicht fort, dachte Marie traurig.

»Wollen wir jetzt rauchen?« fragte Schlemihl nach einer Weile, in der er geschwiegen und sie betrachtet hatte, als wüßte er genau, wie lange sie brauchte, um mit ihren Gedanken an ein Ende zu kommen.

»Ja, wir wollen rauchen!« sagte Marie und lächelte ihn an.

Sie war so glücklich, den Freund wieder bei sich zu haben. Gleich zog sie eines der Hölzchen hervor, tauchte es zitternd in den kleinen Porzellanzylinder und brannte mit dem geisterhaften Feuer ihre Cigarre an. Doch als sie wieder hochschaute, war Schlemihl verschwunden.

Der Rauch kräuselte sich vor ihren Lippen und stieg ganz still in den gläsernen Himmel des Palmenhauses hinauf, während ihr für einen Moment der Atem stockte. Marie spürte das lastende Schweigen in dem großen Raum. Kein Blatt raschelte. Wie überall auf der Insel machte sich auch hier im Palmenhaus die Nachlässigkeit des Hofgärtners Reuter bemerkbar. Weder hatte man, wie zu Gustavs Zeit üblich, die vertrockneten Blätter von den Palmen geschnitten noch es offenbar für nötig befunden, die abgefallenen Blätter zu entsorgen, die zuhauf unter den Pflanzen lagen. Es genügte, daß Marie die Cigarre in den Haufen neben ihrem Stuhl warf.

Glas ist nicht vorgesehen in der Menschenwelt. Vulkane werfen es auf die Erde, Meteoriten, deren Gestein zerschmilzt, bringen es herab, Blitze schmelzen es in den Sand der Wüsten. Als die riesigen Fenster mit einem fürchterlichen Geräusch zersprangen und Tausende und Abertausende Splitter herabprasselten auf die wie Fackeln brennenden Palmen, sah Marie noch einmal den schwarzen Nachthimmel durch den Rauch, der ihn fetzenweise freigab, dann fing auch ihr Kleid Feuer. Und noch einmal und als letztes war Christian wieder bei ihr. Nicht an die Liebe ihres Lebens dachte sie, und nicht an ihr Kind, verloren, und wiederbekommen und für immer verloren, sondern sie spürte den wunderbar warmen, vertrauten, kleinen Kinderleib ihres Bruders wieder neben sich in dem Kahn auf der Havel und empfand das Glück jenes hellen sonnigen Morgens noch einmal, und noch einmal sah sie ihre Insel zum ersten Mal.

Das schöne prächtige Palmenhaus auf der Pfaueninsel bei Potsdam, berichtete die Vossische Zeitung am 21. Mai 1880, ist in der Nacht vom Mittwoch zum Donnerstag mit Allem, was es enthielt, ein Raub der Flammen geworden, in denen auch ein gewesenes Königl. Schloßfräulein, Maria Dorothea Strakon, die in ihrem achtzigsten Jahr stand, ums Leben kam. Wie man uns meldet, wurde das Feuer, über dessen Entstehungsart man nichts Bestimmtes weiß und nur vermutet, daß es vielleicht durch die Heizungsanlagen des Gebäudes entstanden sei, zuerst von einigen Fischern bemerkt, welche sich am Mittwoch abend zwischen 10 und 11 Uhr in der Nähe auf dem Wasser befanden, um Aalpuppen auszulegen. Die Fischer eilten nach dem Palmenhause, woselbst sofort mit allen zu Gebote stehenden Mitteln versucht wurde, dem rasenden Ueberhandnehmen der Flammen, die an den vielen Holztheilen des Gebäudes reichlichen Nahrungsstoff fanden, Einhalt zu thun. Die erste Spritze, welche zur Stelle war, war diejenige des nahe gelegenen Sacrow, aber weder sie, noch der bald nachkommende Succurs, konnten die Flammen dämpfen. Von allen Seiten strömten die Beamten der königlichen Gebäude herbei und leisteten die ganze Nacht hindurch Hilfe, aber Alles, was erreicht wurde, war, daß das Feuer auf seinen Herd, das Palmenhaus beschränkt wurde. Dieses aber wurde mit dem schönen Bestand vollständig vernichtet. Der Feuerschein war so mächtig, daß er weithin jenseits Potsdams und in den umliegenden Ortschaften bemerkt wurde; auch in Berlin wurde er gesehen.

Загрузка...