Dick Francis Sporen

Kapitel 1

Ich hatte meinen Fahrern streng verboten, je einen Anhalter mitzunehmen, aber eines Tages taten sie es natürlich doch, und bis sie bei mir zu Hause ankamen, war er tot.

Es klingelte an der Hintertür, als ich gerade mein etwas langweiliges Junggesellen-Abendbrot auf dem Herd hatte, einen Rest Eintopf mit Rindfleisch, und mit einem leisen Seufzer, aber nichts Böses ahnend, schaltete ich die Kochplatte ab, stellte den Topf auf die Seite und sah nach, wer es war. Freunde riefen gewöhnlich einfach meinen Namen und kamen rein, denn die Tür war selten abgesperrt. Angestellte klopften meist und kamen dann herein, aber immer noch ohne viel Umstände. Nur Fremde klingelten und warteten.

Diesmal war es anders. Als ich die Tür öffnete, fiel das Licht vom Hausflur gelb auf die angstgeweiteten Augen zweier meiner Angestellten, die mehr als unbehaglich von einem Fuß auf den anderen traten und offenbar ein Donnerwetter befürchteten.

Meine Reaktion auf diese eindeutigen Unglückssignale war der vertraute Adrenalinstoß, der sich immer wieder einstellte, egal wie viele Krisen schon vorausgegangen waren. Die alte Pumpe ging schneller. Meine Stimme wurde rauh.

«Was ist los?«fragte ich.»Was ist passiert?«

Ich blickte ihnen über die Schulter. Der wuchtige Pferdetransporter, einer der beiden größten in meinem Fuhrpark,

stand beruhigend im Dunkel des asphaltierten Parkplatzes, und das Licht vom Haus schimmerte auf seiner Flanke. Zumindest hatten sie ihn nicht in einen Graben gefahren: sie hatten ihn heimgebracht. Alles andere war sicher zweitrangig.

«Also, Freddie«, sagte Dave Yates und schlug einen wehleidigen, Verständnis heischenden Ton an,»wir können nichts dafür.«

«Wofür denn?«

«Diese Brillenschlange, die wir mitgenommen haben.«

«Ihr habt was?«

Der Jüngere sagte:»Ich war von Anfang an dagegen, Dave.«

Bei ihm, Brett Gardner, war der wehleidige Ton voll ausgeprägt, ein Winseln, das er gewohnheitsmäßig aufbot, um Schuld von sich abzuwälzen. Ich hatte ihn eingestellt, weil er stark war und sich mit Motoren auskannte, damals jedoch nicht geahnt, was für ein Quengler er war; jetzt stand er bereits auf der Abschußliste. Seine dreimonatige Probezeit war bald vorbei, und ich wollte ihn nicht fest anstellen.

Er war ein fähiger, aufmerksamer Fahrer. Ich hatte ihm von Anfang an meine größten und teuersten Wagen anvertraut, war aber von mehreren guten Kunden gebeten worden, für den Transport ihrer Rennpferde künftig jemand anderes zu schicken, da Brett seine Unzufriedenheit um sich streute wie ein Virus. Wenn die Pfleger, die mit ihm fuhren, nach Hause kamen, brüteten sie zum Mißfallen ihrer Arbeitgeber Nörgeleien aus.

«Wir hatten schließlich keine Pferde geladen«, sagte Dave Yates in dem Bemühen, mich zu beschwichtigen.»Brett und ich waren allein.«

Ich hatte allen Fahrern immer und immer wieder erklärt, daß die Versicherung ungültig wurde, wenn sie Pferde geladen hatten und Anhalter mitnahmen. Wer das tut, fliegt, hatte ich gesagt. Und ich hatte ihnen ans Herz gelegt, überhaupt nie jemand mitzunehmen; auch nicht, wenn keine Pferde im Kasten waren und selbst dann nicht, wenn sie den Anhalter persönlich kannten. Nein, Freddie, natürlich nicht, wurde mir versichert; und jetzt fragte ich mich, wie oft sie sich über meinen Befehl wohl schon hinweggesetzt hatten.

«Was ist mit der Brillenschlange?«sagte ich mit unverhohlenem Ärger.»Was gibt’s denn eigentlich?«

Dave sagte verzweifelt:»Er ist tot.«

«Ihr… blöden…«Ich war sprachlos vor Zorn und hätte ihn schlagen können, und zweifellos merkte er das, denn er wich instinktiv zurück. Alle möglichen Bildfolgen liefen rasch hintereinander vor meinem inneren Auge ab, und keine verhieß etwas anderes als Probleme und Prozesse.»Was hat er gemacht?«fragte ich.»Wollte er während der Fahrt rausspringen? Habt ihr ihn etwa überfahren…?«Lieber Gott, dachte ich, bitte, nur das nicht.

Daves überraschtes Kopfschütteln setzte wenigstens diesen Befürchtungen ein Ende.

«Er ist im Transporter«, sagte er.»Liegt auf dem Sitz. Wir wollten ihn aufwecken, als wir nach Newbury kamen, und ihm sagen, es sei Zeit zum Aussteigen. Und es war nichts zu wollen. Ich meine… er ist tot.«

«Seid ihr sicher?«

Beide nickten zögernd.

Ich schaltete die Außenbeleuchtung an, die den Asphalt in helles Licht tauchte, und ging mit ihnen hinüber, um nachzusehen. Sie huschten im Krebsgang neben mir her, einer links, einer rechts, und fuchtelten unglücklich mit den Armen, suchten Vergebung, wollten ihr Gewissen erleichtern, sich rechtfertigen, wollten mir klarmachen, daß es ein bedauerlicher Zufall war, für den sie aber, wie Dave gesagt hatte, überhaupt nichts konnten.

Dave, etwa so groß (einsachtzig) und so alt wie ich (Mitte Dreißig), war in erster Linie ein Pferdemensch und Fahrer nur in zweiter; er reiste gewöhnlich mit den Tieren, die vom Stall aus keine Begleitung mitbekamen. Ich hatte ihn und Brett an diesem Morgen nach Newmarket geschickt, eine einfache Fahrt mit neun Pferden, für einen Besitzer, der sich aus einer typischen Verstimmung heraus von seinem bewährten Trainer getrennt hatte und jetzt mit seinem ganzen Lot den Stall wechselte. Es war nicht der erste teure Umzug dieses schnell beleidigten Mannes und zweifellos auch nicht sein letzter. Gestern hatte ich seine dreijährigen Hengste expediert, und morgen kamen seine Stuten an die Reihe. Mehr Geld als Verstand, dachte ich.

Ich wußte, daß die neun Zweijährigen gut in ihrem neuen Zuhause angekommen waren, denn Brett hatte mich wie üblich im Büro angerufen, als er sein Fahrtziel erreicht, und noch einmal, bevor er den Rückweg angetreten hatte. Die Transporter waren alle mit Funktelefon ausgerüstet; das regelmäßige Rückmelden hatte seinen Sinn, auch wenn es den älteren Fahrern übertrieben erschien. Sollten sie mich insgeheim ruhig den pusseligen Freddie nennen; bei einem Bestand von vierzehn Transportern, die fast täglich mit einer lebenden Multimillionenfracht kreuz und quer durch England kurvten, konnte ich mir Unklarheiten oder Versäumnisse nicht leisten.

Das Fahrerhaus großer Pferdetransporter ist immer recht geräumig, da es neben einem oder manchmal auch zwei Fahrern mehreren Begleitern Platz bieten muß. In das Fahrerhaus meines Neun-Pferde-Transporters paßten notfalls acht Personen, bei begrenztem Komfort zwar, aber im-merhin konnten sie sitzen. Auf der langen, gepolsterten Rückbank hinter dem Fahrer und den beiden Beifahrersitzen fanden gewöhnlich vier bis fünf schmale Hintern Platz: jetzt wurde sie der Länge nach von einem Mann eingenommen, der stumm auf dem Rücken lag, mir die Füße entgegenstreckte und sich um Zeit und Stunde nicht mehr zu sorgen brauchte.

Ich kletterte ins Fahrerhaus und schaute auf ihn nieder.

Mir wurde bewußt, daß ich so etwas wie einen Tramp erwartet hatte. Jemand mit Bartstoppeln, schmuddeliger Jacke, speckigen Jeans; heruntergekommen. Nicht einen wohlhabend wirkenden Mann mittleren Alters in Schlips und Kragen, mit einem goldenen Onyxring am Finger und Ledersohlen an den blankgeputzten Schuhen, deren Spitzen zum Himmel zeigten. Nicht einen Mann, der aussah, als hätte er ein passenderes Transportmittel bezahlen können.

Er war ohne Zweifel tot. Ich versuchte weder seinen Puls zu fühlen noch den klaffenden Mund oder die halboffenen Lippen hinter den dicken Brillengläsern zu schließen. Eine zusammengefaltete Pferdedecke hatte ihm als Kopfkissen gedient. Ein Arm war ihm an der Seite heruntergefallen, die Hand mit dem Ring hing schlaff zu Boden, neben einer schwarzen Aktentasche. Ich sprang aus dem Fahrerhaus, warf die Tür zu und schaute in die bekümmerten Gesichter meiner Männer, die mir nicht mehr in die Augen sehen konnten.

«Wieviel hat er euch bezahlt?«fragte ich unverblümt.

«Freddie!«Dave, der Bruder Leichtfuß, sympathisch, aber nicht unbedingt vernünftig, wand sich bei dem Versuch, es zu leugnen.

«Was denken Sie bloß…«begann Brett, der immer schnell den Empörten spielte.

Ich warf ihm einen enttäuschten Blick zu und unterbrach ihn.

«Wo habt ihr ihn aufgelesen, warum wollte er mit, und wieviel hat er euch geboten?«

«Dave hat das ausgehandelt«, sagte Brett vorwurfsvoll.

«Aber Sie haben Ihren Anteil gekriegt. «Keine Frage, sondern eine Feststellung.

«Brett wollte sogar noch mehr«, sagte Dave erbost,»er hat ihn regelrecht gezwungen.«

«Schon gut, beruhigt euch. «Ich wandte mich wieder zum Haus zurück.»Überlegt euch mal lieber, was ihr der Polizei erzählt. Hat er euch zum Beispiel gesagt, wie er heißt?«

«Nein«, sagte Dave.

«Oder warum er mitfahren wollte?«

«Sein Wagen war liegengeblieben«, erklärte Dave.»Er lief an der Tankstelle von South Mimms bei den Zapfsäulen rum und wollte, daß der Fahrer eines Tankwagens ihn nach Bristol mitnimmt.«

«Und?«

«Na ja, er hatte die Kralle voll Bargeld, aber der Tanklaster fuhr nach Southampton.«

«Was hattet ihr denn überhaupt da zu suchen?«fragte ich.

Newmarket lag so nahe, sie brauchten auf dem Rückweg keinesfalls aufzutanken.

«Wir hatten da haltgemacht«, sagte Dave vage.

«Dave hatte Bauchweh«, führte Brett aus.»Dünnpfiff. Wir mußten anhalten, damit er sich dafür was holt.«

«Imodium«, bestätigte Dave nickend.»Da bin ich auf dem Rückweg dann an den Zapfsäulen vorbeigekommen, nicht wahr?«

Kalt ging ich mit ihnen durch die Hintertür ins Haus und führte sie von der Diele nach links in den großen Allzweckraum, in dem ich mich meistens aufhielt. Ich zog die Vorhänge zurück, so daß der Transporter auf dem Asphalt zu sehen war, und schaute auf ihn, während ich die Polizei anrief.

Der Ortspolizist, der das Gespräch entgegennahm, kannte mich gut, da wir beide unser Leben weitgehend hier im Rennsportzentrum Pixhill, einem Dorf mit Kleinstadtcharakter, zugebracht hatten, das verstreut in einem Tal südlich von Newbury im Hügelland von Hampshire lag.

«Sandy«, sagte ich kurz, als er sich meldete.»Hier ist Freddie Croft. Ich habe ein kleines Problem… Einer von meinen Transportern hat einen Anhalter mitgenommen, der wohl unterwegs gestorben ist. Würden Sie mal vorbeikommen? Er ist hier vor meinem Haus, nicht drüben auf dem Hof.«

«Tot, meinen Sie?«fragte er vorsichtig nach einer Pause.

«Tot, meine ich. Wie wenn einer nicht mehr atmet.«

Er räusperte sich.»Nehmen Sie mich auf den Arm?«

«Leider nein.«

«Also gut. Zehn Minuten.«

Pixhills Polizei bestand aus Sandy allein, ein WildwestVorposten an den Grenzen von Recht und Ordnung. Pixhills Polizeistation bestand aus einem Büroraum in Sandys Haus, den er hauptsächlich dazu benutzte, die Berichte über seine täglichen Streifenfahrten abzufassen. Außerhalb der Dienstzeit, so wie jetzt, sah er meist in schlampigen Klamotten fern, trank Bier und schmuste nebenbei mit der Mutter seiner Kinder, einer dicken Frau, die ewig in Pantoffeln herumlief.

In den zehn versprochenen Minuten, bevor er selbstbewußt mit seinem ringsum blinkenden Dienstwagen auf meinen Parkplatz rauschte, erfuhr ich nicht viel Neues über unseren unwillkommenen verblichenen Gast.

«Wie konnte ich denn wissen, daß der uns stirbt«, sagte Dave gekränkt, als ich den Hörer auflegte.»Da will man jemandem einen Gefallen tun… Ja, klar, ich weiß, daß Sie uns das verboten haben. Aber er hat an einem Stück davon gequasselt, wie dringend er nach Bristol müßte, zur Hochzeit seiner Tochter oder so was.«

Ich sah ihn ungläubig an.

«Na ja, nun«, verteidigte sich Dave,»wie konnte ich das wissen?«

«Es war allein Daves Idee«, versicherte mir Brett.

«Habt ihr mit ihm geredet?«fragte ich sie.

«Nicht so viel«, sagte Dave.»Er hat sich ja auch nach hinten gesetzt. Anscheinend wollte er nicht reden.«

«Ich habe Dave gesagt, daß es grundfalsch ist«, nörgelte Brett.

«Halt’s Maul«, sagte Dave wütend.»Du hättest dich ja weigern können, ihn mitzunehmen. Mir ist nicht aufgefallen, daß du davon was gesagt hast.«

«Und daß er stirbt, ist auch keinem von euch aufgefallen?«meinte ich ironisch.

Der Gedanke war ihnen unangenehm, aber sie hatten es wirklich nicht bemerkt.

«Ich dachte, er schläft«, sagte Dave, und Brett nickte.»Na ja«, fuhr Dave fort,»und wie er dann nicht wachzukriegen war… Ich meine, Sie haben ja gesehen, wie er daliegt… Wir waren gerade an der Ausfahrt Newbury von der Autobahn runter… und wir wollten ihn an der Tankstelle in Chieveley absetzen, damit er einen Wagen nach Bristol kriegt, aber… na ja, da war er tot, und wir konnten ihn ja nicht gut auf die Straße werfen, oder?«

Zugegeben, das konnten sie nicht. Also hatten sie ihn zu mir nach Hause gebracht, wie Katzen, die einen toten Vogel anschleppen.

«Dave wollte ihn irgendwo abladen«, jammerte Brett im Ton sittlicher Entrüstung.»Er war drauf und dran. Ich hab gesagt, das geht nicht.«

Dave funkelte ihn an.»Wir haben darüber geredet«, sagte er,»weiter nichts.«

«Ihr hättet euch wirklich Ärger eingehandelt, wenn ihr ihn abgeladen hättet«, sagte ich,»und nicht nur von meiner Seite.«

Sandy knöpfte noch schnell seine dunkelblaue Uniform zu, während er ausstieg und auf die etwas wichtigtuerische Art, die er sich mit den Jahren angewöhnt hatte, die Sache in die Hand nahm. Ein Blick auf die Leiche, und er forderte über Funk Hilfe an, worauf bald ein Arzt erschien und eine Unmenge unbeantwortbarer Fragen über uns hereinbrach.

Wenigstens schien der Tote einen Namen zu haben, denn es fand sich eine Brieftasche voller Adressen und Kreditkarten bei ihm. Sandy kam mit der Brieftasche aus dem Fahrerhaus und zeigte sie mir.

«K. K. Ogden. Kevin Keith Ogden«, sagte er, während er mit kurzen dicken Fingern den Inhalt durchging.»Wohnt in Nottingham. Sagt Ihnen das was?«

«Nein. «Ich schüttelte den Kopf.»Nie von ihm gehört.«

Er hatte nichts anderes erwartet.

«Woran ist er gestorben?«fragte ich.

«Herzschlag vielleicht. Der Doktor will sich vor der Obduktion nicht festlegen. Kein Hinweis auf Fremdeinwirkung.«

Der amtssprachliche Ausdruck» Fremdeinwirkung «war mir immer etwas lächerlich vorgekommen, aber in diesem Fall war ich froh, ihn zu hören.

«Ich kann den Transporter also morgen einsetzen?«fragte ich.

«Spricht wohl nichts dagegen. «Er dachte darüber nach.»Vielleicht sollten Sie ihn saubermachen oder so.«

«Ja«, sagte ich.»Tun wir immer.«

Er warf mir einen Seitenblick zu.»Ich dachte, es sei bei Ihnen Vorschrift, keine Anhalter mitzunehmen.«

«Dave und Brett können sich auf was gefaßt machen.«

Mit einem Anflug von Mitgefühl für die beiden Männer sah er zur Haustür hinüber, wo sie standen, und meinte:»Man sagt Ihnen die eiserne Hand nicht umsonst nach, Freddie.«

«Und die Samthandschuhe?«

«M-hm. Die auch nicht.«

Sandy war vierzig. Mit den Jahren hatte er um die Taille herum Fett angesetzt, doch der Eindruck ländlicher Unbe-darftheit, den die dicken Backen und das weiche Kinn hervorriefen, war irreführend. In der Annahme, ein zu lange am gleichen kleinen Ort tätiger Polizeibeamter würde zu lax und zu nachsichtig, hatten ihn seine Vorgesetzten vor einiger Zeit von Pixhill weg versetzt und Funkstreifen von außerhalb für seine Dienstrunden bestellt. Aber in Sandys Abwesenheit war die Zahl der kleinen Straftaten in Pixhill sprunghaft angestiegen und die Aufklärungsquote in den Keller gegangen, so daß Wachtmeister Sandy Smith bald darauf ohne Umstände wieder in sein Amt eingesetzt wurde, zum Leidwesen aller kleinen Gauner am Ort.

Der smarte junge Dr. Bruce Farway, ein Neuzugang in Pixhill, der es durch seine unerträglich herablassende Art bereits mit der Hälfte seiner Patienten verdorben hatte, kletterte behend aus dem Fahrerhaus und erklärte mir schroff, ich dürfe die Leiche nicht anrühren, bis er für ihren Abtransport gesorgt habe.

«Ich wüßte auch nicht, warum ich sie anfassen sollte«, gab ich gelassen zurück.

Er beäugte mich ungnädig. Wir hatten uns von Anfang an nicht leiden können, und er hatte mir nicht verziehen, daß ich einem meiner Fahrer, der bei ihm in Behandlung war, geraten hatte, auf meine Rechnung eine zweite Meinung einzuholen, die dann seine Diagnose widerlegt hatte. Bei Bruce Farway ließen sich mangelnde Bescheidenheit und herzlich wenig Menschlichkeit diagnostizieren, obwohl ich gehört hatte, er könne nett zu kranken Kindern sein.

Während der Arzt über sein Autotelefon knappe Anweisungen erteilte, ging ich mit Sandy ins Haus, wo dieser erste Aussagen von Dave und Brett aufnahm. Es werde eine gerichtliche Untersuchung geben, teilte er ihnen mit, die ihre Zeit aber wohl nicht weiter in Anspruch nehmen werde.

Auf jeden Fall zu lange, dachte ich, und beide deuteten meinen Gesichtsausdruck genau richtig. Ich sagte ihnen, wir würden morgen weiter sehen. Das schien sie nicht zu erleichtern.

Kurz darauf ließ Sandy sie in Richtung Kneipe ziehen, wo sie ihre Neuigkeit über das hiesige Nachrichtennetz ruckzuck verbreiten würden. Sandy schloß sein Notizbuch, grinste mich unbekümmert an und fuhr wieder nach Hause, um die Polizei am Wohnort des Anhalters zu verständigen. Nur Bruce Farway blieb und wartete in seinem Wagen ungeduldig auf den Abtransport von Kevin Keith Ogden. Ich ging zu ihm hinaus, um nachzuhören, wie die Sache stand.

«Die wollten ihn bis morgen hierlassen«, rief er beleidigt.

«Sandy und ich haben darauf bestanden, daß sie noch heute abend kommen.«

Dankbar fragte ich ihn, ob er im Haus warten wolle, und mit einem zaghaften Achselzucken willigte er ein. In dem großen Wohnzimmer bot ich ihm Kaffee, Cola oder etwas Alkoholisches zu trinken an; gar nichts, sagte er.

Mit herabgezogenen Mundwinkeln sah er sich die Reihe gerahmter Rennsportfotos an der einen Wand an, zumeist Aufnahmen von mir selbst aus meiner Jockeyzeit, beim Überfliegen hoher Hindernisse. In einem Ort, der ganz im Galopprennsport aufging, der den edlen Vierbeinern mehr Arbeitsplätze und mehr Wohlstand verdankte als jedem anderen Industriezweig der Region, hatte Bruce Farway verlauten lassen, ein Leben für den Rennsport sei ein vergeudetes Leben. Nur der selbstlose Dienst am Nächsten, wie Ärzte und Krankenpfleger ihn ausübten, verdiene unser Lob. Die Verletzungen von Rennreitern stufte er als Selbstverstümmelung ein. Niemand begriff, warum so jemand nach Pixhill gekommen war.

Da mir die Gelegenheit günstig erschien, fragte ich ihn danach. Er warf mir einen erstaunten Blick zu und trat ans Fenster, um seine Augen kurz über den abkühlenden, bewegungslosen Pferdetransporter schweifen zu lassen.

«Ich glaube an die Allgemeinpraxis«, sagte er.»Ich glaube an den treuen Dienst in und an einer ländlichen Gemeinde. Ich glaube, man sollte die Familie behandeln und nicht die Krankheit.«

Alles wunderbar, dachte ich, wenn er mich nicht, während er es sagte, im Vollgefühl seiner Überlegenheit von oben herunter angesehen hätte.

«Woran ist unser Toter gestorben?«fragte ich.

Er preßte die ohnehin dünnen Lippen zusammen.»Fettleibigkeit und Rauchen wahrscheinlich.«

In einem anderen Jahrhundert, dachte ich, hätte er Hexen auf den Scheiterhaufen gebracht. Ihrem Seelenheil zuliebe, versteht sich.

Dünn, intolerant, von seiner Sendung überzeugt, zappelte er ungeduldig am Fenster und stellte schließlich selbst eine Frage.

«Warum sind Sie Jockey gewesen?«

Die Antwort war zu kompliziert. Ich sagte nur:»Ich war dazu geboren. Mein Vater hat Hindernispferde trainiert.«

«Wird es da unvermeidlich?«

«Nein«, sagte ich.»Mein Bruder kommandiert Luxusdampfer, und meine Schwester ist Physikerin.«

Er zog seine Aufmerksamkeit völlig von dem Transporter ab und staunte mit offenem Mund.»Ist das Ihr Ernst?«

«Natürlich. Wieso nicht?«

Darauf fiel ihm nichts ein, und das Klingeln des Telefons ersparte ihm die Suche nach einer klugen Antwort. Ich nahm ab, und es war Sandy, ein wenig außer Atem und in einem Notizbuch blätternd.

«Die Polizei von Nottingham«, sagte er,»möchte gern wissen, wo South Mimms genau liegt.«

«Die werden doch eine Landkarte haben!«

«M-hm. Gut, aber sagen Sie es mir mal, dann kann ich den Bericht besser schreiben.«

«Sie haben doch sicher auch eine Landkarte.«

«Ach, kommen Sie, Freddie.«

Lächelnd gab ich nach.»Die Tankstelle South Mimms ist nördlich von London an der M 25. Und eins sage ich Ihnen, Sandy, unser Freund Kevin Keith war nicht direkt von Nottingham nach Bristol unterwegs. Auf dem Weg von Nottingham nach Bristol kommt man nie und nimmer an South Mimms vorbei. Sagen Sie also der Polizei in Nottingham, sie soll es den Angehörigen schonend beibringen, denn was immer der Tote in South Mimms gewollt hat, auf dem geraden Weg von daheim zur Hochzeit einer Tochter war er nicht.«

Er verarbeitete die Information.»Danke«, sagte er,»ich werd’s ausrichten.«

Ich legte auf, und Bruce Farway fragte:»Was für eine Hochzeit?«

Ich erklärte, wie Dave sich gegen meine ausdrückliche Weisung hatte überreden lassen, den Anhalter mitzunehmen.

Stirnrunzelnd fragte Farway:»Sie glauben also nicht an die Tochter?«

«Nicht so ganz.«

«Es spielt aber doch wohl keine Rolle, weshalb er in… wie sagten Sie… in South Mimms war?«

«Für ihn nicht mehr«, stimmte ich zu,»aber meine Fahrer wird es Zeit kosten. Das Leichenschauverfahren und so weiter.«

«Er kann doch nichts dafür, daß er gestorben ist!«wandte der Arzt ein.

«Es ist verdammt ärgerlich.«

Mit offensichtlicher Mißbilligung vertiefte Farway sich wieder in die Betrachtung des Pferdetransporters. Eine ermüdend lange Zeit verging, während ich Scotch mit Wasser trank (»Für mich nicht«, sagte Farway), hungrig an meinen wieder erkaltenden Eintopf dachte und noch zwei Anrufe beantwortete.

Die Neuigkeit hatte sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Der erste Anrufer, der eine Erklärung verlangte, war der

Besitzer der nach Newmarket überführten Zweijährigen, der zweite der Trainer, in dessen Stall sie bisher gestanden hatten.

Jericho Rich, der Besitzer, vergeudete wie üblich keine Zeit mit höflicher Vorrede, sondern sagte ohne Umschweife:»Was hat es mit dem Toten da in Ihrem Transporter auf sich?«Seine Stimme war wie er selbst, laut, aggressiv und reizbar. Von Hause aus hieß er Jerry Colin Rich. Jericho paßte wegen des schmetternden Tons besser zu ihm.

Während ich ihm erzählte, was passiert war, stellte ich ihn mir vor, wie ich ihn oft genug im Führring vor dem Rennen erlebt hatte, ein untersetzter grauhaariger Bärbeißer, der gern mit vorgestrecktem Finger Löcher in die Luft stieß.

«Hören Sie mal gut zu, Kamerad«, brüllte er jetzt durch die Leitung.»Sie nehmen keine Anhalter mit, wenn Sie für mich fahren, ist das klar? Das war immer Ihre Rede, das war mir immer recht so. Und wenn Sie meine Pferde fahren, nehmen Sie auch keine anderen Pferde mit. So haben wir das immer gehalten, und so sollte es auch bleiben.«

Ich überlegte, daß ich sowieso nicht mehr viel Aufträge von ihm bekommen würde, wenn sein ganzes Lot erst in Newmarket stand, daß es aber trotzdem unklug wäre, den alten Zänker vor den Kopf zu stoßen. In ein, zwei Jahren kutschierte ich ihn vielleicht wieder zurück.

«Und noch eins«, sagte er.»Wenn Sie morgen meine Stuten rüberfahren, nehmen Sie einen anderen Wagen. Pferde riechen den Tod nämlich, und ich will nicht, daß die Stuten sich aufregen.«

Ich versicherte ihm, daß sie mit einem anderen Transporter reisen würden, und ersparte mir den Hinweis, daß der Wagen, wenn er morgen die nächste Fuhre abholte, nicht nach Tod, sondern nach Desinfektionsmittel riechen würde.

«Und nehmen Sie nicht den gleichen Fahrer.«

Darüber lohnte es sich nicht zu streiten.»Okay«, sagte ich.

Ihm ging die Puste aus, oder anders gesagt, er begann sich zu wiederholen. Ich reagierte wie immer mit sanfter Zustimmung, weil das am schnellsten seinem Zorn die Spitze nahm, besonders wenn die Nörgeleien in die dritte oder vierte Runde gingen. Wir kauten die gleiche Kiste noch zweimal durch. Ich versprach ihm erneut, einen anderen Transporter und einen anderen Fahrer zu schicken, und schließlich, wenn auch unverändert murrend und noch immer nicht zufrieden, hängte er ein.

Er hatte früher einmal fünf oder sechs Hürdenpferde besessen, die ich regelmäßig für ihn geritten hatte. So wußte ich aus reichlicher Erfahrung, wie man Jerichos Wutanfälle mit ungetrübter Laune überstand.

Dank der Lärmentfaltung Richs hatte Farway offenbar den ganzen sich wiederholenden Wortwechsel mit angehört, denn unerwartet nahm er dazu Stellung.

«Es war nicht Ihre Schuld, daß Ihre Fahrer den Mann mitgenommen haben.«

«Mag sein. «Ich zögerte.»Der Kapitän geht mit dem Schiff unter, sagt mein Bruder immer.«

Er starrte mich an.»Soll das heißen, daß Sie glauben, es war Ihre Schuld?«

Ich fand vor allem, daß es kein guter Zeitpunkt war, um abstrakt über Verantwortung zu diskutieren. Eigentlich wünschte ich mir bloß, Kevin Keith hätte seinen Geist im Lkw von jemand anders aufgegeben. Zu schade, dachte ich, daß der Tanklaster nach Southampton gefahren war.

Michael Watermead sprach in auffallendem Gegensatz zu Jericho Rich leise, bedächtig und überaus kultiviert am Telefon und erkundigte sich als erstes, ob die neun Zweijährigen, die am Morgen seine Obhut verlassen hatten, gut in Newmarket angekommen seien.

Das wußte er bestimmt schon, aber ich versicherte es ihm noch einmal.

Man hätte verstehen können, wenn er über die erzwungene Trennung ungehalten gewesen wäre, doch Michael schien seine Gefühle gut in der Gewalt zu haben. Groß, blond und um die Fünfzig, nach außen hin oft zaghaft, leitete er einen überdurchschnittlich erfolgreichen Stallbetrieb mit sechzig guten Boxen auf drei attraktiven Höfen, die im allgemeinen voll belegt waren. Seine Pferde mochten ihn, und das spricht immer für den Charakter. Sie drückten ihm die Nase an den Hals, wenn er nah genug war, und schauten beim Klang seiner Schritte zur Stalltür heraus. Ich war nie für ihn geritten, da er nur Flachpferde trainierte, aber seit ich die Spedition gekauft hatte, waren wir, zumindest auf geschäftlicher Ebene, gute Freunde geworden.

Als dritter Sohn eines Barons trainierte er für einen entfernten Angehörigen des Königshauses, etwa an dreißigster Stelle der Thronfolge, eine Vorzeigekombination, die ihm überhaupt erst Richs Kundschaft eingebracht hatte. Die anfängliche Begeisterung auf beiden Seiten — es gab nicht mehr viele so große und so durch und durch begabte Lots wie das von Rich — hatte unaufhaltsam nachgelassen, und beide Männer hatten mich auf dem Weg von der Euphorie zur Enttäuschung mit Kommentaren versorgt.

«Der Mann ist unmöglich!«hörte ich Michael wegen eines bestimmten Trainingswunsches von Jericho ausrufen.»Hoffnungslos unvernünftig.«»Mein Pferd hat das Rennen auf der Fahrt nach Schottland verloren«, hatte Rich sich beklagt.»Was schickt er die so weit weg? Das ist zu teuer, und sie kommen müde an. «Wobei er die erfolgreichen Frankreich-Ausflüge Michaels mit den gleichen Tieren völlig übersah.

Ich verhielt mich bei allen Besitzer-Trainer-Differenzen ganz neutral und unparteiisch, wie mein ausgeprägter Überlebenswille es mir gebot, der zurückging auf meine frühe Rennsportzeit, als mich eine unvorsichtige Kritik um ein Haar einmal den Job gekostet hatte. Selbst bei Freunden, hatte ich gelernt, kam ein verständnisvolles Murmeln besser an, als wenn man seine Meinung äußerte.

Die sanfte Tour hatte mir den ganzen Weg durchs Leben geebnet und sich auch im Geschäft bewährt. Versöhnung lag mir mehr als Konfrontation, überreden mehr als befehlen; und ich hatte nicht oft das Nachsehen.

Michael sagte langsam:»Stimmt es, daß dein Transporter mit einem Toten zurückgekommen ist?«

«Leider.«

«Und wer ist das?«

Ich erklärte einmal mehr die Sache mit Kevin Keith Ogden und erzählte ihm, daß Jericho Rich bereits einen anderen Wagen und einen anderen Fahrer für seine Stuten am nächsten Tag verlangt hatte.

«Hör mir auf mit dem!«sagte Michael bitter.»Obwohl es ein großes Loch in meinen Hof reißt, bin ich doch froh, ihn loszusein. Unausstehlicher Klotz.«

«Kriegst du die Löcher zu?«

«Klar, mit der Zeit schon. Fürs erste hab ich noch zehn Pferde außerhalb stehen, die ich jetzt reinholen kann. Es ist hart, daß Jericho geht, aber kein Beinbruch.«

«Schön.«»Mittagessen am Sonntag? Maudie ruft dich noch an.«

«Gut.«

«Tschüs.«

In Maudie Watermeads blauen Augen konnte ein Mann ertrinken. Ihre Sonntagsessen waren legendär.

Farway, der noch immer am Fenster stand, wurde ungeduldig und sah wiederholt auf seine Uhr, als würde die Zeit dadurch schneller vergehen.

«Scotch?«fragte ich noch einmal.

«Ich trinke nicht.«

Aversion oder Sucht? fragte ich mich. Im großen und ganzen wohl einfach Mißbilligung.

Ich schaute mich in dem geräumigen, mir vertrauten Zimmer um und hätte gern gewußt, wie er es sah. Grauer Teppichboden mit einzelnen Läufern. Kremfarbene Wände, Rennsportfotos, die Porzellanpapageiensammlung meiner Mutter in einer Nische. Antiker Mahagonischreibtisch, grüner Lederdrehstuhl. Sofas mit alten, verblaßten Chintzbezügen, Getränketablett auf einem Beistelltisch, kremfarbene Steppvorhänge, überall Tischlampen, Bücherregale und eine Topfpflanze, nur Blätter, keine Blüten. Ein bewohnter Raum, nicht übermäßig sauber, nicht das Prunkstück eines Innenarchitekten.

Mein Zuhause.

Ein unauffälliger schwarzer Lieferwagen kroch schließlich über den Asphalt und parkte zwischen Pferdetransporter und Haustür. Er hatte lange schwarze, fensterlose Seiten und eine schwarze, fensterlose Hecktür, ein Leichenwagen, wie ich merkte. Gleich darauf tauchte auch Sandy in seinem Dienstwagen wieder auf.

Farway eilte rufend hinaus und stürzte ihm und den drei Männern, die träge aus dem Leichenwagen stiegen, entgegen. Ich folgte Farway auf dem Fuß und sah zu, wie sie eine schmale Bahre ausluden, die mit viel dunklem Segeltuch und mehreren elastischen Gurten versehen war.

Der Mann, der offenbar das Sagen hatte, erklärte, er sei vom Büro des Leichenbeschauers, und bat Farway, einige Formulare auszufüllen. Die beiden anderen kletterten mit der Bahre ins Fahrerhaus des Transporters, gefolgt von Sandy, der bald darauf mit einer Reise- und einer Aktentasche wieder herauskam. Beide Taschen waren aus Leder, abgewetzt zwar, aber ursprünglich von guter Qualität.

«Eigentum des Verstorbenen?«fragte der Mann.

Farway nahm es an.

«Meinen Leuten gehören die nicht«, stimmte ich zu.

Sandy stellte die Taschen auf den Asphalt, stieg noch einmal hoch und kam mit einer Plastiktüte wieder, in der sich die dem Toten abgenommenen Habseligkeiten befanden — Uhr, Feuerzeug, eine Packung Zigaretten, Kuli, Kamm, Nagelfeile, Taschentuch, die Brille und der Goldring mit dem Onyx. Er nannte die Gegenstände einzeln dem mitschreibenden Justizbeamten, band dann einen Anhänger mit der Aufschrift» Eigentum K. K. Ogden «an die Tüte und verstaute sie in seinem Wagen.

Während Sandy und der Justizbeamte wieder ins Fahrerhaus stiegen, hockte ich mich hin und zog den Reißverschluß der Reisetasche auf.

«Ich glaube, das sollten Sie nicht tun«, protestierte Farway.

Die Reisetasche, halbvoll, enthielt das Nötigste für unterwegs: Rasierapparat, Schlafanzug, sauberes Hemd, nichts sonderlich Neues, nichts Ungewöhnliches. Ich zog den Reißverschluß zu und klappte die Aktentasche auf, die nicht verschlossen war.

«He«, machte Farway.

«Wenn jemand bei der Fahrt in einem Wagen von mir stirbt, möchte ich ihn gerne etwas kennenlernen.«

«Aber Sie haben kein Recht dazu.«

Ich sah trotzdem den mageren Inhalt durch, der mir wenig aufschlußreich erschien. Ein Taschenrechner. Ein Notizblock, unbeschrieben. Ein Stoß Ansichtskarten in einem Gummiband, alle mit derselben Aufnahme eines Hotels auf dem Land — Werbezettel. Ein Röhrchen Aspirin, eine Schachtel Tabletten gegen Sodbrennen, zwei Fläschchen Wodka, wie man sie auf Flugreisen bekommt, beide voll.

«Also hören Sie«, sagte Farway unbehaglich.

Ich schloß die Aktentasche und stand auf.»Schon passiert«, sagte ich.

Die Bestatter brauchten ihre Zeit, und als sie Kevin Keith endlich herausbrachten, kamen sie vorn durch die Beifahrertür, nicht aus der Pflegertür weiter hinten, durch die wir alle bisher eingestiegen waren, um an die Rückbank zu gelangen. Wegen der Starre, die nach dem Tod eingetreten war, konnte die Leiche offenbar nur nach vorn auf die quer über den Vordersitzen liegende Bahre gehoben werden, und so kam sie dann mit den Füßen voran, ganz in Segeltuch gehüllt, mit Gurten festgeschnallt nach draußen.

Wie es aussah, war die Leiche schwer und zudem sperrig, da der gekrümmte rechte Arm sich nicht anlegen ließ. Von Achtung vor dem Toten konnte keine Rede sein; er stellte vielmehr ein ähnliches Problem dar wie ein widerspenstiger Konzertflügel, der aus einer engen, verwinkelten Dachstube herausgeholt werden soll. Leichenträger gewöhnten sich wohl daran. Einer der Männer dachte zwischen Äußerungen wie» hau ruck «und» der Arm klemmt in der Tür «laut über die Chancen seiner Fußballmann-schaft am kommenden Samstag nach. Sie schoben die Bahre unsanft durch die offene Heckklappe des Leichenwagens, als führten sie Hausmüll ab, und ich sah, wie sie den in Segeltuch gehüllten Ogden von der Bahre in einen offenen Metallsarg luden.

Auch Farway, mehr an Leichen gewöhnt als ich, nahm den Abtransport gelassen. Er werde die Obduktion nicht selbst durchführen, sagte er mir, aber es sehe ihm nach einfachem Herzstillstand aus. Bloßes Pech. Die gerichtliche Untersuchung dürfte lediglich eine Formalität sein. Er werde den Totenschein ausstellen. Mich werde man vielleicht gar nicht vorladen.

Er sagte beiläufig gute Nacht, stieg in sein Auto und folgte dem Leichenwagen, der über den Asphalt davonrollte. Sandy nahm die Reise- und die Aktentasche an sich und fuhr gemächlich hinterher.

Alles wirkte plötzlich sehr ruhig. Ich sah hinauf zu den Sternen, ewig im Angesicht des Vergänglichen. Ob Kevin Keith Ogden gewußt hatte, daß er stirbt, während er auf der Kunstlederbank hinter dem donnernden Motor lag?

Sehr wahrscheinlich nicht. Beim Pferderennen hatte ich bei manchen Stürzen das Bewußtsein verloren, und das letzte, was ich zu sehen bekam, war ein wirbelndes, verwischtes Ineinander von Gras und Himmel. Nach dem Aufprall hätte ich nicht gemerkt, wenn ich gestorben wäre; und manchmal, wenn ich glücklich wieder zu mir kam, hatte ich gedacht, daß ein Tod, von dem man nichts merkte, ein Segen wäre.

Noch einmal kletterte ich ins Fahrerhaus. Auf der zusammengerollten Pferdedecke sah man noch die Kuhle, die Ogdens Kopf hinterlassen hatte, und in der Bankmitte war ein unansehnlicher Fleck, der morgen beseitigt werden mußte. Verdammter Kerl, dachte ich.

Brett hatte den Zündschlüssel stecken lassen, auch dies ein Tabu für mich. Ich trat nach vorn, zog den Schlüsselbund ab und überzeugte mich, daß wenigstens die Bremsen gezogen waren und nur das Innenlicht brannte. Schließlich schaltete ich auch das aus, sprang aus der Beifahrertür und sperrte sie hinter mir ab.

Die Fahrer- und die Beifahrertür hatten denselben Schlüssel wie die Zündung, ein großes ausgefeiltes Ding, das der Hersteller mitlieferte. Ich sperrte die Fahrertür ab — Brett hatte es versäumt — und verschloß mit dem zweiten, normaleren Schlüssel die Pflegertür. Ein dritter Schlüssel war für das kleine Fach unter dem Armaturenbrett, das den Anschluß für das Funktelefon enthielt und etliche — wie ich mich überzeugt hatte, noch vollständige — Papiere.

Ich ging noch einmal zu einer letzten Inspektion um den Transporter herum. Alles schien in Ordnung zu sein. Die beiden Rampen für die Pferde waren hochgeklappt und verriegelt. Die fünf für Menschen bestimmten Türen, zwei vorn, drei für die Begleiter, waren ebenfalls fest zu. Auch die Klappe des Einfüllstutzens für die Dieseltanks, zu öffnen mit dem vierten und letzten Schlüssel am Ring, war gesichert.

Trotzdem war mir unbehaglich zumute, und als ich durch die Hintertür wieder ins Haus ging, schloß ich sie ausnahmsweise ab. Ich streckte die Hand aus, um das Außenlicht zu löschen, überlegte es mir dann aber und ließ es an.

Meine Lkws verbrachten die Nacht gewöhnlich in einem großen, von einer Backsteinmauer umgebenen ehemaligen Bauernhof, dessen breites, robustes Eingangstor mit einem Vorhängeschloß gesichert war. Der Neun-PferdeTransporter, so allein auf meinem Parkplatz, sah irgendwie schutzlos aus, auch wenn Lkws dieses Kalibers selten gestohlen werden. Da waren zu viele Kennziffern auf zu vielen Teilen eingestanzt, abgesehen von dem sechsfach aufgemalten Firmennamen Croft Raceways, so daß die Kiste insgesamt kaum ideal war, wenn man nicht auffallen wollte.

Ich machte den alten Eintopf noch mal heiß, gab einen Schuß Rotwein als Würze hinzu und aß das Ganze bei offenen Vorhängen im Wohnzimmer, so daß ich den Pferdetransporter im Auge behalten konnte.

Es passierte rein gar nichts. Mein Unbehagen legte sich allmählich, und ich schrieb es allein dem Tod von Ogden zu.

Ich bekam noch mehrere Anrufe und rief eigens meinen Fahrdienstleiter an, um mich zu vergewissern, daß alle anderen Transporter wieder auf dem Hof standen. Die übrigen Touren des Tages waren offenbar einmal ohne Zwischenfall und ganz nach Plan verlaufen: keine durcheinandergebrachten Zeiten, kein Maschinenschaden, kein vergessenes Personal oder Material. Alle Fahrer hatten ihren Fahrtnachweis ausgefüllt und ihn, wie gewünscht, am Büro in den Briefkasten geworfen. Die Vorhängeschlösser waren zu. An Schlüssel war nirgends heranzukommen. Die Botschaft, die ich empfing, lautete trotz des toten Anhalters, daß der Boss sich beruhigt schlafen legen konnte.

Genau das tat der Boss schließlich auch, obwohl ich von meinem Schlafzimmer, das über dem Wohnzimmer lag, den Pferdetransporter draußen im Lampenlicht immer noch gut sehen konnte. Ich ließ die Vorhänge offen, und wenn ich sie zum Schlafen auch nie ganz zuzog, wachte ich wegen der ungewohnten Helligkeit draußen doch mehrmals auf. Gegen drei Uhr früh wurde ich plötzlich hellwach, aufgestört durch mehr als bloßes Licht. Gestört durch ein Blitzen an der Zimmerdecke, schwach und undeutlich wie Wetterleuchten, gesehen durch die Augenlider.

Das Wetter war zuletzt mild gewesen, obwohl es erst Anfang März war, aber es kam mir vor, als sei die Temperatur in den letzten Stunden um zehn Grad gefallen. Barfuß, in Pyjamashorts, stand ich auf und ging fröstelnd ans Fenster.

Auf den ersten Blick schien sich nichts verändert zu haben. Ich drehte mich halb wieder dem warmen Bett zu und erstarrte dann, ernstlich beunruhigt.

Die Pflegertür, durch die wir alle eingestiegen waren, war einen Spalt offen, nicht fest verschlossen, wie ich sie zurückgelassen hatte.

Offen.

Ich sah genau hin, aber es gab kein Vertun. Eine dünne Schattenlinie war erkennbar, wo die Tür sich nicht mehr nahtlos in den Rahmen fügte. Das Blitzen, das ich gesehen hatte, mußte ein beim Öffnen der Tür entstandener Lichtreflex gewesen sein.

Ohne ans Anziehen zu denken, stürzte ich Hals über Kopf die Treppe hinunter zur Hintertür, schloß sie auf, sprang in ein Paar Gummistiefel und schnappte mir einen alten Regenmantel vom Haken. Während sich meine Arme noch in den Ärmellöchern verhedderten, rannte ich über den Asphalt und riß die Tür auf.

Es war jemand drin, eine Gestalt in Schwarz, von meinem Anblick so überrascht wie ich von ihrem. Erst stand sie mit dem Rücken zu mir, doch als sie dann mit einem wütenden Ausruf, der eigentlich nur ein Keuchen war, herumfuhr, sah ich, daß ihr Kopf in einer schwarzen Kapuzenmütze steckte, mit zwei Schlitzen für die hell glänzenden Augen — die Klischeemaskierung von Banditen und Terroristen.

«Was zum Teufel machen Sie da?«brüllte ich und versuchte zu dem Eindringling hochzuklettern. Zwecklos, wenn man Gummistiefel trägt: die Trittflächen sind für so breite Treter nicht gemacht.

Die schwarze Maske griff nach der zusammengerollten Pferdedecke, schüttelte sie rasch auf und warf sie mir über. Meine Füße rutschten ab, ich machte einen Schritt zurück ins Leere und schlug lang auf den Asphalt. Die schwarze Gestalt, schwach sichtbar, war mit einem Satz auf der Fahrerseite, riegelte die Tür dort auf, sprang behend heraus und flüchtete schnell und geschmeidig in die Dunkelheit.

Mit Sportschuhen hätte ich die Jagd vielleicht aufnehmen können. In Gummistiefeln und einem offenen Regenmantel war es aussichtslos. Ich stand angewidert auf, knöpfte endlich den Regenmantel zu und lauschte vergebens auf das Geräusch entschwindender Schritte.

All das ergab keinen Sinn, auch nicht, daß ich hier mitten in der Nacht in unpassendem Aufzug herumstand. Der Transporter enthielt außer dem Radio oder dem Telefon nichts, was sich zu stehlen lohnte, aber auf beides hatte es die schwarze Gestalt offenbar nicht abgesehen gehabt. Wenn ich daran zurückdachte, wie ich sie im ersten Moment vor mir sah, hatte sie eigentlich gar nichts Bestimmtes gemacht, sondern bloß mit dem Rücken zu mir im Fahrerhaus gestanden. Staub und Dreck an den Kleidern. Soweit ich mich entsann, hatte sie nichts in den Händen gehabt. Kein Werkzeug, nicht einmal eine Taschenlampe. Wenn sie die Pflegertür mit einem Schlüssel oder einem Dietrich geöffnet hatte, mußte sie ihn in die Tasche gesteckt haben.

Das Schlüsselloch der Pflegertür befand sich im Griff selbst. Es steckte kein Schlüssel im Schloß, und ich fand auch keine frischen Kratzer oder andere Hinweise, daß sich jemand mit Gewalt oder sonstwie daran zu schaffen gemacht hätte.

Frierend und verärgert warf ich die Pferdedecke wieder ins Fahrerhaus, schloß die Pfleger- und die Fahrertür und ging ins Haus, um die Schlüssel zu holen und sie noch einmal abzusperren.

Aus Rücksicht auf meine Teppiche zog ich die Stiefel aus und tappte barfuß über den Flur und durchs Wohnzimmer zum Schreibtisch, ohne erst Licht zu machen, da es mir von draußen her hell genug war. Ich nahm die Schlüssel aus der Schublade, machte kehrt, zog die Stiefel wieder an und schlappte zum Wagen zurück.

Im Näherkommen sah ich ungläubig, daß sich wieder ein schwarzer Schatten im Fahrerhaus bewegte. Das ist nicht wahr, dachte ich, und was in Gottes Namen konnte er bloß wollen? Er stand hinter dem Fahrersitz und griff in die Koje über den Vordersitzen, die die ganze Breite des Fahrerhauses einnahm und über der Windschutzscheibe nach vorn vorsprang. In dieser geräumigen Ablage, die alle meine Lkws hatten, brachten die Fahrer und die Begleiter ihre persönliche Habe unter, oft Kleidung zum Wechseln und manchmal auch Schlafsack und Kopfkissen. Sie war mit einer Matratze ausgestattet, da einige Fahrer unterwegs lieber dort übernachteten als in einer billigen Pension. Brett hatte mir gesagt, er habe etwas Besseres erwartet. Sie können ja wählen, hatte ich ihn erinnert.

Die geschäftige Gestalt im Fahrerhaus sah mich kommen und war wieder draußen und weg, bevor ich sie erreichen konnte. Ich lief schwerfüßig hinterdrein, wie durch Zuk-kerrübensirup, da bei jedem Schritt meine nackten Füße halb aus den Stiefeln rutschten. Der Schatten jagte die Zufahrt hinunter und schien am Ausgang zur Straße mit dem Dunkel der Bäume zu verschmelzen.

Vergebens folgte ich ihm auf die Straße hinaus, denn er war nicht mehr zu sehen. Es war eine offene Landstraße, mit offenen Einfahrten zu anderen Häusern. Bäume und

Büsche zu Hunderten, unzählige Verstecke. Man hätte eine halbe Armee gebraucht, um ihn zu finden.

Niedergeschlagen und verwirrt kehrte ich zu dem Transporter zurück. Die Fahrertür stand noch weit offen. Umständlich kletterte ich hinein, stellte mich so wie er hinter den Sitz und knipste das Innenlicht an, um besser in die Ablage schauen zu können.

Sie war leer bis auf die Matratze und eine Plastiktüte, die, wie sich zeigte, Abfälle a la Brett enthielt; das zerknüllte Papier einer Tafel Schokolade, eine leere Sandwichverpackung mit dem Sortenaufdruck» Rind und Tomate «und zwei leere Coladosen.

Ich stellte die Tüte wieder zurück. Jeder Fahrer hatte seinen Transporter selbst in Ordnung zu halten, und ich hatte keine Lust, hinter Brett aufzuräumen. Was immer er und Dave an diesem Tag getrieben hatten, die Mitnahme sterbenskranker Geschäftsleute war anscheinend erst der Anfang. Die zwei würden mir am Morgen eine ganze Menge erklären müssen.

Sorgfältig schloß ich noch einmal den Wagen ab und ging zum Haus zurück, fühlte mich dort aber keineswegs beruhigt. Der wendige Besucher war beim erstenmal in den Transporter gelangt, ohne eine Scheibe einzuschlagen oder sonstwie erkennbare Gewalt anzuwenden, und vermutlich konnte er immer noch so hinein.

Obwohl ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was er wollte, mißfiel mir die Vorstellung, er könnte ein zweitesmal wiederkommen. Außerdem kam mir der beunruhigende Gedanke, daß er vorhaben könnte, etwas zu deponieren, etwas zu beschädigen oder den Transporter ganz außer Betrieb zu setzen. Bestürzt und verunsichert streifte ich die Stiefel und den Regenmantel ab und rannte nach oben, um zwei Pullover, Jeans, Strümpfe und Schuhe anzuziehen, in denen ich laufen konnte. Ich holte meinen alten Schlafsack aus dem Schrank, überzeugte mich durch einen Blick aus dem Fenster, daß sich nicht schon ein dritter Besuch anbahnte, und lief wieder hinunter, um noch eine Steppjacke und Handschuhe überzuziehen.

Mit all diesen Wärmespendern bepackt, ging ich ein weiteres Mal zu dem Transporter und richtete mich für länger auf den Vordersitzen ein, zumindest körperlich, wenn auch nicht geistig einigermaßen entspannt.

Die Zeit verging.

Ich döste.

Niemand kam.

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