Kapitel 12

Ich flog mit der letzten Maschine des Tages zurück von Edinburgh nach Heathrow, wieder umringt von Trägern rotweißer Schals, die jetzt noch zotigere Lieder von sich gaben. Baß- und Baritonstimmen, melodisch, widerhallend. Die Rotweißen hatten offensichtlich das Länderspiel in Murrayfield gewonnen. Bier floß mit joggerartiger Geschwindigkeit. Eine offene Flamme hätte die Alkoholdünste in der Kabine entzündet. Die Flugbegleiterinnen wurden in den Po gekniffen. Die Hochstimmung steigerte sich womöglich noch während der Stunde in der Luft.

Mir schwirrte der Kopf von anderen Dingen, dem Nachhall der Fakten, mit denen Guggenheim mich überschüttet hatte.

Der Mann selbst saß irgendwo zwischen den Schals, von mir getrennt, weil zwei Sitze nebeneinander nicht zu bekommen gewesen waren. Er hatte nur das nötigste Handgepäck dabei, aber um so mehr Hoffnung und eine große Tasche mit wissenschaftlichen Feldinstrumenten. Nichts hätte ihn von seiner Suche nach dem unbenannten Vektor von E. risticii abhalten können. Er zitterte vor Hunger. Mit sensiblen Fingerspitzen griff er nach den Sternen, wie Händel nach dem Halleluja, wie Newton nach dem Infinitesimalkalkül, wie Ehrlich zweifellos nach dem Arsen zur Syphilisbehandlung. Sein Genie verlangte nach Anerkennung.

«Es ist früh im Jahr für das Potomac-Fieber«, hatte er gesagt.

«Eigentlich ist das eine Warmwettergeschichte…«

«Die Zecken kamen aus dem Süden Frankreichs«, erklärte ich ihm.»Aus dem Rhönetal.«

«Ein Fluß. Aber normalerweise ist die Zeit von Mai bis Oktober.«

«Voriges Jahr im August hatten wir ein von Zecken wimmelndes totes Kaninchen.«

«Ja. Ja. August.«

«Bei uns in Pixhill ging im letzten Sommer ein Bazillus um, der eine kleine Anzahl Pferde für die Saison außer Gefecht gesetzt hat.«

Er stöhnte. Vor Freude, soweit ich es beurteilen konnte.

«Eine ähnliche, nicht spezifizierte Fieberkrankheit trat auch in Frankreich auf«, sagte ich.»Das habe ich diese Woche erst wieder in der Zeitung gelesen.«

«Suchen Sie mir die Zeitung raus.«

«Ja, okay.«

«Auf Pferde-Ehrlichiose hat man natürlich nicht untersucht… die Infektion ist noch fast unbekannt. Selten. Sie tritt vereinzelt auf, nicht als Epidemie. Da muß man lange suchen. Das ist wunderbar.«

«Nicht für die Pferdebesitzer.«

«Aber wir haben hier einen historischen Moment…«

Wir hatten ein hoffnungsloses Debakel, dachte ich, wenn ich das alles nicht schnell bereinigen konnte.»Freddie Crofts Spedition brachte Potomac-Pferdefieber nach England. «Ich sah die Schlagzeilen schon vor mir.»Freddie Crofts Fahrer brachten Fieber nach England. «Vielleicht sollte man Freddie Crofts Spedition lieber nicht in Anspruch nehmen? So leid es mir tut, Freddie, aber da darf ich kein Risiko eingehen.

Vertrauen war zerbrechlich, Treue wandelbar. Kaninchen, die Zecken einschleppen? Nein, herzlichen Dank.

Freddie Crofts Raceways aus dem Geschäft.

Mir lief der Schweiß.

Eins von den Watermead-Kaninchen hatte am vorigen Sonntag gefehlt. Es waren nur vierzehn, nicht fünfzehn da, hatten die Kinder gesagt. Vielleicht hatte Lewis, der bewährte Kaninchenbändiger, dieses eine Kaninchen mit nach Frankreich genommen. Heimlich, in einem versteckten Behältnis über den Dieseltanks. Im vorigen August war es auch Lewis, der das tote, von Zecken übersäte Kaninchen aus Frankreich mitgebracht hatte. Joggers toten Cousin.

Zecken. Joggers Stimme drang deutlich durch die gegrölten Rugbylieder.»Ein Phönixpferd hatte den gleichen Hut auf«, hörte ich ihn sagen, als die Rotweißen ihr» Liegt der Feind in Schutt und Asche «anstimmten, ein Text, der mir neu war, aber leicht ins Ohr ging, denn sie sangen ihn zur Melodie von» Mein Hut, der hat drei Ecken«. Ein Phönixpferd, dachte ich halb beduselt, hatte den gleichen Hut auf. Mit wieviel Federn? Nicht mit Federn, mit drei Ecken… Ecken, Wecken, Decken, Strecken: Ein Phönixpferd hatte die gleichen Zecken!

Ein Phönixpferd hatte vorigen Sommer die gleichen Zecken, und es ist gestorben.

Wer war Phönix?

O Gott, dachte ich. Nicht Phönix und Adler. Nicht Phönix und Federn, oder Phönix und Sonne oder Phoenix, Arizona, oder Phönix und Ovid. Nein… Phönix und Asche.

Asche… Usher.

Ein Pferd von Benjy Usher hatte die gleichen Zecken…

Dots Stimme:»Diese alten Klepper. Sie sind eingegangen. Ich hasse das. Immer standen sie vor dem Wohnzimmerfenster.«

Eine vielgekniffene Flugbegleiterin fragte mich durch den fröhlichen Lärm ringsherum, ob sie mir etwas bringen dürfe.

«Einen dreifachen Scotch… nein, nur einen einfachen. Muß noch nach Hause fahren.«

Bilder zogen an meinem inneren Auge vorbei. Benjy Usher beim Training von seinem Fenster im ersten Stock aus. Benjy, der nie seine Pferde anfaßte. Benjy, wie er mich seine Starter in Sandown satteln ließ.

Benjy konnte doch wohl nicht gewußt haben, daß seine altersschwachen, sterbenden Pensionäre wahrscheinlich von Ehrlichiae befallen waren? Oder doch? Hatte Benjy Angst gehabt, die mikroskopisch kleinen Organismen würden auf ihn überspringen?

Wenn er das aber befürchtet hatte, wieso erbot er sich dann wieder, zwei alte Pferde aufzunehmen? Wußte er, daß auch sie möglicherweise Zecken hatten?

Lewis fuhr oft für ihn.

Die Flugbegleiterin brachte meinen Drink.

Benjy ließ seine Pferde in Rennen mit kleinem Feld starten und hatte öfter schon das unverschämte Glück gehabt, daß sein Pferd sich als einziges am Start befand.

Es mußte Zufall sein. Benjy war reich.

Und wenn er nun nach Siegen statt nach Geld hungerte? Die Stimme von Harve:»Mr. Usher ist ein miserabler Trainer.«

Es war Unsinn. Bestimmt war es Unsinn.

Von irgendwoher drang, vermischt mit den Rugbygesängen, ein Satz, den ich einmal gelesen hatte, an die Oberfläche meines Bewußtseins.»Es ist müßig, über die treibende Kraft in uns zu spekulieren; sie bricht von selbst hervor und zeigt sich. Unter Druck läßt sie sich nicht verbergen.«

Was, wenn Benjy Usher von Siegesdurst getrieben wurde, einem Verlangen, das sein Können allein nicht zu stillen vermochte.?

Nein. Ausgeschlossen. Und doch bereiteten Siege ihm orgastisches Vergnügen.

Lewis fuhr oft für Benjy.

Lewis hatte sich vorigen Sommer die Locken abgeschnitten.

Hatte Lewis befürchtet, Zecken in die langen Haare zu bekommen?

Er hatte den zeckenbefallenen Cousin aus Joggers Grube transportiert.

Jogger.

Benjy hatte Jogger nicht umgebracht. Benjy hatte bei den Watermeads Tennis gespielt um die Zeit, als Jogger gestorben war.

Lewis hatte Jogger nicht umgebracht. Er war in Frankreich gewesen.

Lewis war später als geplant vom Bauernhof zurückgekommen, früh um zwei in der Nacht von Montag auf Dienstag. Er hatte Michaels Zweijährige auf dem Hof untergestellt und mir die Nachricht hinterlassen, er habe Grippe. Ich hatte die beiden Zweijährigen am Dienstag morgen mit seinem Super-Sechser zu Michael gebracht, hatte dort gefrühstückt und Irkab Alhawa beim Galopp zugesehen. Danach war der Sechser mit einem anderen Fahrer wieder zum Pferderennen gerollt.

Und wenn Lewis nun tatsächlich das fehlende Kaninchen mit nach Frankreich genommen hatte, damit es seine krankmachende Fracht aufnahm? Wenn es noch in dem versteckten Behälter gewesen war, als ich den Sechser zu Michael gefahren hatte? Wenn es noch dagewesen war, als der Transporter am Abend vom Rennplatz zurückkam? Wenn Lewis, der doch nur einen Schnupfen hatte, später noch einmal zum Bauernhof gekommen war, um das Kaninchen zu holen… und ich war mitten in den Abholvor-gang hineingeplatzt?

Gab das einen Sinn?

So viel Sinn wie alles andere.

Wo war aber Jogger hineingeplatzt?

Was hatte Jogger am Sonntag morgen auf dem Bauernhof gesehen, das er nicht sehen sollte — und mir erzählen wollen?

Was war an diesem Sonntag morgen auf dem Bauernhof passiert?

«Stellen Sie die richtigen Fragen«, hatte Sandy gesagt.

Dieser Sonntagmorgen war der 6. März gewesen, der Tag, an dem der Bürocomputer eingeschaltet worden war, um den Virus Michelangelo zu aktivieren. Jogger verstand nichts von Computern. Es ging nicht darum, was er auf dem Bauernhof gesehen hatte, sondern wen.

Die Rugbygesänge um mich herum schwollen an.

Ich hatte das Gefühl, in großer Gefahr zu sein.

Auf dem Heimweg von Heathrow rief ich Isobel an und entschuldigte mich dafür, daß es so spät geworden war.

Macht überhaupt nichts, sagte sie. Der Tag war gut gelaufen. Harve hatte zwei Sieger nach Chepstow gebracht. Aziz und Dave waren aus Irland zurück, aber Aziz hatte gesagt, Dave ginge es nicht besonders. Dave, meinte Isobel, habe sich vielleicht die Grippe geholt.

«Mist«, sagte ich.

Nina hatte einen Sieger nach Lingfeld geschafft und Nigel ebenfalls. Lewis hatte drei Springer von Benjy Usher nach Chepstow gefahren und war daran erinnert worden, daß er am Montag leichtes Gepäck für die Italientour mitbringen sollte. Phil war gemächlich nach Uttoxeter kutschiert. Michael Watermead und Marigold English hatten für Dienstag je zwei Wagen bestellt, um Pferde zum Verkauf nach Doncaster zu schaffen.

«Prima«, sagte ich erleichtert. Marigold hatte den Fall Peterman auf sich beruhen lassen; jedenfalls bis jetzt.

Jericho hatte sich mit seinem neuen Trainer angeblich bereits überwerfen, sagte Isobel. Sie hielt es für denkbar, daß wir sein ganzes Lot bald schon wieder heim nach Pixhill holen konnten.

«Der Mann ist verrückt«, bemerkte ich.

«Wie ich höre, gehen Sie morgen mittag wieder zu den Watermeads essen«, sagte Isobel.»Dann nehme ich mal weiter die Bestellungen an, ja?«

«Ja, bitte«, sagte ich dankbar.»Und von wem haben Sie das?«

«Tessa Watermead war im Büro. Ich hab ihr einiges beigebracht. Geht doch in Ordnung, ja?«

«Na klar.«

«Gute Nacht also.«

«Gute Nacht.«

Guggenheim, der neben mir in dem Fourtrak saß, wies meinen Vorschlag, wir sollten schnell irgendwo einen Happen essen, zurück. Ich hatte nicht zu Mittag gegessen und war hungrig. Guggenheims Hunger nach Erkenntnis trug den Sieg davon. Außerdem, so sagte er zu seiner Rechtfertigung und um mich zum Schweigen zu bringen, brauche Peterman das Tetracyclin so schnell wie möglich.

Für den armen alten Peterman war es jedoch schon zu spät. Als Guggenheim und ich in den dunklen Garten hinausgingen, lag mein mutiger alter Partner dort auf dem Rasen, kaum einen Meter von der Stelle, wo ich ihn zurückgelassen hatte, sein sichtbares Auge bereits stumpf, die Stille des Todes unverkennbar.

Guggenheims Kummer galt seiner Laufbahn; der meine den unvergessenen Rennen und der Geschwindigkeit eines großartigen Pferdes.

Guggenheim hatte keine Seife für die Zeckensuche mitgebracht, sondern einen batteriebetriebenen MiniaturHandstaubsauger. Er gab sich damit alle Mühe bei Peterman, doch die Untersuchung der vom Fell des Pferdes gepflückten Schmutzteilchen enttäuschte ihn maßlos.

In meiner Küche über sein Mikroskop gebeugt, gab er leise Laute der Verzweiflung von sich.

«Nichts. Gar nichts. Bestimmt hatten Sie sie schon alle auf der Seife. «Es klang beinah vorwurfsvoll, als hätte ich die Sache absichtlich vermasselt.»Aber das ist typisch. Der Überträger von E. risticii ist entsetzlich schwer zu fassen. Zecken ernähren sich von Blut. Sie bohren sich mit dem Kopf in die Haut ihres Wirtes. Die Ehrlichiae, die in der Zecke leben, gelangen dabei in die Blutbahn des Wirtes und verbinden sich mit bestimmten Blutzellen. Ich will Sie damit nicht langweilen, es ist unglaublich kompliziert… aber sie können nur in lebenden Zellen bestehen, und das Pferd hier ist schon Stunden tot.«

«Was zu trinken?«schlug ich vor.

«Alkohol bringt doch nichts«, sagte er.

«M-hm.«

Ich schenkte mir einen Whisky ein, und nicht lange, da nahm er mir die Flasche aus der Hand und goß das Glas, das ich ihm hingestellt hatte, halb voll.

«Wahrscheinlich haben Sie recht«, meinte er.»Es hilft unerfüllte Hoffnungen vergessen.«

«Als ich so alt wie Sie war«, sagte ich,»habe ich den Wind geritten. Ziemlich oft.«

Er sah mich über sein Glas hinweg an.»Soll heißen, es gibt noch andere Tage? Sie verstehen nicht.«

«Ich glaube doch. Ich will sehen, ob ich Ihnen noch so ein paar Zecken besorgen kann.«

«Wie denn?«

«Ich werde drüber schlafen.«

Wir fanden in Schrank und Kühlschrank noch etwas zum Abendbrot, und er schlief in Lizzies Zimmer ruhig die Nacht durch.

Am Morgen rief ich John Tigwood an und sagte ihm, daß Peterman tot war.

Tigwoods Stimme, breitspurig wie immer mit ihrer unechten Klangfülle, war jetzt obendrein abwehrend und streitlustig.

«Marigold English hat mir vorgehalten, das Pferd sei krank und habe Zecken. Blödsinn. Ein ausgemachter Blödsinn, das habe ich ihr auch gesagt. Pferde kriegen keine Zecken, die gehen nur an Hunde und Rinder. Ich werde nicht dulden, daß Sie solche bösartigen Gerüchte in die Welt setzen.«

Ich merkte deutlich, daß er um den Fortbestand seiner ganzen Schau fürchtete, wenn niemand mehr seine Pflegefälle in Pension nahm. Keine Sammelbüchsen mehr. Kein wichtigtuerisches Herumwuseln. Er hatte einen ebenso triftigen Grund wie ich, den Mund zu halten.

«Das Pferd ist bei mir zu Hause«, sagte ich.»Wenn Sie wollen, lasse ich den Abdecker kommen.«

«Ja«, stimmte er zu.

«Wie geht’s den anderen alten Pferden?«fragte ich.

«Ausgezeichnet«, sagte er wütend.»Und es ist Ihre Schuld, daß Peterman zu Mrs. English kam. Sie wollte partout kein anderes nehmen.«

Ich murmelte etwas Beschwichtigendes und legte den Hörer auf.

Anzusehen wie sechzehn, kam Guggenheim traurig nach unten und starrte durchs Fenster auf Petermans Kadaver, als wollte er ihn ins zeckenbefallene Leben zurückrufen.

«Es ist wohl besser, ich fahre wieder nach Edinburgh«, sagte er niedergeschlagen,»falls nicht noch andere Pferde krank sind.«

«Das kann ich heute mittag herausfinden. Alles, was es an Klatsch und Tratsch in Pixhill gibt, erfährt man dann bei Michael Watermead.«

Er sagte, wenn es mir recht sei, werde er solange noch bleiben und dann abreisen; er habe laufende Arbeit im Labor, die er nicht vernachlässigen dürfe. Gut, stimmte ich zu; und er könne natürlich sofort wiederkommen, wenn sich etwas Besonderes tue.

Düster sah er zu, wie die Abdecker ihren Wagen am Gartentor in Position brachten und den mageren alten Kadaver mit einer Winde aufluden. Wo man ihn hinbringe, wollte Guggenheim wissen. In die Leimfabrik, sagte ich. Er sah aus, als hätte er es doch lieber nicht gewußt.

Den Zustand meines noch immer chaotischen Wohnzimmers, sagte er, könne er nicht fassen. Auch die Gewalt, mit der der Hubschrauber und das Auto zerstört worden waren, konnte er nicht fassen. Der das ausgebrütet habe, sagte ich ihm, laufe noch irgendwo frei herum, immer noch im Besitz der Axt.

«Ja, haben Sie denn keine… Angst?«fragte er.

«Ich bin vorsichtig«, sagte ich.»Deshalb nehme ich Sie auch nicht mit zu dem Essen. Niemand braucht zu wissen, daß ich einen Forscher — noch dazu einen Zeckenfachmann — kenne. Sie nehmen es mir hoffentlich nicht übel.«

«Natürlich nicht. «Er sah sich in dem zerhauenen Zimmer um und schauderte.

Ich nahm ihn jedoch mit zum Bauernhof und zeigte ihm die Pferdetransporter, deren Größe ihn beeindruckte. Ich erzählte von den Behältern, die wir unter drei Wagen gefunden hatten, und sagte ihm, daß ich annahm, darin seien die Kaninchen mit den Zecken nach England gekommen.

«Dann müßten Luftlöcher in den Behältern sein«, sagte er.

«Sollte man meinen.«

«Haben Sie nicht nachgesehen?«

«Nein.«

Er war erstaunt, aber ich erklärte es nicht. Ich setzte ihn bei mir zu Hause ab, um dann zum Mittagessen zu den Watermeads zu fahren.

Maudie begrüßte mich liebevoll und Michael herzlich. Viele von den üblichen Leuten waren da, die Ushers und Bruce Farway eingeschlossen. Tessa kehrte allen nach Herzenslust den Rücken und flüsterte in Benjys Ohr. Die Kinder waren fort; sie verbrachten das Wochenende bei Susan und Hugh Palmerstone.

«Sie verstehen sich prima mit Cinders«, sagte Maudie.»So ein nettes kleines Mädchen. «Mir wurde klar, daß ich gehofft hatte, Cinders bei den Watermeads wiederzusehen. Denk nicht an sie, sagte ich mir. Aber es ließ sich nicht abstellen.

Ich fragte Michael, ob er schon welche von den alten Pferden aufgenommen hatte.

«Zwei«, sagte er und nickte.»Putzmuntere Opas. Tollen auf meiner hinteren Koppel rum wie Zweijährige.«

Ich stellte Dot die gleiche Frage und bekam eine andere Antwort.

«Benjy sagt, wir können Tigwood ein paar Tage hinhalten. Weiß gar nicht, was in den Dreckstiefel gefahren ist, daß er wirklich auf mich hört.«

«Woran ist das alte Pferd voriges Jahr gestorben?«

«Altersschwäche. Irgendein Fieber. Was liegt daran? Ich kann die nicht um mich haben.«

Der Tierarzt, der meinen greisen Fahrgästen grünes Licht gegeben hatte, war auch da und tauschte Erfahrungen mit Bruce Farway aus.

«Wie geht’s?«: fragte ich sie.»Was machen die Kranken von Pixhill? Irgendwas Interessantes?«

«Ich höre, die Abdecker waren heute morgen bei Ihnen«, bemerkte der Tierarzt.

«Wie ein Lauffeuer«, meinte ich resigniert.»Eins von den alten Pferden ist gestorben.«

«Sie haben mich aber nicht gerufen.«

«Weil ich nicht wußte, daß es so krank war.«

Er nickte.»Sie sind alt. Sie sterben. So geht’s nun mal in der Natur.«

«Hat sonst noch jemand Probleme? Den Virus vom letzten Jahr?«

«Gott sei Dank nicht. Nur mal wieder Sehnen und Zähne.«

«Was hatten Sie letztes Jahr für ein Virus?«fragte Farway.

Der Tierarzt sagte:»Einen nicht spezifizierten Infekt. Die Pferde kriegten Fieber. Ich habe ihnen verschiedene Antibiotika verabreicht, und es ging weg. «Er runzelte die Stirn.»Es war wirklich besorgniserregend, weil die Pferde danach ihren Speed verloren hatten und nicht wieder in Form kamen. Aber Gott sei Dank war es nicht sehr verbreitet.«

«Trotzdem interessant«, meinte Farway.

«Sie werden noch früh genug in die Geschicke Pixhills verwickelt sein«, zog ihn der Tierarzt auf, und Farway wurde ganz verlegen.

Maudies Schwester Lorna kam besitzergreifend an seine Seite, nahm ihn beim Arm und warf mir einen mißbilligenden Blick zu, noch wegen meiner Weigerung neulich, die alten Pferde umsonst zu befördern. Farway, der ihre Meinung über mich teilte, schaute sie liebevoll an.

Ich driftete von ihnen weg, da ich mich wegen der Dinge, die ich herausgefunden hatte, isoliert fühlte, und fragte mich, was ich alles noch nicht wußte.

Ed, Tessas Bruder, stand für sich allein und sah verdrießlich aus. Ich redete ein wenig mit ihm, um ihn aufzumuntern.

«Weißt du noch, wie du vor acht Tagen für Ruhe am Tisch gesorgt hast?«fragte ich ihn.»Mit deiner Andeutung, daß Jericho Rich hinter Tessa her wäre?«

«Es stimmt, was ich gesagt habe«, beharrte er, als müsse er sich rechtfertigen.

«Das bezweifle ich auch nicht.«

«Er hat sie betatscht. Hab ich gesehen. Sie hat ihm ein paar geknallt.«

«Wirklich?«

«Glauben Sie mir nicht? Nie glaubt mir einer. «Das Selbstmitleid packte ihn.»Jericho Rich hat sie beschimpft und gesagt, dafür holt er seine Pferde weg, und Tessa hat gesagt, wenn er das macht, zahlt sie es ihm heim. Das blöde Stück. Wie will sie’s so einem Mann denn heimzahlen? Jedenfalls hat er seine Pferde ja weggeholt, und wo bleibt Tessas Rache? Fehlanzeige natürlich. Und Dad ist noch nicht mal böse auf sie, nur auf mich, weil ich rausgelassen hab, warum Jericho weg ist. Das ist nicht fair.«

«Nein«, stimmte ich zu.

«Sie sind gar nicht so verkehrt«, meinte er zögernd.

Ich saß beim Essen neben Maudie, doch es war wenig geblieben von dem Vergnügen, das ich vor einer Woche an dieser Tafel empfunden hatte. Maudie spürte es und versuchte meine Tristesse zu vertreiben, aber ich verschwand ohne großes Bedauern nach dem Kaffee.

Es gab keine fieberkranken Pferde in Pixhill, berichtete ich Guggenheim und fuhr ihn mit seiner Depression wieder zum Flughafen. Auf dem Heimweg tankte ich und rief nach einiger Überlegung Nina unter ihrer Nummer in Stow-on-the-Wold an.

«Hm«, sagte ich,»bringen Sie morgen, wenn Sie zur Arbeit kommen, einen Fallschirm mit.«

«Bitte?«

«Für die Landung hinter den feindlichen Linien im besetzten Frankreich.«

«Ist das die Gehirnerschütterung?«

«Nein. Sie müssen aber nicht, wenn Sie nicht wollen.«

«Ich wünschte, Sie würden erklären.«

«Können wir uns irgendwo treffen? Haben Sie was vor?«

«Ich bin allein… und langweile mich.«

«Gut. Also, was halten Sie vom Cotswold Gateway? Ich könnte kurz vor sechs da sein.«

«In Ordnung.«

Also ging ich auf Kurs Nordost und kam anderthalb Stunden später zu einem großen, unpersönlichen Hotel an der A 40, oberhalb der Kleinstadt Burford in den Cots-wolds. Ich parkte vor dem mittelprächtigen alten Klotz, einem Wahrzeichen, das ich auf der Fahrt zum Pferderennen in Cheltenham ungezählte Male passiert hatte.

Sie war bereits dort, als ich eintraf, denn sie hatte den wesentlich kürzeren Weg, und sie war die unwiderstehliche Nina vom ersten Tag, nicht die zurechtgestutzte Werktagsversion.

Sie saß in einem chintzbezogenen Sessel an einem warmen Kaminfeuer in der Eingangshalle, ein Teetablett säuberlich ausgerichtet vor sich auf dem niedrigen Tisch.

Nach Cheltenham, aber vor der Sommerferiensaison, war der Ort fast verlassen. Sie stand auf, als ich hereinkam, und genoß es, wie ich ihr Aussehen bewunderte. Keine Jeans diesmal: die langen, schlanken Beine steckten in schwarzen Strumpfhosen. Kein alter Schlabberpullover, sondern ein schwarzer Rock, schwarze Weste, weißes Seidenhemd mit weiten Ärmeln, große goldene Manschettenknöpfe und eine lange Halskette mit genügend Goldmünzen, um eine mittlere Lösegeldforderung zu begleichen. Sie roch nicht nach Pferden, sondern zart nach Gardenien. Ihre feingeschnittenen Züge waren betont und mit ein wenig Puder abgestimmt. Die Lippen zartrot.

«Ich traue mich kaum zu fragen«, sagte ich und küßte sie auf die Wange wie aus lieber alter Gewohnheit,»so wie Sie aussehen.«

«Es hörte sich aber ernst an.«

«M-hm.«

Wir rückten zum Reden dicht zusammen, obwohl uns niemand hören konnte.

«Punkt eins«, sagte ich,»ich habe herausgefunden, was unter meinen Lkws befördert worden ist, und es ist nichts so Einfaches wie Rauschgift. «Sie wartete, daß ich weitersprach, und ihr Interesse stieg jäh an.»Ich habe mit einem hohen Zollbeamten in Portsmouth gesprochen«, sagte ich,»um zu erfahren, was nach den EG-Vorschriften in England nicht ohne weiteres ein- und ausgeführt werden darf. Wahrscheinlich wissen Sie, daß der Zoll den Verkehr neuerdings nur noch kontrolliert, wenn konkrete Hinweise vorliegen, daß ein bestimmtes Fahrzeug Drogen geladen hat. Das bedeutet in der Praxis, daß alles — Waffen, Kokain oder was sonst vom Festland kommt — hier ungehindert Eingang hat. Aber bei Katzen und Hunden und Tollwut hörte der Spaß für ihn auf… die Quarantänebestimmungen gelten offenbar noch, und außerdem braucht man für Sachen wie Tierheilmittel eine Genehmigung. Jedenfalls haben meine Transporter lebendes Vieh nebenbei befördert, wenn auch keine Katzen und Hunde, denn die hätten Krach gemacht.«

«Krach gemacht?«

«Klar. Wenn man eine Katze in so einem Behälter transportierte, würde sie jemand schreien hören.«

«Aber wieso? Da komme ich nicht mit. Warum sollte einer Tiere in den Behältern mitnehmen?«

«Damit die Begleiter der Pferde es nicht merken. Wenn ein Pferdetransporter offen etwas Ungewöhnliches befördert, hört die halbe Ortschaft in der Kneipe davon.«

«Und wer hat heimlich Tiere befördert?«

«Einer meiner Fahrer.«

«Welcher?«

«Lewis.«

«Ach was, Freddie. Er hat’s doch so mit seinem Baby.«»Man kann seine Kinder lieben und trotzdem ein Schurke sein.«

«Das meinen Sie nicht ernst…«

«Doch. So wenig es mir gefällt.«

«Soll das heißen… nein, Sie meinen doch wohl nicht, daß Lewis vorsätzlich versucht hat, die Tollwut nach England zu bringen?«

«Nein, die Tollwut zum Glück nicht. Nur ein Fieber, das Pferde vorübergehend krank macht, aber so drastisch an ihrem Speed zehrt, daß sie nie wieder gewinnen.«

Ich sagte ihr, daß Joggers toter Cousin ein Kaninchen gewesen war.

«Cousin — Kaninchen — Kusinchen.« Sie seufzte.»Wie sind Sie dahintergekommen?«

«Ich habe Isobel gefragt, was Jogger tot in der Grube gefunden hatte, und sie sagte es mir.«

«So einfach!«

«Dann habe ich mir die Computerdateien vom letzten August angesehen, für den Zeitraum, wo ich nicht da war, und da stand es. 10. August. Aus einem von ihm gewarteten Transporter, meldete Jogger, war ein totes Kaninchen in die Grube gefallen, und zwar einen Tag nachdem Lewis mit diesem Lkw aus Frankreich zurückgekommen war.«

Sie runzelte die Stirn.»Die Daten wurden doch gelöscht.«

Ich erzählte ihr von den Sicherungskopien in meinem Safe.

«Das haben Sie keinem gesagt! Noch nicht mal mir. Trauen Sie mir nicht?«

«Weitgehend schon«, sagte ich.

Sie sah mir nicht in die Augen. Ich sagte:»Jogger hat Isobel erzählt, daß das Kaninchen Zecken hatte, und das

hat sie in den Daten vermerkt. Der Computer listet auch die Fahrten eines jeden Transporters einzeln auf, und zwei der Wagen mit den versteckten Behältern — nämlich Pats Vierer, den Sie gefahren haben, und Phils Sechser — wurden letztes Jahr von Lewis nach Frankreich gefahren. Dieses Jahr fährt er meinen neuesten Super-Sechser, und wie Sie festgestellt haben, ist da ja auch ein Behälter drunter. Letztes Wochenende haben die Watermead-Kinder eins von ihren zahmen Kaninchen vermißt, um die Lewis sich kümmert — er macht ihr Gehege sauber und so weiter —, und letztes Wochenende war Lewis mit dem Super-Sechser in Frankreich, und dieses Wochenende ist in Pixhill ein Pferd an einem von Zecken übertragenen Fieber gestorben.«

Sie hörte mit großen Augen zu, staunte mit offenem Mund. Ich ging alles noch einmal langsam durch, erzählte ihr von Benjys Trainingsgewohnheiten, von Lewis’ geschorenen Locken, von Peterman und schließlich von Guggenheim.

Hatte ein altes Pferd das Fieberstadium erst einmal überwunden, konnte es den ganzen Sommer hindurch mit Zecken im Fell leben. Ein dauernder Ansteckungsherd für andere ausgewählte Empfänger. Eine regelrechte Ehrlichi-ae-Zuchtfarm. Man wische mit einem nassen Stück Seife kurz über den Träger und innerhalb einer Stunde mit derselben Seife über ein neues Wirtstier. Übertragung beendet. So blieben genügend Zecken am Leben. Lewis, sagte ich düster, hätte die Übertragung sogar vornehmen können, während er die unglücklichen Opfer in meinen Lkws zu den Rennen fuhr.

Wenn das Wetter abkühlte, starben die Zecken. Für das neue Jahr mußte über einen Zwischenträger Nachschub eingeführt und möglichst bald auf das natürliche Wirtstier, ein Pferd, übertragen werden. Peterman hatte das nicht überlebt.

Welche Zweifel sie auch anfangs gehabt haben mochte, zum Schluß waren sie verflogen.

«Als wir die Behälter entdeckt hatten«, sagte ich,»bat ich Jogger gleich, nicht darüber zu reden. Aber natürlich hat er es noch am selben Samstag abend in der Kneipe ausposaunt. Ich nehme an, er hat viel darüber nachgedacht. Und wie er sich das so durch den Kopf gehen ließ, hat er sich wohl auch an das Kaninchen erinnert, das ihm damals vorgekommen sein muß, als wär’s vom Himmel gefallen, und da hat er sich vielleicht gedacht, es könnte aus so einem Behälter gekullert sein, nämlich dem unter Phils Wagen, weil an diesem Behälter der Schraubverschluß fehlte. Ich weiß nicht, ob jemand in der Kneipe genau verstanden hat, wovon Jogger sprach. Es könnte sein. Jedenfalls rief er mich am nächsten Morgen an und hinterließ mir die Nachricht… leicht verschlüsselt… von den Kaninchen und Zecken und von Benjy Ushers verendetem Pferd.«

Sie schwieg einige Augenblicke und fragte dann:»Hat Lewis Ihnen auch den Wagen und das Haus demoliert?«

«Ich weiß es nicht. Mit Sicherheit war er einer von denen, die mich in Southampton ins Wasser geworfen haben. Derjenige, der gesagt hat: >Wenn er davon nicht die Grippe kriegt, weiß ich’s auch nicht. < Seine Stimme war belegt, weil er den Schnupfen hatte, und in meiner Erinnerung hallte sie etwas nach, weil ich bewußtlos war, aber er war’s bestimmt. Ob er mich für die anderen Sachen genug haßt… weiß ich nicht.«

«Das ist ja furchtbar.«

«M-hm.«

«Wie geht’s also weiter?«

«Morgen«, sagte ich,»fährt Lewis mit dem SuperSechser nach Mailand in Italien, um für Benjy Usher einen

Hengst heimzuholen, der ein schlimmes Bein hat. Es ist eine Dreitagetour, hauptsächlich durch Frankreich.«

Sie wurde ganz still. Dann sagte sie:»Ich fahre mit. Habe Fallschirm, reise gern.«

«Sie sollen nichts weiter tun«, erklärte ich.»Ich möchte nicht, daß Sie ihn beunruhigen. Er soll reichlich Gelegenheit haben, eine neue Kaninchenladung Zecken aufzunehmen, denn wenn die ganze Fracht vom letzten Wochenende auf Peterman war und mit ihm gestorben ist, hätten sie jetzt vielleicht die Chance, Ersatz heranzuschaffen. Diese Zecken gehen leicht ein und sind außerdem schwer zu finden. Ich schätze, die brauchen noch welche. Sie sollen sich nur merken, wo sie langfahren. Die Route nach Italien, die Lewis nimmt, führt durchs Rhönetal, da war er auch am letzten Wochenende. Er müßte eigentlich durch den Mont-Blanc-Tunnel von Frankreich nach Italien fahren, aber sagen Sie nichts, falls er eine andere Strecke nimmt. Wenn er irgendwo anhalten will, lassen Sie ihn. Stellen Sie keine Fragen. Stimmen Sie all seinen Vorschlägen zu. Achten Sie auf nichts. Beobachten Sie ihn nicht. Gähnen Sie, schlafen Sie, stellen Sie sich dumm.«

«Er will mich bestimmt nicht dabeihaben.«

«Ich weiß, daß er glaubt, Sie werden leicht müde. Ermüden Sie also. Diesmal ist er vielleicht froh drüber.«

«Und unter den Transporter schauen soll ich wohl auch nicht?«

«Nein. Selbst wenn alles voller Salatblätter und Kaninchendreck ist, sehen Sie drüber weg.«

Sie lächelte.

«Seien Sie vorsichtig«, bat ich.»Ich würde ja selbst mitfahren, aber dann liefe nichts. Ich möchte lediglich wissen, wohin Lewis fährt.«»In Ordnung.«

«Sie müssen nicht.«

«Meine Mutter mußte auch nicht.«

«Lewis könnte genauso gefährlich sein.«

«Ich verspreche Ihnen«, sagte sie mit Nachdruck,»daß ich so blind sein werde wie eine Fledermaus. «Sie hielt in-ne.»Nur eins noch.«

«Ja?«

«Ich möchte Patrick Venables sagen, wohin ich fahre.«

«Meinen Sie, er hält Sie zurück?«

«Eher das Gegenteil.«

«Daß er nur nichts unternimmt«, sagte ich besorgt.»Er soll bloß niemand verscheuchen. «Mein Instinkt war dagegen, daß der Jockey-Club zu schnell zu viel erfuhr, aber vielleicht konnte ich mir bei diesem riskanten Unternehmen den Rük-ken nur freihalten, wenn Venables vorab informiert war.

«Ich möchte nicht, daß man mir nachher anhängt«, sagte sie halb im Scherz,»ich hätte versucht, die besten Hengste von Pixhill lahmzulegen.«

«Niemand hängt Ihnen was an. Ich — «Ich schwieg abrupt, da mich mit atemberaubender Wucht eine Erkenntnis traf.»Verdammt noch mal!«

«Was ist denn?«

«Ach, nichts. Wenn Sie am Mittwoch zurückkommen, gibt es einen Empfang. Machen Sie sich über nichts Gedanken, nur jagen Sie Lewis keine Angst ein.«

Wir aßen im Speiseraum und erörterten zunächst die Fahrt, kamen aber bald auf unser Leben allgemein zu sprechen. Ich war gern mit ihr zusammen. Du wirst Maudie untreu, dachte ich ironisch. Ich fragte Nina, wie alt ihr ältestes Kind war.

«Vierundzwanzig. «Sie lächelte auf ihre Spaghetti nieder.

«Viel jünger als Sie.«

«Bin ich so leicht zu durchschauen?«

«Sie sind kein Jüngelchen«, sagte sie.

«Das sähen Ihre Kinder vielleicht anders.«

«Ihre Schwester ist auch älter als ihr Professor, nicht wahr?«

«Ja«, sagte ich leicht überrascht.»Wer hat Ihnen das erzählt?«

«Aziz.«

«Aziz?«

«Ihre Schwester hat es ihm gesagt. Er hat es mir gesagt. Na ja, wir Fahrer stecken halt zusammen.«

«Sie brauchen gar nicht so treuherzig zu lächeln.«

Das Lächeln wurde jedoch intensiver. Ich dachte an all die leeren Zimmer oben im Hotel. Ich dachte an das einjährige Zölibat und verspürte den starken Wunsch, es zu beenden. Sie wußte sicher, was in mir vorging. Sie wartete einfach.

Ich seufzte.»Ich könnte mir etwas Besseres vorstellen«, sagte ich,»aber ich fahre nach Hause.«

Sie sagte ruhig:»In Ordnung.«

Ich rieb mir die Augen.»Wenn das hier vorbei ist.«

«Ja. Wir werden sehen.«

Gemeinsam gingen wir, wie schon einmal, zu unseren getrennten Wagen. Sie war mit ihrem Mercedes gekommen.

Ich küßte sie auf den Mund, nicht auf die Wange. Sie zog den Kopf weg, und ihre Augen schimmerten in der Parkplatzbeleuchtung. Ich sah, daß ich sie nicht verstimmt hatte. Es wäre so einfach gewesen… so einfach…

«Freddie…«Ihre Stimme war sanft, unverbindlich, überließ die Entscheidung mir.

«Ich muß… ich muß wirklich gehen«, sagte ich fast verzweifelt.»Ich schicke Sie nicht ohne angemessene Vorkehrungen nach Frankreich. Bringen Sie morgen früh Ihr Handgepäck mit und holen Sie im Büro noch eine Dokumententasche ab. Sie enthält Geld, Telefonnummern und ein paar Tips gegen Diebstahl. Lewis nimmt auch immer eine mit. «Ich schwieg. Über Dokumententaschen wollte ich jetzt nicht reden. Ich küßte sie wieder und spürte, wie meine Entschlossenheit dahinschmolz.

«Packen Sie die Tasche morgen«, schlug sie vor.

«O Gott.«

«Freddie.«

«Ich sage Ihnen morgen, warum ich gehen muß.«

Ich küßte sie heftig, wandte mich dann ab und ging zu dem Fourtrak hinüber, wobei ich mir unbeholfen vorkam und mich über mich selbst ärgerte, weil ich so weit gegangen war und mich dann ohne Erklärung zurückgezogen hatte. Es schien ihr nichts auszumachen. Ihr Lächeln, als sie in den roten Wagen stieg, wirkte nicht so, als wäre sie verletzt oder fühlte sich zurückgestoßen.

«Tschüs«, sagte sie durch das sich öffnende Fenster und ließ den Motor an.

«Gute Nacht.«

Mit einem Winken fuhr sie los, so selbstbeherrscht wie immer. Ich sah ihren Rücklichtern lange nach und bemühte mich, meinen Puls zu beruhigen. Die natürlichen Triebe waren doch verdammt stark. Und dabei hatte ich geglaubt, der Rummel sei ausgestanden, was nur wieder bestätigt, daß schlummernde Vulkane genau dies und nichts anderes sind — ein Feuer, das vorübergehend schläft.

Achteinhalb Jahre. Waren sie von Bedeutung? Ich wußte es nicht und hatte den Eindruck, sie wußte es auch nicht. Sie fühlte sich zu mir hingezogen, das stand fest. Und mir schien, sie war auf eine merkwürdige Weise zurückhaltend, als wollte sie nicht, daß ich mich von ihr gedrängt fühlte. Sie ließ mir Zeit zu überlegen, ob das, was ich empfand, eine vorübergehende Erregung oder etwas von Dauer war. Ich raste mit dem Fourtrak nach Hause, stellte alle Entscheidungen für die Nacht zurück und zog mir weiche schwarze Schuhe und die dunkelste Kleidung an, die ich finden konnte. Während meine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten, ging ich dann zum Bauernhof hinüber, schloß das Vorhängeschloß am Tor auf und sperrte wieder hinter mir ab.

Es war nach Mitternacht. Der Himmel war klar und kalt, sternenhell. All diese fernen Sonnen, dachte ich; so rätselhaft und ungreifbar wie Ehrlichia risticii.

Die Transporter waren alle daheim im Nest und schimmerten matt im Licht der Notlampe über der Kantinentür. Ein ruhiger Sonntagabend, Stille nach der Hektik. Diesmal war ich nicht in eine lebensgefährliche Situation hineinmarschiert.

Harve hatte vermutlich seine letzte Runde gedreht und schaute sich Fußballvideos an. Ich schloß die Bürotür auf, ging ohne Licht zu machen nach hinten in mein Zimmer, und der schwache Schein, der durch die Fenster drang, genügte mir auch, um die Taschenlampe zu finden, die ich im Schreibtisch verwahrte. Die Batterien waren noch geladen. Im Hinausgehen schloß ich die Bürotür wieder ab und tappte zu Joggers altem Lieferwagen hinüber, von dessen Vordersitzen ich alle meine Monster halbwegs sehen konnte und einige ganz deutlich.

Der Super-Sechser, mit dem Lewis nach Mailand fahren sollte, gehörte zu den gut sichtbaren. Ich machte es mir im dunklen Inneren von Joggers Kiste bequem und versuchte energisch wachzubleiben.

Ich schaffte es eine Stunde lang.

Nickte ein.

Schrak plötzlich hoch. Zwei Uhr. Wachtposten, die im Dienst schlafen, können vor ein Militärgericht gestellt werden. Aber gegen den Schlaf ist man machtlos. Wenn das Gehirn abschalten will, schaltet es ab.

Ich sagte mir alte Verse vor. Kinderreime. Eins, zwei, Papagei.

Schlief ein.

Drei Uhr. Vier Uhr. Verpaßte die halbe Nacht mit geschlossenen Augen. Völlig sinnlos. Zeitverschwendung, da zu sitzen.

Als er kam, rasselte und klirrte das Vorhängeschloß an der Kette, und ich war sofort hellwach.

Ich hielt den Atem an und rührte mich nicht.

Lewis’ unverkennbarer kurzer Haarschnitt glitt als Schattenriß zwischen mir und der Hoflampe vorbei. Eine unförmige Tasche in der Hand, ging Lewis unverzüglich zu seinem Transporter, legte sich dort flach auf den Boden und verschwand aus meinem Blickfeld.

Er blieb so lange außer Sicht, daß ich schon dachte, er müsse von mir unbemerkt gegangen sein. Aber dann war er plötzlich wieder da; er richtete sich auf, kehrte mit seiner Tasche zum Tor zurück und sicherte mit einem fast unhörbaren Klicken das Vorhängeschloß.

Stille.

Ich blieb noch eine halbe Stunde sitzen, nicht direkt, weil ich sicher sein wollte, daß er nicht zurückkam, sondern aus Abneigung gegen den nächsten Schritt.

Phobien sind irrational und albern. Phobien sind läh-mend, einengend und nur zu real. Langsam stieg ich aus dem Lieferwagen, nahm die Taschenlampe, versuchte ans Rennreiten — an irgendwas — zu denken und legte mich im Bereich der Dieseltanks neben Lewis’ Transporter auf den Rücken.

Die kalten Sterne oben kümmerte es nicht, daß mir der Schweiß lief und mein Mut auf die Größe einer Nuß zusammenschrumpfte.

Der Transporter würde mich nicht unter sich begraben. Er dachte gar nicht daran.

Himmel Arsch, nun mach schon, sagte ich mir. Sei nicht so unsäglich blöd.

Ich rutschte auf Schultern und Hüften über den Boden und schlängelte mich nach der Seite, bis ich ganz unter den Tonnen von Stahl lag, und natürlich begruben sie mich nicht unter sich, sie hingen bewegungslos und gleichgültig über mir, eine nicht wahrgemachte Drohung. Ich hielt unter den Tanks an, spürte den albernen Schweiß naß auf meinem Gesicht und geriet beinah völlig in Panik, als ich die Hand hob, um mir den Schweiß abzuwischen, und statt dessen auf Metall traf.

Scheiße, dachte ich. Kein Wort war schlimm genug. Ich hatte diesen auf der Rennbahn weithin üblichen Kraftausdruck eher selten im Kopf, aber es gab Augenblicke, da paßte nichts anderes.

Ich hatte mich freiwillig hierhergelegt. Hör verdammt noch mal auf zu zittern, sagte ich mir, und mach voran.

Ja, Freddie.

Ich tastete nach dem runden Ende des Behälters über dem hinteren Tank. Ich schraubte die Kappe ab und legte sie neben mich auf den Boden. Ich knipste die Taschenlampe an und hob den Kopf, um in den Behälter zu schauen.

Meine Haare berührten das Metall. Tonnen von Stahl. Sei still. Meine Hände waren glitschig von Schweiß, ich konnte kaum atmen, und mein Herz klopfte, dabei hatte ich vierzehn Jahre lang unbesorgt viele tausend Male beim Pferderennen meine Haut aufs Spiel gesetzt… es war nichts gegen das hier.

In dem röhrenförmigen Behälter steckte offenbar eine lange, schmale Sperrholzplatte, die nach hinten ins Dunkle ragte. Auf der Platte stand eine rechteckige Plastikdose ähnlich der, die ich nach Schottland mitgenommen hatte, bloß war die hier ohne Deckel.

Krampfhaft umfaßte ich die Taschenlampe und hielt sie in die Röhre, um tiefer hineinsehen zu können.

Die Plastikdose enthielt Wasser.

Kleine Sterne zeigten sich über dem röhrenförmigen Behälter, auf der Unterseite des Fahrgestells. Die Sterne kamen von dem Taschenlampenlicht in der Röhre. Sie zeichneten sich durch Löcher in der Röhre ab.

«Es müßten Luftlöcher in dem Behälter sein«, hatte Guggenheim gesagt.

Da waren Luftlöcher.

Ich schaute direkt in die Röhre, den Kopf fest gegen das Metall über mir gedrückt, die Arme auf beiden Seiten von Metall eingezwängt, die Nerven hoffnungslos zerfranst.

Ganz hinten in der Röhre bewegte sich etwas. Ein Auge glänzte silbern. Das Kaninchen schien sich in seinem Metallbau wohl zu fühlen.

Ich knipste die Taschenlampe aus, schraubte die Kappe auf den Zylinder und schlängelte mich wieder hinaus ins Freie.

Ich lag auf dem harten Boden, beschämt, mit klopfendem Herzen, und sammelte mich. Nichts, dachte ich, wirk-lich gar nichts würde mich dazu bringen, so etwas noch mal zu machen.

Am Morgen sah das Leben auf dem Bauernhof normal aus.

Lewis war wie vorauszusehen verärgert, daß ich ihm Nina statt Dave als Beifahrer zugeteilt hatte.

«Dave ging es am Samstag nicht gut«, sagte ich.»Ich gehe nicht das Risiko ein, daß er sich in Italien die Grippe holt.«

Genau in diesem Moment kam Dave auf seinem quietschenden Fahrrad in Sicht, mitsamt rotem Kopf und Schlafaugen. Die Grippe werde ihn nicht bremsen, sagte er.

«Wird sie doch, so leid es mir tut«, erwiderte ich.»Fahren Sie heim und legen Sie sich ins Bett.«

Nina erschien als die wahre Verkörperung weiblicher Schwäche, kunstvoll gähnend und sich streckend. Lewis betrachtete sie nachdenklich und erhob keine Einwände mehr.

Zusammen holten sie ihre Dokumententaschen bei Isobel ab und gingen den nötigen Papierkram mit ihr durch. Als Lewis zur Toilette ging, waren wir einen Augenblick allein, und ich konnte mich leise mit Nina verständigen.

«Sie haben einen Cousin dabei.«

Mit großen Augen sagte sie:»Woher wissen Sie das?«

«Ich habe gesehen, wie er gebracht wurde.«

«Wann?«

«Heute früh um fünf. So ungefähr.«

«Deshalb also.«

Lewis tauchte wieder auf und sagte, wenn sie die Fähre erreichen wollten, würden sie sich besser auf den Weg machen.

«Rufen Sie hier an«, sagte ich.

«Na klar«, meinte er obenhin.

Er fuhr seelenruhig zum Tor hinaus. Ich hoffte zu Gott, daß Nina heil zurückkam.

Geschäftlich war es kein besonders ausgefüllter Tag, doch schon vor neun rauschte die Leute von der Kriminalpolizei auf den Hof, übernahmen mit scharfen Augen die Kontrolle und richteten in meinem Büro ein Vernehmungszimmer ein. Solcherart entmachtet, zeigte ich ihnen alles, was sie wollten, stellte ihnen die Kantine zur Verfügung und sah Isobel von einem Besucherstuhl in ihrem Büro aus eine Weile bei der Arbeit zu.

Sandy, noch immer zwischen zwei Lagern, kam in seiner Uniform angefahren.

«Erzählen Sie ihnen von den Behältern«, platzte er heraus.»Ich habe nichts davon gesagt.«

«Danke, Sandy.«

«Haben Sie Ihre Antworten gefunden?«

«Ich habe ein paar Fragen gestellt.«

Er wußte, daß ich nicht offen zu ihm war, wollte anscheinend aber auch gar nicht so genau informiert sein. Jedenfalls stieß er zu seinen Kollegen und erledigte den ganzen Tag Botengänge für sie.

Die Kollegen erfuhren durch den Wirt von den Behältern.

«Kuckuckseier?«wiederholte ich, als sie mich draußen auf dem Hof darauf ansprachen.»Ja, Jogger hat drei Behälter unter den Lastern entdeckt. Alle waren leer. Wir wissen nicht, seit wann sie da sind.«

Die Kripo wollte sie sich ansehen. Nur zu, sagte ich, auch wenn Phil mit seinem Wagen erst am Abend zurücksein würde.

Lewis hatte die Fähre rechtzeitig erreicht, meldete Isobel, und war jetzt in Frankreich. Ich kaute, bildlich gesprochen, an den Fingernägeln.

Die Polizei befragte jeden, den sie zu fassen kriegte, und kroch immer mal wieder unter die Transporter. Lieber sie als ich. Als Phil zurückkam, bauten sie (mit meiner Erlaubnis) die Röhre über den Tanks aus und holten sie ans Licht, wo man sie besser begutachten konnte. Ein Meter zwanzig lang, zwanzig Zentimeter Durchmesser, leer bis auf Staub, mit kleinen eingestanzten Löchern, fehlender Schraubverschluß.

Sie nahmen sie zur Untersuchung mit. Ob sie Kaninchenhaare darin finden würden?

Ich fuhr nach Hause. Der kleine Hubschrauber war fort. Mein armer zertrümmerter Wagen stand einsam und verlassen da und wartete auf den für morgen angesagten Abschleppdienst. Ich tätschelte ihn. Albern eigentlich. Das Ende eines großen Lebensabschnitts. Ein letztes Lebewohl.

Ich ging früh zu Bett und schlief unruhig.

Am Morgen meldete Lewis, daß er den Mont-Blanc-Tunnel passiert hatte und vor Mittag den Hengst abholen würde.

Die Polizei stellte weiter Fragen. Der halbe Fuhrpark schaffte Ware zum Verkauf nach Doncaster. Nigel fuhr für Marigold. Ich ging vom bildlichen zum wahrhaftigen Nägelkauen über.

Am Mittag meldete Lewis, daß Benjy Ushers Hengst nicht zu bändigen sei.

«Den fahr ich nicht«, sagte er am Telefon.»Das ist ein wildes Tier. Der demoliert mir den Wagen. Muß er eben hierbleiben.«»Ist Nina da?«

«Sie versucht ihn zu beruhigen. Pustekuchen.«

«Geben Sie sie mir mal.«

Sie kam an den Apparat.»Der Hengst ist verängstigt«, stimmte sie zu.»Versucht dauernd, sich hinzulegen und auszukeilen. Geben Sie mir eine Stunde.«

«Wenn er wirklich nicht zu bändigen ist, kommen Sie ohne ihn zurück.«

«Okay.«

«Sonst noch was?«fragte ich.

«Nein. Nichts.«

Ich saß da und behielt die Uhr im Auge.

Nach einer Stunde rief Lewis wieder an.»Nina meint, der Hengst leidet an Platzangst«, sagte er.»Er dreht durch, wenn wir ihn in eine Einzelbox stellen oder ihn anbinden wollen. Sie hat ihn jetzt halbwegs klar, aber er läuft frei in einer großen Box rum, wie wir sie für die Stuten mit Fohlen herrichten. Sie wissen schon, Platz für drei, ganz für sich allein. Und sie hat alle Fenster aufgemacht. Im Moment hält er aus einem die Nase raus. Was meinen Sie?«

«Es liegt bei Ihnen«, sagte ich.»Wenn Sie wollen, sage ich Mr. Usher, daß wir den Hengst nicht holen können.«

«Nein. «Er hörte sich unentschlossen an, sagte aber schließlich:»Okay, ich werd’s versuchen. Wenn er beim Losfahren aber wieder verrückt spielt, lassen wir’s.«

«In Ordnung.«

Ein klaustrophobisches Pferd. Wir stießen mitunter auf Tiere, die sich weder mit guten Worten noch mit roher Gewalt in einen Transporter verladen ließen. Ich hatte Verständnis für sie, besonders nach der vergangenen Nacht, aber diesmal wäre mir ein müder, handzahmer Passagier, der Lewis keinen Ärger machte, lieber gewesen.

Ich wartete. Eine Stunde kroch dahin.

«Sie sind bestimmt schon los«, sagte Isobel unbesorgt.

«Hoffentlich.«

Noch eine Stunde. Nichts Neues.

«Ich fahre zu Michael Watermead«, sagte ich Isobel.»Rufen Sie mich übers Autotelefon, wenn sich Lewis meldet.«

Sie nickte, mit anderem beschäftigt, und ich gondelte hinüber zu Michael und überlegte, wie ich ihm am besten etwas beibringen könnte, was er nicht würde hören wollen.

Er war erstaunt über meinen Besuch in der Nachmittagsflaute, bevor die Pfleger wiederkamen, um die Pferde zu füttern und zu tränken und für die Nacht bereitzumachen.

«Tag!«sagte er.»Was kann ich für dich tun? Komm rein.«

Er führte mich in ein kleines, freundliches Wohnzimmer, nicht den großen, eindrucksvollen Salon für die sonntäglichen Champagnercocktails. Er hatte Zeitung gelesen, denn die Seiten lagen auf einem Tischchen und einem nahen Sessel verstreut, und er raffte sie jetzt provisorisch zusammen, damit ich mich setzen konnte.

«Maudie ist nicht da«, sagte er.»Ich koche uns gleich mal einen Tee.«

Er bedeutete mir Platz zu nehmen und wollte offensichtlich, daß ich zur Sache kam. Aber wo anfangen… das war das Problem.

«Erinnerst du dich an den Mann«, sagte ich,»der in einem meiner Transporter gestorben ist?«

«Gestorben? Ach ja, natürlich. Auf dem Rückweg von Jerichos Zweijährigen-Abtransport… dieser Mistkerl.«

«M-hm. «Ich zögerte.»Hör mal«, sagte ich verlegen,»ich würde dich damit sonst nicht behelligen, aber ich möchte etwas klären.«

«Bitte, nur weiter. «Er klang aufgeschlossen, nicht ungeduldig, nur interessiert.

Ich erzählte ihm, daß Dave den Mann nicht zufällig, sondern nach Vereinbarung mitgenommen hatte. Michael runzelte die Stirn. Ich erzählte von der Tragetüte mit der Thermosflasche, die ich am Abend darauf in dem Neun-Pferde-Transporter gefunden hatte, und zeigte ihm die beiden letzten, in meinem Safe verwahrten Röhrchen aus der Thermosflasche.

«Was ist das?«fragte er neugierig und hielt eines gegen das Licht.»Was ist da drin?«

«Virustransportmedium«, sagte ich.»Zum Befördern eines Virus.«

«Virus…«Er war geschockt.»Hast du Virus gesagt?«

Virus bedeutete für alle Trainer» der Virus«, die gefürchtete Atemwegsinfektion, die bewirkte, daß ein Pferd hustete und ihm die Nase lief. Der Virus konnte einen Stall fast für das ganze Jahr aus dem Rennen werfen.»Der Virus «war die schlimmste aller möglichen Neuigkeiten.

Michael gab mir die Röhrchen zurück, als hätten sie ihn gebissen.

«Sie kommen aus Pontefract«, sagte ich.»Aus Yorkshire.«

Er riß die Augen auf.»Die haben den Virus da oben. Zwei oder drei Ställe haben ihn. «Er schaute besorgt drein.»Du hast doch meine Pferde nicht mit welchen aus dem Norden zusammengepackt? Weil nämlich.«

«Nein«, sagte ich entschieden.»Deine Pferde fahren immer für sich, wenn du es nicht ausdrücklich anders erlaubst. Ich würde deine Tiere auf meinen Transporten niemals einer Infektionsgefahr aussetzen.«

Er entspannte sich ein wenig.»Hätte ich auch nicht angenommen. «Er beäugte die Glasröhrchen, als wären es Schlangen.

«Warum erzählst du mir das?«

«Weil ich glaube… ehm… wenn der Anhalter nicht gestorben wäre, dann hätte das Virus, das in diesem Röhrchen war, am letzten Tag des Umzugs nach Newmarket vielleicht die Stuten von Jericho Rich als Ziel erreicht.«

Seine Augen wurden noch größer. Er dachte darüber nach.

«Aber warum?«fragte er.»Das ist doch kriminell.«

«M-hm.«

«Warum?« fragte er nochmals.

«Um es Jericho Rich heimzuzahlen.«

«Aber nein«, verwahrte er sich, stand abrupt auf und ging verärgert von mir weg.»So etwas würde ich nie und nimmer tun.«

«Das ist mir schon klar.«

Er fuhr wütend herum.»Wer denn dann?«

«Hm… ich glaube, du könntest mal Tessa fragen.«

«Tessa!« Sein Ärger nahm zu, und er galt mir, nicht ihr.

«Ausgeschlossen. Das würde sie nicht machen. Außerdem könnte sie’s gar nicht. Das ist kompletter Blödsinn, Freddie, und ich will nichts mehr davon hören.«

Ich seufzte.»Na schön. «Ich stand auf, um zu gehen.»Entschuldige, Michael.«

Ich ging aus dem Haus und zu meinem Fourtrak hinüber, und er folgte mir unschlüssig bis zu seiner Haustür.

«Komm zurück«, sagte er.

Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu.

«Du kannst nicht solche Anschuldigungen vorbringen und dann einfach abhauen«, sagte er.»Willst du weiter meine Pferde fahren oder nicht?«

«Unbedingt«, gab ich zu.

«Dann ist das der falsche Weg.«

«Ich kann nicht tatenlos mitansehen, wie mein Geschäft dazu mißbraucht wird, Viren durch die Gegend zu schippern.«

«Uh«, machte er leise.»Wenn du das so siehst… aber Tessa? Das ist absurd. Sie wüßte doch gar nicht, wie sie das anstellen soll.«

«Ich würde sie gern fragen«, sagte ich sachlich.»Ist sie zu Hause?«

Er sah auf seine Uhr.»Sie müßte bald wieder dasein. Sie ist nur einkaufen.«

«Ich könnte wiederkommen«, sagte ich.

Er zögerte, zeigte dann mit dem Kopf ins Hausinnere und bat mich, ihm zu folgen.»Du kannst genausogut hier warten«, sagte er.

Ich ging wieder mit ihm ins Wohnzimmer.

«Tessa«, sagte er ungläubig.»Da bist du aber ganz schief gewickelt.«

«Sollte ich das sein, werde ich vor euch im Staub kriechen.«

Er warf mir einen scharfen Blick zu.»Das mußt du dann auch.«

Wir warteten. Michael versuchte wieder Zeitung zu lesen, legte sie jedoch verärgert weg, da er sich nicht konzentrieren konnte.

«Unsinn«, sagte er und meinte das, was ich über Tessa gesagt hatte.»Absoluter Quatsch.«

Seine Tochter kam beladen mit Boutiquetüten zurück und schaute auf dem Weg nach oben ins Wohnzimmer.

Brünett, helläugig, mit ewig schmollendem Gesicht, sah sie mich ungnädig an.

«Komm rein, Tessa«, sagte ihr Vater.»Und mach die Tür zu.«

«Ich wollte hochgehen. «Sie sah in eine der Tüten.»Ich wollte das Kleid hier anprobieren.«

«Komm rein«, sagte er in einem für ihn scharfen Ton, und stirnrunzelnd, mißmutig gehorchte sie.

«Was ist denn?«fragte sie.

«Also, Freddie«, sagte ihr Vater zu mir.»Frag sie.«

«Was soll er mich fragen?«Sie war ungehalten, aber nicht beunruhigt.

«Hm…«:, sagte ich,»hast du den Transport von ein paar Röhrchen mit Viren nach Pixhill veranlaßt?«

Es dauerte einen Moment, bis mein bewußt beiläufiger Ton zu ihr durchdrang. Als sie begriff, was ich gefragt hatte, hörte sie auf, mit ihren Einkäufen herumzuzappeln, und erstarrte vor Schreck. Unbewegtes Gesicht, offener Mund, Augen auf der Hut. Auch Michael war klar, daß sie wußte, wovon ich sprach.

«Tessa«, sagte er verzweifelt.

«Ja, was ist denn dabei?«sagte sie trotzig.»Selbst wenn ich das getan hab? Die sind doch nie hier angekommen. Na und?«

Ich nahm die beiden Röhrchen wieder aus meiner Tasche und legte sie auf den Tisch. Sie blickte zerstreut darauf und erfaßte dann, um was es sich handelte. Ein böser Moment für sie, nahm ich an.

«Es waren sechs Röhrchen«, sagte ich.»Was hattest du damit vor? Wolltest du den Inhalt sechs Stuten in die Nase spritzen, die Jericho Rich gehören?«

«Dad!«Sie wandte sich beschwörend zu ihm.»Schick ihn weg.«

«Das kann ich nicht«, sagte Michael traurig.»War es das, was du vorhattest?«

«Ich hab’s doch nicht getan. «Sie klang eher triumphierend als beschämt.

«Du hast es nicht getan«, räumte ich ein,»weil dein Kurier unterwegs an Herzversagen gestorben ist und die Thermosflasche nicht abgeliefert hat.«

«Sie wissen überhaupt nichts«, sagte sie.»Sie phantasieren ja nur.«

«Du wolltest es Jericho Rich heimzahlen, daß er seine Pferde weggeholt hat, weil du ihm wegen eines Annäherungsversuchs eine geknallt hast. Du dachtest, es geschieht ihm recht, wenn du ihm die Pferde krank machst, damit sie nicht siegen. Du hast die Telefonnummer aus einer Kleinanzeige in Horse & Hound, sinngemäß >Wir transportieren alles überallhinc, angerufen und vereinbart, daß Kevin Keith Ogden — der Mann, der dann starb — an der Tankstelle in Pontefract eine Thermosflasche in Empfang nehmen und sie nach South Mimms bringen soll, wo die A1 auf die M 25 stößt. Du hast mit meinem Fahrer Dave vereinbart, daß er Ogden da aufliest und nach Chieveley mitnimmt. Du hast Dave spät abends nach seiner Rückkehr aus Folkestone angerufen, denn du wußtest, daß es vorher keinen Zweck hatte, weil du seinen Zeitplan kanntest. Du gehst in Isobels Büro ein und aus, und du konntest den Tagesplan sehen. Ogden sollte in Chieveley aussteigen und die Thermosflasche übergeben; da er aber gestorben war, haben meine Leute ihn zu mir nach Hause gebracht. Du hast dich wahrscheinlich gewundert, daß Ogden in Chieveley nicht aufkreuzte, aber der Grund dafür war bald im ganzen Dorf herum, und dein Vater hat es bestimmt als einer der ersten erfahren. «Ich legte eine kurze Pause ein. Weder Vater noch Tochter sagten etwas.

«Als du hörtest, daß Ogden tot war«, fuhr ich fort,»hast du angenommen, die Thermosflasche sei noch im Transporter, und du bist gekommen, um sie zu suchen, Tessa, in dunkler Montur, mit einer schwarzen Kapuzenmütze überm Gesicht, damit ich dich nicht erkenne, falls ich dich sehe. Wie du weißt, habe ich dich im Fahrerhaus entdeckt, und du bist weggerannt.«

Michael war es, der sagte:»Nein.«

«Du konntest die Thermosflasche nicht finden«, sagte ich zu Tessa.»Du hast zweimal nachgesehen. Dann entschloß ich mich, im Fahrerhaus zu schlafen, und es war aus damit.«

Michael sagte:»Ich glaub das nicht. «Er glaubte es aber.

«Ich schlage dir ein Geschäft vor«, sagte ich zu Tessa.»Ich werde Jericho Rich nicht sagen, was du mit seinen Stuten vorhattest, wenn du mir ein paar Fragen beantwortest.«

«Sie können nichts beweisen«, sagte sie mit schmal werdenden Augen.»Und das ist Erpressung.«

«Mag sein. Dafür, daß ich die Geschichte nie wieder irgendwo erwähne, möchte ich ein paar Antworten. Das ist kein schlechter Handel.«

«Woher soll ich wissen, daß Sie Wort halten?«

«Er hält Wort«, sagte Michael.

«Was vertraust du dem denn so?«fuhr seine Tochter auf.

«Ich tu’s eben.«

Das gefiel ihr nicht. Sie warf den Kopf zurück. Gepreßt sagte sie:»Was wollen Sie wissen?«

«Vor allem mal«, sagte ich,»wo das Virustransportmedium herkam.«

«Was?«

Ich wiederholte die Frage. Sie sah mich weiter verständnislos an.

«Die Flüssigkeit in den Röhrchen«, sagte ich,»ist ein Gemisch, das zum Transport von Viren außerhalb lebender Körper verwendet wird.«

«Versteh ich nicht.«

«Wenn man einfach den Nasenausfluß eines Pferdes nähme, das den Virus hat«, sagte ich,»würde der Virus in kürzester Zeit verschwinden. Um die Infektion auf dem Straßenweg von Yorkshire nach Pixhill zu bringen, müßte man den Nasenausfluß mit einem Gemisch verbinden, das ein Absterben des Virus verhindert. Dieses Gemisch befindet sich in den Röhrchen. Selbst darin würde ein Virus nur zwei Tage überleben. Die Mischung hier ist jetzt ungefährlich. Aber wo kommt sie her?«

Sie antwortete nicht. Michael sagte:»Woher, Tessa?«

«Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

«Du weißt nur«, tippte ich an,»daß ein Pferd, dem man den Kopf hochgehalten und die Mischung in die Nüstern gegossen hätte, angesteckt worden wäre?«

«Na ja, wahrscheinlich. Wahrscheinlich angesteckt.«

«Wer hat dir das erzählt?«fragte ich.»Wer hat dir das Zeug besorgt?«

Schweigen.

«Tessa?«sagte Michael.

«War es Benjy Usher?«fragte ich.

«Nein!«Sie war ehrlich erstaunt.»Natürlich nicht.«

«Benjy nicht«, stimmte Michael belustigt zu.»Aber wer, Tessa?«

«Sag ich nicht.«

«Das ist schade«, murmelte ich.

Eine längere Pause entstand, während die Kopfwerferin, die Tuschlerin, überlegte.

«Ach, was soll’s«, platzte sie heraus.»Es war Lewis.«

Michael war überrascht; mich dagegen hätte es gewundert, wenn sie jemand anders genannt hätte.

«Ich weiß nicht, wo er’s herhat«, sagte sie heftig.»Er sagte nur, ein Kumpel im Norden könnte ihm Rotz von einem Pferd mit dem Virus besorgen — Rotz hat er gesagt, nicht so was Hochgestochenes wie Nasenausfluß —, und dieser Kumpel würde es zur Tankstelle in Pontefract bringen, wenn ich einen fände, der’s da abholt. Der Kumpel konnte keinen Abstecher nach hier machen, und ich hätte nicht nach Yorkshire gekonnt, ohne tausend Erklärungen abzugeben, aber da fiel mir die Anzeige in der Zeitung ein, und ich meinte zu Lewis, so könnte es doch gehen. Er sagte, dann solle ich mit Dave reden, daß er den Mann mitnimmt. Dave sei für die Fahrt nach Newmarket eingesetzt und täte alles für Geld, und so käme der Mann nach Chie-veley, wo ich mich leicht mit ihm treffen könnte — und wie sollte ich denn wissen, daß er stirbt? Ich rief Lewis an, sagte ihm, was passiert war, und wollte, daß er mir die Thermosflasche holt, aber er hat mir nur den Schlüssel fürs Fahrerhaus gegeben. Und damit Sie’s wissen, Sie sahen ganz schön doof aus, als Sie mich beim Suchen ertappt haben und mit Schlafanzug, Gummistiefeln und flatterndem Regenmantel hinter mir hergehoppelt sind. Ganz schön bescheuert.«

«Wahrscheinlich«, sagte ich gelassen.»Hast du nur in oder auch unter dem Transporter nachgesehen?«

«Ein ganz Gescheiter, was? Ja, drunter auch.«

«Ehm, wieso?«

«Lewis hat mir mal gesagt, unter so einem Brummer könnte man so ziemlich alles transportieren.«»Wieso hat er das gesagt?«

«Warum sagt einer was? Der redet viel, um einen ins Gespräch zu ziehen. Er sagte, er hätte mal Seife in einem Behälter unter einem Ihrer Wagen befördert, sei aber wieder davon abgekommen, weil das nichts bringt.«

«Seife«, sagte Michael hoffnungslos verwirrt,»wieso in aller Welt Seife?«

«Ich weiß es nicht. Woher soll ich das wissen? Lewis erzählt einfach komische Dinger. Das ist seine Art.«

«Und, ehm…«, sagte ich,»hast du denn Seife unter meinem Transporter gefunden?«

«Nein, natürlich nicht. Ich hab nach einer Thermosflasche gesucht. Da war aber gar nichts drunter. Nur Schnodder und Dreck.«

«Als du Nigel überreden wolltest, dich mit den Stuten nach Newmarket mitzunehmen«, sagte ich,»hast du da immer noch gehofft, du könntest den Virusvorrat finden und die Pferde unterwegs anstecken?«

«Und wenn?«

«Es war ein anderer Transporter«, sagte ich.

«War es nicht… na ja, die sehen alle gleich aus.«

«Viele schon.«

Sie sah niedergeschmettert drein.

«Hast du Dave Geld gegeben?«fragte ich sanft.

«Nein. Ich meine, ich hab das Zeug ja nie gekriegt, oder?«

«Und Ogden hast du auch nicht bezahlt, weil er tot war. Hast du Lewis bezahlt?«

Nach einer Pause sagte sie mürrisch:»Er wollte es im voraus. Also ja.«

«Tessa«, sagte Michael wieder, beinahe heulend.

«Na ja, ich hab’s für dich getan, Dad«, sagte sie.»Ich hasse Jericho Rich. Holt seine Pferde weg, weil ich ihm ein paar gelangt hab! Ich hab’s für dich getan.«

Michael war überwältigt, erfüllt von voreiliger Nachsicht. Ich glaubte ihr nicht, aber Michael mußte es vielleicht.

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